Bibliomane Plaudereien (1) [>>]

Jeremiaden eines bücherlesenden Krankenpflegers



Nichts aufsparen und verschieben

Während ich Rolf Vollmanns Roman-Navigator lese, in dem 200 Romane vorgestellt werden, für jedes Jahr einen - von der Blechtrommel bis zum grandiosen Tristram Shandy zurück, wird mir angesichts so vieler Literaten, die nicht alt geworden sind und in ihren 40 oder 50 Lebensjahren solche Großtaten vollbrachten, irgendwie mulmig. Ich bin jetzt in dem Alter, in dem einige schon gestorben waren oder in dem sie wenigstens einige der wunderbarsten Bücher der Weltliteratur vollendet hatten. Und ich? Womit verplempere ich meine Zeit, anstatt wenigstens diese Werke kennenzulernen. Große Taten zu vollbringen ist einem ohnehin selten möglich. Aber die literarischen Ergebnisse wahrzunehmen, sie zu genießen - die Klassiker eben - sollte doch wohl drin sein, oder? Was ich sagen will: mehr Klassiker, weniger Herumprobieren an moderne Literatur. Wenn schon Gegenwärtiges, dann besser ausgewählt, dann das, was einigermaßen Substanz verspricht. Das Geschick, die Intuition, solche Literatur aus dem Wust des Vorhandenen herauszuspüren, ist einem erfahrenen Leser wie mir zuzutrauen. Die Zeit für Experimente ist zu begrenzen. Ich kenne genügend zeitgenössische Autoren; durch Zufall kommen immer wieder welche hinzu, so daß man den Blick darauf und die Suche danach nicht zu forcieren braucht. Der Mittelpunkt sollte schon beim Bewährten liegen. Gerade weil ich meine Neigung kenne, mir das Großartige für später aufzusparen, weil man meint, jetzt sei die Zeit dafür nicht optimal, sollte ich sie bekämpfen. Denn die Zeit, die man für geeigneter hält, könnte nie kommen; es könnte zu spät sein. Besser die Jetztzeit nutzen. Nicht aufheben, nicht verschieben.

Meine Jeremiade ist, wenn man's näher betrachtet, ja auch rein subjektiv. Betrachte ich meine Liste gelesener Bücher aus einem gewissen Abstand heraus einmal unvoreingenommen, sehe ich, daß man SO viel auch nicht anders, ergo besser machen kann. Mal abgesehen von einem Schwung mehr Klassiker; aber das ist tendenziös. Im großen und ganzen lese ich schon die Bücher, die ich will. Aber die Wälzer! Sie schiebe ich tatsächlich auf. Und manches aktuelle Buch muß nicht sein, dafür lieber mal etwas Altes. Mit Wieland habe ich nicht weiter gemacht. Und durch Vollmann sind mir nun einige Namen bekannt bzw. bewußt geworden, die ich überhaupt noch nicht kannte; so bestellte ich sofort Smollets "Humphry Clinkers denkwürdige Reise" und entschloß mich endlich, ein Buch von Ricarda Huch zu wagen (Triumphgasse). Vielleicht bedarf es solcher Lese(ver)führer, damit man wieder ein bißchen auf Linie gebracht wird. Was modernste Literatur betrifft, sollte ich, so wie ichs früher auch gekonnt habe, mehr warten. Ich habe den Eindruck, zu voreilig geworden zu sein, zu schnell zuzugreifen, was das Risiko von Mißgriffen mit nachfolgenden Enttäuschungen spürbar erhöht. (13. Dezember 2006)


Highlights 2006 (1)

Für mich gab es in diesem Jahr viele schöne Bücher. Als besonders herausragend empfand ich John Updikes Erzählband Der Mann, der ins Sopranfach wechselte. Bezüglich Erzählungen habe ich meine Bedenken erst spät überwinden können, nicht zuletzt durch so großartige Short-Story-Erzähler wie Raymond Carver und John Cheever. Der Updikesche Band ist rundum gelungen. Sprachliche Brillanz neben einfallsreichen Plots. Ein weiteres Highlight habe ich vor 120 Minuten beendet. Ich wollte endlich mal Daniil Granin lesen und griff zu einem der Romane, mit denen er im Westen bekannt und erfolgreich geworden ist: Das Gemälde. Wer mehr über das Leben im sowjetischen Rußland erfahren will, über Bürokratismus, die Planwirtschaft, hierarchischen Komplikationen, über Gewissenskonflikte, der ist mit dem opulenten Roman gut beraten. Nebenbei konfrontiert uns Granin mit Themen wie Familie, Liebe und vor allem Tod. Im Mittelpunkt steht ein städtischer Funktionär, der ein Gemälde für seine Heimat ergattert, auf dem ein berühmtes Haus der Stadt abgebildet ist, das der sozialistischen Planwirtschaft weichen soll und für das der Natschalnik (leitender Funktionär) kämpft. (29. November 2006)


All die Bibliomanika

Mir scheint, es herrscht, was Bibliomanika betrifft, derzeit Hochkonjunktur. Wenn ich mir all die Bücher vor Augen führe, die erst notiert, aber noch nicht gekauft, geschweige denn gelesen sind, wird mir ganz blümerant. Das heißt, gelesen auch nicht unbedingt sofort; aber wenigstens erfassen sollte ich sie. Immerhin gelang es, ein Inhaltsverzeichnis zu erstellen, damit man die jeweiligen Beiträge ansteuern oder verlinken kann. Einige "BücherBücher", die ich noch nicht näher beschrieben habe, liste ich mal rasch auf, auch zur eigenen Gedächtnisstütze: Die Suppe des Herrn K. Eine vollständige Geschichte der Weltliteratur in 15 Rezepten, Ungeschriebene Werke. Wozu Goethe, Flaubert, Jandl und all die anderen nicht gekommen sind, Kein Leben ohne Bücher, Lesenlernen, Vom Glück des Lesens und Gelesenwerdens, Das geheime Leben der Bücher, Privat. Aus dem Alltag der Dichter und Denker, Über Bibliotheken. Immer wieder beschäftigen sich Literaten mit sich selbst als Leser und verfassen sozusagen ein Bekenntnisbuch oder eine Lese-Autobiografie, so z.B. Alberto Manguel mit Tagebuch eines Lesers; Nick Hornby mit Mein Leben als Leser; der Politiker Reinhard Klimmt mit Überall und irgendwo; Philippe Djian mit In der Kreide. Die Bücher meines Lebens oder das fast betagte, aber geniale Die Kunst des Lesens von Henry Miller. Beim Bearbeiten fallen einem auch ältere Titel auf, die angesichts der Flut neuer unterzugehen drohen. Von den Belletristika, in denen Bücherliebe wesentlich ist, muß ich noch diese genauer beschreiben: Dominguez' Das Papierhaus, Zafons Der Schatten des Windes, Bunins Ein unbekannter Freund, Funkes Tintenherz, Moers' Die Stadt der Träumenden Bücher, Tim und das Geheimnis von Knolle Murphy sowie Caveltys Endlich Nichtleser. Die beste Methode, mit dem Lesen für immer aufzuhören.


Das tägliche Brot

Die Flut an Bibliomanika brandet mächtig an mir an. Naumann heutiger Artikel bescherte nicht nur den bloßen Titel. Verbunden mit diesen Funden ist Recherche fürs LB. Bibliografische Daten müssen in die Bibliografie aufgenommen werden, Links und Informationen zu den einzelnen Büchern müssen gesucht und zu einem kompakten Waschzettel zusammengebaut werden, den es noch zu verteilen gilt: hierher, in die Gedruckten Bibliomanika, häufig in Foren und Weblogs. Mit Bücher für Bibliomane ist nun ein Thread im LSF initiiert worden, in den künftig diese Informationen zielgerichtet fließen können. In einem Rundumschlag habe ich an viele Bibliomanika erinnert, die in den vergangenen Jahren erschienen sind. Die Aufzählung ist beileibe nicht vollständig; mit ihr will ich verdeutlichen, daß mein Tätigsein für das LB manchmal schon recht schweißtreibend und zeitaufwändig ist.


Klimmt: Überall und irgendwo

Reinhard Klimmt ist Politiker UND Bibliomane. Er sammelt Erstausgaben, Kunstbände und Literatur der 20er und 30er Jahre; seine Bibliothek umfaßt mehr als 10.000 Bände. Ein echter "Homme des lettres" also. Klimmt liebt fast vergessene Autoren wie Paul Zech, stöbert auf seinen Reisen mit Vorliebe in Antiquariaten. Von 2001 bis 2004 veröffentlichte er auf der Webseite des antiquarischen Portals Abebooks regelmäßig bibliophile Kolumnen, die nun im Gollstein-Verlag erschienen sind. Sie sind "eine Verbeugung vor dem unendlichen Kosmos der Literatur, Früchte einer lebenslangen Liebesbeziehung zu bedrucktem Papier, ergänzt durch Holzschnitte von Klimmt-Freund Uwe Bremer. Michael Naumann war von dem Buch sehr angetan. Die Idee mit den Kolumnen wurde entscheidend beeinflußt durch das Amsterdamer Hotel Ambassade, wo sich Schriftsteller die Klinke in die Hand geben. Reinhard Klimmt: Überall und irgendwo. Aus der Welt der Bücher Mit Holzschnitten von Uwe Bremer. Blieskastel: Gollenstein, 2006. 149 S. ISBN: 3-938823-18-6. - EUR 18.00


Alzheimer im Buchladen

Die in dem lobens- und empfehlenswerten Buchblog Buchhändleralltag und Kundenwahnsinn häufig erzählten Anekdoten über Bücher suchende Kunden, die meist nur Bruchstücke von Autorennamen und Titeln bieten können - und diese oft genug auch noch verdreht und verstümmelt, sind meiner Meinung nach eher normal und bilden keine Ausnahme. Denn mir geht es ebenso - und ich bin niemand, dem man nachsagen könnte, bibliografischen Finessen nicht zugetan zu sein. Es ist nur so, daß das Gehirn schmählich versagt, wenn es darum geht, sich exakte Buchtitel ins Gedächtnis zu rufen. Wenn ich mir nichts notiert habe und ins Musikgeschäft oder in den Buchladen einschwenke, verläßt mich die Sicherheit spätestens dann, wenn mich der Verkäufer hoffnungsvoll und milde lächelnd anstarrt: er, weil er weiß, daß er sich gleich wieder eine kuriose Stammelei anhören wird, ich, weil ich weiß, daß er's weiß und daß es unweigerlich so kommen MUSS. Insofern kann ich Kirsten trösten; denn es scheint ein ehernes Gesetz zu sein, daß man beim Betreten eines solchen Geschäfts automatisch zum Alzheimer-Geschädigten mutiert. (10. November 2006)


Wenn der Vollmann lobt...

