Allgemeine FAB  / [B1]


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Bahr, Iris: Moomlatz [1]

  Wenn ich "abgelegenes Drogendorf" höre, stelle ich mir lauter kleine grimmige Banditen vor, die hin und her huschen wie Edward James Olmos in seiner besten Rolle, eifrig damit beschäftigt, Opiumgranulat zu zerstoßen. Doch die Opiumbauern, die uns bei der Ankunft begrüßen, sind alles andere als undurchsichtige, zwielichtige Widerlinge mit schlechten Manieren. Es handelt sich tatsächlich um halb nackte Ureinwohner in traditioneller Stammestracht, raffinierte Accossoires inklusive. Es scheint, als sei das ganze Dorf von Mitgliedern des Akha-Stammes bewohnt. Man könnte meinen, sie trügen ihre einem National-Geographic-Heft würdige Aufmachung extra unseretwegen zur Schau. Doch das Gegenteil ist der Fall. Fremden wird hier nocht sofort angeboten, für einen Dollar ein Foto mit dem Ureinwohner machen zu könen, sondern sie werden mit angespanntem Argwohn beäugt. Was bedeutet, daß das ganze Stammesgetue vollkommen echt ist. Das authentische Thailand. Endlich. Und ich hätte es nie zu sehen bekommen, wenn Hugh und Johnny nicht Lust auf einen Drogenrausch gehabt hätten. Der Betäubungsmittelindustrie sei Dank! (Iris Bahr: Moomlatz oder Wie ich versuchte in Asien meine Unschuld zu verlieren, S. 75)


Bahr, Iris: Moomlatz [2]

  Das letzte Mal, als ich das Gefühl hatte, in der Gesellschaft eine wichtige Funktion auszuüben, war beim Sommerzeltlager vor zehn Jahren. Ich bin mit meinem Fähnlein oder meiner Gruppe oder wie auch immer wir uns nannten, durch die Wälder gewandert, als unser Gruppenleiter in ein Bienennest trat, worauf der Schwarm zum Angriff blies. Alle anderen Mädchen rannten um ihr Leben, und in dem Moment, als auch ich mich vom Acker machen wollte, brüllte der Gruppenleiter: "Halt!" Die werden wütend", fügte er hinzu, "wenn du dich bewegst." Gehorsam verharrte ich in der Haltung des leibhaftig Gekreuzigten, woraufhin jede einzelne Biene meinen verwirrten Körper stach, bis der Schwarm tot zu meinen Füßen lag. (Iris Bahr: Moomlatz oder Wie ich versuchte in Asien meine Unschuld zu verlieren, S. 78)


Bahr, Iris: Moomlatz [3]

  Will man wissen, bei wem man nicht über den Tisch gezogen wird, ist der Ratschlag, den ein Jude einem anderen erteilen kann, Gold wert. Es ist ein Teil der Einstellung "Wir gegen die anderen - jeder haßt Juden", Tatsache ist, daß Israelis sich nur gegenseitig trauen, es sei denn, sie sind tatsächlich in Israel, wo keiner dem anderen über den Weg traut (Iris Bahr: Moomlatz oder Wie ich versuchte in Asien meine Unschuld zu verlieren, S. 96)


Bahr, Iris: Moomlatz [4]

  Schließlich düsen wir die Startbahn entlang. Wurde langsam Zeit. Scheinbar gibt man bei Vietnam Air nicht viel auf die übliche Startprozedur, nach nur drei Sekunden auf der Bahn katapultiert uns der Pilot im Neunzig-Grad-Winkel in die Lüfte. Mein Magen macht eine Rückwärtsrolle und landet in der Speiseröhre. Ich drücke mein Gesicht ans Fenster und frage scherzhaft, ob das hier wohl ein Casting für Top Gun sein soll. Neben mir lacht Iris nervös auf. Ich spüre ihren Blick in meinem Nacken, doch ich starre weiter in den diagonalen Himmel und bete, nicht aus Versehen die Stratosphäre zu verlassen. (Iris Bahr: Moomlatz oder Wie ich versuchte in Asien meine Unschuld zu verlieren, S. 97)


Bahr, Iris: Moomlatz [5]

  Eines ist sicher. Fahrradtaxis sind nichts für Juden. Wer hätte gedacht, daß diese Form der Fortbewegung so viel Schuldgefühle hervorruft? Wie soll man die Fahrt genießen, wenn der Fahrer sich bei jeder Pedaldrehung unterwürfig krümmt und wie ein Tier schwitzt, nur um deinen fetten Hintern herumzuchauffieren. Ich stehe kurz davor, ihm meine Hilfe anzubieten und für eine Weile mit ihm zu tauschen. Schließlich unterdrücke ich solche Regungen und reduziere den Ausdruck meiner Schuldgefühle darauf, jedes Mal zusammenzuzucken, wenn er anhält, um sein Rückgrad wieder gerade zu rücken - was tatsächlich alle zwei Minuten oder so passiert. Unser erster Halt der Tagestour ist das Kriegsmuseum oder, wie der Vietnamese zu sagen pflegt: "Schaut-mal-wie-diese-Bastarde-von-Amerikanern-unser- Land-zerstört-haben-Museum". (Iris Bahr: Moomlatz oder Wie ich versuchte in Asien meine Unschuld zu verlieren, S. 102)


Bahr, Iris: Moomlatz [6]

  Ich bin ein bißchen sauer auf Freddie, weil er nicht über mich hergefallen ist, sauer auf Seth, weil er so stoned ist, sauer auf alle, weil sie so entspannt daliegen, während ich mich hier offensichtlich mit Dingen herumquälen muß, die ich nicht kontrollieren kann - zudem bin ich total sauer, weil mir nichts übrig bleibt, als mich unwilligen oder verschreckten Personen aufzudrängen. Es gelingt mir nicht, im anderen Geschlecht ein Minimum an Balzverhalten zu wecken, ganz zu schweigen davon, daß sie erfolgreich meine Biobarriere zu überwinden versuchen würden. Meinen Frauenzaun. Meine Hierhalthecke. Mein Puschiportal. Jessesmaria, ich verliere den Verstand. (Iris Bahr: Moomlatz oder Wie ich versuchte in Asien meine Unschuld zu verlieren, S. 130)


Bahr, Iris: Moomlatz [7]

  "Willst du auch mit Nili schlafen, wie alle anderen?" "Was? Wo hast du den Mist denn her?" "Weiß ich nicht. Ich kann sie nicht ausstehen. Tut mir leid" "Warum? Sie ist so nett!" ruft er mit aufrichtigem Unverständnis über meine Feindseligkeit. Verflixt, Kushnir, du hast das gerade so gut hinbekommen. Warum bist du nur so ein blinder putz wie all die anderen Männer, die meinen, jede schöne Frau sei "nett"? Warum erkennen nur wir aufgeweckten Mädels die Wahrheit? Warum? Warum? "Na ja, ich habe nichts gegen sie", schwindele ich. "Sie... sie mag mich nur nicht." "Warum glaubst du das?", bohrt er. Sein Blick wird zusehends leerer, sein Penis nagt an den Frontallappen seines Hirns und fällt über die letzten Reste Weisheit und Verstand her, die er zuvor an den Tag gelegt hatte. (Iris Bahr: Moomlatz oder Wie ich versuchte in Asien meine Unschuld zu verlieren, S. 178)


Bahr, Iris: Moomlatz [8]

  "Vor diesem Zeug habe ich keine Angst. Als ich klein war, gab's bei uns immer Hirn", verkünde ich stolz. Damit meine ich das Kalbshirn, das meine Mutter in einer feuerfesten Schüssel mit kaltem Wasser in unserem Kühlschrank einzuweichen pflegte, sehr zum Schrecken meiner Freundinnen, die statt des Erfrischungsgetränks, das sie aus dem Kühlschrank holen wollten, einen Schläfenlappen vorfanden. (Iris Bahr: Moomlatz oder Wie ich versuchte in Asien meine Unschuld zu verlieren, S. 199)


Bahr, Iris: Moomlatz [9]

  Na ja, Frau Paranoia lag richtig. Mein Körper hat die Leber, die ich am ersten Tag verspeist habe, abgestoßen und sich dabei scheinbar einiger anderer Dinge entledigt, so daß ich auf wundersame Weise in weniger als fünf Tagen sieben Kilo abgenommen habe. Ich bin mir ziemlich, daß ich letzte Nacht auch meine Milz ausgeschieden habe. Nicht, daß ich damit ein Problem hätte. ich habe sowieso keinen Platz für überflüssige Organe. (Iris Bahr: Moomlatz oder Wie ich versuchte in Asien meine Unschuld zu verlieren, S. 205)


Baker, Nicholson: Eine Schachtel Streichhölzer [1]

  Vergangene Nacht wurde mein Schlaf von einem Zehenloch in einer Socke gestört. Ich hatte von dem Loch gewußt, als ich morgens die Socke - es war eine weiße Röhrensocke - anzog, aber tagsüber stört mich ein Loch kaum. Ich kann Socken mit einer fürchterlichen Heckluke tragen und tue es auch, dann ragt die ganze Ferse wie ein Tafelbrötchen heraus. Nachts dagegen erwachen die Ränder des Lochs zum Leben. (...) Als das Loch in der Socke an meinem Fuß unerträglich wurde, langte ich hinunter, zog sie mit einem sauberen Ruck aus und schmiss sie in die Richtung des Abfalleimers durchs Zimmer - wenngleich ich sagen mu, daß der Anblick eines Stücks Unterwäsche, das man über viele Tage und Jahre mit dem eigenen Körper abgenutzt und gewärmt hat, zerknüllt im Abfall etwas beinahe schmerzlich Unangemessenes hat. (Nicholson Baker: Eine Schachtel Streichhölzer, S. 7f.)


Baker, Nicholson: Eine Schachtel Streichhölzer [2]

  Und am vergangenen Wochenende fuhren wir da hin, um einen Minikühlschrank zu kaufen, damit unsere Hausgäste das Frühstück zukünftig in ihrem Gästezimmer einnehmen können, mit ihrer eigenen Butter und der eigenen Milch für ihren Kaffee und ihrer eigenen megacoolen Katalupemelone. Es ist zwar richtig, daß man mit Hausgästen morgens sehr gute Gespräche führen kann, wenn jedem die Haare in neuartige Richtungen abstehen, aber ebenso richtig ist, daß Gast wie auch Gastgeber am vierten Tag, heiser von gezwungener Fröhlichkeit, merken, daß sie es vielleicht vorziehen, im Pyjama die Zeitung in verschiedenen Teilen des Hauses zu lesen. (Nicholson Baker: Eine Schachtel Streichhölzer, S. 74)


Bakker, Gerbrand: Oben ist es still

  Es war die Zeit, in der sich die Lämmer auf der Koppel gierig unter die Mutterschafe ducken, Kiebitze beim Verteidigen ihrer Nester ihren eigenen Namen rufen, die Kopfweiden schon austreiben und die krumme Esche im Vorgarten kurz davor ist. Hellgrüner Frühling, in dem sogar ein Misthaufen frisch aussehen kann. (Gerbrand Bakker: Oben ist es still, S. 103)


Balletta; Alexander: Regulae

  Der Klostergarten ist als eine Oase anzulegen, weil man denkend durch alle Wüsten muß.

  Nur eine Gemeinschaft, in welcher Frauenhände spürbar bleiben, ist lebenswert und hat Bestand.

  Über das Halbfertige und Unvollkommmene unserer Gedanken nicht verzweifeln. Morgen kommt ein neuer Tag. Wer weiß, von welchen Irrtümer er uns befreien wird!

