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Wenn ich "abgelegenes Drogendorf" höre, stelle ich mir lauter
kleine grimmige Banditen vor, die hin und her huschen wie
Edward James Olmos in seiner besten Rolle, eifrig damit
beschäftigt, Opiumgranulat zu zerstoßen. Doch die
Opiumbauern, die uns bei der Ankunft begrüßen, sind alles
andere als undurchsichtige, zwielichtige Widerlinge mit
schlechten Manieren. Es handelt sich tatsächlich um halb
nackte Ureinwohner in traditioneller Stammestracht, raffinierte
Accossoires inklusive. Es scheint, als sei das ganze Dorf von
Mitgliedern des Akha-Stammes bewohnt. Man könnte meinen,
sie trügen ihre einem National-Geographic-Heft würdige
Aufmachung extra unseretwegen zur Schau. Doch das
Gegenteil ist der Fall. Fremden wird hier nocht sofort
angeboten, für einen Dollar ein Foto mit dem Ureinwohner
machen zu könen, sondern sie werden mit angespanntem
Argwohn beäugt. Was bedeutet, daß das ganze
Stammesgetue vollkommen echt ist. Das authentische
Thailand. Endlich. Und ich hätte es nie zu sehen bekommen,
wenn Hugh und Johnny nicht Lust auf einen Drogenrausch
gehabt hätten. Der Betäubungsmittelindustrie sei Dank! (Iris
Bahr: Moomlatz oder Wie ich versuchte in Asien meine
Unschuld zu verlieren, S. 75)
Das letzte Mal, als ich das Gefühl hatte, in der Gesellschaft
eine wichtige Funktion auszuüben, war beim Sommerzeltlager
vor zehn Jahren. Ich bin mit meinem Fähnlein oder meiner
Gruppe oder wie auch immer wir uns nannten, durch die
Wälder gewandert, als unser Gruppenleiter in ein Bienennest
trat, worauf der Schwarm zum Angriff blies. Alle anderen
Mädchen rannten um ihr Leben, und in dem Moment, als auch
ich mich vom Acker machen wollte, brüllte der Gruppenleiter:
"Halt!" Die werden wütend", fügte er hinzu, "wenn du dich
bewegst." Gehorsam verharrte ich in der Haltung des
leibhaftig Gekreuzigten, woraufhin jede einzelne Biene meinen
verwirrten Körper stach, bis der Schwarm tot zu meinen Füßen
lag. (Iris Bahr: Moomlatz oder Wie ich versuchte in Asien
meine Unschuld zu verlieren, S. 78)
Will man wissen, bei wem man nicht über den Tisch gezogen
wird, ist der Ratschlag, den ein Jude einem anderen erteilen
kann, Gold wert. Es ist ein Teil der Einstellung "Wir gegen die
anderen - jeder haßt Juden", Tatsache ist, daß Israelis sich
nur gegenseitig trauen, es sei denn, sie sind tatsächlich in
Israel, wo keiner dem anderen über den Weg traut (Iris Bahr:
Moomlatz oder Wie ich versuchte in Asien meine Unschuld zu
verlieren, S. 96)
Schließlich düsen wir die Startbahn entlang. Wurde langsam
Zeit. Scheinbar gibt man bei Vietnam Air nicht viel auf die
übliche Startprozedur, nach nur drei Sekunden auf der Bahn
katapultiert uns der Pilot im Neunzig-Grad-Winkel in die Lüfte.
Mein Magen macht eine Rückwärtsrolle und landet in der
Speiseröhre. Ich drücke mein Gesicht ans Fenster und frage
scherzhaft, ob das hier wohl ein Casting für Top Gun
sein soll. Neben mir lacht Iris nervös auf. Ich spüre ihren Blick
in meinem Nacken, doch ich starre weiter in den diagonalen
Himmel und bete, nicht aus Versehen die Stratosphäre zu
verlassen. (Iris Bahr: Moomlatz oder Wie ich versuchte in Asien
meine Unschuld zu verlieren, S. 97)
Eines ist sicher. Fahrradtaxis sind nichts für Juden. Wer hätte
gedacht, daß diese Form der Fortbewegung so viel
Schuldgefühle hervorruft? Wie soll man die Fahrt genießen,
wenn der Fahrer sich bei jeder Pedaldrehung unterwürfig
krümmt und wie ein Tier schwitzt, nur um deinen fetten Hintern
herumzuchauffieren. Ich stehe kurz davor, ihm meine Hilfe
anzubieten und für eine Weile mit ihm zu tauschen. Schließlich
unterdrücke ich solche Regungen und reduziere den
Ausdruck meiner Schuldgefühle darauf, jedes Mal
zusammenzuzucken, wenn er anhält, um sein Rückgrad
wieder gerade zu rücken - was tatsächlich alle zwei Minuten
oder so passiert. Unser erster Halt der Tagestour ist das
Kriegsmuseum oder, wie der Vietnamese zu sagen pflegt:
"Schaut-mal-wie-diese-Bastarde-von-Amerikanern-unser-
Land-zerstört-haben-Museum". (Iris Bahr: Moomlatz oder Wie
ich versuchte in Asien meine Unschuld zu verlieren, S. 102)
Ich bin ein bißchen sauer auf Freddie, weil er nicht über mich
hergefallen ist, sauer auf Seth, weil er so stoned ist, sauer auf
alle, weil sie so entspannt daliegen, während ich mich hier
offensichtlich mit Dingen herumquälen muß, die ich nicht
kontrollieren kann - zudem bin ich total sauer, weil mir nichts
übrig bleibt, als mich unwilligen oder verschreckten Personen
aufzudrängen. Es gelingt mir nicht, im anderen Geschlecht ein
Minimum an Balzverhalten zu wecken, ganz zu schweigen
davon, daß sie erfolgreich meine Biobarriere zu überwinden
versuchen würden. Meinen Frauenzaun. Meine Hierhalthecke.
Mein Puschiportal. Jessesmaria, ich verliere den Verstand. (Iris
Bahr: Moomlatz oder Wie ich versuchte in Asien meine
Unschuld zu verlieren, S. 130)
"Willst du auch mit Nili schlafen, wie alle anderen?" "Was? Wo
hast du den Mist denn her?" "Weiß ich nicht. Ich kann sie nicht
ausstehen. Tut mir leid" "Warum? Sie ist so nett!" ruft er mit
aufrichtigem Unverständnis über meine Feindseligkeit. Verflixt,
Kushnir, du hast das gerade so gut hinbekommen. Warum bist
du nur so ein blinder putz wie all die anderen Männer,
die meinen, jede schöne Frau sei "nett"? Warum erkennen nur
wir aufgeweckten Mädels die Wahrheit? Warum? Warum? "Na
ja, ich habe nichts gegen sie", schwindele ich. "Sie... sie mag
mich nur nicht." "Warum glaubst du das?", bohrt er. Sein Blick
wird zusehends leerer, sein Penis nagt an den Frontallappen
seines Hirns und fällt über die letzten Reste Weisheit und
Verstand her, die er zuvor an den Tag gelegt hatte. (Iris Bahr:
Moomlatz oder Wie ich versuchte in Asien meine Unschuld zu
verlieren, S. 178)
"Vor diesem Zeug habe ich keine Angst. Als ich klein war,
gab's bei uns immer Hirn", verkünde ich stolz. Damit meine ich
das Kalbshirn, das meine Mutter in einer feuerfesten Schüssel
mit kaltem Wasser in unserem Kühlschrank einzuweichen
pflegte, sehr zum Schrecken meiner Freundinnen, die statt
des Erfrischungsgetränks, das sie aus dem Kühlschrank holen
wollten, einen Schläfenlappen vorfanden. (Iris Bahr: Moomlatz
oder Wie ich versuchte in Asien meine Unschuld zu verlieren,
S. 199)
Na ja, Frau Paranoia lag richtig. Mein Körper hat die Leber, die
ich am ersten Tag verspeist habe, abgestoßen und sich dabei
scheinbar einiger anderer Dinge entledigt, so daß ich auf
wundersame Weise in weniger als fünf Tagen sieben Kilo
abgenommen habe. Ich bin mir ziemlich, daß ich letzte Nacht
auch meine Milz ausgeschieden habe. Nicht, daß ich damit ein
Problem hätte. ich habe sowieso keinen Platz für überflüssige
Organe. (Iris Bahr: Moomlatz oder Wie ich versuchte in Asien
meine Unschuld zu verlieren, S. 205)
Vergangene Nacht wurde mein Schlaf von einem Zehenloch
in einer Socke gestört. Ich hatte von dem Loch gewußt,
als ich morgens die Socke - es war eine weiße
Röhrensocke - anzog, aber tagsüber stört mich ein Loch
kaum. Ich kann Socken mit einer fürchterlichen Heckluke
tragen und tue es auch, dann ragt die ganze Ferse wie
ein Tafelbrötchen heraus. Nachts dagegen erwachen die
Ränder des Lochs zum Leben. (...) Als das Loch in der
Socke an meinem Fuß unerträglich wurde, langte ich
hinunter, zog sie mit einem sauberen Ruck aus und
schmiss sie in die Richtung des Abfalleimers durchs
Zimmer - wenngleich ich sagen mu, daß der Anblick eines
Stücks Unterwäsche, das man über viele Tage und Jahre
mit dem eigenen Körper abgenutzt und gewärmt hat,
zerknüllt im Abfall etwas beinahe schmerzlich
Unangemessenes hat. (Nicholson Baker: Eine Schachtel
Streichhölzer, S. 7f.)