Diese typischen Vollmann-Sätze, durch die man abhängig, geradezu süchtig nach ihm wird: In einem Text über den Roman Dom Casmurro von Joaquim Maria Machado de Assis schreibt er: "So unangestrengt, so lässig und geistvoll wie er hat keiner nach Sterne noch einmal in Romanen alles zerstört, was Romane langweilig machen würde, wenn man es ewig glauben müßte." Beim Lesen des Roman-Navigators, der jahrelang angelesen herumlag, staune ich, wie viele Bücher, die er empfahl, ich durch ihn, durch dieses Buch der Bücher, bereits kenne und liebe. Namen, die ich ohne ihn nie kennengelernt hätte. Genußleser wie Vollmann und Elke Heidenreich vermögen mir Bücher schmackhafter zu machen als noch so gekonnte Feuilletons und strategische, hämisch Lücken aufzeigende Literaturwissenschaftler. Wer mir ein Buch nahe bringen will, muß mehr Emphase zeigen, weswegen ich auch einer der wenigen Heidenreich-Groupies bin. (6. November 2006)


Aussichtsloser Kampf

Bei Momo waren es noch die grauen Herren, die einem die Zeit stehlen. Heutzutage geht es weit weniger spektakulär und fantastisch zu. Das Internet, die Blogosphäre, die Audio- und Videoblogs, die Podcasts - sie rauben mir die Zeit. Als ob ich ein Gen in mir hätte, mich selber zu quälen. Welch ein Suchtpotential! Denn ich sehe die Fatalität: die Faszination und die Gefährdung. Mein Hang zur Maßlosigkeit bringt mich andauernd zum Wunsch, sich strikt zu mäßigen, sich Beschränkung aufzuerleben. Allerdings vergebens! Zu tief im Sumpf. Hoffnungslos im Web 2.0, in der Blogroll versunken, in den Kommentaren, den Clips und Shows. Die Lektüre nimmt immer mehr eine Randfunktion ein. Das zu Bedauern wird zur täglichen Pflichtübung. Einen Ausweg sehe ich nicht. Den Stecker ziehen? Das wäre konsequent, erscheint aber absolut unmöglich und unrealistisch; denn die Kommunikation mit anderen läuft zu einem so großen Prozentsatz virtuell ab, daß ein internetfreies Leben in völliger Blutleere und Depression enden müßte. (5. November 2006)


Die Russen lesen

Schon als Jugendlicher las ich gerne russische Literatur; das heißt sowjetische, wie sie damals noch genannt wurde. Warum gerade die? Weil man als in der DDR Aufwachsender in den Buchhandlungen nunmal überwiegend diesen Bücher begegnete, weil sie so ubiquitär waren, daß man einfach nicht daran vorbeikam. "Der Tag zieht den Jahrhundertweg" von Tschingis Aitmatow stellte mein literarisches Initiationserlebnis dar; ich schrieb bereits darüber. Damals war ich vielleicht 16 Jahre alt. Seitdem lese ich schöngeistige Literatur; seitdem sind aber auch 24 Jahre verstrichen. Eine Menge Bücher wurden gelesen. Zeit also, den Blick zurück zu richten und nach vorne, auf jene Schriftsteller beispielsweise, die ich noch gar nicht kenne. Zeit, den Wust ein wenig zu ordnen, um Überblick zu gewinnen. Was an russischer Literatur habe ich bereits gelesen, was an Wichtigem oder Neuem steht aus? Was wird empfohlen, was kann ich empfehlen? Innerhalb meiner Listen habe ich deshalb begonnen, meine LGB nach Russen zu durchforsten, auf Hinweise einzugehen, Namen zu notieren usw. Hilfreich erweist sich die Liste russischsprachiger Dichter in der Wikipedia bzw. auch die Kategorie russischer Literatur. Wenn alle Stricke reißen, vermag man sich als Hiesiger einfach dadurch inspirieren zu lassen, indem man ein Antiquariat betritt, das mit Sicherheit von Werken russischer Schriftsteller strotzt. (29. Oktober 2006)


Ein Anti-Diätenbuch

Wie sollte die Superfrau sein? "Schlank, schön, intelligent, aber um Himmels willen nicht zu intelligent. Nicht intelligenter als "Er", sonst droht jede Menge Ärger. Besprechen sie Abiturfragen aus dem Leistungskurs mit Ihrem Kind nicht in Gegenwart des Gatten. Er wird nachhaltig gekränkt reagieren, weil er kein Wort verstanden hat. Selbst dürftigste Lateinkenntnisse behalten Sie besser für sich." - Ich bin ja nur noch äußerst selten in einem Buchladen oder Antiquariat zu finden und beziehe meine Bücher strikt durchgeplant per Internet. Der Nachteil besteht darin, daß man wirklich abseitige Entdeckungen kaum mehr machen kann. Ein Grund, doch öfter in die Stadt zu fahren, wenn auch nur mit der Intension, Bücher zu gucken. Heute - nach Monaten - spontan zwei Bücher erworben, ein (Francois) Mauriac, der selten verlegt wird, so daß die Buchausgaben sowohl selten als auch meist vergilbt sind. Um so schneller schlägt man dann zu, wenn einem ein tolles Exemplar unterkommt. Als zweites Buch dann Die Seele kennt kein Übergewicht. Das böse Antidiätenbuch einer ehemals Dicken von Heike Schütze, aus dem ich oben zitierte. Ich werde sicher noch mehr von dieser Lektüre berichten.


Delius-Bibliografie

Ich wünschte mir von jedem Schriftsteller, den ich mag und lese, eine solche Bibliografie mit Vorstellung jedes einzelnen Buches, das er verfaßte. Von Friedrich Christian Delius hört man normalerweise wenig; kein Grund, seine Bücher links liegen zu lassen. Ich habe erst vier gelesen und ergänzte meine Leseliste soeben auf weitere 10. (3. Oktober 2006)


Editorische Lücken

Kaum zu glauben, aber es gibt wirklich noch richtige Lücken in der Verfügbarmachung von Literatur. Durch ein frühe Buchkritik Hermann Hesses stieß ich auf den belgischen Schriftsteller Maurice Maeterlinck. Na gut, dachte ich, schauste mal im Projekt Gutenberg & Co. Nix. War ja auch Belgier, der Kerl. Nun will ich aber sein Drama "Der Eindringling" lesen. Bekam heraus, daß es 1983 in der Reihe edition + kritik erschien ist innerhalb von Die frühen Stücke, Band 2. Enthalten auch in dem Buch "Drei Alltagsdramen", das auch nicht ganz preiswert zu haben ist. Insgesamt eine schwierige Gemengelage; zumindest nicht ganz so einfach, wie an den neusten Grass zu kommen. Ein wenig sportlich mutet die Suche nach erschienener und verfügbarer Literatur dieser alten Schriftsteller schon an. Immerhin bekam Maeterlinck 1911 den Literaturnobelpreis, so daß man hätte denken sollen, wichtige Sachen sind dank Internet komplikationsfrei verfügbar, z.B. als E-Text. Müßte ich also ne Menge Geld ausgeben, um eine antiquarische Ausgabe zu erwerben. Allerdings widerstrebt es mir, um einen noch nie gelesenen Autoren kennenzulernen, sofort 16 Euro zu berappen. (29. September 2006)


Lyrikstörung

Heftiges Mitseufzen beim Klagelied der Kaltmamsell. "Ich empfinde meine Lyrikstörung als echtes Gebrechen, als Lücke in meiner Wahrnehmungsfähigkeit." So ist es. Sobald ich ein Gedicht sehe, verschwimmt mir alles vor Augen. Allenfalls mit lautem Lesen und Deklamieren fokussiere ich meinen Blick auf das, was da vor mir hingehaucht ist. Trotzdem. Es ist ein Gebrechen, dem sich noch kein Arzt angenommen hat. (8. September 2006)


Entscheidung offen

Jetzt da mein Stapel ungelesener Bücher (SUB) abgetragen ist, steht nichts mehr einer ausgedehnten Wiederlektüre entgegen und auch nichts einer gewissen Kreuz-und-Quer-Lektüre. So habe ich beispielsweise vor, in nächster Zeit E-Texte aus dem Projekt Gutenberg zu lesen, auch mal vereinzelte Erzählungen, herausgepickt, meinem spontanen Empfinden nachgebend. In der Liste gelesener Bücher könnte es bei vielen "kleinen Titeln" ein wenig unübersichtlich werden. Ich weiß noch nicht, wie ich dieses Problem angehen soll, wie ich die Lektüre vieler kleinerer Texteinheiten wie Novellen und Erzählungen notieren soll. Als einzelne Bücher kann ich das ja nicht werten. Any hints?


Nichts aufsparen und verschieben (2)

Ich bin ein Aufschieber. Aufschieber sind jene Genießer, die sich das vermeintlich beste Stück für zuletzt behalten. Bei einem Gericht zuerst Kartoffelspeise und Gemüsse, dann das Fleisch oder den Fisch. Gilt es, unter mehreren Dingen auszuwählen, ist die Reihenfolge immer so, daß das "Filetstück" für den krönenden Abschluß aufgespart wird. So bei allem! Auch bei Büchern. Habe ich einen SUB, lese ich von "weniger interessant" zu "der absolute Hammer". Der Nachteil dieser Herangehens- und Seinsweise ist: man kommt immer weniger zu dem, was man sich eigentlich für den Zeitpunkt des ungeteilten und besonderen Genuß zurecht gelegt hat. Oft reicht die Zeit nicht mehr. Und die Dinge, die man aufgespart hat, stapeln sich so, daß sie unmöglich abzutragen sind. Ich denke vor allem an mein Sammelgebiet, die Bibliomanika. Bücher über die Bücherliebe, das Lesen, den Umgang mit Büchern... Warum nicht jetzt? Ich muß unbedingt von dieser Schiene abweichen, mir die Gourmethäppchen für später aufzuheben. JETZT ist Zeit, jetzt ist die Stunde. Das Leben rennt einem davon. Man wird älter, man hat immer weniger Zeit, besonders Lesezeit, in der man wach, aktiv und fähig ist, zu lesen. (8. September)


Hoffnungsvoll an Bibliomanie erkrankt

Wie vorgestern mit den altered books erging es mir ebenfalls mit Volker Faust Ausarbeitung zur Bibliomanie Über den krankhaften und heilsamen Umgang mit Büchern, worauf dankenswerterweise Markus Trapp aufmerksam machte. Immerhin eine erkannte, wenn nicht gar anerkannte Verhaltensstörung, die Bibliomanie. Ich bekenne mich schuldig, d.h. erkrankt, wenn auch ohne Krankheitsgefühl, d.h. dann eigentlich wiederum gesund. Bibliomanie ist DAS Thema meiner Webseite, des Leipziger Bücherlei, die übrigens just im August 10 Jahre alt geworden ist. Mir kommt es so vor, als drifte ich immer mehr vom eigentlichen Thema ab. So stauen sich manche Arbeiten und Vorhaben an: Text zu sichten, Links einzuarbeiten, Buchtipps nachzugehen usw. Aufmunterung an mich selbst: mehr Bibliomanie! Das bedeutet vor allem, Volker Fausts Bibliomanietext gründlich durchzuforsten und herauszufinden, ob's Unentdecktes für mein Bücherlei gibt. Wenn beispielsweise das ABC der Bücherliebe überarbeitet werden könnte... (30. August 2006)