  Das beste Mittel gegen Selbstmitleid: das Ohr öffnen und Musik hören. Und sei es die Nachtmusik des Windes, der durch die Bäume streift. (Alexander Balletta: Regulae ad directionem ingenii et corporis)


Bang, Herman: Das graue Haus

  Mutter sagte: "Ich kenne nichts, was über Großpapas Haß auf das Theater geht." (...) ...die Exzellenz sagte: "Sollen sie vor dem Rest der Affen herumäffen, wie sie wollen. Die großen Gedanken aber sollten sie möglichst in Frieden lassen und sie nicht mit ihren dicken und dummen Zungen verfälschen. Hätte ein einziger von ihnen den Hamlet verstanden, er hätte ihn aus Angst vor den verfaulten Äpfeln nicht zu spielen gewagt. Goethe war klüger. Er schrieb seine Schauspiele so, daß niemand sie spielen mochte. (Herman Bang: Das graue Haus, S. 130)


Bank, Zsuzsa: Der Schwimmer

  Den Wächter hatte man in seinem Geburtsdorf 'Schlaffe' genannt; er war klein und klapperdürr und hatte immer einen Ausdruck im Gesicht, als hätte er soeben aus Versehen einen Menschen getötet und sei jetzt traurig deswegen, hoffte aber, daß niemand die Leiche entdecken würde; und sollte dieser Fall doch eintreten, so könnte es ja sein, daß keiner es für schlimm hielte: Der Name klang wie ein Grunzen, und das war vermutlich auch beabsichtigt. In diesem Fall war jedenfalls ein ziemlich schlappes und ungefährliches Schwein gemeint, ein Schwein, das kaum ein Kind ins Bein beißen könnte. (Zsuzsa Bank: Der Schwimmer, S. 31)


Banville, John: Athena

  Habe ich Ihnen je Tante Corkys Lächeln geschildert? Sie öffnete die Augen weit und zog die Lippen von einem Gebiß zurück, das einem kleinen Pferd gepaßt hätte, während ihr Kopf ganz leicht zitterte, so als erhebe sie unter der Anspannung eines großen, wenn auch freudigen körperlichen Einsatzes. Eine fleckige Hand krabbelte seitwärts über die Bettdecke und suchte im leeren Raum nach meiner; ich ergriff ihre hakenförmige Finger und stützte Tante Corky unter dem Ellbogen - was für einen Griff sie hatte: es war, als würde man vom Ast eines abgestorbenen Baumes gepackt -, und sie zog sich grunzend im Bett hoch. Ich kümmerte mich um die Kissen und so weiter, dann holte ich einen Sessel und setzte mich linkisch hin, die Hände auf den Knien; kann man denn auf natürliche Weise an einem Krankenbett sitzen? (John Banville: Athena, S. 42)


Barbery, Muriel: Die Eleganz des Igels [1]

  Es fehlte ihm nicht an Intelligenz, obschon diese nicht von der Art war, die die Gesellschaft wertschätzt. Seine Stärken beschränkten sich auf die manuellen Geschäfte, doch entfaltete er darin ein Talent, das nicht nur mit motorischen Fähigkeiten zu tun hatte, und obschon er ungebildet war, ging er an alles mit jener Erfindungsgabe heran, die in den unbedeutenden kleinen Arbeiten die Fleißigen von den Künstlern unterscheidet und im Gespräch zeigt, daß Wissen nicht alles ist. Nachdem ich mich sehr früh mit der Existenz einer Nonne abgefunden hatte, schien es mir daher sehr gnädig, daß der Himmel mir, der geheirateten Frau, einen Gefährten mit so liebeswürdigem Benehmen beschert hatte, der, wenn auch kein Intellektueller, so doch ein findiger Kopf war. (Muriel Barbery: Die Eleganz des Igels, S. 47)


Barbery, Muriel: Die Eleganz des Igels [2]

  Wenn Sie unsere Familie verstehen wollen, brauchen Sie sich nur die Katzen anzusehen. Unsere beiden Katzen sind zwei dicke Luxuskrokettenwänste, die keinerlei interessante Interaktionen mit den Menschen haben. Sie schleppen sich von einem Sessel zum anderen, wobei sie überall Haare hinterlassen, und niemand scheint begriffen zu haben, daß sie nicht die geringste Zuneigung für jemanden empfinden. Der einzige Nutzen der Katzen liegt darin, daß sie bewegliche Dekorationsgegenstände darstellen, ein Konzept, das ich intellektuell interessant finde, doch der Bauch der unseren hängt zu sehr, als daß es auf sie angewendet werden könnte. (Muriel Barbery: Die Eleganz des Igels, S. 49)


Barbery, Muriel: Die Eleganz des Igels [3]

  "Ihr Urin war leicht hämorrhagisch!" Mein Gott, wie schön. Wenn sie gesagt hätte: In ihrem Pipi war Blut, wäre die Angelegenheit rasch erledigt gewesen. Doch Olympe, die voller Rührung in die Haut eines Katzendoktors geschlüpft ist, hat auch die entsprechende Terminologie übernommen. Es war für mich immer ein großes Vergnügen, jemanden so sprechen zu hören. "Ihr Urin war leicht hämorragisch" ist für mich ein ergötzlicher Satz, der angenehm tönt und an eine abseitige Welt gemahnt, die von der Literatur entspannt. Aus dem gleichen Grund lese ich auch gern die Beipackzettel von Medikamenten, um der Ruhepause willen, die aus dieser Präzision im Fachausdruck entsteht, diesem Terminus technicus, der die Illusion von Genauigkeit und den Schauder der Einfachheit vermittelt und eine räumlich-zeitliche Dimension herbeiführt, in der das Streben nach dem Schönen, das schöpferische Leiden und die end- und hoffnungslose Sehnsucht nach erhabenen Horizonten nicht vorhanden sind. (Muriel Barbery: Die Eleganz des Igels, S. 127)


Barbery, Muriel: Die Eleganz des Igels [4]

  Es war so: Mama und ich sind in eine Boutique für lingerie fine gegangen. lingerie fine, feine Damenunterwäsche, das ist schon als Name interessant. Wir brauchten nicht Schlange zu stehen, um hineinzugelangen, aber das wäre gar nicht so schlecht gewesen, denn drinnen stand man Schulter an Schulter. Ich hatte den Eindruck, in eine Wäscheschleuder zu geraten. Zu allem Elend ist Mama augenblicklich in Ekstase gefallen, als sie in Dessous von suspekter Farbe wühlte (Schwarz und Rot oder Petrolblau). Ich habe mich gefragt, wo ich mich verdrücken und Schutz suchen könnte, bis sie (kleine Hoffnung) einen Pyjama gefunden hätte, und ich habe mich bis hinter die Umkleidekabinen durchgeschlängelt. Ich war nicht allein: Ein Mann war dort, der einzige, und er sah genauso unglücklich aus wie Neptun, wenn er Athenes Hinterteil verpaßt. Das ist das Schauermärchen "Ich liebe dich, mein Schatz": Von einem, der auszog, einer neckischen Anprobesitzung von schicken Dessous beizuwohnen, und der auf Feindesgebiet landet, mit dreißig Weibern in Trance, die ihm auf den Füßen herumtrampeln und ihm vernichtende Blicke zuwerfen, wo auch immer er seinen sperrigen Körper hinbewegt; und was seine Freundin anbelangt, so hatte sie sich in eine Rachefurie verwandelt, bereit zu töten für einen fuchsiaroten Tanga. (Muriel Barbery: Die Eleganz des Igels, S. 241)


Barker, Pat: Niemandsland [1]

  Amüsiert und direkt sah sie ihm ins Gesicht. "Ich glaube, Sie sind ein schlimmer Bursche." "Nein. Dann wär ich nicht so leicht zu durchschauen." "Stimmt." "Haben Sie einen Freund?" "Was glauben Sie?" "Ich glaube nicht, daß Sie dann hier herumsitzen würden." "Oh, woher wissen Sie, daß ich nicht eins von diesen Mädchen bin, die's mit der Treue nicht so genau nehmen?" "Warum nicht? Können doch nicht alle blind sein in Schottland." "Vielleicht bin ich nicht zu haben." Er wußte nicht, was er von ihr halten sollte, aber er hatte eben keine Übung mehr mit Frauen. Sie schienen sich während des Kriegs stark verändert, in vielerlei Hinsicht entwickelt zu haben, während die Domäne der Männer gleichzeitig immer kleiner geworden war. (Pat Barker: Niemandsland)


Barker, Pat: Niemandsland [2]

  "Meine Wirtin", sagte Sarah, als sie zurückkam. "Eine Belgierin, hat einen Schotten geheiratet. Der Arme. Ich glaube, er wußte nicht, was auf ihn zukam. Aber sie nimmt nur einen Shilling für die Wäsche, und wenn man bedenkt, daß die Laken beim Abziehen hellgelb sind, kann man sich nicht beklagen." Er fühlte sich wohl mit ihr, mit ihrer Art, präzise anzugeben, wieviel etwas kostete, was nicht materialistisch oder geizig war, sondern nur eine Anerkennung der Grenzen und Beschränkung des Lebens. (Pat Barker: Niemandsland)


Barker, Pat: Niemandsland [3]

  "Alle haben jemand verloren oder kennen jemand, der jemand verloren hat. Sie wollen die Wahrheit nicht hören. Es ist wie bei Kondolenzbriefen. 'Sehr geehrte Mrs. Bloggs, Ihrem Sohn wurde durch ein Schrapnell das halbe Gesicht weggeschossen, und es dauerte fünf Stunden, bis er starb. Wir waren in der Lage, ihm ein anständiges christliches Begräbnis zu geben. Bedauerlicherweise geriet dieser spezielle Abschnitt tags darauf unter schweren Beschuß, so daß George uns dann noch fünf- oder sechsmal aufgesucht hat.' So etwas wollen sie nicht. Sie wollen hören, daß George oder Hohnny - oder wie auch immer er hieß - einen raschen Tod starb und ein anständiges Begräbnis bekam." (Pat Barker: Niemandsland)


Barker, Pat: Niemandsland [4]

  Der Gemeinde schien es nur recht, daß sie auf den Gebrauch ihres Verstandes verzichten durfte. Alle setzen sich wieder und warteten auf die Predigt. Charles lehnte sich zu Rivers und flüsterte ihm zu: "Meistens macht er es ziemlich kurz". Dieses Flüstern rief ihm die Sonntagvormittage seiner Kindheit ihn Erinnerung, an denen sie mit einer leichten zweirädrigen Kutsche zur Kirche gefahren waren und während der Predigt nach den unanständigen Stellen im Alten Testament geblättert hatten, eine Suche, die ihnen durch die schmierigen Fingerabdrücke ihrer Vorgänger erleichtert wurde. Er erinnerte sich an Michals Brautpreis: die Vorhäute von hundert Philistern. Als Anthropologe fand er das noch immer fasinierend. Er erinnerte sich an den Geruch der Fußkissen und heftete seine Augen auf den fahnendrapierten Altar. Sie waren ein für allemal vorbei, diese Zeiten. (Pat Barker: Niemandsland, S. 194)


Barker, Pat: Niemandsland [5]

  Der Hühnerhof war seine Idee gewesen, nachdem Charles mit Malaria aus Asien zurückgekehrt war. (...) Die Sache rentierte sich nicht. Im Moment konnten gerade die Kosten gedeckt werden. Das war vor allem eine Folge des Krieges. Futter war knapp und teuer, männliche Arbeitskräfte standen nicht nur Verfügung. Das letzte Bauernmädchen war nur so lange geblieben, bis sie herausgefunden hatte, wie weit es bis zur nächsten Stadt war, um dann plötzlich festzustellen, daß irgendein Problem im Elternhaus ihre sofortige Heimkehr verlangte. Aber selbst ohne den Krieg wäre es nicht einfach gewesen. Die Hühner hatten eine merkwürdige Art, dahinzumickern. Sie waren anfällig für eine wahrhaft phänomenale Palette von Krankheiten und schienen ein perverses Vergnügen darin zu finden, eines nach dem anderen zu verenden. (...) McTavish, die Hauskatze, ein schwarzer, zugerichteter Kater, kam ihnen an der Ecke des Hofs entgegen und lief vor ihnen her. Er war eine bemerkenswert mürrischer Kreatur, was Rivers darauf zurückführte, daß er ständig von verbotenem Fleisch umringt war. (Pat Barker: Niemandsland, S. 196)


Barker, Pat: Niemandsland [6]

  Ada trug zwar hauptsächlich Schwarz, doch damit konnte sie, bei minimalen Kosten, eine beeindruckende Respektabilität ausstrahlen. Eine traurige Art, Mädchen zu erziehen, dachte Sarah - die Ehe als die einzige Bestimmung weiblichen Daseins hinzustellen und gleichzeitig zu erklären, daß es zwischen Mann und Frau keine Liebe geben könne. Ada leugnete das tatsächlich. In ihrer Welt liebten Männer Frauen so, wie der Fuchs den Hasen liebt. Und Frauen liebten Männer, wie der Bandwurm den Darm liebt. Diese Einstellung zum Leben ließ natürlich nicht viel Sympathie für andere Frauen zu. Ada verachtete die Hasen, diejenigen, die es "erwischte". (Pat Barker: Niemandsland)


Barker, Pat: Niemandsland [7]

  Ada, dickschädelig, zielstrebig, rücksichtslos, hatte ihre beiden Töchter ganz allein durchgebracht, in der Erziehung aber großen Wert darauf gelegt, sie zu den entgegengesetzten Eigenschaften anzuhalten. Nett sein, gefügig sein, zumindest nach außen hin, das ganze Arsenal weiblichen Wohlverhaltens. So kam eine Frau in der Welt weiter, und Ada hatte sich bemüht, ihren Töchtern das zu vermitteln. Als kleine Mädchen waren Cynthia und Sarah in die wellblechgedeckte Kapelle am Ende der Straße gegangen, doch sobald ihre Brust nicht mehr flach war, sondern Rundungen zeigte, hatte Ada sie zu sich gerufen und ihren Übertritt zum Katholizismus bekanntgegeben. Die Kirche von St. Edmung, dem König und Märtyrer, lag in einem besseren Viertel. Dort hatte Cynthia folgsam den jungen Chorsängern Augen gemacht, wärhend Sarah, die das Ganze völlig falsch verstanden hatte, sich in die Jungfrau Maria verliebte. (Pat Barker: Niemandsland)