Und am vergangenen Wochenende fuhren wir da hin, um
einen Minikühlschrank zu kaufen, damit unsere Hausgäste
das Frühstück zukünftig in ihrem Gästezimmer einnehmen
können, mit ihrer eigenen Butter und der eigenen Milch
für ihren Kaffee und ihrer eigenen megacoolen
Katalupemelone. Es ist zwar richtig, daß man mit
Hausgästen morgens sehr gute Gespräche führen kann,
wenn jedem die Haare in neuartige Richtungen abstehen,
aber ebenso richtig ist, daß Gast wie auch Gastgeber am
vierten Tag, heiser von gezwungener Fröhlichkeit,
merken, daß sie es vielleicht vorziehen, im Pyjama die
Zeitung in verschiedenen Teilen des Hauses zu lesen.
(Nicholson Baker: Eine Schachtel Streichhölzer, S. 74)
Es war die Zeit, in der sich die Lämmer auf der Koppel
gierig unter die Mutterschafe ducken, Kiebitze beim
Verteidigen ihrer Nester ihren eigenen Namen rufen, die
Kopfweiden schon austreiben und die krumme Esche im
Vorgarten kurz davor ist. Hellgrüner Frühling, in dem sogar
ein Misthaufen frisch aussehen kann. (Gerbrand Bakker:
Oben ist es still, S. 103)
Der Klostergarten ist als eine Oase anzulegen, weil man
denkend durch alle Wüsten muß.
Nur eine Gemeinschaft, in welcher Frauenhände spürbar
bleiben, ist lebenswert und hat Bestand.
Über das Halbfertige und Unvollkommmene unserer
Gedanken nicht verzweifeln. Morgen kommt ein neuer Tag.
Wer weiß, von welchen Irrtümer er uns befreien wird!
Das beste Mittel gegen Selbstmitleid: das Ohr öffnen
und Musik hören. Und sei es die Nachtmusik des Windes,
der durch die Bäume streift. (Alexander Balletta:
Regulae ad directionem ingenii et corporis)
Mutter sagte: "Ich kenne nichts, was über Großpapas
Haß auf das Theater geht." (...) ...die Exzellenz
sagte: "Sollen sie vor dem Rest der Affen herumäffen,
wie sie wollen. Die großen Gedanken aber sollten sie
möglichst in Frieden lassen und sie nicht mit ihren
dicken und dummen Zungen verfälschen. Hätte ein
einziger von ihnen den Hamlet verstanden, er hätte
ihn aus Angst vor den verfaulten Äpfeln nicht zu
spielen gewagt. Goethe war klüger. Er schrieb seine
Schauspiele so, daß niemand sie spielen mochte.
(Herman Bang: Das graue Haus, S. 130)
Den Wächter hatte man in seinem Geburtsdorf
'Schlaffe' genannt; er war klein und klapperdürr und
hatte immer einen Ausdruck im Gesicht, als hätte er
soeben aus Versehen einen Menschen getötet und sei
jetzt traurig deswegen, hoffte aber, daß niemand die
Leiche entdecken würde; und sollte dieser Fall doch
eintreten, so könnte es ja sein, daß keiner es für
schlimm hielte: Der Name klang wie ein Grunzen, und
das war vermutlich auch beabsichtigt. In diesem Fall
war jedenfalls ein ziemlich schlappes und
ungefährliches Schwein gemeint, ein Schwein, das
kaum ein Kind ins Bein beißen könnte. (Zsuzsa Bank:
Der Schwimmer, S. 31)
Habe ich Ihnen je Tante Corkys Lächeln geschildert? Sie
öffnete die Augen weit und zog die Lippen von einem
Gebiß zurück, das einem kleinen Pferd gepaßt hätte,
während ihr Kopf ganz leicht zitterte, so als erhebe
sie unter der Anspannung eines großen, wenn auch
freudigen körperlichen Einsatzes. Eine fleckige Hand
krabbelte seitwärts über die Bettdecke und suchte im
leeren Raum nach meiner; ich ergriff ihre hakenförmige
Finger und stützte Tante Corky unter dem Ellbogen - was
für einen Griff sie hatte: es war, als würde man vom
Ast eines abgestorbenen Baumes gepackt -, und sie zog
sich grunzend im Bett hoch. Ich kümmerte mich um die
Kissen und so weiter, dann holte ich einen Sessel und
setzte mich linkisch hin, die Hände auf den Knien; kann
man denn auf natürliche Weise an einem Krankenbett
sitzen? (John Banville: Athena, S. 42)
Es fehlte ihm nicht an Intelligenz, obschon diese nicht
von der Art war, die die Gesellschaft wertschätzt.
Seine Stärken beschränkten sich auf die manuellen
Geschäfte, doch entfaltete er darin ein Talent, das
nicht nur mit motorischen Fähigkeiten zu tun hatte, und
obschon er ungebildet war, ging er an alles mit jener
Erfindungsgabe heran, die in den unbedeutenden kleinen
Arbeiten die Fleißigen von den Künstlern unterscheidet
und im Gespräch zeigt, daß Wissen nicht alles ist.
Nachdem ich mich sehr früh mit der Existenz einer Nonne
abgefunden hatte, schien es mir daher sehr gnädig, daß
der Himmel mir, der geheirateten Frau, einen Gefährten
mit so liebeswürdigem Benehmen beschert hatte, der,
wenn auch kein Intellektueller, so doch ein findiger
Kopf war. (Muriel Barbery: Die Eleganz des Igels, S.