SUB bei 0

Mein SUB ist momentan bei 0. Zeit, sich Wiederlektüren zu widmen oder solche Zufälle willkommen zu heißen, wie einer mich heute ereilte, daß mir eine Kollegin, wie ich hier erzählte, ein Buch auslieh, welches ich heute, nachdem ich die Zweitlektüre von Dostoevskijs Der Doppelgänger abgeschlossen hatte, anschließend sofort begann. Zeit auch, mal wieder einen E-Text zu lesen, wovon ich ne Menge habe: entweder im Projekt Gutenberg, oder in der Studienbibliothek "Deutsche Literatur von Lessing bis Kafka", die Werke von 108 Autoren enthält oder ein anderes E-Book aus meinem reichhaltigen Fundus. Vielleicht Tieck, Brentano, Doyle oder etwas Modernes wie Cornelia Funke oder Roald Dahl. Egal, alles offen. Wunderbar so ein Null-SUB. Man kann sich nach jedem Buch neu entscheiden und orientieren und ist nicht auf diesen Stapel fixiert. Die Sondersammelgebiete - Hessiana und Bibliomanika -, die ich nicht zum eigentlichen SUB zähle, obzwar Großteile davon ungelesen sind, warten ja immer geduldig. Zeit wieder mal, dorthinein zu greifen. Auch hier sind Zweitlektüren nicht auszuschließen. Die 1997 gelesenen Gutenberg-Elegien von Sven Birkerts reizen mich sehr. (27. August 2006)


Verborgen von Büchern

Gestern erzählt mir eine Arbeitskollegin, wie sie und ihre Tochter sich Ein Tag mit Herrn Jules vorgelesen hätten. Daraufhin äußerte ich meine lang bestehende Absicht, dieses Buch zu lesen. Heute wurde es mir mitgebracht, verbunden mit der Bitte seitens der Tochter, ich möchte doch bitte um Gottes und ihretwillen keine Eselsohren machen; sie möge das ganz und gar nicht. Meine Kollegin konnte ihre Tochter milde lächelnd beruhigen, daß es wenig wahrscheinlich sei, daß ein solcher Buchliebhaber wie ich zu einem Sakrileg wie diesem fähig oder willens sei. (27. August 2006)


Anspruch an die eigene Lektüre

Innerhalb einer Diskussion im Literaturschockforum. "Daß auf Masse gelesen wird, verstehe ich als Unterstellung. Ich bin überzeugt davon, daß du mehr liest als ich. Nur verteilt es sich eben anders. Gegen deine dicken Bücher und die Lektüre der Periodika (NZZ, NYROB) stehen meine leichtfüßigen Bücher. Seitdem ich ein Lektüreprotokoll führe, kann ich nachvollziehen, wie es zustande kommt. Im Prinzip besteht das Geheimnis darin, wirklich jeden Tag 60 bis 100 Seiten zu lesen, wofür ich im Schnitt 2 bis 3 Stunden verwende. Das ist doch kein "auf Masse lesen". Das ist nur Regelmäßigkeit. Man muß allerdings auch sehen, daß du für und mit der Lektüre ein anderes Postulat stellst. Du möchtest eine komplette, elegante, durchwirkte und strukturierte Bildung erzielen, während es mir genügt, ein gutes Buch gelesen zu haben. Selbst wenn ich es danach gänzlich vergäße, sähe ich dessen Lektüre nicht als vergebens an. Da ich kontinuierlich lese, versetze ich mich während der Zeit der Lektüre, also eben für 3 Stunden am Tag in eine andere, eine konstruierte, fremde, unbekannte Welt, die mich fordert, verändert und beeinflusst, die mich beschäftigt. Ganz so sinnlos, wie es klingt, ist auch die oberflächlichste Lektüre also nicht. Es gibt Bücher, die nachwirken, an die ich oft denke. Andere wiederum vergesse ich tatsächlich ziemlich rasch. Who cares?" (21. August 2006)


Sich dem Neuen öffnen

Ist es, wenn manche darauf beharren, sich nurmehr den Klassikern anzuvertrauen und auf Neues zu verzichten, mit Christoph Hein gesprochen, nicht eine bloße "Verlängerung des Stattgefundenen?" Eine "Ästhetik der Toten?" Hein schreibt über Stand und Definition von Kunst in der Gesellschaft. Die Tradition habe es einfach, sie werde kolportiert, sie sei akzeptiert, sie werde verstanden. Alles, was darüber hinaus geht - und Kunst will das Neue, das Noch- nie-Dagewesene - muß gegen die Normen ankämpfen, mit denen man auch in der Kunst messen und einordnen will und es meist nicht kann. Und ob dieser Unfähigkeit häufig das Handtuch wirft und verwirft: DAS ist keine Kunst. Oder: DAS kann ich auch, so ein Geschmiere... Was soll das denn sein? Deswegen sei die Frage gestattet, ob ein Zufriedengeben mit den Klassikern nicht zu kurz greift. Ob es nicht ein Postulat ist, auch in der Literatur sich dem Neuen zu stellen, zu öffnen. (15. August 2006)


Leserbilder

In einem Thread, in dem darum geht, ob man Leser anhand dessen, was sie lesen, beurteilen und einschätzen kann, schrieb ein Forumsteilnehmer: "Wenn jemand mehrere hundert Seiten Rosenpflege über sich ergehen lässt, ohne Klage zu führen, sich dabei unsäglich gelangweilt zu haben, würde ich zumindest die Schlussfolgerung wagen, dass dieser Jemand Literatur nicht ausschließlich deshalb konsumiert, um spannend unterhalten zu werden. Natürlich kann das Lesen des "Nachsommers" nicht die Person umfassend erklären, aber: Wenn jemand mit Harry Potter im Kaffeehaus sitzt, würde ich das schlicht zur Kenntnis nehmen; säße dort wer mit Stifters Rosengarten, würde ich der Person größeres Interesse entgegenbringen. [X] (11. August 2006)


Sich an der Welt reiben

Im Literaturschock-Forum antwortete ich in diesem Thread auf die Frage: "Mich interessiert beim Einzelnen vor allem, WAS ihn unterhält. DASS jemand gern liest, wenn er liest, scheint ja wirklich nicht der Weisheit letzter Schluss zu sein." - Literatur, die Konflikte darstellt, wo Menschen sich aneinander oder an der sie nie zufrieden stellenden Welt reiben, wo es zwar ein Bemühen (oder noch nicht einmal mehr das) gibt, es besser zu machen, anders zu machen, besser zu werden usw., wo allerdings absehbar ist, daß Erfolg nicht garantiert und eher die Ausnahme ist. Die Einzelgänger, die Versagertypen, die Erniedrigten und Beleidigten - das sind die interessanten Figuren in der Literatur, die mich faszinieren. Eine gute Portion Liebe und Tod dürfen gerne beigemischt werden. (9. August 2006)


Lektürezeiten

Kurioserweise habe ich stets das Gefühl, nicht zum Lesen zu kommen, quasi mit angezogener Handbremse zu lesen. Aus diesem Grund entschloß ich mich, meine Lektüre zu protokollieren, um nachweisen zu können, ob mein Gefühl trügt oder stimmt. Seitdem ich ein Auge darauf werfe, wieviel ich an den einzelnen Tagen lese, nutze ich erstaunlicherweise meine Zeit effektiver. Ein automatischer Effekt unbewußter Selbstkontrolle. Neben dem Lesepensum will ich künftig möglichst auch die Lesedauer bzw. -zeit dokumentieren. Bilanzierend ist zu sagen, daß ich in den vergangenen 18 Tagen 8 Bücher las, was einen Schnitt von 2,25 Tage pro Buch ergibt. Um nur die letzten beiden Tage herauszugreifen: Gestern schloß ich Hamsuns Die Stadt Segelfoss ab, mit 330 Seiten ein Buch von mittlerer Stärke, ein, soweit ich das überblicke, eher unbekannter Roman vom Norweger. An freien Tagen wie gestern verteilt sich die Lektüre auf den ganzen Tag, wobei geklagt sei, daß ich die verfügbare Zeit weniger stringent nutze, sondern daß sie streckenweise in einem veheerenden und deprimierenden Maß durch andere Tätigkeiten fremdbesetzt wird. Das ärgert mich maßlos; und ich kriege es nicht in den Griff, die verplemperte Zeit zu minimieren, d.h. weniger Weblogs zu lesen, weniger ziellos herumzusurfen - im Web zu mäandern... Ich lese also ausgerechnet an freien Tage viel weniger, als drin, als machbar wäre. Gestern nun die letzten 60 Seiten des Hamsun-Romans und, am Nachmittag, die ersten 75 Seiten eines "Maigret-Buches" von Georges Simenon, die ich immer häufiger einschiebe. Für das Lesen verloren waren gestern diese Zeiten: 8 bis 10 Uhr (Internet), 11.30 bis 13.30 (geschlafen) und ab 18 Uhr (eingekauft und großes Abendessen mit anschließendem Fernsehabend mit der Familie). Wann lese ich sonst? An Frühdiensttagen beginne ich mit der Lektüre fast immer zwischen 18 und 19 Uhr. Denn nachdem ich jeweils ca. 16.30 Uhr nach Hause gekommen bin, schlafe ich bis mindestens 18 Uhr. Falls ich mich nicht ablenke lasse, gelingen es in dieser Konstellation häufig 4 ganze Lektürestunden. An Spätdiensttagen nicht selten so gut wie keine Lektüre. Möglich nur zwischen 10 und 12 Uhr vormittags und auf dem Arbeitsweg hin. Zurück bin ich nach 23 Uhr in der Straßenbahn zu aufgekratzt, zu abgespannt und höre dann meist Clips des DLF/DLR. Habe ich Nachtdienst, beschränkt sich die für die Lektüre möglich Zeit auf den späten Nachmittag und frühen Abend; allerdings versacke ich auch hier zu oft im Web, so daß im Durchschnitt auch hier lediglich nur 2 Lektürestunde täglich zustande kommen, während 4 durchaus im Rahmen des Möglichen wären. (30. Juli 2006)


Skepsis gegenüber Reklame

Im Literaturschockforum diskutieren wir über die Verweigerung gegen Bücher, die gehypt wurden. Ich habe dies auf etwas allgemeineres Terrain ausgeweitet. "Eine am Leben erhaltene Skepsis gegenüber Werbung, Reklam und Propaganda finde ich weiterhin gesund. Es widerstrebt mir, mich beeinflussen zu lassen. Ich hasse es, wenn mir jemand etwas verkaufen will, nach dem nicht ich zuerst gefragt habe. Daß die mir etwas Gutes tun wollen, glaube ich einfach nicht, die wollen mein Geld und, schlimmer noch, meine Zeit. Ich verweigere mich Autos, Handys, Mode und allem, wovon ich denke, daß es für mich nicht notwendig ist. Das aktuelle Geschehen im Literatur- und Buchmarkt ist nichts anderes als eine weitere / andere Ausprägung dieser Clownerie. Nun sind in meinem Fall Bücher selbstverständlich essentiell, aber nur weniger unter einer Mehrzahl derer, die alljährlich auf den Markt geworfen werden. Demnach kämpfe ich David gegen Goliath um die Erkenntnisse: Was ist wichtig, was bleibt, was ist notwendig. Ich bleibe dabei: eine skeptische Haltung gegen Kommerz fördert die geistige Gesundheit." Und als die Gesundheit des Skeptizismus angezweifelt worden ist, erwiderte ich: "Früher dachte ich auch, ich habe da eine wirksame Distanz, ein gesundes Verhältnis. Frei nach dem Motto: Mir können die nix! Je älter ich allerdings werde, desto wachsamer stehe ich den subtilen Mechanismen der Irreführung und Einflußnahme gegenüber. Das sind keine doofen Leute, die uns zu etwas verführen wollen. Ich bin zwar konsequent, indem ich jeden Flyer wegwerfe, bei jedem Telefongespräch sofort auflege, wo es um Befragungen und Werbung geht. Aber letztlich bin ich mir nicht mehr sicher, was sich unbewußt doch im eigenen Hirn festsetzt, was mich vielleicht in eine Richtung steuert, die mir, wäre sie mir bewußt, gar nicht behagte." (24. Juli 2006)