Barker, Pat: Niemandsland [8]

  Was der Krieg Burns auch getan haben mochte, er hatte zweifellos seine Liebe zur Heimat verstärkt. (...) Schon vor dem Krieg war er, was seine Interessen betraf, Landmensch gewesen, ein wenig wie Siegfried, freilich ohne dessen Begeisterung für die Jagd. Wenn sich das Gespräch anderen Dingen zuwandte, wirkte Burns wie ein gescheiter Abiturient, idealistisch, intolerant, naiv, dazu neigend, pauschale Verallgemeinerungen als Tatsache hinzustellen, einnehmend in der Frische seiner Sichtweise, wie solche Burschen das oft sind. Rivers dachte, wie falsch doch die Behauptung war, diese jungen Männer seien durch den Krieg "reifer" geworden. Das galt nicht für seine Patienten und ganz gewiß nicht für Burns, in dem ein frühzeitig gealteter Mann und ein verknöcherter Pennäler Seite an Seite zu existieren schienen. Das gab ihm etwas merkwürdig Altersloses, aber "Reife" war kaum die richtige Bezeichnung dafür. (Pat Barker: Niemandsland)


Barker, Pat: Niemandsland [9]

  Sobald er den Versuch, sich auf den Vortrag zu konzentrieren, aufgegeben hatte, wußte er, daß er krank war. Er schwitzte, sein Herz hämmerte, am ganze Leib pochte es, und wieder hatte er dieses merkwürdige Gefühl, daß sich sein Blut durch die Adern preßte. Er vermutete eine leicht erhöhte Temperatur, aber aus Prinzip lehnte er es ab, bei sich selbst Fieber zu messen oder den Puls zu fühlen. Es gab bestimmte Tiefen neurotischen Verhaltens, in die hinabzusinken er nicht gewillt war. (Pat Barker: Niemandsland, S 302)


Barnes, Djuna: Gegen die Natur

  Ich hasse die Natur. Die Natur und die Einfachheit. (...) An meinem Gang kann man sehen, daß ich Napoleons Gruft und das Grabmal von Oscar Wilde besucht habe und die Wachsfiguren im deutschen Gruselkabinett. Es ist etwas an der Art, wie ich im Sessel sitze, was Ihnen eine Ahnung davon gibt daß ich die Satteltechnik der Jeanne D'Arc in allen besseren französischen Ortschaften studiert habe; und nur jemand, der die große Treppe der Opera mit besonders ehrfürchtigem Schritt emporgestiegen ist, könnte die Füße mit dem Gefühl von Verhängnis heben, das ich ihm einflöße, wenn ich die meinen hebe. (Djuna Barnes: Gegen die Natur; in: Klaus Wagenbach (Hrsg.): Warum so verlegen. Über die Lust an Büchern und ihre Zukunft, S. 107)


Barnes, Julian: Dover-Calais [1]

  Als sie zum Lager zurückwanderten, hörten sie eine Sprache, die nicht die ihre, aber auch keine fremde Zunge war. Zwei Männer setzten eine Schaufel instand, deren Stiel sich vom Blatt gelöst hatte. Der größere der beiden, der die Anweisungen gab, war ein englischer Vormann, und der kleinere, der Besitzer der Schaufel, ein französischer Bauer. Als lingua franca benutzen sie ein Patois, das teils Englisch, teils Französisch war und im übrigen eine olla podrida aus anderen Sprachen. Doch selbst die den Lauschern vertrauten Wörter waren in eine verzerrte Fasson gepreßt; und jede Grammatik war gewaltsam verrenkt. Aber die Schaufelflicker, die dieses Makkaroni fließend beherrschten, verstanden einander tadellos. "So werden wir in Zukunft alle reden", behauptete der Student mit jäher Zuversicht. "Keine Mißverständnisse mehr. Die Völker bringen ihre Differenzen in Ordnung, wie diese beiden Burschen ihre Schaufel in Ordnung bringen." "Das Ende aller Poesie", sagte Madame Julie mit einem Seufzer. "Das Ende aller Krieg", konterte Charles-Andre. "Unsinn", gab Dr. Achille zurück. "Lediglich andere Poesie, andere Kriege." (Julian Barnes: Dover - Calais. Erzählungen, S. 38)


Barnes, Julian: Dover-Calais [2]

  Onkel Freddy stand auf geradezu unanständige Weise mit beiden Beinen fest auf der Erde; er schien die Daumen in der Westentasche zu haben, selbst wenn er gar keine Weste trug. Seine innere wie äußere Haltung erweckte den einschüchternden Eindruck, daß er wußte, was wahre Männlichkeit ausmacht, daß seine Generation wie durch ein Wunder das labile Gleichgewicht zwischen der frühren Repression und der nachfolgenden Laxheit getroffen hatte und daß jede Abweichung von diesem beau ideal bedauerlich, wenn nicht geradezu pervers war. (Julian Barnes: Dover - Calais. Erzählungen, S. 56)


Barnes, Julian: Dover-Calais [3]

  Meiner Erfahrung nach gibt es verschiedene gute, wenn auch zweitrangige Gründe - Scham, Angst, Leid, Freude -, beim Trinken etwas über die Stränge zu schlagen, und einen erstrangigen Grund, sehr über die Stränge zu schlagen: Langeweile. Ich kannte einmal einen cleveren Alkoholiker, der steif und fest behauptete, er trinke, weil das Dinge in Gang setze, die er in nüchternem Zustand nie erlebte. Ich habe ihm das so halbwegs abgenommen, obwohl das Trinken meiner Meinung nach eigentlichts nichts in Gang setzt, es hilft einfach nur über den Kummer hinweg, daß nichts in Gang kommt. (Julian Barnes: Dover - Calais. Erzählungen, S. 56)


Barnes, Julian: Dover-Calais [4]

  Er las seinen Namen - zwei Wörter mit einem großen Anfangsbuchstaben dazwischen, nach jahrelanger Vertrautheit bar jeder Assoziation - und musterte sein Paßbild. Hageres, längliches Gesicht, Kehlsack unter dem Kinn, rote Gesichtsfarbe und ein paar geplatzte Äderchen infolge Mißachtung ärztlichen Rats in bezug auf den Alkoholgenuß und dazu die üblichen Serienkilleraugen, wie man sie von Paßbildautomaten bekommt. Er hielt sich nicht für eitel, doch in Anbetracht seiner Neigung zu leichter Unzufriedenheit mit den meisten Fotos von sich mußte er sich eingestehen, daß er es wohl doch war. (Julian Barnes: Dover - Calais. Erzählungen, S. 186)


Barnes, Julian: Dover-Calais [5]

  Sie war ziemlich groß, zwischen eins dreiundsiebzig und eins fünfundsiebzig, und sah gut aus. (Dieses andere schleimige Wort - hübsch - lehnte er ab. Auf Frauen jenseits einer gewissen Altersgrenze angewandt, bedeutete es soviel wie "sah früher mal gut aus". Ein grobes Mißverständnis, denn Schönheit war etwas, das sich bei Frauen erst allmählich entwickelte, im allgemeinen um die Dreißig, und das sie später nur selten ablegten. Frühreife, ordinäre Unschuld war etwas ganz anderes. Schönheit war eine abgeleitete Funktion von Selbstkenntnis plus Kenntnis der Welt; daher konnte man logischerweise höchstens bruchstückhaft schön sein, bevor man um die Dreißig war.) (Julian Barnes: Dover - Calais. Erzählungen, S. 189)


Barnes, Julian: Der Zitronentisch [1]

  Ein Donnerstag im November, Royal Festival Hall, 19 Uhr 30, Mozart KV 595, mit Andreas Schiff, danach die Vierte von Schostakowitsch. Ich weiß noch, daß ich auf dem Hinweg dachte, der Schostakowitsch hat mit die lautesten Passagen der Musikgeschichte, da dringt bestimmt kein anderes Geräusch durch. (...) Das Publikum war, wie gesagt, ganz normal. Achtzig Prozent Freigänger aus Londoner Krankenhäusern mit besonderen Kartenkontigenten für Lungenstationen und HNO-Kliniken. Frühbucherrabatt für Patienten mit einem Husten von mehr als 95 Dezibel. Wenigstens furzt im Konzert keiner. Jedenfalls hab ich noch nie einen furzen hören. Sie? Ja, das glaube ich auch. Womit ich schon halbwegs beim Thema bin: Wenn man es an einem Ende unterdrücken kann, wieso nicht auch am anderen? Meiner Erfahrung nach ist die Vorwarnzeit etwa gleich lang. Aber im Allgemeinen furzen die Leute bei Mozart nicht einfach drauflos. ich vermute also, hier wirken noch ein paar kümmerliche Reste der dünnen Kulturkruste, die unseren Verfall in die tiefste Barbarei verhindert. Das Allegro am Anfang lief einigermaßen glatt: ein paar Nieser, ein schwerer Fall von hartnäckiger Verschleimung im ersten Rang Mitte, der fast einen chirurgischen Eingriff erforderlich machte, eine Digitaluhr und reichlich Programmgeraschel. (...) Das Allegro ging zu Ende, und Maestro Haitink neigte langsam den Kopf, als wollte er allen die Erlaubnis geben, den Spucknapf zu benutzen und ihre Weihnachtseinkäufe zu bereden... (Julian Barnes: Der Zitronentisch, S. 127f.)


Barnes, Julian: Der Zitronentisch [2]

  "Und wünschen Sie auch eine Rasur, wo wir schon mal dabei sind?" Unverschämtheit. SO sieht ein gut rasierter Mann heutzutage aus. Nur Anwälte und Ingenieure und Förster tauchen jeden Morgen in ihren kleinen Kulturbeutel und fallen über die Stoppeln her wie die Calvinisten. Gregory drehte sich seitlich zum Spiegel hin und schielte zu seinem Ebenbild zurück. "Sie mag es so", sagte er leichthin. "Also verheiratet, ja?" Paß bloß auf, du Schleimscheißer. Komm mir ja nicht so. Die Kumpeltour zieht bei mir nicht. Aber vielleicht bist du ja bloß schwul. Nicht, daß ich was dagegen hätte. Ich bin da ganz liberal. "Oder sparen Sie noch, um sich unter dieses Joch zu begeben?" (Julian Barnes: Der Zitronentisch, S. 20)


Barnes, Julian: Der Zitronentisch [3]

  Wer Axel Lindwalls professionellen Rat suchte, fand alles, was er sich von einem Apotheker erhoffen konnte: einen langsamen, ernsthaften Menschen, der schmeichelhafterweise alle Beschwerden als lebensbedrohlich ansah und sie zugleich für heilbar erachtete. Er war ein kleiner, flachshaariger Mann; der Klatsch wollte wetten, er werde bald Fett ansetzen. Über Frau Lindwall gab es weniger zu bemerken, da sie weder bedrohlich schön noch verachtenswert reizlos war, sich weder ordinär noch allzu gewählt kleidete, sich weder aufdringlich noch reserviert gab. Sie war einfach eine neue Ehefrau und sollte sich daher im Abwarten üben. (Julian Barnes: Der Zitronentisch, S. 40)


Barnes, Julian: Der Zitronentisch [4]

  Andererseits und außerdem wollte Andrew wissen, ob es nicht zutreffe, daß die Musik jener Zeit sehr oft für die Höfe von Königen und Herzögen komponiert worden sei, und ob diese Mäzene und ihr Gefolge etwa nicht herumspaziert seien, sich am kalten Büfett gütlich getan, die Harfenistin mit Hühnerknochen beworfen, mit der Frau ihres Nachbarn geschäkert und nebenbei mit halbem Ohr zugehört hätten, wie ihr kleiner Angestellter auf das Spinett eindrosch? (Julian Barnes: Der Zitronentisch, S. 131)


Barnes, Julian: Der Zitronentisch [5]

  Er disputierte über den Genußwert all dessen, was Menschen zu sich nehmen, von Kapern bis zu Waldschnepfenfleisch; er konnte erläutern, wie die Schalotte von den heimkehrenden Kreuzfahrern in Frankreich eingeführt worden war und der Käse von Parma durch Monsieur le Prince de Talleyrand. Setzte man ihm ein Rebhuhn vor, so trennte er die Beine ab, nahm bedächtig einen Bissen von jedem, wiegte kritisch den Kopf und tat dann kund, auf welches Bein das Rebhuhn im Schlaf gewöhnlich das Gewicht gelagert hatte. Auch mit der Flasche stand er auf vertrautem Fuß. Wurden zum Dessert Trauben gereicht, so schob er sie mit den Worten beiseite: "Ich pflege meinen Wein nicht in Pillenform zu mir zu nehmen." (Julian Barnes: Der Zitronentisch, S. 151)