47)
Wenn Sie unsere Familie verstehen wollen, brauchen Sie
sich nur die Katzen anzusehen. Unsere beiden Katzen
sind zwei dicke Luxuskrokettenwänste, die keinerlei
interessante Interaktionen mit den Menschen haben. Sie
schleppen sich von einem Sessel zum anderen, wobei sie
überall Haare hinterlassen, und niemand scheint
begriffen zu haben, daß sie nicht die geringste
Zuneigung für jemanden empfinden. Der einzige Nutzen
der Katzen liegt darin, daß sie bewegliche
Dekorationsgegenstände darstellen, ein Konzept, das ich
intellektuell interessant finde, doch der Bauch der
unseren hängt zu sehr, als daß es auf sie angewendet
werden könnte. (Muriel Barbery: Die Eleganz des Igels,
S. 49)
"Ihr Urin war leicht hämorrhagisch!" Mein Gott, wie
schön. Wenn sie gesagt hätte: In ihrem Pipi war Blut,
wäre die Angelegenheit rasch erledigt gewesen. Doch
Olympe, die voller Rührung in die Haut eines
Katzendoktors geschlüpft ist, hat auch die
entsprechende Terminologie übernommen. Es war für mich
immer ein großes Vergnügen, jemanden so sprechen zu
hören. "Ihr Urin war leicht hämorragisch" ist für mich
ein ergötzlicher Satz, der angenehm tönt und an eine
abseitige Welt gemahnt, die von der Literatur
entspannt. Aus dem gleichen Grund lese ich auch gern
die Beipackzettel von Medikamenten, um der Ruhepause
willen, die aus dieser Präzision im Fachausdruck
entsteht, diesem Terminus technicus, der die Illusion
von Genauigkeit und den Schauder der Einfachheit
vermittelt und eine räumlich-zeitliche Dimension
herbeiführt, in der das Streben nach dem Schönen, das
schöpferische Leiden und die end- und hoffnungslose
Sehnsucht nach erhabenen Horizonten nicht vorhanden
sind. (Muriel Barbery: Die Eleganz des Igels, S. 127)
Es war so: Mama und ich sind in eine Boutique für
lingerie fine gegangen. lingerie fine, feine
Damenunterwäsche, das ist schon als Name interessant.
Wir brauchten nicht Schlange zu stehen, um
hineinzugelangen, aber das wäre gar nicht so schlecht
gewesen, denn drinnen stand man Schulter an Schulter.
Ich hatte den Eindruck, in eine Wäscheschleuder zu
geraten. Zu allem Elend ist Mama augenblicklich in
Ekstase gefallen, als sie in Dessous von suspekter
Farbe wühlte (Schwarz und Rot oder Petrolblau). Ich
habe mich gefragt, wo ich mich verdrücken und Schutz
suchen könnte, bis sie (kleine Hoffnung) einen Pyjama
gefunden hätte, und ich habe mich bis hinter die
Umkleidekabinen durchgeschlängelt. Ich war nicht
allein: Ein Mann war dort, der einzige, und er sah
genauso unglücklich aus wie Neptun, wenn er Athenes
Hinterteil verpaßt. Das ist das Schauermärchen "Ich
liebe dich, mein Schatz": Von einem, der auszog, einer
neckischen Anprobesitzung von schicken Dessous
beizuwohnen, und der auf Feindesgebiet landet, mit
dreißig Weibern in Trance, die ihm auf den Füßen
herumtrampeln und ihm vernichtende Blicke zuwerfen, wo
auch immer er seinen sperrigen Körper hinbewegt; und
was seine Freundin anbelangt, so hatte sie sich in eine
Rachefurie verwandelt, bereit zu töten für einen
fuchsiaroten Tanga. (Muriel Barbery: Die Eleganz des
Igels, S. 241)
Amüsiert und direkt sah sie ihm ins Gesicht. "Ich
glaube, Sie sind ein schlimmer Bursche." "Nein. Dann
wär ich nicht so leicht zu durchschauen." "Stimmt."
"Haben Sie einen Freund?" "Was glauben Sie?" "Ich
glaube nicht, daß Sie dann hier herumsitzen würden."
"Oh, woher wissen Sie, daß ich nicht eins von diesen
Mädchen bin, die's mit der Treue nicht so genau
nehmen?" "Warum nicht? Können doch nicht alle blind
sein in Schottland." "Vielleicht bin ich nicht zu
haben." Er wußte nicht, was er von ihr halten sollte,
aber er hatte eben keine Übung mehr mit Frauen. Sie
schienen sich während des Kriegs stark verändert, in
vielerlei Hinsicht entwickelt zu haben, während die
Domäne der Männer gleichzeitig immer kleiner geworden
war. (Pat Barker: Niemandsland)
"Meine Wirtin", sagte Sarah, als sie zurückkam. "Eine
Belgierin, hat einen Schotten geheiratet. Der Arme. Ich
glaube, er wußte nicht, was auf ihn zukam. Aber sie
nimmt nur einen Shilling für die Wäsche, und wenn man
bedenkt, daß die Laken beim Abziehen hellgelb sind,
kann man sich nicht beklagen." Er fühlte sich wohl mit
ihr, mit ihrer Art, präzise anzugeben, wieviel etwas
kostete, was nicht materialistisch oder geizig war,
sondern nur eine Anerkennung der Grenzen und
Beschränkung des Lebens. (Pat Barker: Niemandsland)
"Alle haben jemand verloren oder kennen jemand, der
jemand verloren hat. Sie wollen die Wahrheit nicht
hören. Es ist wie bei Kondolenzbriefen. 'Sehr geehrte
Mrs. Bloggs, Ihrem Sohn wurde durch ein Schrapnell das
halbe Gesicht weggeschossen, und es dauerte fünf
Stunden, bis er starb. Wir waren in der Lage, ihm ein
anständiges christliches Begräbnis zu geben.
Bedauerlicherweise geriet dieser spezielle Abschnitt
tags darauf unter schweren Beschuß, so daß George uns
dann noch fünf- oder sechsmal aufgesucht hat.' So etwas
wollen sie nicht. Sie wollen hören, daß George oder
Hohnny - oder wie auch immer er hieß - einen raschen
Tod starb und ein anständiges Begräbnis bekam." (Pat
Barker: Niemandsland)
Der Gemeinde schien es nur recht, daß sie auf den Gebrauch
ihres Verstandes verzichten durfte. Alle setzen sich
wieder und warteten auf die Predigt. Charles lehnte
sich zu Rivers und flüsterte ihm zu: "Meistens macht er
es ziemlich kurz". Dieses Flüstern rief ihm die
Sonntagvormittage seiner Kindheit ihn Erinnerung, an
denen sie mit einer leichten zweirädrigen Kutsche zur
Kirche gefahren waren und während der Predigt nach den
unanständigen Stellen im Alten Testament geblättert
hatten, eine Suche, die ihnen durch die schmierigen
Fingerabdrücke ihrer Vorgänger erleichtert wurde. Er
erinnerte sich an Michals Brautpreis: die Vorhäute von
hundert Philistern. Als Anthropologe fand er das noch
immer fasinierend. Er erinnerte sich an den Geruch der
Fußkissen und heftete seine Augen auf den
fahnendrapierten Altar. Sie waren ein für allemal
vorbei, diese Zeiten. (Pat Barker: Niemandsland, S.
194)
Der Hühnerhof war seine Idee gewesen, nachdem Charles
mit Malaria aus Asien zurückgekehrt war. (...) Die
Sache rentierte sich nicht. Im Moment konnten gerade
die Kosten gedeckt werden. Das war vor allem eine Folge
des Krieges. Futter war knapp und teuer, männliche
Arbeitskräfte standen nicht nur Verfügung. Das letzte
Bauernmädchen war nur so lange geblieben, bis sie
herausgefunden hatte, wie weit es bis zur nächsten
Stadt war, um dann plötzlich festzustellen, daß
irgendein Problem im Elternhaus ihre sofortige Heimkehr
verlangte. Aber selbst ohne den Krieg wäre es nicht
einfach gewesen. Die Hühner hatten eine merkwürdige
Art, dahinzumickern. Sie waren anfällig für eine
wahrhaft phänomenale Palette von Krankheiten und
schienen ein perverses Vergnügen darin zu finden, eines
nach dem anderen zu verenden. (...) McTavish, die
Hauskatze, ein schwarzer, zugerichteter Kater, kam
ihnen an der Ecke des Hofs entgegen und lief vor ihnen
her. Er war eine bemerkenswert mürrischer Kreatur, was
Rivers darauf zurückführte, daß er ständig von
verbotenem Fleisch umringt war. (Pat Barker:
Niemandsland, S. 196)
Ada trug zwar hauptsächlich Schwarz, doch damit konnte
sie, bei minimalen Kosten, eine beeindruckende
Respektabilität ausstrahlen. Eine traurige Art, Mädchen
zu erziehen, dachte Sarah - die Ehe als die einzige
Bestimmung weiblichen Daseins hinzustellen und
gleichzeitig zu erklären, daß es zwischen Mann und Frau
keine Liebe geben könne. Ada leugnete das tatsächlich.