Entwicklung der Leseanreize

Im Literaturschockforum existiert ein neuer Thread Bücherkauf - eine Kunst?, in dem ich schrieb: Der überwiegende Teil der Bücher, die ich kaufe, umfaßt Autoren, denen ich seit kürzerem oder längerem "verpflichtet" bin. Sie entdeckte ich irgendwann und bin seitdem bestrebt, mehr von ihnen zu kennen. Dies sind gleichsam Selbstläufer, die wenig Nachdenken erfordern, sondern einfach auf der Wunsch/Kaufliste landen und irgendwann, wenn sie "dran" sind, gekauft werden. Wirkliche Neuentdeckungen mache ich fast ausschließlich im virtual life (VL) - im und durch das Internet. So sind Besuche in Buchhandlungen und Antiquariaten vor Ort sehr selten geworden. Die Anreize, die ich aus dem Literaturschock- und Klassikerforum gewinne, spielen eine wachsende Rolle. Tipps von Freunden und (Netz) Bekannten ebenso. Ein anderes wichtiges Standbein stellt das DeutschlandRadio dar, dessen Buchvorstellungen ich intensiv verfolge. Was mir in letzter Zeit mehrmals passierte: daß ich ein Buch, welches ich vorhatte, später zu lesen, vorzog, weil ein anderer es las und lobte. Spannend, sich diese Einflüsse bewußt zu machen! Bücher von (belletristischen) Autoren, von denen ich erstmalig ein Buch lese, nehmen an Häufigkeit ab. Das scheint die Folge zunehmenden Alters, mit dem eine gewisse Lesekarriere einhergeht, zu sein wie auch der Wille, lieber Bekanntes zu vertiefen, als sich Neues "aufzubürden", dem man sich dann wiederum "verpflichtet" fühlen könnte. (16. Juli 2006)


Die Qual der Recherche

JETZT erst festgestellt, daß Balzacs Tolldreiste Geschichten NICHT in der 12-bändigen btb-Ausgabe der Menschlichen Komödie enthalten sind, ganz einfach weil sie nicht zum Romanwerk gehören. Trotzdem verdroß es mich, daß ich mich erst wundgooglen mußte, um eine so fundamentale und simple Auskunft einzuholen. Auch beim Experten Frank Weidemann, den ich immer aufsuche, wenn es um Balzac geht, vermißte ich eine klarstellende Information, daß die 'Contes drolatique" extra gekauft werden müssen. Weitere Primärliteratur des französischen Giganten: Die Tolldreisten Geschichten in einem Rutsch, im Bücherlei Zitate, allgemeine und bibliomane Fundstücke, Anekdoten sowie Textstreusel (Suchen mit Strg+F).


Am liebsten Diktatur

In dem Thread Erzähldrang geht es um das Phänomen, daß Leser, sind sie von ihrer Lektüre begeistert, einen gewissen missionarischen Ehrgeiz entwickeln oder zumindest den Drang verspüren, andere an ihrem Leseerlebnis teilhaben zu lassen. Seien es Partner, seien es Freunde. Allerdings ist hierbei die Erfahrung nicht selten, daß die eigene Begeisterung beim Gegenüber oft nur auf gedämpftes Interesse stößt, was einem selbst und den zu Missionierenden die Laune verderben kann. Im Forum schrieb ich dazu: "In einer Diktatur wäre es - vorausgesetzt ich bin der Diktator - um vieles einfacher. Ich würde anordnen, was gelesen wird. Und wehe, jemandes Begeisterung fiele nicht so vehement aus, wie ich mir das vorgestellt habe. Das würde meinerseits natürlich nie verraten, so daß das lesende Volk vor Angst schlotternd zu meinen Füßen kröche, um nach Anzeichen des Wohlwollens in meinem aus Sorgen um die literarische Entwicklung aller Menschen zerfurchten Gesicht zu forschen."


Bücher(alp)träume

Vor einigen Tagen hatte ich einen kleinen Bücheralptraum. Mir war der größte Teil meiner Bibliothek abhanden gekommen; ich saß todunglücklich mit dem Gefühl, "amputiert" worden zu sein, neben den kläglichen Resten meiner Sammlung, als der Wecker klingelte. Aufwachend dachte ich noch trotzig im Halbschlaf: Nö, wenn dir die Hauptsache fehlt, lohnt sich das Aufstehen auch nicht mehr. Bleibst du eben liegen, ist auch besser so - ohne meine Bücher...


Lesebiografie (3)

Ich habe gestern meine Mutter befragt, weil ich mich nicht mehr erinnern kann, wie (wie oft, wie viel und was) ich als Kind gelesen habe. Vor meinen Augen steht nur ein eher übersichtliches, das heißt mager bestücktes Bücherregal. Meine Mutter sagte mir, ich habe intensiv die Bibliothek genutzt, woran mir jede, aber auch wirklich jede Erinnerung entfallen ist. Sie meinte, es seien ständig Bücher ausgeliehen gewesen. Demnach müßte ich meine Theorie korrigieren, daß ich erst als fast schon erwachsener Jugendlicher begonnen habe, Belletristik zu lesen. Leider kann ich mich nicht mehr an die Kindheitslektüre erinnern. Ich weiß lediglich noch, wie ich, angeregt durch meine Oma, Traktätchen, spirituelle Schriften, Hagiografien und die Bibel gelesen habe. Meine Initiation in Sachen schöngeistiger Literatur erfolgte in der katholischen Jugendgruppe, als einmal Tschingis Aitmatows "Der Tag zieht den Jahrhundertweg" vorgestellt worden ist. Von da ab ging es los, nämlich indem ich überhaupt die "Russen" entdeckte, allen voran Dostoevskij, dessen "Schuld und Sühne" ich seit heute zweitlese.


Zweit- und Mehrfachlektüren

Ich gestehe, an Wiederholungslektüren mit einem gewissen Bangen heranzugehen. Mein Eindruck, ich würde, wenn mir das Buch nicht erneut gefiele, die Erstlesung entwerten oder besudeln. Das ist verrückt. Jedes Mal grüble ich nach, woran es gelegen haben mag, wenn bei der Lektüre nicht die gleiche Faszination entstand. Zuletzt las ich Flann O'Briens "In Schwimmen zwei Vögel" zweit. Gespaltene Meinung. Einerseits finde ich brillante Stellen wieder; andrerseits wollte ich der uferlosen Phantasie O'Brien nur bedingt folgen und war versucht, eher quer- als genau zu lesen. Zudem bemerke ich, daß die Einschätzung eines Textes mit zunehmendem Alter auch von Faktoren wie Müdigkeit und Konzentrationsschwäche abhängt, so daß es gegebenfalls reizvoll wäre, ein Buch, welches einem in mieser Verfassung unterkam, in Top-Form zu wiederholen. Dieser Vergleich steht noch aus; ich bin sehr gespannt.


Hin und wieder fremdlesen

Die bibliomanen Betrachtungen Christian Köllerers, dessen dritter Teil gestern erschien, zettelten nicht nur eine fruchtbare Diskussion im Klassikerforum an, sondern erreichten auch die wogenden Gestade der Blogosphäre. Lars Becker bricht, ganz in meinem Sinne, eine Lanze für die zeitgenössische Literatur, indem er insistiert, daß Klassiker nicht "wahrer" oder "erkenntnisbringender" als zeitgenössische Werke seien. Was dem Faszinosum 'Klassiker' Dauer verleiht, ist die historische Distanz. 'Natürlich ist es für uns spannender, einen Menschen zu begleiten, der in der Kutsche reist, als einen, der in der Straßenbahn vor sich hin döst.' Allerdings kann man einwenden, daß moderne Werke durch kulturelle Distanz oder Verfremdung ebensolchen Reiz entfalten können. Rosendorfer hatte diese Komponenten in den Briefen in die chinesische Vergangenheit ja durchexerziert. Je nun. Beide Fraktionen werden ihre plausiblen Gründe haben und verteidigen. Mit gebrochenen Lanzen kann man wenigstens keinen Turnierkampf ausfechten. Gegenwartsliteratur wird der Exotik klassischer Literatur wohl stets unterlegen sein. Die viel beschworene Reinfallquote, die bei Konzentration auf Klassiker gegen Null tendiert, ist meines Erachtens das Hauptargument. Nur finde ich es unfair, der zeitgenössischen damit zugleich die ästhetische Qualität abzusprechen. Wer nicht mag, mag nicht. Trotzdem meine ich, daß wir im Hier und Jetzt einige so hervorragende Schriftsteller haben, daß ein gelegentliches Fremdgehen der Klassikerfraktion nur begrüßt werden kann. Die weiteren Teile der Betrachtungen finden sich hier.


Macht Schmidt billiger!

Wir kennen die Forderung Kurt Tucholskys, die Bücher billiger zu machen. Ich konkretisiere das mal: Macht Arno Schmidt billiger! Immer das Gejammere, Arno Schmidt würde nicht genügend gewürdigt, seine Größe verkannt. Wie soll Otto Normalleser sich denn ranwagen, wenn er für die preiswerteste Ausgabe von Abend mit Goldrand 51 Euro hinblättern muß. Typografische Raffinessen des Spätwerkes hin oder her! Solange diese Bücher im Vergleich mit anderen so exorbitant teurer sind, wird das nix mit der Verbreitung im gemeinen Volk. Das ist einfach so. Für Julia, oder die Gemälde soll man günstigenfalls knapp 25 Euro berappen. Die Schule der Atheisten schlägt mit 51 Euro zu Buche. Mich interessiert nicht, wie ihr das hinkriegt. Nur macht das endlich! Billiger! (11. April 2006)


Listen oder Einzelempfehlung?