Barnes, Julian: Darüber reden [1]

  Es wird dir nicht entgangen sein, daß mein Freund Stuart kein Mensch von umfassender Bildung ist. Solltest du ihn fragen, wie Prousts Freundin hieß, würde er ein Quinquennium lang vor sich hin brüten, dich dann so finster anstarren wie ein Samurai, zu dem Schluß kommen, das sei eine Fangfrage, und schließlich mit einem petit Flunsch des Unwillens antworten: "Madeleine. Weiß doch jeder." (Julian Barnes: Darüber reden, S. 152)


Barnes, Julian: Darüber reden [2]

  ... weil Stuart mein Freund ist. Mein ältester Freund. ich liebe ihn, diesen Stuart. Und wir kennen uns schon urlange - ururlange, schon seit der Zeit, wo man noch Mono-Schallplatten kaufen konnte, wo die Kiwifrucht noch nicht ersonnen war, wo der Repräsentant der Automobile Association in seinem Khakianzug vor dem vorüberfahrenden Automobilisten salutierte, wo eine Packung Gold Flake anderthalb Heller kostete und dann noch was für einen Krug Met über war. So ist das mit Stuart und mir. Wir sind alte Kumpel. Und unterschätz mir meinen Freund nicht, nebenbei gesagt. Er kommt etwas langsam in Gang, manchmal, und die alte Turbine da im Oberstübchen schnurrt nicht immer wie ein Lamborghini, aber er kommt an, er kommt an. Und manchmal schneller als ich. "Könnte ich mir ein Pfund von dir leihen?" Wir saßen auf benachbarten 'banquettes' in dieser unserer Wie- hieß-sie-noch- gleich-Schule (Stuart weiß es bestimmt - frag Stuart). Ich fand es nur anständig, das Eis zu brechen für diesen Jungen von bis dato tranfunzliger Intelligenz, der sich irgendwie auf ein provisorisches Plateau gelehrsamer Nähe hinaufgekraxelt hatte. (...) Dann hatte er gefragt, warum ich das Geld haben wollte. Als ob ihn das irgendwas anginge! Als ob ich das wüßte! Ich gab nur ein ungläubgiges Kichern von mir, woraufhin der alte Gecko, der die Klasse leitete, mißbilligend seine Halskrause gegen mich sträubte; ich beruhigte ihn mit einem Scheerz und setzte die Verhandlungen mit meinem rundlichen und finanziell hartleibigen neuen Kumpel fort. (Julian Barnes: Darüber reden, S. 33)


Barnes, Julian: Darüber reden [3]

  Ich will mal zu rekonstruieren versuchen, wie sie an dem Tag aussah. Ich habe verabsäumt, ein akkurates Ebenbild ihres Antlitzes und Gebarens bei der Gepäckaufbewahrungsstelle der Erinnerung zu deponieren; doch ich glaube, sie trug ein Hemd von einem Ton zwischen Salbei und Liebstöckl, darunter graue stone- washed Levis 501, grüne Socken und ein Paar lächerlich unästhetische Turnschuhe. Das Haar 'marron', hinter die Ohren gekämmt und mit Clips festgesteckt, hinten lose herabfallend; nicht vorhandenes Make-up verlieh eine Blässe, welche ihre großzügigen braunen Augen dramatisch hervorhob; ein zierlicher Mund und eine kecke Nase, welche ziemlich tief in dem sich verjüngenden Oval ihres Gesichtes ansetzte und dergestalt die geschwungene Hohheit ihrer Stirn hervorhob. Ohren mit praktisch keinen Ohrläppchen, wie ich nicht umhin konnte zu bemerken, ein genetisches Merkmal, das sich mit zunehmender Beliebtheit erfreut, wofür Darwin zweifellos eine Erklärung hätte. (Julian Barnes: Darüber reden, S. 36)


Barnes, Julian: Darüber reden [4]

  Ich mach das mit dem Gedächtnis so, daß ich es nur mit solchen Dingen betraue, um die es sich mit einem gewissen Stolz kümmern kann. Zum Beispiel merke ich mir nie Telefonnummern. Ich kann mir gerade eben meine eigene merken, aber mir kommen nicht gleich alle Ängste dieser Welt hoch, wenn ich mein Adreßbüchlein zücken und darin Oliver Russell nachschauen muß. Manche Leute - verbissene 'parvenus' im Königreich des Geistes - faseln was von Gedächtnistraining, auf das es fit und agil werde wie ein Athlet. Na, was mit Athleten passiert, wissen wir ja alle. Diese widerlich wendigen Ruderer nibbeln doch allesamt ab, wenn sie mal gerade mittelalt sind, Fußballspieler kriegen die Knarzscharnier-Arthritis. Muskelrisse verhärten, Bandscheiben verschwinden und Wirbel verklumpen. Schau dir mal ein Sportveteranentreffen an, das sieht aus wie die Reklame für ein geriatrisches Pflegeheim. Hätten sie nur ihre Sehnen nicht so heftig strapaziert... Daher bin ich überzeugter Gedächtnisverhätschler und stecke meinem nur die feineren Erfahrungshäppchen zu. (Julian Barnes: Darüber reden, S. 17)


Barnes, Julian: Darüber reden [5]

  Vielleicht hat er mal einen Kurs über den französischen Film mitgemacht, um zu lernen, wie man Mädchen aufgabelt. Das war nie sein 'forte', verstehst du. Ich bin ihm manchmal mit Verabredungen zu viert beigesprungen, aber die sind immer so ausgegangen, daß die beiden Mädchen sich um meine Wenigkeit kabbelten und Stuart irgendwo in der Ecke saß und schmollte und das ganze Charisma einer Napfschnecke an den Tag legte. Meine Güte, waren das funebre Angelegenheiten, und unser Stuart neigte leider dazu, hinterher die Schuld auf mich zu schieben. "Du solltest mir mehr helfen", beschwerte er sich einmal jämmerlich. "Dir 'helfen'? Dir 'helfen'? Ich treibe die Mädchen auf, ich stelle sie dir vor, ich sorge dafür, daß der Abend einen parabolischen Aufschwung nimmt, und du sitzt nur da und starrst finster vor dich hin wie Hagen in der Götterdämmerung, falls du mir die kulturelle Anspielung verzeihst." (Julian Barnes: Darüber reden, S. 30)


Barnes, Julian: Darüber reden [6]

  Er hatte eine Freundin. Vor Gillian, meine ich. In den alten Tagen, als man für anderthalb Heller etc. Und weißt du was? Er hat bestimmt nichts dagegen, wenn ich dir das erzähle - 'Er wollte nicht mit ihr schlafen'. Das muß man sich mal reinziehen. Kein Rumsdibumsdi. Er versagte sich jedewede Freiheiten mit ihren schmalen Lenden. Als diese monatelange Stachanowsche Keuschheit dem Mädchen endlich eine verzweifelte Geste der Zärtlichkeit entlockte, erklärte er ihr, 'er wolle sie besser kennenlernen'. Ich sagte, genau das hat sie doch vorgeschlagen, du 'cretino', aber Stuart hat sich quergelegt. Genau, der hat sich quergelegt. (Julian Barnes: Darüber reden, S. 34)


Barnes, Julian: Darüber reden [7]

  Tja, wir kämpfen jetzt mit harten Bandagen, nicht wahr? Und die tugendsame Val stellt sich dar wie Susannah, die da litt unter den geilpfotigen Ältesten. Also, bei der Vorstellung mußt du mir schon gestatten, daß ich ein wenig vom Leder ziehe. Sollte Val sich je in ihrer Blöße von zwei ehrwürdigen Tattergreise bespitzelt sehen, hätte sie alle beide schon im Würgegriff, noch ehe sie bei ihr die Leberflecken zählen könnten, und ihnen pro Grabscher noch einen Zehner abknöpfen. Bei flüchtiger Bekanntschaft unterschätzt man vermutlich die penetrante Primitivität der Zeugin, die man vor sich hat. Wenn Herodes' Truppen jedes Haus nach Feinsinnigkeit durchkämmten, sie würden nicht lang verweilen in La Maison de Val. Sie gehört zu den Wesen, für die der Ausdruck "Möchtest du noch auf einen Kaffee mitbekommen?" gnomisch ist bis zur Unverständlichkeit und die das Apophthegma "Hast du da einen Tannenzapfen in der Tasche?" der tantrischen Meister würdig fänden. So mag es denn nicht ungalant sein, wenn Ollie noch lebhaft in Erinnerung hat, wer nun genau wen abschleppen wollte auf dieser Party. (Julian Barnes: Darüber reden, S. 183)


Barnes, Julian: Darüber reden [8]

  Ich werd dich in eine kleine Theorie von mir einweihen. Du weißt ja, daß Gillians Vater sich mit einer Nymphe davongemacht hat, als seine Tochter kaum zehn Lenze war, oder zwölf, oder fünfzehn oder so - ein Alter, das man fälschlicherweise als "empfindlich" bezeichnet, als sei nicht jedes Alter so charakterisierbar. Nun habe ich in den schwülen Höhlen des Freudianismus läuten hören, die psychologische Narbe, die dieser elterliche Akt der Desertion hinterläßt, bewege häufig die Tochter, so sie im rechten Alter ist, nach einem Schäfersburschen auszuschauen, sich ein Substitut für den entschwundenen Archetyp zu suchen. Mit anderen Worten, sie ficken mit älteren Männern. Das schien mir, ehrlich gesagt, schon immer ein ans Pathologische grenzendes Verhalten zu sein. Erstens mal, hast du dir je ältere Männer angesehen, ältere Männer von der Sorte, die junge Frauen verführen? Dieser spitzbübische arschreckende Gang, diese mir-kann-keiner-Bräune, die funkelnden Manschettenknöpfe, der Gestank nach chemischer Reinigung. Die schnippen mit den Fingern, als sei die Welt ihr Weinkellner. Sie fordern, sie erwarten... Es ist ekelhaft. Tut mir leid, das kann ich einfach nicht ab. Die Vorstellung, wie leberfleckige Hände sich in feste, jugendfrische Brüste krallen - 'pronto' enteile ich zum nächsten Speibecken! (Julian Barnes: Darüber reden, S. 48)


Barnes, Julian: Darüber reden [9]

  Scheißkerl. Du fetter kleiner Wichsbankerdrecksackscheißkerl. Nach allem, was ich über die Jahre hinweg für dich getan habe. Wer hat dich denn erst mal zu einem annähernd akzeptablen menschlischen Wesen gemacht? Wer hat Armweh gekriegt beim Abschmiergeln deiner rauhen Stellen? Wer hat dich mit Mädchen bekanntgemacht, dir gezeigt, wie man Messer und Gabel hält, wer war dein verdammter 'Freund'. Und was krieg ich dafür? Du versaust mir die Hochzeit, du versaust mir den schönsten Tag meines Lebens. Billige, ordinäre, selbstsüchtige Rachsucht war das und sonst nichts, auch wenn du den Beweggrund in deiner Plumpsklosettseele bestimmt in etwas irgendwie Edles, ja von einer höheren Gerichtsbarkeit Zeugendes verwandelt hast. Ich will dir bloß eins sagen, mein steatopyger Ex-Busenfreund: Wenn du noch mal angeschnüffelt kommst, bist du in mehr als einer Hinsicht mein Ex-Busenfreund. Dann sorge ich dafür, daß du eine Woche lang Glassplitter frißt, da wollen wir gar keine Unklarheiten aufkommen lassen. (Julian Barnes: Darüber reden, S. 13)


Barnes, Julian: Darüber reden [10]

  Im Fernsehen sieht man ständig faszinierende Haushalte voll von exzentrischen alten Tanten und süßen Kindern und auf interessante Weise verschiedenartigen Erwachsenen, die zwar ihre guten und schlechten Zeiten haben, im Grunde aber alle an einem Strang ziehen, und zwar "im Sinne der Familie", was immer das heißen mag. Im richtigen Leben kommt mir das nie so vor. Alle, die ich kenne, scheinen kleine, kaputte Familien zu haben: manchmal durch Todesfälle kaputtgemacht, manchmal durch Scheidung, im allgemeinen einfach durch Streiterei oder Langeweile. Und ich kenne 'niemand', die irgendeinen "Familiensinn" haben. Da ist bloß eine Mami, die sie mögen, und ein Dad, den sie hassen, oder umgekehrt, und die exzentrischen alten Tanten, mit denen ich es zu tun habe, sind meist nur deshalb exzentrisch, weil sie heimliche Alkoholikerinnen sind und wie ungewaschene Hunde riechen, oder es stellt sich heraus, daß sie an der Alzheimerschen Krankheit leider oder so.) (Julian Barnes: Darüber reden, S. 56)