In ihrer Welt liebten Männer Frauen so, wie der Fuchs
den Hasen liebt. Und Frauen liebten Männer, wie der
Bandwurm den Darm liebt. Diese Einstellung zum Leben
ließ natürlich nicht viel Sympathie für andere Frauen
zu. Ada verachtete die Hasen, diejenigen, die es
"erwischte". (Pat Barker: Niemandsland)
Ada, dickschädelig, zielstrebig, rücksichtslos, hatte
ihre beiden Töchter ganz allein durchgebracht, in der
Erziehung aber großen Wert darauf gelegt, sie zu den
entgegengesetzten Eigenschaften anzuhalten. Nett sein,
gefügig sein, zumindest nach außen hin, das ganze
Arsenal weiblichen Wohlverhaltens. So kam eine Frau in
der Welt weiter, und Ada hatte sich bemüht, ihren
Töchtern das zu vermitteln. Als kleine Mädchen waren
Cynthia und Sarah in die wellblechgedeckte Kapelle am
Ende der Straße gegangen, doch sobald ihre Brust nicht
mehr flach war, sondern Rundungen zeigte, hatte Ada sie
zu sich gerufen und ihren Übertritt zum Katholizismus
bekanntgegeben. Die Kirche von St. Edmung, dem König
und Märtyrer, lag in einem besseren Viertel. Dort hatte
Cynthia folgsam den jungen Chorsängern Augen gemacht,
wärhend Sarah, die das Ganze völlig falsch verstanden
hatte, sich in die Jungfrau Maria verliebte. (Pat
Barker: Niemandsland)
Was der Krieg Burns auch getan haben mochte, er hatte
zweifellos seine Liebe zur Heimat verstärkt. (...)
Schon vor dem Krieg war er, was seine Interessen
betraf, Landmensch gewesen, ein wenig wie Siegfried,
freilich ohne dessen Begeisterung für die Jagd. Wenn
sich das Gespräch anderen Dingen zuwandte, wirkte Burns
wie ein gescheiter Abiturient, idealistisch,
intolerant, naiv, dazu neigend, pauschale
Verallgemeinerungen als Tatsache hinzustellen,
einnehmend in der Frische seiner Sichtweise, wie solche
Burschen das oft sind. Rivers dachte, wie falsch doch
die Behauptung war, diese jungen Männer seien durch den
Krieg "reifer" geworden. Das galt nicht für seine
Patienten und ganz gewiß nicht für Burns, in dem ein
frühzeitig gealteter Mann und ein verknöcherter
Pennäler Seite an Seite zu existieren schienen. Das gab
ihm etwas merkwürdig Altersloses, aber "Reife" war kaum
die richtige Bezeichnung dafür.
(Pat Barker: Niemandsland)
Sobald er den Versuch, sich auf den Vortrag zu
konzentrieren, aufgegeben hatte, wußte er, daß er
krank war. Er schwitzte, sein Herz hämmerte, am ganze
Leib pochte es, und wieder hatte er dieses merkwürdige
Gefühl, daß sich sein Blut durch die Adern preßte. Er
vermutete eine leicht erhöhte Temperatur, aber aus
Prinzip lehnte er es ab, bei sich selbst Fieber zu
messen oder den Puls zu fühlen. Es gab bestimmte Tiefen
neurotischen Verhaltens, in die hinabzusinken er nicht
gewillt war. (Pat Barker: Niemandsland, S 302)
Ich hasse die Natur. Die Natur und die Einfachheit.
(...) An meinem Gang kann man sehen, daß ich Napoleons
Gruft und das Grabmal von Oscar Wilde besucht habe und
die Wachsfiguren im deutschen Gruselkabinett. Es ist
etwas an der Art, wie ich im Sessel sitze, was Ihnen
eine Ahnung davon gibt daß ich die Satteltechnik der
Jeanne D'Arc in allen besseren französischen
Ortschaften studiert habe; und nur jemand, der die
große Treppe der Opera mit besonders ehrfürchtigem
Schritt emporgestiegen ist, könnte die Füße mit dem
Gefühl von Verhängnis heben, das ich ihm einflöße, wenn
ich die meinen hebe. (Djuna Barnes: Gegen die Natur;
in: Klaus Wagenbach (Hrsg.): Warum so verlegen. Über
die Lust an Büchern und ihre Zukunft, S. 107)
Als sie zum Lager zurückwanderten, hörten sie eine
Sprache, die nicht die ihre, aber auch keine fremde
Zunge war. Zwei Männer setzten eine Schaufel instand,
deren Stiel sich vom Blatt gelöst hatte. Der größere
der beiden, der die Anweisungen gab, war ein englischer
Vormann, und der kleinere, der Besitzer der Schaufel,
ein französischer Bauer. Als lingua franca benutzen sie
ein Patois, das teils Englisch, teils Französisch war
und im übrigen eine olla podrida aus anderen Sprachen.
Doch selbst die den Lauschern vertrauten Wörter waren
in eine verzerrte Fasson gepreßt; und jede Grammatik
war gewaltsam verrenkt. Aber die Schaufelflicker, die
dieses Makkaroni fließend beherrschten, verstanden
einander tadellos. "So werden wir in Zukunft alle
reden", behauptete der Student mit jäher Zuversicht.
"Keine Mißverständnisse mehr. Die Völker bringen ihre
Differenzen in Ordnung, wie diese beiden Burschen ihre
Schaufel in Ordnung bringen." "Das Ende aller Poesie",
sagte Madame Julie mit einem Seufzer. "Das Ende aller
Krieg", konterte Charles-Andre. "Unsinn", gab Dr.
Achille zurück. "Lediglich andere Poesie, andere
Kriege." (Julian Barnes: Dover - Calais. Erzählungen,
S. 38)
Onkel Freddy stand auf geradezu unanständige Weise mit
beiden Beinen fest auf der Erde; er schien die Daumen
in der Westentasche zu haben, selbst wenn er gar keine
Weste trug. Seine innere wie äußere Haltung erweckte
den einschüchternden Eindruck, daß er wußte, was wahre
Männlichkeit ausmacht, daß seine Generation wie durch
ein Wunder das labile Gleichgewicht zwischen der
frühren Repression und der nachfolgenden Laxheit
getroffen hatte und daß jede Abweichung von diesem beau
ideal bedauerlich, wenn nicht geradezu pervers war.
(Julian Barnes: Dover - Calais. Erzählungen, S. 56)
Meiner Erfahrung nach gibt es verschiedene gute, wenn
auch zweitrangige Gründe - Scham, Angst, Leid, Freude
-, beim Trinken etwas über die Stränge zu schlagen, und
einen erstrangigen Grund, sehr über die Stränge zu
schlagen: Langeweile. Ich kannte einmal einen cleveren
Alkoholiker, der steif und fest behauptete, er trinke,
weil das Dinge in Gang setze, die er in nüchternem
Zustand nie erlebte. Ich habe ihm das so halbwegs
abgenommen, obwohl das Trinken meiner Meinung nach
eigentlichts nichts in Gang setzt, es hilft einfach nur
über den Kummer hinweg, daß nichts in Gang kommt.