In diesem Thread bemerkte ich zur Frage eines Neulings zu großen Werken der Weltliteratur: Entgegen dem Automatismus, sofort den Hammer mit den üblichen Verdächtigen wie Hesses Weltliteratur, Klabunds Literaturgeschichte, Reclams Leseliste, Vollmanns Roman-Navigator und anderen zu schwingen, wäre es vielleicht weniger 'erschlagend', wenn man ein, zwei Titel nennt, die einem SO stark anhaften, daß man sich dem missionarischen Eifer, sie immer und allerorten anzupreisen, nur mit schwersten Mühen entziehen kann. Mich hatte Rolf Vollmanns Die wunderbaren Falschmünzer, was Klassiker anbelangt, an einen 'point of no return' gebracht. Allerdings könnte die Dicke des Buches den Fragenden auch rasch zur Verzweiflung bringen. Also. Zwei meiner liebsten Klassiker sind Jane Austens Stolz und Vorurteil, wo uns eine durch 200 Jahre Geschichte exotisch anmutende Welt mit doch kaum veränderten zwischenmenschlichen Konflikten verzaubert, und Dostoevskijs Onkelchen Traum, ein hinreißender, komischer Gesellschaftsroman, in dem ein seniler Opa in einer Kleinstadt in ehekupplerische Ränke verstrickt wird. (11. April 2006)


Klassiker versus Frischlinge

Christian Köllerer hat seine bibliomanen Betrachtungen fortgesetzt. Die Tendenz zur Zweit- und überhaupt Mehrfachlektüre kann auch ich bei mir wahrnehmen. Eingedenk der Amnesie in litteris ähnelt die Lektüre manches Buches einer "Neuentdeckung". Solange man spontan ein gutes Dutzend Bücher aufzählen kann, die man mit Heißhunger wiederlesen würde, stellt sich naturgemäß die Frage: Warum das Risiko eines Reinfalls durch Auswahl eines unbekannten Buches womöglich noch allerjüngsten Datums auf sich nehmen? Glücklicherweise bin ich gegen den Zwang gefeit, ein Buch zu lesen, nur um 'mitreden' zu müssen. Dennoch setzen sich nicht wenige Neuerscheinungen in mir durch Mundpropaganda, Webforen, Perlentaucher & Deutschlandfunk fest. Nach einem 'Reife- und Selektionprozeß' von bisweilen sogar mehreren Jahren bleiben am Ende immer noch so viele Bücher auf der Lese/Wunschliste übrig, daß der Konflikt zwischen Klassikern und erprobten Büchern nicht beigelegt ist, sondern daß er einem das Bücherleben weiter erschwert. Der Glaube und Herzenswunsch, beiden genügen zu können, ist eine Illusion und führt nur zu Magenleiden, Nervenzerrüttungen und unkontrollierbaren, eruptiven Emotionen. Wie also vorgehen? Gelingt es, mit dem Kompromis zu leben, beide Welten nur bis zu einem gewissen Maß kennenzulernen? Doch in welchem Verhältnis, in welcher Mixtur? Darf man seiner Intuition oder Erfahrung Vertrauen schenken, oder sollte der Prozentsatz strikt geplant werden? 50 zu 50, 30 zu 70 oder 10 zu 90? An mir kenne ich die NEUgier, so daß es schwer fällt, sich den Verlockungen des aktuellen Buchmarktes zu verschließen. Das heißt, mein Weg darf der Zufall nicht sein; vielmehr heißt es, durch fest verplante Leselisten den Klassikern und Wiederlektüren einen Platz vorzuschreiben, der sich resistent gegen die durch Neugier evozierte Verdrängungsgefahr erweist. (11. April 2006)


Lesebiografie (2)

Freund Köllerer widmet sich bibliomanen Betrachtungen, die sich zu einer Serie auswachsen werden, für mich ein gefundene Fressen, d.h. der Hunger war dementsprechend. Sie sollten mir Ansporn sein, meine Plaudereien nicht gänzlich verkümmern zu lassen. Immerhin entspringt ihnen das Lesefieber-Weblog; denn vor beinah 6 Jahren, am 29.April 2001, begann ich sie. Einige Wochen später folgten dann bereits Kategorien, die bis heute Bestand haben wie Zitate, die Fundstücke, Links, Kuriosa u.a. Vielfach verlagerten sich bibliomane Emanationen in entsprechende Communities, heute vor allem ins Klassikerforum und ins Literaturschockforum. Zuweilen hatte ich den Eindruck, es sei alles gesagt bzw. ich würde mich ohnehin nur wiederholen. Gewisse, von Bibliomanen ausgestoßene Klagen sind nicht sonderlich originell. Kommen sie auch von Herzen, können sie doch ermüdend auf den Leser und Besucher wirken. Allerdings darf man sich fragen, ob Bibliomanie nicht - wie jeder Monomanie - per se etwas Penetrantes anhaftet und ob der Besucher damit zwangsläufig geplangt werden muß. Die Richtung, in der sich Christians Lesebiografie bewegt, ist wohl eine, die viele passionierten Leser an sich selbst ausmachen. Weniger ist mehr, weil tiefer. Hermann Hesse beschwor das immer wieder eindringlich; er sieht Lesen weniger als selbstgenügsames, als vielmehr als selbsterzieherisches Tun: "Gedankenloses, zertreutes Lesen ist geradeso wie Spazierengehen in schöner Landschaft mit verbundenen Augen. Wir sollten auch nicht lesen, um uns und unser tägliches Leben zu vergessen, sondern im Gegenteil, um desto bewußter und reifer unser eigenes Leben wieder in feste Hände zu nehmen. Wir sollen zu Büchern kommen nicht wie ängstliche Schüler zu kalten Lehrern und auch nicht wie Nichtsnutze zur Schnapsflasche, sondern wie Bergsteiger zu den Alpen und wie Kämpfer ins Arsenal, nicht als Flüchtige und zum Leben Unwillige." Zeit, seine bibliomanen Texte wiederzulesen, so unter anderem Über das Lesen und Vom Bücherlesen (9. April 2006)


Bilanz 2005 (2)

Wie es aussieht, vermögen mich Science-Fiction- Bücher nicht mitzureißen. Im vergangenen Jahr wagte ich mich an zwei Klassiker und konnte weder Douglas Adams' "Per Anhalter durch die Galaxis" noch Kurt Vonneguts "Die Sirenen des Titan" etwas abgewinnen. Dabei verschmähe ich Fiktionen und Entwürfe zukünftiger Welten keineswegs. Immerhin las ich das ein wenig spröde, doch im Vergleich zu den zwei vorgenannten Werken immer noch lesenswertere "Die Erben des Untergangs" von Oskar Maria Graf, einem Autor, der wahrlich mehr Aufmerksamkeit verdient hätte. Den Bestseller "Der Dativ ist dem Genitiv sein Tod" von Bastian Sick las ich mit einem gewissen Schulterzucken, was der Tatsache geschuldet sein könnte, daß man als Sprachinteressierter wenig Neues und Spektakulärer vorfand, das es gerechtfertigt hätte, aus dem Stoff ein Buch zu schustern. Solche Erbauungsbücher wie Eric-Emmanuel Schmitts "Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran" werde ich mir in Zukunft ebenfalls sparen können. Dann doch eher die Bergpredigt oder die Psalmen lesen bzw, wenn man ganz düster drauf ist, das Buch Kohelet. Liest man Rezensionen, wundert man sich, wie divergent die Einschätzungen und Reaktionen auf ein- und dasselbe Buch sein können. Deshalb hoffentlich keine Enttäuschung, wenn ich mich mit dem vielseits gelobten Bora Cosic' "Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution" wenig anfangen konnte. Überhaupt stelle ich fest, daß ich mutiger geworden bin und Bücher auch weglegen kann. Je älter man wird, desto klarer, daß Beschränkung vonnöten ist, daß die Konzentration unumgänglich ist; denn die knapper werdende Lebens- ist zugleich die schwindende Lesezeit.


Bilanz 2005 (1)

Die besten Bücher 2005? Sowas kann ich einfach nicht. Unter den 167 gelesenen Bücher befinden sich so viele, so unterschiedliche und so gute, daß es unmöglich ist, eine Top 5 oder Top 10 zu bilden. Da immerhin 45 erprobte Jahresautoren meine Lektüre bereichern, ist der Pegel, was lesenswerte Literatur anbelangt, immer einigermaßen stabil und austariert. Wirklich schlechte Bücher lese ich nicht, d.h. sie erscheinen nicht in der Liste gelesener Bücher. Manche Bücher amüsieren ganz einfach, was nicht die schrecklichste Wirkung eines Buches darstellt. Von Wladimir Kaminer las ich erstmalig etwas. Gute Zwischendurchlektüre. Bekanntlich liebe ich Werke, in denen mir der epische Atem unverhüllt entgegen weht. Kein Wunder, daß mir DBC Pierres "Jesus von Texas" und Siris Hustvedts "Was ich liebte" sowie Yann Martes "Schiffbruch mit Tiger" besonders gut gefielen, zumal sie als Neuentdeckungen durchgehen. In diesem Jahr hatte ich eine heftige Kinderbuchphase, in der mir speziell Erich Kästner nahe gekommen ist. Zufrieden bin ich einigermaßen hinsichtlich der Zweitlektüren. In den kommenden Jahren möchte ich sie intensivieren, was auch bedeutet, daß neue Autoren limitiert werden müssen. Beim nochmaligen Durchgehen meiner LGB erinnere ich van der Heijdens "Fallende Eltern" aus dem 7-bändigem Romanzyklus 'Die zahnlose Zeit'. Ein niederländischer Schriftsteller von Gottes Gnaden, den ich allen Lesern ans Herz lege. Ach, es gibt so viele Bücher, die man empfehlen könnte. Deswegen wollte ich eigentlich nichts schreiben, was einer Zusammenfassung des Lesejahres ähneln könnte. Wenn ich die Leselücken betrachte, die ich auch dieses Jahr nicht zu füllen schaffte, wird mir noch schwummeriger. 2006 sollte ich endlich Uwe Johnsons "Jahrestage" knacken. Schriftsteller, die man erstmalig liest, teilen sich in zwei Gruppen - in die, bei denen man sich sagt: dieses Werk war ok, ich belasse es vorerst dabei; und in die, bei denen man jetzt schon weiß und plant, daß man Weiteres lesen wird. Zu ihnen gehören Klaus Mann ("Mephisto"), Amos Oz ("Black Box") und Michael Kumpfmüller ("Hampels Fluchten").


Let's talk about reading

Ein ennervierender Thread zum eigenen Leseverhalten, der anläßlich dieses Artikels ins Leben gerufen worden ist. Ich schrieb folgenden Beitrag: "Auch wenn ich oft kokettierend klage, nicht zum Lesen zu kommen: ich lese doch täglich. 2,5 bis 3 Stunden bin ich unterwegs, kann diese Zeit allerdings nur teilweise nutzen. Früh um 5 Uhr bin ich in der Straßenbahn einfach noch zu müde, um zu lesen. Und nach der Nachtschicht um 6.30 ebenfalls. Aber seitdem ich mir einen mp3-Player angeschafft habe, stört mich die Außenwelt nicht mehr so. Mit der entsprechenden Musik kann ich sogar lesen, wenn Kinder kreischen oder Alkoholisierte randalieren. Zwei Aspekte beeinträchtigen mein Lesen. Ich bemerke, wie sich die Lesefähigkeit verändert, d.h. abnimmt. Die Geduld, sich einen Text zu erobern, schwindet; die Konzentration wird schwächer. Ich ertappe mich dabei, gewisse Literatur von vornherein als zu schwierig einzustufen. Weiterhin stiehlt mir meine Internetsucht Zeit, die ich lieber für die Lektüre verwendet hätte. Das Verhältnis zwischen Betätigung mit und im Internet und dem Lesen befriedigt mich nicht. Immer wieder entstehen Situationen, in denen ich frustriert alles hinwerfen möchte. Das Ideal des ungestörten Lesens bleibt unerreicht."