Barnes, Julian: Darüber reden [11]

  Als ich allmählich erwachsen wurde, was mir jetzt lange her zu sein scheint, haben wir die ganzen üblichen Gespräche geführt. Was wollten wir von einem Mann, wonach suchten wir? Im allgemeinen habe ich, anderen Mädchen gegenüber, einfach Filmstars genannt. Aber mir selbst gegenüber habe ich immer gesagt, eigentlich will ich jemand, den ich lieben, achten und attraktiv finden kann. Ich dachte, dies sollte man im Auge behalten, wenn die Sache von Dauer sein soll. Und als ich mit Männern anfing, kam mir das immer genauso schwierig vor, wie am Spielautomaten drei Erdbeeren nebeneinander zu kriegen. Man hatte eine, und dann vielleicht noch eine, aber inzwischen war die erste schon wieder abgetrudelt. Es gab da einen Knopf, auf dem STOP stand, aber der funktionierte anscheinend nicht richtig. (Julian Barnes: Darüber reden, S. 244)


Barnes, Julian: Darüber reden [12]

  Du findest Ollie ja vielleicht etwas barock, aber das ist nur Fassade. Dringst du ins Innere vor - und bleibst ein Weilchen, den Reiseführer gezückt -, so findest du etwas, das auf ruhige Weise neoklassisch ist, klug proportioniert und kühl. Du befindest dich im Inneren von Santa Maria della Presentazione, oder Le Zitelle, wie die Prospekte lieber sagen. Die Giudecca, Venedig, Palladio, o ihr Touristen meiner Seele. So sehe ich von innen aus. Sollte ich nach außen hin tumultös wirken, so nur zwecks Anziehung der Massen. (Julian Barnes: Darüber reden, S. 90)


Barnes, Julian: Darüber reden [13]

  Soweit ich sehe, gibt es zwei Systeme. "Sofort zahlen" und "Später zahlen". "Sofort zahlen" funktioniert so, wie ich eben beschrieben habe - und es funktioniert sehr effizient, vorausgesetzt, du triffst die normalen wirtschaftlichen Vorsichtsmaßnahmen. "Später zahlen" nennt man Liebe. Es überrascht mich nicht, daß sich die Leute in der Regel offenbar für "Später zahlen" entscheiden. Mietkauf mögen wir alle. Aber wir lesen nur selten das Kleingedruckte, wenn wir den Handel abschließen. Wir denken nie an die Zinsen... wir rechnen nie den Endbetrag aus... (Julian Barnes: Darüber reden, S. 226)


Barnes, Julian: Als sie mich noch... [1]

  Rückblickend erkannte Graham mit eindringlicher Klarheit, wie festgefahren sein Leben damals gewesen war. Sofern natürlich eindringliche Klarheit nicht immer eine rückblickbedingte Täuschung war. Er war damals achtunddreißig: fünfzehn Jahre verheiratet; zehn Jahre im selben Beruf; hatte eine elastische Hypothek zur Hälfte hinter sich gebracht. Und zur Hälfte auch sein Leben, vermutete er; und er spürte schon, wie es bergab ging. Barbara hätte das natürlich nicht so gesehen. Und so hätte er es ihr gegenüber auch nicht sagen können. Da lag vielleicht, zum Teil zumindest, das Problem. Zu dieser Zeit mochte er Barbara immer noch; doch wirklich geliebt hatte er sie seit mindestens fünf Jahren nicht mehr und ebensowenig etwas wie Stolz oder auch nur Interesse für ihre Beziehung ampfunden. Er mochte ihre gemeinsame Tochter Alice; doch zu seiner Überraschung hatte sie in ihm nie wirklich tiefe Gefühle geweckt. Er freute sich, wenn sie gut in der Schule war, bezweifelte aber, ob sich diese Freude wirklich unterscheiden ließ von der Erleichterung darüber, daß sie in der Schule nicht schlecht war: Wie konnte man das wissen? Auch seinen Beruf mochte er auf diese negative Art; wenn auch mit jedem Jahr etwas weniger, weil die Studenten, die er durchschleuste, zusehends unreifer, unbekümmerter faul und auf höfliche Weise unnahbarer wurden. In den ganzen fünfzehn Jahren seiner Ehe war er Barbara nie untreu gewesen: weil er es für unrecht hielt, aber auch, so vermutete er, weil er nie richtig in Versuchung geführt worden war (auf Studentinnen, die ihre Slips aufblitzen ließen, wenn sie vor ihm die Beine kreuzten, reagierte er, indem er ihnen die schwierigeren Hausarbeitsthemen zur Auswahl gab; sie verbreiteten die Kunde, er sei kalt wie eine Hundeschnauze). Ebenso hatte er nie daran gedacht, den Beruf zu wechseln, und bezweifelte, daß er woanders einen finden könnte, der ihm ebenso leicht fiele. Er las viel, gärtnerte, er löste das Kreuzworträtsel; er schützte sein Eigentum. Mit achtunddreißig kam er sich bereits ein bißchen pensioniert vor. (Julian Barnes: Als sie mich noch nicht kannte, S. 14f.)


Barnes, Julian: Als sie mich noch... [2]

  Er war unfähig, sich mit Barbara zu streiten; sie verfuhr immer nach so furchtlos unakademischen Grundsätzen. Mit seinen Studenten konnte er sich ganz gut streiten: ruhig, logisch, auf der Basis von gemeinsam anerkannten Fakten. Zu Hause gab es diese Basis nicht; man schien die Diskussion (oder vielmehr das System einseitiger Vorwürfe) nie vorne zu beginnen, sondern sich mitten hineinzustürzen; und die Beschuldigungen, denen er entgegentreten mußte, waren ein hausgemachtes Gespinst aus Hypothese, Behauptung, Einbildung und Bosheit. Noch schlimmer war die schonungslos emotionale Form der Auseinandersetzung: Als Siegesprämie drohten lärmender Haß, hochmütiges Schweigen oder ein Hackmesser im Hinterkopf. (Julian Barnes: Als sie mich noch nicht kannte, S. 25)


Barnes, Julian: Als sie mich noch... [3]

  Er hatte auch nicht mehr onaniert, so wurde ihm klar, seit der Zeit, als die Leute es als 'Onanie' bezeichneten: dieses kühle, mißbilligend medizinisch- biblische Wort. Es hatte natürlich auch andere Wörter dafür gegeben, aber empfunden hatte man es immer als 'Onanie'. Onanie, Unzucht, Stuhlgang: schwerwiegende Worte aus seiner Kindheit, die Tätigkeit bezeichneten, die bedacht sein wollten, bevor man sich ihnen hingab. Heutzutage war alles bloß Wichsen und Ficken und Scheißen, und niemand dachte sich groß etwas dabei. Er selber sagte auch 'Scheißen'; manchmal, privat. Jack redete natürlich ganz salopp von Wichsen und von Ficken ebenso. Graham war in der Verwendung beider Ausdrücke noch etwas zögernd. 'Wichsen' war eigentlich ein so stilles, häusliches, unschuldiges Wort: es klang nach Heimarbeit. (Julian Barnes: Als sie mich noch nicht kannte, S. 86)


Barnes, Julian: Als sie mich noch... [4]

  Er stellte sich den Zoo an Sonntagsnachmittagen vor: ein paar Touristen, gelegentlich ein Wärter plus traurige Scharen scheinfröhlicher Elternteile, die sich unnötig, verzweifelt an Kinder unterschiedlicher Größe klammerten. Ein Zeitreisender, der dort plötzlich landen würde, käme zu dem Schluß, daß die menschliche Rasse ihre alte Fortpflanzungsmethode aufgegeben und in seiner Abwesenheit die Parthenogenese zur Vollendung gebracht hatte. (Julian Barnes: Als sie mich noch nicht kannte, S. 159)


Barnes, Julian: Als sie mich noch... [5]

  Ann füllte ein paar Gläser nach, brachte frischen Wind in eine flaue Zone in der Zimmerecke und hielt nach Graham Ausschau. Weil sie ihn im Wohnzimmer nicht sah, ging sie hinüber in die Küche. Dort plünderte ein Tramp den Kühlschrank. Auf den zweiten Blick entpuppte er sich nur als Bailey, der Gerontologe und Kollege Grahams, der sich trotz privaten Wohlstands stets bemühte, möglichst abgerissen zu wirken, womit er in der Regel auch Erfolg hatte. Sogar im Haus behielt er den Regenmantel an; sein glattes Haar hätte weiß sein können, hätte er nicht vor Dreck gestarrt. "Ich habe mir gerade überlegt, ob ich mir nicht ein paar Innereien aufbraten könnte", sagte er mit einem Eigentum-ist-Diebstahl-Blick in den Eisschrank. "Fühlen Sie sich ganz wie zu Hause", sagte Ann überflüssigerweise. (Julian Barnes: Als sie mich noch nicht kannte, S. 198)


Barnes, Julian: Metroland [1]

  Janet/Rusty war das erste Mädchen, mit dem ich Küsse von respektabler Dauer tauschte; das erste, genauer gesagt, bei dem ich merkte, daß man nur durch die Nase atmen darf. Anfangs war es wie beim Zahnarzt: Man ist die ganze Zeit damit beschäftigt zu hoffen, daß der einzige betriebsfähige Atemweg frei bleibt, bis man aus dem Stuhl rauskommt. Mit der Zeit gewann ich jedoch mehr Sicherheit. Danach war es mehr wie ein Schnorcheln. Ich schnorchelte viel mit Janet. Sie war beinahe die Liebe eines Teils meines Lebens. (...) Rusty/Janet und ich brachten ziemlich viel Zeit damit zu, uns gegenseitig nicht auszuziehen. Zum Teil war es Mangel an Gelegenheit, obwohl - wie ich mir großartig einredete - die Einfallsreichen und die Verzweifelten immer ein klitschnasses Unterholz finden, einen bandscheibenschädigenden Rücksitz oder einen nervtötenden Ladeneingang im Flackerschein vorbeikommender Autos.


Barnes, Julian: Metroland [2]

  Sie gestikulierte viel, wenn wir uns unterhielten. Ich glaube, die beweglichen Teile gefielen mir am besten an ihr - die Hände und die Augen. Wenn sie redete, konnte man genausogut zugucken wie zuhören. Wir redeten über das Nächstliegende - meine Arbeit, ihren Job in einem Fotoarchiv, Durrell, Filme, Paris. Das ist meistens so, allen Phantasien von sofortiger Seelenverschmelzung, dem freudigen Entdecken von Gemeinsamkeiten zum Trotz. In den meisten Dingen waren wir uns einig - kein Wunder, bei meinem ängstlichen Drang zu gefallen. (Julian Barnes: Metroland)


Barnes, Julian: Metroland [3]

  Als wir rauskamen, erwähnte ich mit formeller Lässigkeit den Calvados-Vorrat bei mir zu Hause. Wie nah ich wohnte, war bekannt. Die Wohnung war so, wie ich sie verlassen hatte, das heißt, wie ich sie halb-arrangiert hatte. Einigermaßen ordentlich, aber weder so rum noch so rum obsessiv. Offen herumliegende Bücher, als würden sie gerade gelesen (einige wurden es auch - in den besten Lügen steckt immer ein Quentchen Wahrheit). Beleuchtung gedämpft und von den Ecken her - aus naheliegenden Gründen, aber auch für den Fall, daß im Laufe des Films ein übereifriger, heimtückischer Pickel zum Sprießen gekommen war. Gläser beiseits gestellt, vorher noch mal gewaschen und gespült, aber nicht abgetrocknet, damit man den Calvados nicht wie sonst durch einen wogenden Flusenschaum hindurch schlürfen müßte. Als wir reinkamen, warf ich meine Jacke lässig auf den Sessel, damit Annick womöglich das Sofa wählte, wenn ich sie zum Sitzen einlud (auf das Bett würde sie wohl kaum losgehen, trotz seiner Tagesverkleidung aus indischer Decke und Kissenberg). Sollte ich in irgendeinem Stadium zu einer Minnebewegung ausholen, wollte ich von der Sessellehne keine in die Magengrube geknallt kriegen. (Julian Barnes: Metroland)


Barnes, Julian: Metroland [4]