(Julian Barnes: Dover - Calais. Erzählungen, S. 56)
Er las seinen Namen - zwei Wörter mit einem großen
Anfangsbuchstaben dazwischen, nach jahrelanger
Vertrautheit bar jeder Assoziation - und musterte sein
Paßbild. Hageres, längliches Gesicht, Kehlsack unter
dem Kinn, rote Gesichtsfarbe und ein paar geplatzte
Äderchen infolge Mißachtung ärztlichen Rats in bezug
auf den Alkoholgenuß und dazu die üblichen
Serienkilleraugen, wie man sie von Paßbildautomaten
bekommt. Er hielt sich nicht für eitel, doch in
Anbetracht seiner Neigung zu leichter Unzufriedenheit
mit den meisten Fotos von sich mußte er sich
eingestehen, daß er es wohl doch war. (Julian Barnes:
Dover - Calais. Erzählungen, S. 186)
Sie war ziemlich groß, zwischen eins dreiundsiebzig und
eins fünfundsiebzig, und sah gut aus. (Dieses andere
schleimige Wort - hübsch - lehnte er ab. Auf Frauen
jenseits einer gewissen Altersgrenze angewandt,
bedeutete es soviel wie "sah früher mal gut aus". Ein
grobes Mißverständnis, denn Schönheit war etwas, das
sich bei Frauen erst allmählich entwickelte, im
allgemeinen um die Dreißig, und das sie später nur
selten ablegten. Frühreife, ordinäre Unschuld war etwas
ganz anderes. Schönheit war eine abgeleitete Funktion
von Selbstkenntnis plus Kenntnis der Welt; daher konnte
man logischerweise höchstens bruchstückhaft schön sein,
bevor man um die Dreißig war.) (Julian Barnes: Dover -
Calais. Erzählungen, S. 189)
Ein Donnerstag im November, Royal Festival Hall, 19 Uhr 30,
Mozart KV 595, mit Andreas Schiff, danach die Vierte von
Schostakowitsch. Ich weiß noch, daß ich auf dem Hinweg
dachte, der Schostakowitsch hat mit die lautesten Passagen
der Musikgeschichte, da dringt bestimmt kein anderes
Geräusch durch. (...) Das Publikum war, wie gesagt, ganz
normal. Achtzig Prozent Freigänger aus Londoner
Krankenhäusern mit besonderen Kartenkontigenten für
Lungenstationen und HNO-Kliniken. Frühbucherrabatt für
Patienten mit einem Husten von mehr als 95 Dezibel.
Wenigstens furzt im Konzert keiner. Jedenfalls hab ich noch
nie einen furzen hören. Sie? Ja, das glaube ich auch. Womit
ich schon halbwegs beim Thema bin: Wenn man es an einem
Ende unterdrücken kann, wieso nicht auch am anderen?
Meiner Erfahrung nach ist die Vorwarnzeit etwa gleich lang.
Aber im Allgemeinen furzen die Leute bei Mozart nicht einfach
drauflos. ich vermute also, hier wirken noch ein paar
kümmerliche Reste der dünnen Kulturkruste, die unseren
Verfall in die tiefste Barbarei verhindert. Das Allegro am
Anfang lief einigermaßen glatt: ein paar Nieser, ein schwerer
Fall von hartnäckiger Verschleimung im ersten Rang Mitte,
der fast einen chirurgischen Eingriff erforderlich machte, eine
Digitaluhr und reichlich Programmgeraschel. (...) Das Allegro
ging zu Ende, und Maestro Haitink neigte langsam den Kopf,
als wollte er allen die Erlaubnis geben, den Spucknapf zu
benutzen und ihre Weihnachtseinkäufe zu bereden... (Julian
Barnes: Der Zitronentisch, S. 127f.)
"Und wünschen Sie auch eine Rasur, wo wir schon mal dabei
sind?" Unverschämtheit. SO sieht ein gut rasierter Mann
heutzutage aus. Nur Anwälte und Ingenieure und Förster
tauchen jeden Morgen in ihren kleinen Kulturbeutel und fallen
über die Stoppeln her wie die Calvinisten. Gregory drehte sich
seitlich zum Spiegel hin und schielte zu seinem Ebenbild
zurück. "Sie mag es so", sagte er leichthin. "Also verheiratet,
ja?" Paß bloß auf, du Schleimscheißer. Komm mir ja nicht so.
Die Kumpeltour zieht bei mir nicht. Aber vielleicht bist du ja
bloß schwul. Nicht, daß ich was dagegen hätte. Ich bin da
ganz liberal. "Oder sparen Sie noch, um sich unter dieses Joch
zu begeben?" (Julian Barnes: Der Zitronentisch, S. 20)
Wer Axel Lindwalls professionellen Rat suchte, fand alles, was
er sich von einem Apotheker erhoffen konnte: einen
langsamen, ernsthaften Menschen, der schmeichelhafterweise
alle Beschwerden als lebensbedrohlich ansah und sie zugleich
für heilbar erachtete. Er war ein kleiner, flachshaariger Mann;
der Klatsch wollte wetten, er werde bald Fett ansetzen. Über
Frau Lindwall gab es weniger zu bemerken, da sie weder
bedrohlich schön noch verachtenswert reizlos war, sich weder
ordinär noch allzu gewählt kleidete, sich weder aufdringlich
noch reserviert gab. Sie war einfach eine neue Ehefrau und
sollte sich daher im Abwarten üben. (Julian Barnes: Der
Zitronentisch, S. 40)
Andererseits und außerdem wollte Andrew wissen, ob es nicht
zutreffe, daß die Musik jener Zeit sehr oft für die Höfe von
Königen und Herzögen komponiert worden sei, und ob diese
Mäzene und ihr Gefolge etwa nicht herumspaziert seien, sich
am kalten Büfett gütlich getan, die Harfenistin mit
Hühnerknochen beworfen, mit der Frau ihres Nachbarn
geschäkert und nebenbei mit halbem Ohr zugehört hätten, wie
ihr kleiner Angestellter auf das Spinett eindrosch? (Julian
Barnes: Der Zitronentisch, S. 131)
Er disputierte über den Genußwert all dessen, was Menschen
zu sich nehmen, von Kapern bis zu Waldschnepfenfleisch; er
konnte erläutern, wie die Schalotte von den heimkehrenden
Kreuzfahrern in Frankreich eingeführt worden war und der
Käse von Parma durch Monsieur le Prince de Talleyrand.
Setzte man ihm ein Rebhuhn vor, so trennte er die Beine ab,
nahm bedächtig einen Bissen von jedem, wiegte kritisch den
Kopf und tat dann kund, auf welches Bein das Rebhuhn im
Schlaf gewöhnlich das Gewicht gelagert hatte. Auch mit der
Flasche stand er auf vertrautem Fuß. Wurden zum Dessert
Trauben gereicht, so schob er sie mit den Worten beiseite:
"Ich pflege meinen Wein nicht in Pillenform zu mir zu nehmen."
(Julian Barnes: Der Zitronentisch, S. 151)
Es wird dir nicht entgangen sein, daß mein Freund
Stuart kein Mensch von umfassender Bildung ist.
Solltest du ihn fragen, wie Prousts Freundin hieß,
würde er ein Quinquennium lang vor sich hin brüten,
dich dann so finster anstarren wie ein Samurai, zu
dem Schluß kommen, das sei eine Fangfrage, und
schließlich mit einem petit Flunsch des Unwillens
antworten: "Madeleine. Weiß doch jeder." (Julian
Barnes: Darüber reden, S. 152)
... weil Stuart mein Freund ist. Mein ältester Freund.
ich liebe ihn, diesen Stuart. Und wir kennen uns schon
urlange - ururlange, schon seit der Zeit, wo man noch
Mono-Schallplatten kaufen konnte, wo die Kiwifrucht
noch nicht ersonnen war, wo der Repräsentant der
Automobile Association in seinem Khakianzug vor dem
vorüberfahrenden Automobilisten salutierte, wo eine
Packung Gold Flake anderthalb Heller kostete und dann
noch was für einen Krug Met über war. So ist das mit
Stuart und mir. Wir sind alte Kumpel. Und unterschätz
mir meinen Freund nicht, nebenbei gesagt. Er kommt
etwas langsam in Gang, manchmal, und die alte Turbine
da im Oberstübchen schnurrt nicht immer wie ein
Lamborghini, aber er kommt an, er kommt an. Und
manchmal schneller als ich. "Könnte ich mir ein Pfund
von dir leihen?" Wir saßen auf benachbarten
'banquettes' in dieser unserer Wie- hieß-sie-noch-
gleich-Schule (Stuart weiß es bestimmt - frag Stuart).