Restriktive Lesekonstruktion

Man darf folgendes in Foren nicht erwähnen, wo eine Mehrzahl an Lesern so "funktioniert": "Die lustdominierte Lesehaltung der Kinderlektüre kann also unzerstört erhalten bleiben, die Literatur allerdings, die auf diese Weise rezipiert werden kann, ist eingeschränkt auf das unterhaltende Spektrum. Die Lesekonstruktion, die die befriedigende Lektüre von Trivialliteratur (bzw. von trivialisierter Lektüre anspruchsvoller Texte) organisiert, ist als Fortsetzung der lustorientierten Lesefunktion der Kindheit zu verstehen." (Werner Graf: Die Erfahrung des Leseglücks) - Wohlgemerkt: nichts gegen diese Lesekonstruktion, wie sie Graf nennt, die uns auch als Erwachsene ermöglicht, an Lektüre längst vergangener Tage Freude zu finden, indem wir beispielsweise Kinderbuchklassiker wiederlesen. Sollte wir uns jedoch keine weitere Konstruktion angeeignet haben, bleiben wir bei Unterhaltungsliteratur hängen. Optimistisch stimmt, daß passionierte Leser ihre Lesebiografie meist selbst entwickeln und, so sah das auch Hesse, sich quasi die Weltliteratur "hinauflesen". Irgendwann versagt die automatische Befriedigung durch reine unterhaltende Literatur, und der Hunger nach widerständigerer Lektüre entsteht und muß beseitigt werden.


Stöbern? Ohne mich!

Der Tenor, wenn der Erwerb von Büchern für die eigene Lektüre zur Sprache kommt, ist eindeutig: Man möchte stöbern. Am besten und ehesten in einer Buchhandlung vor Ort. Hineinschauen ins Buch, blättern, das Buch beschnüffeln. Nur eine Minderzahl favorisiert den Kauf übers Internet. Wenn schon online, dann wählen viele den virtuellen Bucherwerb aus logistischen Gründen, z.B. weil sie zu weit von einer Buchhandlung entfernt wohnen, nicht weil sie es so lieber machen als im handgreiflichen Tumult im Laden. Bin ich die Ausnahme? Ich kaufe NUR mittels Internet und will nicht stöbern! Wozu auch? Ich weiß, was ich lesen will, und plane meine Lektüre und brauche dann lediglich das betreffende Buch zu recherchieren und mit einem Klick zu bestellen. Wer angibt, gerne in Buchläden zu stöbern, begründet das neben der haptischen Seite mit der Notwendigkeit, so auf Neues zu stoßen, Unbekanntes kennenzulernen. Meine Entscheidungsfindung entwickelt sich wie auch der Kauf fast ausschließlich rein virtuell, indem ich Rezensionen, Buchtipps und Diskussionen im Netz verfolge. Mir fehlt nichts dabei, im Gegenteil. Die Selektion des Überflüssigen erscheint immer wichtiger; denn die Informationsflut läßt den vermeintlichen Stapel an "must reads" ins Ungeheuerliche wachsen. Außerdem ist ein Großteil der Lektüre vorgegeben. Ich nenne mich einmal einen "Autorenleser" und bezeichne damit jemanden, der, wenn er einmal einen Schriftsteller für sich entdeckt hat, ihn nach und nach "auslesen" will. Das impliziert, daß ich von ihm beinahe ohne hinzugucken, Buch um Buch erwerbe. Wozu stöbern? Mir scheint, daß ein passionierter Leser ohnehin einen Instinkt entwickelt, durch den er den richtigen Riecher für die wichtigen und jeweils nächsten Bücher besitzt. Das läuft im Kopf ab. Und nichts ist schöner, als dann das Päckchen in der Hand zu halten und das "unbekannte bekannte" Buch zu imaginieren. Der Augenblick, in dem das Buch aus dem ungeduldig zerfetzten Packpapier zum Vorschein kommt, ist unverwechselbar.


Bücheracquisition

Daß Amazon auch als Plattform für gebrauchte Bücher firmiert und eBay in dieser Hinsicht den Rang abgelaufen hat, kann ich locker nachvollziehen. Drei, zwei, eins, meins - oder eben nicht, weil man überboten wurde - ist eben nicht meins. Stattdessen mag ich Festpreise; ich mag mit einem Kauf nicht warten; ich mag diese Ungewißheiten, die Auktionen für viele so reizvoll erscheinen lassen, nicht. Aspekte, die eBay für mich indiskutabel machen. Seit vielen Jahren erwerbe ich meine Bücher überwiegend auf antiquarischen Wegen, und zwar mittels Internet. In lokale Buchhandlungen und Antiquariate bemühe ich mich selten und bin dann auch jedesmal recht enttäuscht davon, wie wenig das Angebot doch meinen Erwartungen gerecht zu werden vermag, welches durch die unterschiedlichen Plattformen im Netz mit ihren millionenfachen Buchangeboten den Händler vor Ort einfach blaß aussehen lassen. Tut mir leid, es nicht anders sagen zu können. Bislang nutzte ich meist Booklooker, stelle allerdings seit einiger Zeit fest, wie ich mich zunehmend mit Amazon Marketplace arrangiere, das ich früher wegen der horrenden Versandkostenpauschale von 3 Euro verteufelte. Mittlerweile weiß ich aber die Bequemlichkeit zu schätzen, die die dortige automatisierte Bestellung mit sich bringt. Dafür nehme ich sogar höhere Kosten in Kauf. Mit dem Bestell-Klick ist für einen alles getan, während man bei Booklooker auch wieder auf die Reaktion des Verkäufers zu warten hat. Bei entsprechend öfteren Buchkäufen erlebt man dabei so einiges. Gerechterweise darf ich sagen, daß in 99 Prozent der Fälle keine Probleme entstehen. Nur lebe ich ungern mit der Ungeduld, das Geschäft unabgeschlossen zu wähnen. Durch die leidige Vorkasse vergehen, auch durch lästige bankfreie Wochenenden, zwischen Bestellen und Auspacken des Buches schon mal 7 bis 10 Tage. Je älter man wird, denkt man, desto intoleranter wird man gegenüber diesen Verzögerungen. Mit Amazon wählt man ein Buch aus, klickt - und fertig, bis der Postbote es einem in den Briefkasten steckt oder, paßts nicht hinein, es keuchend in den 4. Stock trägt. (28.Juli 2005)


Lesebiografie (1)

Als Kind verfügte ich über wenige eigene Bücher. Eigentlich erinnere ich mich nur an das Buch "Die Reise nach Sundevit" von Benno Pludra. Ich verbrachte meine Ferien immer bei meiner Oma, wo ich schon im Vorlesealter mit der Bibel konfrontiert worden bin. Als sehr fromme Frau verfügte sie über eine ansehnliche Bibliothek mit religiösem Schrifttum, das auch mein Lesestoff wurde. Das zog sich durch meine Kindheit und Jugend, d.h. ich verlegte mich selbst auf Bücher, die allesamt etwas mit Religion, Kirche und Spiritualität zu tun hatten. Zunächst Hagiografien, später auch Klassiker von Terese von Avila, Thomas von Kempen, Johannes vom Kreuz usw. Profane Literatur las ich kaum. So gingen "Die Söhne der großen Bärin" von Liselotte Welskopf-Henrich an mir vorbei, wenn ich auch weiß, daß so ziemlich jeder DDR-Junge sie gelesen haben muß. Karl May war mir nicht bekannt. Von spezifischer Science-Fiction- Literatur von sowjetischen und ostdeutschen Autoren wußte ich, weil der Vater eines Freundes sie las. Westliche Kinderbuchklassiker wie die von Blyton, Lindgren, Ende, Preußler u.v.m. wurden mir erst als Erwachsener bekannt. Selbst an Kästner kann ich mich nicht erinnern, obwohl es ihn gegeben habe muß. Meine Eltern waren keine Leser; so war ich auf das angewiesen, was mein Großmutter mir vermittelte.


Kein Sitzfleisch mehr

Ich bemerke eine krasse Veränderung meiner Lesequalität, seitdem ich im Internet surfe; Abgesehen davon, daß ich häufig ganze E-Books am PC lese, bedeutet "Surfen im Internet" doch größtenteils - lesen! Mein Sitzfleisch nimmt ab. Möglicherweise ist dies eine Wirkung des Älterwerdens. Ich vertrete dennoch die These, daß das Leben am Bildschirm die Konzentration verändert. Der kurzfristige Blick wird geschult, er wird durch das Netzleben durchaus perfektioniert. Der lange Atem jedoch, der nötig ist, um mit Muße ein Buch zu lesen - linear von Seite 1 bis Seite X und dabei zu bleiben, wird untergraben.


Einfach frei nach Schnauze lesen

Aufgrund der Einbildung oder Auffassung, meine Lektüre planen zu müssen, verwehre ich mir Bücher und ziehe andere vor, weil sie mir aus strategischen Gründen passender vorkommen. Bin ich mit diesem Konzept zufrieden? Sollte ich nicht einmal frei nach Schnauze lesen, und wie sähe das dann aus? Warum eigentlich ein Leseplan. Ausgewogen sollte die Lektüre sein, möglichst abwechslungsreich, keine Häufung weniger Autoren, sondern breit gefächert und vom Bemühen geprägt, Bücher gelesen zu haben, die man in den Augen anderer gelesen haben sollte. In den Augen der Menschen, die einen für einen guten, d.i. anspruchsvollen Leser halten, nicht versagen wollen! Welche Bücher würde ich also lesen, wenn ich sowohl die Bildungsbeflissenheit außen vor ließe als auch den Drang, die Reihenfolge meiner Lektüre nach Gesichtspunkten wie Abwechslungsreichtum, Vollständigkeit und Ausgewogenheit zu ordnen? Was passierte, wenn ich nicht mehr gewillt wäre, ein bestimmtes Niveau einzuhalten? Akkurat vermag ich es nicht vorherzusagen; vermutlich würde sich nicht allzu viel ändern. Das klingt paradox. Als ich gerade meine LGB überflog, fiel mir auf, daß die Anzahl der Bücher, die ich nicht lesen würde, wenn es nur mich gäbe und niemanden, den ich beeindrucken zu müssen glaube, sehr gering ist und also kaum der Rede wert, wenn es dann nicht irgendwann wieder hieße: Was? Du hast die Göttliche Komödie nicht gelesen? Du kennst Shakespeare nicht? Du verweigerst dich der Antike? Du liest keine Gedichte und kennst kaum Dramen? Wißt ihr was, ich habe mir Mut angeschrieben und sage: Scheiß drauf. Welche Bücher würde ich denn dann oder noch lesen, wenn ich nur meinen Wünschen folgte. Mehr Reißer, eben jenes Lesefutter, jene Pageturner, die ich mir jetzt versage, weil anderes vermeintlich wichtiger und besser ist. Mehr Krimis - auch auf sie verzichte ich zugunsten des Niveaus. Ich muß mich befreien! Denkbar und gut möglich, daß ich dann wie Paare, die verweifelt Kinder wollen und keine kriegen, dann, wenn sie mit der Endgültigkeit konfrontiert werden, dann, wenn die Fessel weg ist, urplötzlich Eltern werden. Gut möglich, daß ich dann nach unzähligen Krimis und kiloweise Lesefutter vielleicht ebenso leicht schwanger gehe mit Büchern, die mir jetzt das Entsetzen in die Augen treiben.