  Warum gab es so viele Mißverständnisse um Sex? Später, auf der Heimfahrt im Zug, fiel mir Tonis "Theorie des Vorortsexes" wieder ein, die er mir einmal dargelegt hatte, als wir beide sechszehn waren und den Einzug in das Land ohne Wegweiser noch vor uns hatten. London, erklärte er, sei das Zentrum der Macht und der Industrie und des Geldes und der Kultur und alles anderen, was wertvoll, wichtig und gut sei; von daher sei es, 'ex hypothesi', das Zentrum des Sex. Man schaue sich bloß mal die Masse von goldkettchentragenden Prostituierten an; und man schaue sich einen beliebigen U-Bahnwagen an - überall Tussis in knallengen Kleidern an George-Grosz- Karikaturen geschmiegt. Die Enge, der Schweiß, das ganze Leben und Treiben der Stadt schrien jedem mit Sensibilität begabten Beobachter Sex entgegen. Diese sexuelle Energie werde nun, wie er mir versicherte, allmählich zerstreut, je weiter man von der Metropole weggehe, so daß, wenn man schließlich bis Hitchin und Wendover und Haywards Heath käme, die Leute in Büchern nachgucken müßten, um rauszufinden, was wohin komme. (Julian Barnes: Metroland)


Baum, Vicki: Menschen im Hotel [1]

  Preysing gab zunächst keine Antwort, sondern dachte nach, und das machte ihm große Mühe. Er war ein braver Mensch, dieser Generaldirektor Preysing, korrekt, geradlinig, sauber innen und außen. Ein Geschäftsgenie war er nicht, es fehlte ihm an Phantasie, an Überredungsgabe, an Schwung, Sooft man ihm entscheidende Entschlüsse auflud, rutschte er herum wie auf Glatteis. Wenn er die Unwahrheit sagte, fehlte es ihm an Überzeugungskraft. Er brachte nur kleine schwächliche Mißgeburten von Geschäftslügen zustande. Er stotterte leicht, und unter seinem Schnurrbart bedeckten kleine Schweißtropfen die Oberlippe. (Vicki Baum: Menschen im Hotel, S. 12)


Baum, Vicki: Menschen im Hotel [2]

  Kringelein, obwohl unbeholfener und bescheidener Natur, war nicht eben dumm, er besaß Idealismus und Bildungsstreben. Daß er sich selber scherzhaft als Moribundus bezeichnete, bezog sich beispielsweise auf einen Ausdruck, der ihm in einem Buch aus der Leihbibliothek begegnet war, das er unter ziemlichen Mühen gelesen und in schwierigen Gesprächen mit dem Notar durchgekaut hatte. Kringelein hatte von Geburt an das normale Leben des Kleinbürgers geführt, das etwas verdrossene, aufschwunglose und verzettelte Leben des kleinen Beamten in der kleinen Stadt. Er hatte früh und ohne starken Antrieb geheiratet, ein Fräulein Anna Sauerkatz, Tochter des Kolonialwarenladens Sauerkatz, eine Person, die ihm von der Verlobung bis zur Hochzeit sehr hübsch vorkam, aber kurz nach der Heirat häßlich wurde, unfreundlich, geizig und voll kleinlich- wichtiger Schwierigkeiten. Kringelein bezog ein fixes Gehalt, das von fünf zu fünf Jahren ein wenig aufgebessert wurde, und da seine Gesundheit nicht die beste war, verhielt ihn Ehefrau und Familie auf ein nebelhaftes "Versorgtsein" späterhin. Ein Klavier, daß er sich zeitlebens heftig wünschte, blieb ihm beispielsweise versagt; auch den kleinen Teckel namens Zipfel mußte er verkaufen, als die Hundesteuer heraufgesetzt wurde. Am Hals hatte er immer eine wunde Stelle, weil seine dünne, blutarme Haut die aufgerauhten Ränder der alten, abgetragenen Hemdkragen nicht vertrug. Zuweilen schien diesem Kringelein etwas mit seinem Leben nicht ganz richtig zu sein, aber er fand nicht, was es war. Manchmal, im Gesangverein, wenn sein hoher tremolierender und zarter Tenor über die andern Stimmen hinaustieg, kam ein schwebendes und genußvolles Gefühl über ihn, so, als fliege er sich selber davon. Manchmal ging er abends die Chaussee hinaus gegen Mickenau zu, bog von der Straße ab, überkletterte den feuchten Straßengraben und wanderte den Rain zwischen zwei Feldern hinein. Es sauste still zwischen den Halmen, und wenn die Ähren seine Hand streiften, freute er sich auf unerklärliche Weise. (Vicki Baum: Menschen im Hotel, S. 24)


Baum, Vicki: Menschen im Hotel [3]

  "Aber", so sagte Kringelein, "wo ist das wirkliche Leben? Ich habe es noch nicht erwischt. Ich war im Kasino, ich sitze hier mitten im teuersten Hotel, aber es ist immer noch nicht richtig. Ich habe immer den Verdacht, das richtige, das wirkliche, das eigentliche Leben spielt sich ganz woanders ab, das sieht ganz anders aus. Wenn man nicht dazugehört, dann ist es gar nicht so leicht, hineinzukommen, verstehen Sie?" "Ja, wie stellen Sie sich das mit dem Leben vor!" erwiderte darauf Doktor Otternschlag. "Gibt es das Leben überhaupt, wie Sie sich es vorstellen? Das Eigentliche geschieht immer woanders. Wenn man jung ist, denkt man: Später. Später denkt man: Früher war es das Leben. Wenn man hier ist, denkt man, dann denkt man, es ist dort, in Indien, in Amerika, am Popoketepetl oder sonstwo. Aber wenn man dort ist, dann hat sich das Leben gerade weggeschlichen und wartet ganz still hier, hier, von wo man davon gerannt ist. Mit dem Leben geht es, wie es dem Schmetterlingsjäger mit dem Schwalbenschwanz geht. Wenn man ihn gefangen hat, sind die Farben abgegangen und die Flügel lädiert." (Vicki Baum: Menschen im Hotel, S. 50)


Baum, Vicki: Menschen im Hotel [4]

  Nachdem die Grusinskaja die zwei ersten, schmerzhaften Tränen geboren hatte, ging es leichter. Es fing mit einem dünnen, leicht hinfließenden Tränenschauer an, der warm und kühl zugleich war wie ein Sommerregen - Gaigern mußte an Hortensienbeete im Garten von Ried denken, er wußte nicht, wieso - dann wurde ein leidenschaftliches Strömen daraus, ein schwarzes Strömen, weil die Augenbrauentusche sich vollends löste, und zuletzt warf die Gusinskaja sich auf ihr Bett und schluchzte viele russische Worte in ihre Hände, die sie gefaltet vor ihrem Mund gepreßt hielt. Gaigern verwandelte sich bei diesem Anblick aus einem Hoteldieb, der nahe daran gewesen war, die Frau niederzuschlagen, in einen Mann, in ein großes, einfaches und gutmütiges Mannsgeschöpf, das keine Frau weinen sehen konnte, ohne helfen zu wollen. (Vicki Baum: Menschen im Hotel, S. 129)


Baum, Vicki: Menschen im Hotel [5]

  Erst mit dem Geld fängt man an, ein sauberer Mensch zu werden. Nicht einmal die Luft ist in Ordnung, wenn man kein Geld hat, man darf nicht lüften, weil die teure Wärme hinauszieht. Man kann nicht baden, weil das warme Wasser Kohlen kostet. Die Rasierklingen sind alt und kratzen. Mit der Wäsche wird gespart. Die Haarbürste hat keine Borsten mehr, die Kaffeekanne ist gesprungen und gekittet, die Löffel sind schwarz geworden. In den Kopfkissen sind so schwere Klumpen von schlechten, alten Federn. Was kaputtgeht, bleibt kaputt. Nichts wird gerichtet. Die Versicherungspolice muß bezahlt werden. Und man weiß gar nicht, daß man falsch lebt, man glaubt, es muß so sein." Er hatte seinen Kopf an Flämmchens Kopf gelegt, so beteten sie zusammen die Litanei des armen Lebens herunter. (Vicki Baum: Menschen im Hotel)


Beauvais, Richard: Gemeinschaft

  Solange der Mensch sich nicht selbst in den Augen und Herzen seiner Mitmenschen begegnet, ist er auf der Flucht. Solange er nicht zulässt, dass seine Mitmenschen an seinem Innersten teilhaben, gibt es für ihn keine Geborgenheit. Solange er sich fürchtet, durchschaut zu werden, kann er weder sich noch andere erkennen - er wird allein sein. Wo können wir solch einen Spiegel finden, wenn nicht in unserem Nächsten. Hier in der Gemeinschaft kann ein Mensch erst richtig klar über sich werden und sich nicht mehr als den Riesen seiner Träume oder den Zwerg seiner Ängste sehen, sondern als Mensch, der - Teil des Ganzen - zu ihrem Wohl seinen Beitrag leistet. In solchem Boden können wir Wurzeln schlagen und wachsen; Nicht mehr allein wie im Tod, sondern lebendig als Mensch unter Menschen." (Richard Beauvais)


Bedford, Sybille: Ein Vermächtnis [1]

  Der Hausdiener, ein freundlicher Franzose, (...) lud mich dann in den Anrichteraum ein, wo er mir ein Spiel namens 'Pigeon vole' beibrachte. Er erzählte mir viele wunderbare Geschichten, und ich hatte nichts dagegen, daß er ein Auge auf mich hatte. Diesem freundlichen Mann verdanke ich eine erste Ahnung von Beschwingtheit und tiefer Freude, von Licht und Ebenmaß und das Gefühl von einem unverlierbaren Gewinn - die Umrisse jener dauerhaften Liebe, die ich seit damals immer für sein Land empfunden habe. (Sybille Bedford: Ein Vermächtnis, S. 225)


Bedford, Sybille: Ein Vermächtnis [2]

  Öffentliche Skandale, jedenfalls solche, die sich in einigermaßen gefestigten Zeiten abspielen, in denen viele bereit sein mögen, der bestehenden Gesellschaftsordnung einen Stoß zu versetzen, aber nur wenige sie wirklich nieder reißen wollen, laufen nach einem bestimmten Schema ab. Irgend etwas, ein Amtsvergehen, ein Verbrechen oder eine grobe Ungerechtigkeit, wird durch Zufall bekannt oder absichtlich öffentlich gemacht und löst ein Echo aus. Das Regime, das jenes Vergehen geduldet oder begangen oder ihm sonstwie Vorschub geleistet hat, versucht die zutage geförderten Tatsachen zu bestreiten oder zu beschönigen. Wenn aber diese Tatsachen zu sehr von dem abweichen, was der normale Bürger von denen, die ihn regieren, erwartet, wenn sie hinreichend verwerflich, anrüchig oder sensationell sind oder so dargestellt werden, oder auch wenn der normale Bürger nur sehr arm und gedrückt oder abgestumpft ist, dann gerät der Skandal wirklich an die Öffentlichkeit, und der Stein kommt ins Rollen. Entscheidend ist nun, wer aus welchen Motiven die Stimme erhebt - aber solche Motive sind meist ein Gemisch aus vielen Motiven. Manchen Ankläger treibt die Zugehörigkeit zu einer Partei oder ein Prinzip, anderen geht es um die Moral oder die eigene Karriere, oder sie denken an Freunde und Feinde, den meisten wird ein bißchen von alledem durch den Kopf gehen; aber fast jeder wird glauben, das große Ganze gehe ihm über alles und er handele in Erfüllung seiner staatsbürgerlichen Pflicht. Auch die Amtsinhaber werden sich von Parteitreue oder gegenseitige Loyalität und dem Glauben an die Nützlichkeit ihres Wirkens für ihr Land und für sie selbst leiten lassen. Es wird ein gewisses Maß an Ehrlichkeit und ein gewisses Maß an Wahrhaftigkeit und oft ein beträchtliches Maß an gutem Willen ins Spiel kommen, aber von allem auch - und in sehr hohem Maße - das Gegenteil. (Sybille Bedford: Ein Vermächtnis, S. 289)


Bellow, Saul: Regenkönig [1]

  Beim Eintritt ins Leben wog ich vierzehn Pfund, und es war eine schwere Geburt. Ich wuchs heran. Ganze 1,93 m. Ich wiege 104 Kilo. Mein Kopf ist riesig, kantig, mit Haaren wie Persianerpelz. Mißtrauische Augen, gewöhnlich leicht zusammengekniffen. Polterndes Benehmen. Große Nase. Ich war eines von drei Kindern und das einzige überlebende. Mein Vater mußte alle seine Milde aufbieten, um mir das zu verzeihen, und ich glaube nicht, daß er es je völlig tat. Als ich in das heiratsfähige Alter kam, versuchte ich, um Freude zu machen, und entschied mich für ein Mädchen unserer eigenen sozialen Schicht. Eine bemerkenswerte Person, schön, groß, elegant, sehning, mit langen Armen und goldenem Haar, zurückhaltend, fruchtbar und ruhig. Niemand von ihren Angehörigen kann mir verübeln, wenn ich hinzufüge, daß sie schizophren ist, denn sie ist es wirklich. Ich gelte gleichfalls für verrückt, und mit gutem Grund - ich bin launisch, schroff, tyrannisch und vermutlich übergeschnappt. Nach dem Alter der Kinder gerechnet, waren wir rund zwanzig Jahre lang verheiratet. Da wären zunächst Edward, Ricey, Alice, dann noch zwei weitere - du lieber Himmel, ich habe eine erkleckliche Zahl von Kindern. Der Herr segne den ganzen Haufen. (Saul Bellow: Der Regenkönig, S. 6)