Ich fand es nur anständig, das Eis zu brechen für
diesen Jungen von bis dato tranfunzliger Intelligenz,
der sich irgendwie auf ein provisorisches Plateau
gelehrsamer Nähe hinaufgekraxelt hatte. (...) Dann
hatte er gefragt, warum ich das Geld haben wollte. Als
ob ihn das irgendwas anginge! Als ob ich das wüßte! Ich
gab nur ein ungläubgiges Kichern von mir, woraufhin der
alte Gecko, der die Klasse leitete, mißbilligend seine
Halskrause gegen mich sträubte; ich beruhigte ihn mit
einem Scheerz und setzte die Verhandlungen mit meinem
rundlichen und finanziell hartleibigen neuen Kumpel
fort. (Julian Barnes: Darüber reden, S. 33)
Ich will mal zu rekonstruieren versuchen, wie sie an
dem Tag aussah. Ich habe verabsäumt, ein akkurates
Ebenbild ihres Antlitzes und Gebarens bei der
Gepäckaufbewahrungsstelle der Erinnerung zu deponieren;
doch ich glaube, sie trug ein Hemd von einem Ton
zwischen Salbei und Liebstöckl, darunter graue stone-
washed Levis 501, grüne Socken und ein Paar lächerlich
unästhetische Turnschuhe. Das Haar 'marron', hinter die
Ohren gekämmt und mit Clips festgesteckt, hinten lose
herabfallend; nicht vorhandenes Make-up verlieh eine
Blässe, welche ihre großzügigen braunen Augen
dramatisch hervorhob; ein zierlicher Mund und eine
kecke Nase, welche ziemlich tief in dem sich
verjüngenden Oval ihres Gesichtes ansetzte und
dergestalt die geschwungene Hohheit ihrer Stirn
hervorhob. Ohren mit praktisch keinen Ohrläppchen, wie
ich nicht umhin konnte zu bemerken, ein genetisches
Merkmal, das sich mit zunehmender Beliebtheit erfreut,
wofür Darwin zweifellos eine Erklärung hätte. (Julian
Barnes: Darüber reden, S. 36)
Ich mach das mit dem Gedächtnis so, daß ich es nur mit
solchen Dingen betraue, um die es sich mit einem
gewissen Stolz kümmern kann. Zum Beispiel merke ich mir
nie Telefonnummern. Ich kann mir gerade eben meine
eigene merken, aber mir kommen nicht gleich alle Ängste
dieser Welt hoch, wenn ich mein Adreßbüchlein zücken
und darin Oliver Russell nachschauen muß. Manche Leute
- verbissene 'parvenus' im Königreich des Geistes -
faseln was von Gedächtnistraining, auf das es fit und
agil werde wie ein Athlet. Na, was mit Athleten
passiert, wissen wir ja alle. Diese widerlich wendigen
Ruderer nibbeln doch allesamt ab, wenn sie mal gerade
mittelalt sind, Fußballspieler kriegen die
Knarzscharnier-Arthritis. Muskelrisse verhärten,
Bandscheiben verschwinden und Wirbel verklumpen. Schau
dir mal ein Sportveteranentreffen an, das sieht aus wie
die Reklame für ein geriatrisches Pflegeheim. Hätten
sie nur ihre Sehnen nicht so heftig strapaziert...
Daher bin ich überzeugter Gedächtnisverhätschler und
stecke meinem nur die feineren Erfahrungshäppchen zu.
(Julian Barnes: Darüber reden, S. 17)
Vielleicht hat er mal einen Kurs über den französischen
Film mitgemacht, um zu lernen, wie man Mädchen
aufgabelt. Das war nie sein 'forte', verstehst du. Ich
bin ihm manchmal mit Verabredungen zu viert
beigesprungen, aber die sind immer so ausgegangen, daß
die beiden Mädchen sich um meine Wenigkeit kabbelten
und Stuart irgendwo in der Ecke saß und schmollte und
das ganze Charisma einer Napfschnecke an den Tag legte.
Meine Güte, waren das funebre Angelegenheiten, und
unser Stuart neigte leider dazu, hinterher die Schuld
auf mich zu schieben. "Du solltest mir mehr helfen",
beschwerte er sich einmal jämmerlich. "Dir 'helfen'?
Dir 'helfen'? Ich treibe die Mädchen auf, ich stelle
sie dir vor, ich sorge dafür, daß der Abend einen
parabolischen Aufschwung nimmt, und du sitzt nur da und
starrst finster vor dich hin wie Hagen in der
Götterdämmerung, falls du mir die kulturelle Anspielung
verzeihst." (Julian Barnes: Darüber reden, S. 30)
Er hatte eine Freundin. Vor Gillian, meine ich. In den
alten Tagen, als man für anderthalb Heller etc. Und
weißt du was? Er hat bestimmt nichts dagegen, wenn ich
dir das erzähle - 'Er wollte nicht mit ihr schlafen'.
Das muß man sich mal reinziehen. Kein Rumsdibumsdi. Er
versagte sich jedewede Freiheiten mit ihren schmalen
Lenden. Als diese monatelange Stachanowsche Keuschheit
dem Mädchen endlich eine verzweifelte Geste der
Zärtlichkeit entlockte, erklärte er ihr, 'er wolle sie
besser kennenlernen'. Ich sagte, genau das hat sie doch
vorgeschlagen, du 'cretino', aber Stuart hat sich
quergelegt. Genau, der hat sich quergelegt. (Julian
Barnes: Darüber reden, S. 34)
Tja, wir kämpfen jetzt mit harten Bandagen, nicht wahr?
Und die tugendsame Val stellt sich dar wie Susannah,
die da litt unter den geilpfotigen Ältesten. Also, bei
der Vorstellung mußt du mir schon gestatten, daß ich
ein wenig vom Leder ziehe. Sollte Val sich je in ihrer
Blöße von zwei ehrwürdigen Tattergreise bespitzelt
sehen, hätte sie alle beide schon im Würgegriff, noch
ehe sie bei ihr die Leberflecken zählen könnten, und
ihnen pro Grabscher noch einen Zehner abknöpfen. Bei
flüchtiger Bekanntschaft unterschätzt man vermutlich
die penetrante Primitivität der Zeugin, die man vor
sich hat. Wenn Herodes' Truppen jedes Haus nach
Feinsinnigkeit durchkämmten, sie würden nicht lang
verweilen in La Maison de Val. Sie gehört zu den Wesen,
für die der Ausdruck "Möchtest du noch auf einen Kaffee
mitbekommen?" gnomisch ist bis zur Unverständlichkeit
und die das Apophthegma "Hast du da einen Tannenzapfen
in der Tasche?" der tantrischen Meister würdig fänden.
So mag es denn nicht ungalant sein, wenn Ollie noch
lebhaft in Erinnerung hat, wer nun genau wen
abschleppen wollte auf dieser Party. (Julian Barnes:
Darüber reden, S. 183)
Ich werd dich in eine kleine Theorie von mir einweihen.
Du weißt ja, daß Gillians Vater sich mit einer Nymphe
davongemacht hat, als seine Tochter kaum zehn Lenze
war, oder zwölf, oder fünfzehn oder so - ein Alter, das
man fälschlicherweise als "empfindlich" bezeichnet, als
sei nicht jedes Alter so charakterisierbar. Nun habe
ich in den schwülen Höhlen des Freudianismus läuten
hören, die psychologische Narbe, die dieser elterliche
Akt der Desertion hinterläßt, bewege häufig die
Tochter, so sie im rechten Alter ist, nach einem
Schäfersburschen auszuschauen, sich ein Substitut für
den entschwundenen Archetyp zu suchen. Mit anderen
Worten, sie ficken mit älteren Männern. Das schien mir,
ehrlich gesagt, schon immer ein ans Pathologische
grenzendes Verhalten zu sein. Erstens mal, hast du dir
je ältere Männer angesehen, ältere Männer von der
Sorte, die junge Frauen verführen? Dieser spitzbübische
arschreckende Gang, diese mir-kann-keiner-Bräune, die
funkelnden Manschettenknöpfe, der Gestank nach
chemischer Reinigung. Die schnippen mit den Fingern,
als sei die Welt ihr Weinkellner. Sie fordern, sie
erwarten... Es ist ekelhaft. Tut mir leid, das kann ich
einfach nicht ab. Die Vorstellung, wie leberfleckige
Hände sich in feste, jugendfrische Brüste krallen -
'pronto' enteile ich zum nächsten Speibecken!