Die Spreu vom Weizen

Wie weit ist die Spanne zwischen "Lesefutter" und Weltliteratur? Welches der beiden Lämpchen leuchtet bei welchem der von einem gelesenen Bücher auf? Wie bleibt man zurück: gesättigt, übersättigt, erfüllt, müde, aufgeputscht? Sollte man einem Buch einen "Waschzettel", wie er bei Arzneimitteln üblich ist, beigeben? Beabsichtigte Wirkung, mögliche Nebenwirkungen. So genannte "Pageturner" lese ich zu selten, als daß ich einen soliden Vergleich zu Büchern ziehen könnte, denen man sich behutsamer hingibt, die einem mehr abverlangen, als nur der Handlung zu folgen. Ich kenne Bücher, die ich wahrscheinlich nie lesen werde, weil sie eingedenk der beschränkten Lebens=Leseszeit einfach unter den Tisch fallen müssen; fast die gesamte Science Fiction gehört dazu. Ich kenne Bücher - aber was heißt "kenne", wenn ich sie nicht gelesen habe-, die mir Angst machen und die sich deswegen seit ewigen Zeiten ungelesen in einem Bereich meines Hirn bewegen und aus gegebenem Anlaß ein mentales Donnergrollen hören lassen. Paradebeispiel ist Dantes "Göttliche Komödie". Dieser Zwiespalt! Einerseits das Wissen, daß andere sie für eines der besten Werke der Weltliteratur halten; andererseits - befrage ich mich ehrlich - die bleibende Unlust, sie zu lesen.


Lob der widerständigen Lektüre

Werner Fuld schreibt "Jede mühsame Seite von James Joyce oder Thomas Mann macht uns heute dümmer, weil ihre langsame Lektüre uns von vielen anderen klugen Büchern abhält. Man sollte keine Bücher lesen, die man nicht versteht - nur, weil sie in irgendeinem Kanon auftauchen. Und man sollte auch kein schlechtes Gewissen haben, wenn man ein Buch, das einem nichts sagt, nach 50 Seiten einfach weglegt - Bücher unbedingt zu Ende lesen zu müssen ist eine deutsche Krankheit, die es in anderen Ländern nie gegeben hat. In seinem Essay 'Über die Bücher' schrieb der große Montaigne: 'Wenn ich beim Lesen auf Schwierigkeiten stoße, beiße ich mir an ihnen nicht die Zähne aus... Was ich nicht beim erstenmal durchschaue, das durchschaue ich auch nicht, wenn ich mir mehr Mühe gebe. Bin ich des einen Buches überdrüssig, dann nehme ich ein anderes zur Hand.'" -- Schult widerständige Literatur andererseits nicht? Sollte man sich nur am dem ergötzen, was leicht eingängig ist? Fördern Schwierigkeiten nicht auch die Kognition? Ist die Freude, bei einem Buch durchgehalten zu haben, das einem anfangs etwas mühevoll schien, nicht besonders erfüllend? Ich rede nicht davon, sich durch Uninteressantes zu quälen, aber gerade Robert Musil "Mann ohne Eigenschaften" ist ein gutes Beispiel dafür, daß es sich lohnen kann, ein Buch anzugehen, das man sich erst erobern muß, bevor einem die Früchte in den Schoß fallen. Meine Lektüre verläuft nicht so, daß ich ein Buch zur Hand nehme und nach den ersten Seiten (manchmal bis tief ins Buch hinein) sagen kann: gut oder schlecht, langweilig oder interessant. Bis ich mich mit dem Buch arrangiert habe, vergeht eine gewisse Phase der Unentschiedenheit, bis schließlich der Point of no return kommt. Wenn ich nun alle Bücher weglegen würde, die mich nicht sofort und endgültig zu faszinieren vermögen, dann würde meine Lektüre ziemlich ausgedünnt. Manche Autoren sind widerständiger als andere. Die Alexandria- Romane von Lawrence Durrell erfordern ein konzentrierteres Lesen als ein lustiges Buch von Michael Schulte. Was ich eben nur sagen will: Leser, gib nicht gleich auf, wenn du auf einen Widerstand stößt! Reibe dich an ihm und versuche, was du zustandebringst; denn es lohnt sich!"


Gegen den Fluchtinstinkt

Feridun Zaimoglu sagt darüber, wie und wann er arbeitet, ergo schreibt: ..."dann muß ich in der ersten halben Stunde gegen den Fluchtinstinkt anschreiben." Ich kenne das auch, allerdings als Leser. Zu hibbelig, um konzentriert ein Buch zu lesen, zu abgelenkt, um nicht immer wieder andere Dinge unbedingt zwischenschalten zu wollen. Gegen diesen Fluchtinstinkt muß ich anlesen. Das Umfeld gilt es reizfrei zu halten. Ein ins Internet eingeloggter Computer, der neben einem steht, wenn man liest, ist für manche vielleicht eine zu starke Versuchung, der man sich nicht aussetzen sollte. Der Umtriebigkeit und dem Mäandern im eigenen Tun und Denken gilt es die früchtebringende Fessel einer notwendigen Konzentration und Zucht anzulegen, die besonders am Anfang vonnöten zu sein scheint. Einmal "warmgelesen", verfüge ich über ausreichend Sitzfleisch. Wie eine Kakerlake, die man nicht vom warmen Herd vertreiben kann und die immer wieder hintrippelt.


Gegen Widerstände anlesen

Ich las kürzlich John Updikes "Der Coup" und wollte das Buch nach 60 Seiten weglegen, weil es mir zu trocken vorkam, ich nicht richtig warm wurde. Doch lege ich sehr selten Bücher weg. Weiter! sagte ich mir. Und - diese Erfahrung mache ich dann immer wieder - schließlich war ich heilfroh, nicht aufgegeben zu haben. Der Point of no return bei einem Buch liegt bei mir oft sogar in der Mitte. Was man nicht machen darf: sich unter Druck setzen, man MÜSSE ein Buch gelesen haben, weil andere es einem abfordern. Mir ist wichtig, durchaus gegen Widerstände anzulesen, die manche Bücher mit sich bringen. Sonst würde ich irgendwann nur noch Triviales lesen. Den Berg hoch gehen! Stillstand und Stehenbleiben bedeutet eigentlich schon Rückwärtsgang. Allerdings kenne auch ich Eitelkeiten. Ein Buch von einem Autoren wegzulegen, den keine Sau kennt, fällt relativ einfach. Aber einzugestehen, daß man wenig Spaß mit Joyces Ulysses habe, ist eine ganz andere Sache. Der Ehrgeiz bei Büchern, bei denen anderen einer abgeht, wächst, auch wenn man selbst beim Lesen nur Staub zu schlucken meint.


Nicht totzukriegen das Buch

Wie oft schon wurde das Buch tot gesagt. Oder schlimmer noch: der Welt der Bücher, der Gutenberg- Galaxie, ein baldiges Ende vorausgesagt. Die Vorteile digitaler Informationen sind offensichtlich. Sie lassen sich schnell verbreiten. Sie nehmen wenig Speicherplatz ein. Daß mehrere Menschen gleichzeitig und unabhängig vom Ort auf einen bestimmten Datenbestand zugreifen können, ist dank dem Internet möglich geworden. Kein Problem, wenn der Nutzer der Information in Kanada sitzt, die Information selbst aber auf einem syrischen Computer gehostet (physikalisch gelagert) ist. Im Gegensatz zu rein visuellen Medien wie Radio und Fernsehen sind digitale Informationen dauerhaft abrufbar. Solange die Technik mitspielt! Bücher, scherzhafterweise als "Totes-Holz-Ausgabe" bezeichnet, halten sich viele Jahrhunderte lang, jedenfalls wenn das Papier gut war. (23. März 2004)


Datenmigration

Der Inhalt ist abhängig von Medium bzw. seinem Lesegerät. Während man, um ein Buch zu lesen, nur gute Augen und das Buch braucht, benötigt man für digitale Informationen gute Augen, das Medium UND ein Gerät, mit dem es sich lesen läßt. Das verkompliziert die Sache. Denn mit jeder technischen Veränderung (wollen wir nicht von Revolution reden, weil wir nicht sicher sein können, eine Verbesserung erreicht zu haben) besteht die Gefahr, daß Medien oder Lesegeräte verschwinden oder unbrauchbar werden. Jeder, der ratlos vor einer gewaltigen Disketten- oder Schallplattensammlung oder einer Schublade voller Streamerbänder steht, wird wissen, was gemeint ist. Die Information selbst müßte, um erhalten zu werden, auf ein neueres Medium übertragen werden (Datenmigration). Was im kleinen noch machbar erscheint, scheitert im Großen. Der Wechsel der Medien erfolgt nicht abrupt, sondern schleichend. Die Datenexplosion - immer mehr Daten werden immer schneller verarbeitet und verbreitet - setzt einer Migration von Daten von veralteten auf aktuelle Medien eine so deutliche Grenze, daß man sich ernsthaft Gedanken machen sollte, wie man zukünftig mit der Information umgeht, damit sie "sicher", damit sie haltbarer ist. (23. März 2004)


Datenwust

Das papierlose Büro blieb bisher Illusion. Im Gegenteil, die Papierberge wuchsen noch an. Wichtiges wird nach wie vor ausgedruckt. Es geht nicht nur um Haltbarkeit, sondern ebenso um Auffindbarkeit. Paradoxerweise drohen einem digitale Informationen eher zu entschwinden als analoge, wenn man sie nicht willkürlich und mit strengem Ordnungssinn strukturiert und im Auge behält! Andernfalls werden sie sich in den Weiten einer Festplatte oder CD-ROM verlieren und sind späterhin nicht selten unauffindbar oder doch nur mir solcher Mühe, daß man sich fluchen hört: Hätte ich das nur mal aufgeschrieben oder ausgedruckt! Daten, wenn man sie nur anhäuft und nicht pflegt, z.B. durch regelmäßige Selektion (wichtig - unwichtig, löschen - behalten), verklumpen. Sie bilden einen kaum durchschaubaren Wust. (23. März 2004)


Wie Lese-Inhibitoren bezwingen?

Wie organisiert man sein Lesen? Wie umgeht man die Fallen? Wie kämpft man gegen die Barrieren und Hemmnisse, die die eigene Lektüre be- oder sogar verhindern? Als restriktive Faktoren werden oft anderweitige Beschäftigungen genannt (Haushalt, Fernsehen, Radio) sowie die abendliche Müdigkeit, die jeden Versuch extensiven Lesens angesichts tränender oder zufallender Augen scheitern läßt. Was tun, wenn man doch eigentlich gerne liest? Wie bezwingt man die Lese-Inhibitoren? Bei mir sind es weniger die physischen Barrieren wie Müdigkeit und Abgespanntsein, die eine Lektüre behindern. Sie umgehe ich durch den Schichtdienst, der sich paradoxerweise als der Lektüre förderlich erweist. Bei Spätdienst kann ich vormittags, bei Nachtdienst am Nachmittag bis in den Abend ausgeschlafen lesen. Nach dem Frühdienst hilft ein konsequenter Schlaf von 16 bis 18 Uhr, damit man abends aufnahmefähig ist. (18. März 2004)