Bellow, Saul: Regenkönig [2]

  Man wird von so sonderbaren Leiden befallen. Einfach, weil man Mensch ist, aus keinem anderen Grund. Ehe man's sich versieht, ist man eines schönen Tages genauso wie die anderen Menschen, die man kennengelernt hat, mit all diesen besonderen menschlichen Übeln, genauso ein Gefäß für Launen, Eitelkelkeiten, Unbesonnenheiten und dergleichen. Wer will das alles, wer hat etwas davon. Diese Dinge machen sich an der Stelle breit, wo des Menschen Seele sein sollte. (Saul Bellow: Der Regenkönig, S. 81)


Bellow, Saul: Regenkönig [3]

  Was den König betraf, so schien sein Interesse an mir immer mehr zu wachsen. Halb lächelnd erforschte er mich mit zunehmender Eindringlichkeit. Wie sollte ich je die Absichten und Ziele erraten, die sich in seinem Herzen verbargen? Gott hat mir nicht halb so viel Intuition verliehen, wie ich ständig nötig hätte. Da ich dem König nicht vertrauen konnte, mußte ich ihn zu verstehen suchen. Ihn verstehen? Wie sollte ich das anfangen? Zum Teufel! Das wäre etwa so, als versuchte man, einen Aaal aus der Suppe zu fischen, nachdem er ihn Stücke zerkocht ist. Auf diesem Planeten leben Milliarden Bewozhner, denen unzählige Milliarden voraufgegangen sind und denen weitere Milliarden folgen werden, und keinen von ihnen, keinen einzigen, werde ich wohl je verstehen.


Bellow, Saul: Regenkönig [4]

  Ich habe das Gefühl, die menschliche Natur folgt einem Gesetz, in dem die Gewalt eine Rolle spielt. Der Mensch ist ein Wesen, das unter Schlägen nicht stillhalten kann. Nehmen wir einmal das Pferd - es braucht nie Rache. Auch nicht der Ochse. Aber der Mensch ist ein Rache-Wesen. Wenn er bestraft wird, sinnt er darauf, von der Bestrafung loszukommen. Kann er von der Bestrafung nicht loskommen, droht sein Herz daran zu vermodern. (Saul Bellow: Der Regenkönig, S. 204)


Bellow, Saul: Regenkönig [5]

  Die Männer mit dem größten Appetit waren von jeher diejenigen mit dem größten Zweifel an der Wirklichkeit. Diejenigen, die es nicht ertragen konnten, daß Hoffnung sich in Elend, Liebe sich in Haß, Tod und Schweigen und so weiter verwandelt. Der Geist hat ein Recht auf seine vernünftigen Zweifel, und mit jedem kurzen Leben erwacht er, sieht und versteht er, was soviele andere Geister von gleich kurzer Lebensspanne hinterlassen haben. Es ist ganz natürlich, wenn man sich zu glauben weigert, daß so viele kurze Spannen etwas so großartig Einheitliches geschaffen haben sollten. Daß Menschenwesen durch Nachdenken makellos werden sollten. Das läßt einen Menschen aufseufzen. (Saul Bellow: Der Regenkönig, S. 222)


Bemmann, Hans: Stein und Flöte

  Zeit ist etwas, das man um so weniger begreift, je mehr man davon erfährt. Man kann ihrer nie sicher sein. Achtet man auf die Zeit, so schleicht sie dahin wie eine Schnecke, aber sobald man sich von etwas anderem ablenken läßt, springt sie davon wie ein Wiesel. Sie ist immer da, aber wenn du sie packen willst, greifst du ins Leere, denn sie ist schon wieder vergangen. Gut, ich habe ein bißchen Erfahrung mit der Zeit gemacht, aber ich weiß auf keine Art über sie bescheid." (Hans Bemmann: Stein und Flöte)


Bennett, Alan: Cosi fan tutte

  Obwohl über zwanzig Jahre vergangen waren, war das Geschäft immer noch als das erkennbar, was es in Miss Dorseys Tagen gewesen war, denn außer der Einführung einer Kühltruhe und mehrerer Kühlschränke hatte Mr. Anwar die bestehende Einrichtung einfach seinen veränderten Erfordernissen angepaßt. Schubladen, die früher der vornehmen Ausstaffierung eines Lebens in Müßiggang gewidmet gewesen waren - Strickmuster, Häkelnaden, Kräuselbänder -, beherbergten nun Nan und Pita-Brot; Gewürze ersetzten Häubchen und gestrickte Babyschuhe, und die Regale und tiefen Schubladen, die einst Sturmpf- und Miederwaren in sich geborgen hatten, waren nun mit Reise und Kichererbsen gefüllt. (Alan Bennett: Cosi fan tutte, S. 27)


Bernhard, Thomas: Alte Meister

  Ein guter Arzt ist das beste, das wir haben können, sagte Reger, aber kaum jemand hat einen guten Arzt, wir haben es ja doch immer nur mit medizinischen Stümpern und Scharlatanen zu tun, sagte er, und glauben wir einmal, jetzt haben wir einen guten Arzt gefunden, so ist er entweder zu alt oder zu jung, entweder er versteht etwas von der neuesten Medizin und hat keine Erfahrung oder er hat Erfahrung und versteht nichts von der neuesten Medizin, so ist es, sagte Reger. Der Mensch braucht ganz dringend einen Körperarzt und einen Seeelenarzt und beide findet er nicht, lebenslänglich ist er auf der Suche nach einem guten Körperarzt und nach einem guten Seelenarzt und beide gibt es für ihn nicht, das ist die Wahrheit. (Thomas Bernhard: Alte Meister, S. 272)


Bernhard, Thomas: Watten

  Natürlich ist alles ein Milderungsgrund, sage ich. Die Leute können alles angeben als Milderungsgrund, sage ich. [..] Die armen Teufel können sagen vor Gericht, sie seien arm gewesen, die Reichen, reich. Alle mit gleichem Recht. Wie die Dummen, daß sie zeitlebens dumm gewesen sind. Die einen geben an, sie sind zeitlebens benachteiligt gewesen, die andern geben an, zeitlebens bevorzugt. Alles ist ein Milderungsgrund. Die einen, sie hätten die ganze Welt gesehen, die andern, sie hätten nichts gesehen. Die einen, daß sie eine hohe Schulbildung haben, die andern, daß sie überhaupt keine Schulbildung haben. Der Philosoph, daß er Philosoph gewesen ist, wie der Fleischhauer, daß er Fleischhauer gewesen ist. Alle diese Leute haben immer ein Alibi. Jede Existenz ist ein Milderungsgrund, geehrter Herr. Vor jedem Gericht, vor jedem Selbstgericht. (Thomas Berhard: Watten)


Bernhard, Thomas: Ein Kind

  Mein Großvater wünschte die klare, die knappe Rede, er haßte die Auschweifung, die Anläufe und Umwege, an welchen die ganze übrige Welt leidet, wenn sie etwas zum besten zu geben hat. Er litt unter der Umständlichkeit seiner Umgebung, die sich nur dilettanisch äußerte und in jedem Falle, wenn sie sich überhaupt etwas zu ihm zu sagen getraute, der Verdammung meines Großbaters sicher gewesen war. Ich kannte seine Abneigung gegen das Umständegeschwätz. Die Halbgebildeten tischen nur immer wieder ihren abgestandenen schauerlichen Brei auf, sagte er. Er war nur von Halbgebildeten umgeben. Es ekelte ihn, wenn sie die Stimme erhoben. Bis an sein Lebensende haßte er ihren Artikulierungsdilettantismus. Wenn ein einfacher Mensch spricht, ist das eine Wohltat. Er redet, er schwätzt nicht. Je gebildeter die Leute werden, desto unerträglicher wird ihr Geschwätz. (Thomas Bernhard: Ein Kind, S. 26f.)


Bernhard, Thomas: Die Billigesser

  Er mußte zeitlebens den Eindruck gehabt haben, daß er sich in einer Welt aufzuhalten hatte, in welcher es keine anderen als nur Gescheiterte gibt, die schon an dem ersten höheren Schwierigkeitsgrad des Geistes gescheitert sind, weil sie entweder von Natur aus für einen solchen Geistesweg und also für einen solchen Lebens- und Existenzschwierigkeitsgrad nicht bestimmt waren oder weil sie es gar nicht in Betracht gezogen hatten, sich einem solchen Geistesweg und also einer solchen Lebens- und Existenzschwierigkeit auszusetzen. (Thomas Bernhard: Die Billigesser)


Bernhard, Thomas: Die Billigesser [2]

  ... daß es tatsächlich zwei Menschenkategorien gibt, die eine empfinde nichts, wenn sie schiefhängende Bilder sehe, die andere verzweifelte daran und es sei den Menschen immer auch gleich abzulesen, zu welcher der beiden Kategorien sie zu zählen seien, zu der einen, welcher schiefhängende Bilder an der Wand nichts ausmachten, oder zu der anderen, die die Tatsache schiefhängender Bilder an der Wand mit der Zeit wahnsinnig mache. (Thomas Bernhard: Die Billigesser)


Beyer, Marcel: Kaltenburg

  Ehe er zum erstenmal Dresdner Boden betrat, hatte er sogar bereits ein neues Wort gelernt, ein Fremdwort fast - kein Dialektausdruck, ganz und gar nicht. Vielmehr reichte es über ein gutes Hochdeutsch weit hinaus, als die Dame mit aller Selbstverständlichkeit ein "Wöllte" in einen ihrer Sätze einfließen ließ und Martin damit einen Eindruck davon gab, was es bedeutet, Höchstdeutsch zu beherrschen. Zugegeben, er stutzte kurz, ein "Wöllte" hatte er noch nie gehört, in Dresden allerdings schien es den Menschen so geläufig zu sein, als lernten die Kinder schon in der ersten Volksschulklasse auch den Konjunktiv drei. Das wollte er ganz rasch nachholen, nahm sich Martin vor, während er seiner freundlichen Reisebegleitung mit den Koffern half und sich am Bahnsteig auf das höflichste von ihr verabschiedete. Als er dann vor dem Bahnhof noch mitbekam, wie eine Mutter ihr Kind mit "Bleibe hier" ermahnte, klang das schon fast vertraut hier heißt es eben "Sage einmal", heißt es "Erläre mir", und selbst in Augenblicken, da man spürt, wie einem die Zornesröte ins Gesicht steigt, weil ein unwilliges Kind zwischen Passanten zu verschwinden droht, ruft man, wenn auch in etwas schärferen Ton, noch: "Bleibe hier". Nicht einmal eine überlastete Mutter, die dort drüben mit ihrem Gepäck jongliert, würde sich in der Öffentlichkeit derart gehenlassen, daß sie in ein grobes, ein bäurisches "Bleib" zurückfiele. Hier gilt in jeder Lebenslage Schriftdeutsch, hier hat man seinen Luther verinnerlicht, soviel begreift Martin auf Anhieb. (Marcel Beyer: Kaltenburg, S. 157)


Bierbaum, Otto Julius: Der Mann mit dem...