(Julian Barnes: Darüber reden, S. 48)
Scheißkerl. Du fetter kleiner
Wichsbankerdrecksackscheißkerl. Nach allem, was ich über
die Jahre hinweg für dich getan habe. Wer hat dich denn
erst mal zu einem annähernd akzeptablen menschlischen
Wesen gemacht? Wer hat Armweh gekriegt beim
Abschmiergeln deiner rauhen Stellen? Wer hat dich mit
Mädchen bekanntgemacht, dir gezeigt, wie man Messer und
Gabel hält, wer war dein verdammter 'Freund'. Und was
krieg ich dafür? Du versaust mir die Hochzeit, du
versaust mir den schönsten Tag meines Lebens. Billige,
ordinäre, selbstsüchtige Rachsucht war das und sonst
nichts, auch wenn du den Beweggrund in deiner
Plumpsklosettseele bestimmt in etwas irgendwie Edles,
ja von einer höheren Gerichtsbarkeit Zeugendes
verwandelt hast. Ich will dir bloß eins sagen, mein
steatopyger Ex-Busenfreund: Wenn du noch mal
angeschnüffelt kommst, bist du in mehr als einer
Hinsicht mein Ex-Busenfreund. Dann sorge ich dafür, daß
du eine Woche lang Glassplitter frißt, da wollen wir
gar keine Unklarheiten aufkommen lassen. (Julian
Barnes: Darüber reden, S. 13)
Im Fernsehen sieht man ständig faszinierende Haushalte
voll von exzentrischen alten Tanten und süßen Kindern
und auf interessante Weise verschiedenartigen
Erwachsenen, die zwar ihre guten und schlechten Zeiten
haben, im Grunde aber alle an einem Strang ziehen, und
zwar "im Sinne der Familie", was immer das heißen mag.
Im richtigen Leben kommt mir das nie so vor. Alle, die
ich kenne, scheinen kleine, kaputte Familien zu haben:
manchmal durch Todesfälle kaputtgemacht, manchmal durch
Scheidung, im allgemeinen einfach durch Streiterei oder
Langeweile. Und ich kenne 'niemand', die irgendeinen
"Familiensinn" haben. Da ist bloß eine Mami, die sie
mögen, und ein Dad, den sie hassen, oder umgekehrt, und
die exzentrischen alten Tanten, mit denen ich es zu tun
habe, sind meist nur deshalb exzentrisch, weil sie
heimliche Alkoholikerinnen sind und wie ungewaschene
Hunde riechen, oder es stellt sich heraus, daß sie an
der Alzheimerschen Krankheit leider oder so.) (Julian
Barnes: Darüber reden, S. 56)
Als ich allmählich erwachsen wurde, was mir jetzt lange
her zu sein scheint, haben wir die ganzen üblichen
Gespräche geführt. Was wollten wir von einem Mann,
wonach suchten wir? Im allgemeinen habe ich, anderen
Mädchen gegenüber, einfach Filmstars genannt. Aber mir
selbst gegenüber habe ich immer gesagt, eigentlich will
ich jemand, den ich lieben, achten und attraktiv finden
kann. Ich dachte, dies sollte man im Auge behalten,
wenn die Sache von Dauer sein soll. Und als ich mit
Männern anfing, kam mir das immer genauso schwierig
vor, wie am Spielautomaten drei Erdbeeren nebeneinander
zu kriegen. Man hatte eine, und dann vielleicht noch
eine, aber inzwischen war die erste schon wieder
abgetrudelt. Es gab da einen Knopf, auf dem STOP stand,
aber der funktionierte anscheinend nicht richtig.
(Julian Barnes: Darüber reden, S. 244)
Du findest Ollie ja vielleicht etwas barock, aber das
ist nur Fassade. Dringst du ins Innere vor - und
bleibst ein Weilchen, den Reiseführer gezückt -, so
findest du etwas, das auf ruhige Weise neoklassisch
ist, klug proportioniert und kühl. Du befindest dich im
Inneren von Santa Maria della Presentazione, oder Le
Zitelle, wie die Prospekte lieber sagen. Die Giudecca,
Venedig, Palladio, o ihr Touristen meiner Seele. So
sehe ich von innen aus. Sollte ich nach außen hin
tumultös wirken, so nur zwecks Anziehung der Massen.
(Julian Barnes: Darüber reden, S. 90)
Soweit ich sehe, gibt es zwei Systeme. "Sofort zahlen"
und "Später zahlen". "Sofort zahlen" funktioniert so,
wie ich eben beschrieben habe - und es funktioniert
sehr effizient, vorausgesetzt, du triffst die normalen
wirtschaftlichen Vorsichtsmaßnahmen. "Später zahlen"
nennt man Liebe. Es überrascht mich nicht, daß sich die
Leute in der Regel offenbar für "Später zahlen"
entscheiden. Mietkauf mögen wir alle. Aber wir lesen
nur selten das Kleingedruckte, wenn wir den Handel
abschließen. Wir denken nie an die Zinsen... wir
rechnen nie den Endbetrag aus... (Julian Barnes:
Darüber reden, S. 226)
Rückblickend erkannte Graham mit eindringlicher
Klarheit, wie festgefahren sein Leben damals gewesen
war. Sofern natürlich eindringliche Klarheit nicht
immer eine rückblickbedingte Täuschung war. Er war
damals achtunddreißig: fünfzehn Jahre verheiratet; zehn
Jahre im selben Beruf; hatte eine elastische Hypothek
zur Hälfte hinter sich gebracht. Und zur Hälfte auch
sein Leben, vermutete er; und er spürte schon, wie es
bergab ging. Barbara hätte das natürlich nicht so
gesehen. Und so hätte er es ihr gegenüber auch nicht
sagen können. Da lag vielleicht, zum Teil zumindest,
das Problem. Zu dieser Zeit mochte er Barbara immer
noch; doch wirklich geliebt hatte er sie seit
mindestens fünf Jahren nicht mehr und ebensowenig etwas
wie Stolz oder auch nur Interesse für ihre Beziehung
ampfunden. Er mochte ihre gemeinsame Tochter Alice;
doch zu seiner Überraschung hatte sie in ihm nie
wirklich tiefe Gefühle geweckt. Er freute sich, wenn
sie gut in der Schule war, bezweifelte aber, ob sich
diese Freude wirklich unterscheiden ließ von der
Erleichterung darüber, daß sie in der Schule nicht
schlecht war: Wie konnte man das wissen? Auch seinen
Beruf mochte er auf diese negative Art; wenn auch mit
jedem Jahr etwas weniger, weil die Studenten, die er
durchschleuste, zusehends unreifer, unbekümmerter faul
und auf höfliche Weise unnahbarer wurden.
In den ganzen fünfzehn Jahren seiner Ehe war er Barbara
nie untreu gewesen: weil er es für unrecht hielt, aber
auch, so vermutete er, weil er nie richtig in
Versuchung geführt worden war (auf Studentinnen, die
ihre Slips aufblitzen ließen, wenn sie vor ihm die
Beine kreuzten, reagierte er, indem er ihnen die
schwierigeren Hausarbeitsthemen zur Auswahl gab; sie
verbreiteten die Kunde, er sei kalt wie eine
Hundeschnauze). Ebenso hatte er nie daran gedacht, den
Beruf zu wechseln, und bezweifelte, daß er woanders
einen finden könnte, der ihm ebenso leicht fiele. Er
las viel, gärtnerte, er löste das Kreuzworträtsel; er
schützte sein Eigentum. Mit achtunddreißig kam er sich
bereits ein bißchen pensioniert vor. (Julian Barnes:
Als sie mich noch nicht kannte, S. 14f.)