Ich bin das Problem

Wo liegt also das Problem? Ich selbst bin es, der mir im Weg steht. Wäre ich ein bißchen konsequenter, könnte ich mehr lesen. Diese Erkenntnis schürt selbstverständlich die Ungeduld und den Ärger über das eigene Unvermögen. Eine Drift weg vom Buch, hin zu Aktivitäten im Internet, das mich vereinnahmt, wogegen ich immer weniger ankämpfen kann. Das Faszinosum Buch brandet wie eine Welle gegen die Mauer "Ich bin jetzt online, ich schaue nur mal eben nach Mails, News; ich muß noch meine Blogs füttern; mir fällt noch ein, daß ich im Klassikerforum vorbeischauen müßte; noch ca. 40 Weblogs sind zu lesen, ein paar Zeitungen gehören ebenso zur täglichen Rundschau; rasch noch ein paar Videoclips der Tagesschau der Zdf-Mediathek für den verhungerten Nicht-Fernseh-Besitzer; und jetzt könnte ich nochmal nach News/Mail schauen. Und für die beiden Wikis fällt mir auch 'ne Menge ein." Ist der Rechner erst einmal eingeschaltet, zieht eines das andere nach sich; man ist verloren wie im Treibsand, aus dem man sich nicht mehr befreien kann. Leider muß ich der Erkenntnis meiner Internetsucht ins Auge blicken, die ich früher nie für möglich gehalten hätte. Und das Buch? Bis jetzt hat es noch seinen Platz behauptet. Doch seit einigen Wochen bemerke ich, wie er an Substanz verliert. Das Lesepensum sinkt, der Ärger darüber wächst, ohne daß ich dem Einhalt zu bieten verstünde. Wie ein Riegel vorschieben? Wie sich immunisieren? Wie gegen die Entropie ankämpfen? Welcher Psychologe versteht sich auf internetabhängige Bibliomanen, die mit ihren Süchten nicht mehr klarkommen? (18. März 2004)


Strategien entwickeln

Mit zunehmendem Alter merke ich, wie sich meine Lesefähigkeiten verändern. Beim Sitzen werde ich zappelig; ich lasse mich ablenken; rascher schwindet meine Konzentration. Also lese ich Seiten nochmal, sobald ich merke, nurmehr automatisch gelesen zu haben. In zunehmendem Maß lese ich laut, um die Lesegeschwindigkeit zu drosseln und die Qualität meiner Rezeption zu erhöhen. Je dünner ein Buch, desto nötiger diese Bremse! Dünne, sich schnell lesende Bücher sind fatal, 120 bis 150 Seiten in großzügigem Druck, bei denen man quasi mit einem Blick bereits eine Seite aufgesaugt hat. Sie lese ich nach einiger Zeit noch einmal! Ansonsten plädiere ich großmütig für eine Amnesie in litteris. Und ich streiche Textstellen an, tippe sie ab, verwurste sie für meine Blogs oder sonstwo. Außerdem ziehe ich mehr und mehr andere Leseerfahrungen zurate, google nach Material zu meiner aktuellen Lektüre und inzensiere sie auf diese Weise. (18. März 2004)


Lesepensum. Klagen

Manchen gelte ich als Vielleser, obwohl ich mich nicht als solchen empfinde. Wie mögen aber erst diejenigen, die berufsmäßig lesen (Kritiker, Journalisten), mit der Fülle klarkommen? Um der Masse willen zu lesen ist kaum die Intention eines geübten Lesers. Dies wird einem jedoch von anderen angehängt, sobald man ein gewisses Pensum erreicht. Nur kann ich nichts dafür - wenn ich die Zeit zu lesen habe! Sobald ich mit einem Buch fertig bin, greife ich eben zum nächsten. An dieser Reihenfolge brauche ich doch hoffentlich nichts zu ändern? Die Menge ist nur dem Umstand geschuldet, daß ich außer Lesen und Internet nichts zu machen brauche. So genügen täglich 2 Stunden Lektüre, und man kommt auf 10 Bücher im Monat. Während andere keinen Bedarf sehen, ihr Lesepensum zu optimieren, empfinde ich meines als defizitär, als verbesserungswürdig. Warum? Wenn ich meine Zeit intensiv zu nutzen verstünde, wenn das Gleichgewicht zwischen den von mir bevorzugten Dingen gewahrt bliebe, dann gäbe es keinen Grund zur Klage. Meine Lesepensum nimmt stattdessen ab. Ich verbringe immer mehr Zeit am Bildschirm und verzettele mich bei immer mehr Online-Projekten. Seitdem ich eine Flatrate nutze, ist dieser Entwicklung Tor und Tür geöffnet und sie kaum zu stoppen. PC aus! sagt sich leicht und ist doch so schwer getan. Was ich bräuchte, wäre ein Freizeitrainer, durch den ich Mechanismen erlerne, ein Gleichgewicht einzuhalten! Sich vernünftig und behutsam zu beschränken! Denn ein gänzlicher Verzicht auf die schöne virtuelle Realität wäre sicherlich keine Lösung, weil ich dadurch die Fähigkeit, Leeräume produktiv und mit dem, was mir vorschwebt, zu füllen und der Entropie, der geistigen Verflachung entgegenzuarbeiten, nicht gewinnen würde. (18. März 2004)


Online-Leselisten

Nicht nur das Bücherlesen übt seinen unwiderstehlichen Reiz aus. Auch das Planen der Lektüre, das Sich- Vergegenwärtigen dessen, was noch fehlt, was man vorhat zu lesen oder auch das Erinnern vergangener Lektüre. Ein Bibliomane wie ich, der noch dazu in nicht geringem Umfang Pedant ist und vermutlich lebenslang bleiben wird, pflegt diesen Teil seiner Sucht. Allerlei Listen sind zusammengekommen. Manch einer wird kaum verstehen, was zum Henker daran schwer sein soll, ein Buch nach dem anderen zu lesen, und wozu dann die vielen Listen gut sein sollen. Für mich gehören sie einfach dazu. Wie ein Sammler seine Objekte der Begierde gar nicht oft genug anschauen kann, vermag ich dem Drang nicht zu widerstehen, meine Bücher zu strukturieren. Das Gedächtnis ist zahlreichen, unterschiedlichen und teil widerstreitenden Einflüssen ausgesetzt. An wichtige Vorhaben muß man sich erinnern! Manches darf nicht in Vergessenheit geraten. Tagesaktuelle Dinge übertönen vielleicht allzulang Geplantes. Der Zweck der Leseplanung besteht deshalb weniger im Ausschluß oder Hintansetzen neuer Werke, sondern darin, den Platz der alten gegen die neuen zu behaupten. Wie auch immer, diese Leselisten habe ich jetzt ins W3 verlegt, um jederzeit darauf zugreifen zu können. (21. Mai 2001)


Die Rache der Bücher

Die Kategorie der zukünftigen Bücher teilte ich also von vornherein in ungelesene und wiederzulesende auf. Konfliktstoff genug. Steht man vor dem Berg der sich anbiedernden ungelesenen Werke, drehen einem die geliebten und bislang geduldig wartenden gelesenen beleidigt den Buchrücken zu. Das machen sie zwar immer, diesmal jedoch kommt es mir irgendwie ausgesprochen abweisend vor. Ich würde mich nicht wundern, wenn sie sich rächen würden. Nicht wenige derjenigen Bücher, von denen wir meinten, sie zu besitzen, die wir aber nirgends mehr finden können, sind ebensolche, die ihre perfekte Rache nun vollendet haben. (1. Mai 2001)


Wie Welt im Buch

Für einen passionierten Leser gibt es kein schöneres Tun, als eben zu lesen. Er wird alles daran setzen, Zeit für seine Lektüre zu finden. Er ist der Gefangene des Buches; und er liebt diese Art von Unfreiheit, weil sie der Weg zu einer ganz anders gearteten, unglaublich faszinierenden Freiheit ist, die des Geistes, der die Dinge durchdringt. Die Welt, die dieser Leser betritt, gibt es nur für ihn. Er ist ihr Schöpfer. Aber er wäre unfähig, sie zu schaffen, hätte er nicht das Werkzeug des Buches in der Hand. Und jedes Buch ermöglicht eine eigene Welt mit eigenen Gesetzen. Ähnlichkeiten verblüffen und erfreuen den Lesenden. Neuheiten faszinieren und motivieren ihn, auf Entdeckungsreise zu gehen, zu sammeln, ordnen, in Beziehung zu setzen, die Gesetze dieser Welt kennenzulernen und zu benennen. Der Leser ist der Wissenschaftler des eigenen Geistes. Jedes neue Buch ein neues Experiment. Wie jeder Wissenschaftler brennt er aus Neugier vor dem Unentdeckten. Vor jedem Buch stellt er eine Theorie auf, wie die Welt, die er in diesem erforschen wird, beschaffen sein könnte. Genugtuung und Zufriedenheit umfängt ihn, behält er Recht. Enttäuschung aber, wenn der weiße Fleck sich als allzu karg entpuppt. Glück, wenn es ihm gelingt, neue Formen ausfindig zu machen. (1999)


Höchste Priorität

Der pathologische Leser wird mitunter recht nachlässig in anderen Dingen sein, weil seine Gedanken darum kreisen, wie er nur schnell wieder zu seinem Buch gelangt. Ungeduld herrscht ob unerwarteter Verzögerungen. Wie gut, wenn man ein Buch in der Tasche hat, wenn man an der Haltstelle wartet oder im Wartezimmer eines Artzes. Desto schlimmer die seelische Pein, hat man vergessen, die Notration einzustecken. Warum habe ich nicht ...! Ich, Idiot! Nachlässigkeit vielleicht bei Alltagsgeschäften. Der Hausputz kann warten, das Buch keinesfalls! Man müßte eigentlich diesen oder jenen Besuch oder diese oder jene Besorgung machen. Sei's drum, kann - muß warten! Und wie erkläre ich meine Säumigkeiten, falls ich daraufhin von verärgerten oder enttäuschten Menschen angesprochen werde? Ein Leser wird um Ausreden nie verlegen sein und lieber als Egonzentriker gelten, als auch nur einen Deut von seiner Sucht abzurücken. Wenn man schon nicht vergißt, neben der Lektüre dem leiblichen Wohl Beachtung zu schenken, so weiß man doch meist auch, beides zu verbinden und - Zeit zu sparen. Die Schnitte in der Linken, das Buch in die Rechte geklammert. Dies als Ausdruck ganzheitlichen Sein, der um so gefälliger ist, als er wunderbar effektiv ist und uns um die Verlegenheit bringt, das Buch auch nur einen Augenblick aus der Hand legen zu müssen. (1999)


Wenn es kriselt...

Sobald sich der Büchernarr durch äußere Gegebenheiten und Bedingungen von seinem geliebten Gegenstand getrennt sieht, mag er wüten oder verärgert sein. Wenn aber die Barriere durch ihn selbst errichtet wird, überfällt ihn schiere Verzweiflung. Manchmal steht sich der Mensch selber im Weg und kann beim besten Willen nicht erklären, wie und warum es so ist. Lesekrisen haben nicht immer nur externe Ursachen. Ist nicht die fehlende Zeit daran Schuld, daß wir nicht zum Lesen finden, sondern sind es andere, kaum benennbare Gründe, stellt sich jener verzweifelte Zustand ein, der den darunter Leidenden das Leben zur Hölle machen kann. Nicht nur, daß er die Zeit, die er eigentlich mit dem Buch verbringen könnte, verstreichen sieht, nein, auch die Zeit, in der er vergeblich über dieses höchst unerfreuliche Mysterium nachsinnt, ist unwiderruflich verloren. Hier bauscht sich etwas auf, das zum Teufelskreis wird, aus dem man willentlich nur selten ausbricht. Meist vergeht eine Lesekrise, wie sie gekommen ist, nämlich unbemerkt. Der Ärger begründet sich auch mit der Ohnmacht, mit der man dies allem zusehen muß. (1999)


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