  Weiß Gott, Centéglises ist eine alte Stadt; das muß ihr der Neid lassen. Der bündigste und sowohl aus- wie eindruckvollste Beweis ihrer Eigenschaft als Antiquität ist ihr Pflaster, das einen vollkommenen Überblick über alle Steinarten gewährt, die in den verschiedensten Perioden der Menschheitsgeschichte zum Pflastern von Straßen verwendet worden sind, und nicht bloß über die Steine selbst, sondern auch über die verschiedenen Techniken, mit denen man sie zu Pflasterungsmaterial machte. Die rundlichen Steine des achtzehnten Jahrhunderts, die Steine des Rokoko finden sich da brüderlich eng vermischt mit den scharfkantigen Kieseln der roheren und kräftigeren Gotik; der revolutionäre Asphalt ist dagegen von den konservativen Vätern dieser antiquarischen Stadt ihren Straßen ferngehalten worden. (Otto Julius Bierbaum: Der Mann mit dem porösen Schädel)


Bierbaum, Otto Julius: Das höllische Automobil

  Frechdachs (...) verstand sich auf Teufeleien, und so ist es kein Wunder, daß er sich auch auf den Charakter des Teufels und seiner Großmutter verstand. Er ging zu einer Felsenspalte, wo, wie er wußte, der Teufel oft herauskam (...) "He," rief er da, "Herr Baron! Herr Baron!" "We ... we ... wer ruft denn da?" meckerte es aus der Felsenspalte. "Mein Enkel hat keine Zeit. Er macht sich eine Klaviatur aus Geizhalsknochen." "Ah," rief Frechdachs, "hochwohlgeboren die Frau Teufelin- Großmutter. Nein, was für eine schöne Stimme! Sie sollten die Königin der Nacht singen! Ich hab' mein Lebtag keinen solchen Sopran gehört." Des Teufels Großmutter hatte ein Gefühl, als würde sie mit altem Dachsfett eingerieben, so angenehm fuhr ihr diese Schmeichelei über die runzelige Haut. (...) Als Kleidung trug sie lederne Hosen und eine Jacke aus demselben Stoffe, beides Stücke der Ausrüstung eines eben in der Hölle angekommenen Automobilisten, der als Klecks an einer Gartenmauer geendet hatte, nachdem unter seinem Mordwagen zwanzig Menschen umgekommen waren. Auch die Lärmtrompete dieses Straßenmörders trug sie am Gürtel, und es machte ihr Spaß, zuweilen auf den Gummiball zu drücken, daß es nur so tutete. (Otto Julius Bierbaum: Das höllische Automobil)


Blanc, Henri-Frederic: Im Reich des Schlafes

  Das war die Art von lästiger Pflicht, die ihm kalten Schweiß auf die Haut trieb, ebenso wie einen Brief an eine Behörde zu schreiben oder einen Klempner zu suchen, der Zeit hatte und die menschliche Größe besaß, einen undichten Wasserhahn zu reparieren. Das Tragische war, daß seine Unbeholfenheit in alltäglichen Dingen sich von Monat zu Monat, ja, fast von Tag zu Tag verschlimmerte. Jede andere Beschäftigung als lesen oder schlafen war ihm ein Graus. (Henri-Frederic Blanc: Im Reich des Schlafes, S. 37)


Blanc, Henri-Frederic: Im Reich des Schlafes [2]

  Er stellte den Wecker auf den Nachttisch zurück und betrachtete ihn eine Weile. Er hatte nichts Besonderes, dieser Wecker, aber gerade darin lag seine Originalität. Es war ein sowjetischer Wecker aus den fünfziger Jahren. Ein Wecker, der seinen Begriff vollkommen adäquat war, ohne eine Unze Phantasie, von vorbildlichen Ingenieuren mit mustergültiger Rigorosität entworfen, ein strenges, nüchternes, präzises und funktionelles Gerät, ein gewöhnliches Uhrwerk mit arbarmunsglosen Zeigern, unerbittlichen Ticktack und eiskaltem Klingeln: der Inbegriff der Zeit. (Henri-Frederic Blanc: Im Reich des Schlafes, S. 41)


Blanc, Henri-Frederic: Im Reich des Schlafes [3]

  Das Cafe war voller Leute; aber da es sich um vornehme Menschen handelte, gab es wenig Lärm. Scheintote verhutzelte alte Abgeordnete studierten leicht zitternd die Gebäckkarte; dicke perlenbehängte Puten plapperten, während sie ihre Erdbeertörtchen zerstückelten; Börsenspekulanten rechneten, die Zeitung auf dem Tisch ausgebreitet, bei einem Saint- Honore ihre Gewinne aus; Gigolos hoben mit Eleganz ihre Tasse, während sie ein Auge auf taumelige alte Rentnerinnen warfen, die, unter der Last ihres Fetts und ihre Juwelen schwankend, einen Tisch suchten. (Henri-Frederic Blanc: Im Reich des Schlafes, S. 59)


Blanc, Henri-Frederic: Im Reich des Schlafes [4]

  Würde man bereitwillig seine Tage eingesperrt in einem Büro verbringen, an eine Tastatur, ein Telefon oder einen Bildschirm genietet, den Kopf mit Zahlen und mit Dingen vollgestopft, die man nicht vergessen darf, und schon mit der Furcht vor dem abendlichen Stau im Nacken, würde man das bereitwillig tun, wenn einem voll bewußt wäre, daß man dazu bestimmt ist, die Radieschen von unten anzugucken? Nein, meine Herren! Wenn man dem Tod ins Gesicht sehen kann, bestellt man seelenruhig, mit frischem Blick und leichtem Schritt seinen Garten. Einen Baum zu pflanzen, das hat angesichts des Todes einen Sinn. Nicht aber, in einer Fabrik oder einem Büro der Knecht einer Maschine zu sein. Den Tod zu vernachlässigen heißt sein Leben zu verfälschen. Der Gedanke an den Tod rückt alles an seinen rechten Platz, er stärkt den Guten und verfolgt den Bösen, er gibt allem seinen wahren Geschmack und läßt uns lieben, was das Leben an Bestem zu bieten hat: Ruhe, Stille, Vergessen, die Ewigkeit der Berge, guten Wein, wahre Bücher... und den Schlaf. Weit davon entfernt, zur Passivität zu führen, macht das Bewußtsein des Todes Mut. Was hat man zu fürchten, wenn man weiß, daß man dem Schlimmsten nicht entgehen kann? Empfangen wir den Tod an unserem Tisch, schlemmen und prassen wir mit ihm, und wenn es an der Zeit ist, ihn zurück auf sein Schloß im tiefen Wald zu begleiten, dann wollen wir ihn selber mit gut benetzter Kehle und prallem Wanst an der Hand nehmen, neugierig zu erfahren, wo wir uns wiederfinden werden. Was für eine Reise steht uns da bevor! (Henri-Frederic Blanc: Im Reich des Schlafes, S. 165)


Blanc, Henri-Frederic: Im Reich des Schlafes [5]

  Frei zu kaufen, was wir wollen, zu fahren, wohin wir wollen, zu sagen, was wir wollen. Aber was ist das für eine Freiheit, die jeder passiv hinzunehmen scheint? Was ist das für eine Freiheit, die jeden angesichts von Hungersnöten, Kriegen, Naturzerstörung und aufdringlicher Profitgier sagen läßt: Da kann man nichts machen...? Oh, eine seltsame Freiheit ist das. Wir sind frei, uns mehr oder weniger schnell in der ausgeschilderten Richtung zu bewegen! Wir sind frei zu entscheiden, mit welcher Soße wir verspeist werden wollen! Wir sind frei, die Marke der Matratze und die Farbe der Bettwäsche zu wählen, aber wir müssen jede Nacht den Lärm der Autos, Flugzeuge und Sirenen ertragen! Wir sind frei, ein ganzes Jahr lang in einer widerlichen Fabrik zu schuften, um vierzehn Tage zwanzigtausend Kilometer weit weg unter Palmen verbringen zu dürfen, weil zu Hause der Wald gelb ist, der Fluß nach faulen Eiern stinkt und die Vögel sich auf und davonmachen! (Henri-Frederic Blanc: Im Reich des Schlafes, S. 163)


Blanc, Henri-Frederic: Im Reich des Schlafes [6]

  Sehen Sie denn nicht, daß wir die schlimmsten Plagen unseres Jahrhunderts nicht etwa einem Rest an animalischen Urtrieben verdanken, sondern einem Übermaß an Rationalität? Die forcierte Rationalität tendiert von sich aus zum Totalitarismus. Ob es sich nun um ideologische, administrative, wissenschaftliche oder kaufmännische Rationalität handelt, sie ist unersättlich, unfähig zur Selbstbeschränkung, sie wächst, schreitet fort, wuchert, erdrückt und frißt alles... In ihrem Schatten wächst die Barbarei heran. Barbarei, meine Herren, das sind nicht die Schreie der Primitiven, die um das Feuer tanzen, Barbarei, das sind die Zahlen. Die Zahlen sind die Todeswerkzeuge. (Henri-Frederic Blanc: Im Reich des Schlafes, S. 161)


Blanc, Henri-Frederic: Im Reich des Schlafes [7]

  "Wozu reden? Wenn diese Leute in ihrem Alter immer noch nichts begriffen haben, werden sie es nie begreifen. Es sind alles Spezialisten, die nur sehen, was sie unter ihrem Mikroskop haben, der Rest der Welt ist in Nebel getaucht. Wissenschaftliche Flohzirkusdompteure, Molekülklauber, Fliegenbeinzähler. Und alle so vollgestopft mit Theorien, so übersättigt von Systemen, Thesen und Spekulationen, daß es leichter wäre, einem toten Esel einen Furz zu entlocken, als sie zu einer Änderung ihrer Vorstellungen zu bewegen. Sie haben ihren Weg gemacht, haben längst alles hinter sich. Ihr Denken ist hoffnungslos verkrustet, und eben deshalb können sie davon leben. Sie werden immer einen komplizierten Irrtum, den sie selbst gefunden haben, einer gängigen Wahrheit vorziehen. Sie werden lieber subtil ihre Intelligenz anwenden, als bescheiden einen vernünftigen Gedanken nachzuvollziehen. Sie werden stets einer Theorie von fünfhundert Seiten eher Gehör schenken als den Worten eines einfachen Menschen oder einem alten Sprichwort." (S. 155)


Blanc, Henri-Frederic: Im Reich des Schlafes [8]

  "Die Wissenschaft, Monsieur, ist Quatsch mit Soße. Man weiß, wie man Bakterienkulturen anlegt, aber wie man Kinder erzieht, davon hat man keine Ahnung mehr. Man kann mit Atomen jonglieren, aber man kennt keine Höflichkeit mehr. Man fährt in den Weltraum, aber das Meer stinkt und die Fische krepieren. Man gibt mehr Geld für Raketentreibstoff aus als für die Ernährung der Hungernden. Die Wahrheit ist: Je mehr Sachen man weiß, desto weniger versteht man zu leben. Wenn die Wissenschaft nur dazu dient, die Völker zu verdummen und den Planeten in einen Termitenhügel mit Vollkomfort zu verwandeln, sage ich nein danke! Lieber gehe ich wie die Papuas auf Löwenjagd und mache jeden Abend einen Freudentanz. Die Technik macht die Menschen nicht besser, aber sie verzehnfacht die Macht des Bösen. Der Stiesel, der vor zehntausenden Jahren mit Steinen nach Vögeln warf, wenn seine Nerven ihm durchgingen, kann heute eine Rakete auf ein vollbesetztes Flugzeug abschießen. Der Fortschritt verringert die menschliche Dummheit nicht, er macht sie nur gefährlicher." (Seite 114)


Blanc, Henri-Frederic: Teufelei [1]

  Ein anderes Mal sagte sie mit ihrem schönen Lächeln zu mir: "Ich möchte einen Toten sehen." Da wir keinen fanden, gingen wir wenigstens auf den Friedhof Kuchen essen. Louna äffte die Toten nach und schnauzte sie an ("Na, sind die Trüffeln gut?"), dann packte sie den Kuchen aus und wickelte das rosa Verpackungsband um ein Kruzifix. Rittlings auf einem Kreuz biß sie in ihren Windbeutel. Guck dir die Oma an, meinte sie mit vollem Mund, die kann es nicht fassen. Neben éiner Leiche an einer Rose schnuppern, das ist normal, aber sich einen Windbeutel einfeifen, das schockt diese alten Dickwänste. Mach dir nicht ins Hemd, Tantchen, wir krümeln nicht. (Dann wandte sie sich wieder an mich:) Siehst du, es braucht nicht viel, damit aus den Dingen etwas Besonderes wird. Ja, Louna,ja, du hast recht, auf furchtbare Weise recht, die Liebesknochen schmecken zwischen den Gräbern wirklich besser. (Henri-Frederic Blanc: Teufelei)


Blanc, Henri-Frederic: Teufelei [2]

  Nostradamus kehrte nie mehr nach Aix zurück. Er verbürgerlichte, widmete sich den "Schminkereien" der Frauen, Konfitüren und Prophezeiungen. Ich bin Gott sei Dank kein Psychologe, aber ich meine, in diesen drei Beschäftigungen, die auf seltsame Weise Frivolität und Metaphysik verbinden, einen gemeinsamen Punkt ausmachen zu können. Dieser gemeinsame Punkt ist die Zeit. Balsam für die Gesichter der Frauen zu mischen, heißt das nicht, köstlich lange Stunden damit zuzubringen, ein verderbliches Lebensmittel zu konservieren und die Bitterkeit der vergehenden Zeit in Süße und Wohlgeschmack zu verwandeln? Prophezeiungen zu verfassen, ist das nicht ein Mittel, um die Zeit zu beherrschen? Die Angst vor dem Verrinnen der Zeit ist zwar ein Kennzeichen überlegener Geister, aber bei unserem Mann ist sie zu einer kosmischen Schlacht ausgeartet. (Henri-Frederic Blanc: Teufelei)


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