Er war unfähig, sich mit Barbara zu streiten; sie
verfuhr immer nach so furchtlos unakademischen
Grundsätzen. Mit seinen Studenten konnte er sich ganz
gut streiten: ruhig, logisch, auf der Basis von
gemeinsam anerkannten Fakten. Zu Hause gab es diese
Basis nicht; man schien die Diskussion (oder vielmehr
das System einseitiger Vorwürfe) nie vorne zu beginnen,
sondern sich mitten hineinzustürzen; und die
Beschuldigungen, denen er entgegentreten mußte, waren
ein hausgemachtes Gespinst aus Hypothese, Behauptung,
Einbildung und Bosheit. Noch schlimmer war die
schonungslos emotionale Form der Auseinandersetzung:
Als Siegesprämie drohten lärmender Haß, hochmütiges
Schweigen oder ein Hackmesser im Hinterkopf. (Julian
Barnes: Als sie mich noch nicht kannte, S. 25)
Er hatte auch nicht mehr onaniert, so wurde ihm klar,
seit der Zeit, als die Leute es als 'Onanie'
bezeichneten: dieses kühle, mißbilligend medizinisch-
biblische Wort. Es hatte natürlich auch andere Wörter
dafür gegeben, aber empfunden hatte man es immer als
'Onanie'. Onanie, Unzucht, Stuhlgang: schwerwiegende
Worte aus seiner Kindheit, die Tätigkeit bezeichneten,
die bedacht sein wollten, bevor man sich ihnen hingab.
Heutzutage war alles bloß Wichsen und Ficken und
Scheißen, und niemand dachte sich groß etwas dabei. Er
selber sagte auch 'Scheißen'; manchmal, privat. Jack
redete natürlich ganz salopp von Wichsen und von Ficken
ebenso. Graham war in der Verwendung beider Ausdrücke
noch etwas zögernd. 'Wichsen' war eigentlich ein so
stilles, häusliches, unschuldiges Wort: es klang nach
Heimarbeit. (Julian Barnes: Als sie mich noch nicht
kannte, S. 86)
Er stellte sich den Zoo an Sonntagsnachmittagen vor:
ein paar Touristen, gelegentlich ein Wärter plus
traurige Scharen scheinfröhlicher Elternteile, die sich
unnötig, verzweifelt an Kinder unterschiedlicher Größe
klammerten. Ein Zeitreisender, der dort plötzlich
landen würde, käme zu dem Schluß, daß die menschliche
Rasse ihre alte Fortpflanzungsmethode aufgegeben und in
seiner Abwesenheit die Parthenogenese zur Vollendung
gebracht hatte. (Julian Barnes: Als sie mich noch nicht
kannte, S. 159)
Ann füllte ein paar Gläser nach, brachte frischen Wind
in eine flaue Zone in der Zimmerecke und hielt nach
Graham Ausschau. Weil sie ihn im Wohnzimmer nicht sah,
ging sie hinüber in die Küche. Dort plünderte ein Tramp
den Kühlschrank. Auf den zweiten Blick entpuppte er
sich nur als Bailey, der Gerontologe und Kollege
Grahams, der sich trotz privaten Wohlstands stets
bemühte, möglichst abgerissen zu wirken, womit er in
der Regel auch Erfolg hatte. Sogar im Haus behielt er
den Regenmantel an; sein glattes Haar hätte weiß sein
können, hätte er nicht vor Dreck gestarrt. "Ich habe
mir gerade überlegt, ob ich mir nicht ein paar
Innereien aufbraten könnte", sagte er mit einem
Eigentum-ist-Diebstahl-Blick in den Eisschrank. "Fühlen
Sie sich ganz wie zu Hause", sagte Ann
überflüssigerweise. (Julian Barnes: Als sie mich noch
nicht kannte, S. 198)
Janet/Rusty war das erste Mädchen, mit dem ich Küsse von
respektabler Dauer tauschte; das erste, genauer gesagt, bei dem ich
merkte, daß man nur durch die Nase atmen darf. Anfangs war es wie
beim Zahnarzt: Man ist die ganze Zeit damit beschäftigt zu hoffen,
daß der einzige betriebsfähige Atemweg frei bleibt, bis man aus dem
Stuhl rauskommt. Mit der Zeit gewann ich jedoch mehr Sicherheit.
Danach war es mehr wie ein Schnorcheln. Ich schnorchelte viel mit
Janet. Sie war beinahe die Liebe eines Teils meines Lebens. (...)
Rusty/Janet und ich brachten ziemlich viel Zeit damit zu, uns
gegenseitig nicht auszuziehen. Zum Teil war es Mangel an
Gelegenheit, obwohl - wie ich mir großartig einredete - die
Einfallsreichen und die Verzweifelten immer ein klitschnasses
Unterholz finden, einen bandscheibenschädigenden Rücksitz oder einen
nervtötenden Ladeneingang im Flackerschein vorbeikommender Autos.
Sie gestikulierte viel, wenn wir uns unterhielten. Ich glaube, die
beweglichen Teile gefielen mir am besten an ihr - die Hände und die
Augen. Wenn sie redete, konnte man genausogut zugucken wie zuhören.
Wir redeten über das Nächstliegende - meine Arbeit, ihren Job in
einem Fotoarchiv, Durrell, Filme, Paris. Das ist meistens so, allen
Phantasien von sofortiger Seelenverschmelzung, dem freudigen
Entdecken von Gemeinsamkeiten zum Trotz. In den meisten Dingen waren
wir uns einig - kein Wunder, bei meinem ängstlichen Drang zu
gefallen. (Julian Barnes: Metroland)
Als wir rauskamen, erwähnte ich mit formeller Lässigkeit den
Calvados-Vorrat bei mir zu Hause. Wie nah ich wohnte, war bekannt.
Die Wohnung war so, wie ich sie verlassen hatte, das heißt, wie ich
sie halb-arrangiert hatte. Einigermaßen ordentlich, aber weder so
rum noch so rum obsessiv. Offen herumliegende Bücher, als würden sie
gerade gelesen (einige wurden es auch - in den besten Lügen steckt
immer ein Quentchen Wahrheit). Beleuchtung gedämpft und von den
Ecken her - aus naheliegenden Gründen, aber auch für den Fall, daß
im Laufe des Films ein übereifriger, heimtückischer Pickel zum
Sprießen gekommen war. Gläser beiseits gestellt, vorher noch mal
gewaschen und gespült, aber nicht abgetrocknet, damit man den
Calvados nicht wie sonst durch einen wogenden Flusenschaum hindurch
schlürfen müßte. Als wir reinkamen, warf ich meine Jacke lässig auf
den Sessel, damit Annick womöglich das Sofa wählte, wenn ich sie zum
Sitzen einlud (auf das Bett würde sie wohl kaum losgehen, trotz
seiner Tagesverkleidung aus indischer Decke und Kissenberg). Sollte
ich in irgendeinem Stadium zu einer Minnebewegung ausholen, wollte
ich von der Sessellehne keine in die Magengrube geknallt kriegen.
(Julian Barnes: Metroland)
Warum gab es so viele Mißverständnisse um Sex? Später, auf der
Heimfahrt im Zug, fiel mir Tonis "Theorie des Vorortsexes" wieder
ein, die er mir einmal dargelegt hatte, als wir beide sechszehn
waren und den Einzug in das Land ohne Wegweiser noch vor uns hatten.
London, erklärte er, sei das Zentrum der Macht und der Industrie und
des Geldes und der Kultur und alles anderen, was wertvoll, wichtig
und gut sei; von daher sei es, 'ex hypothesi', das Zentrum des Sex.
Man schaue sich bloß mal die Masse von goldkettchentragenden
Prostituierten an; und man schaue sich einen beliebigen U-Bahnwagen
an - überall Tussis in knallengen Kleidern an George-Grosz-
Karikaturen geschmiegt. Die Enge, der Schweiß, das ganze Leben und
Treiben der Stadt schrien jedem mit Sensibilität begabten Beobachter
Sex entgegen. Diese sexuelle Energie werde nun, wie er mir
versicherte, allmählich zerstreut, je weiter man von der Metropole
weggehe, so daß, wenn man schließlich bis Hitchin und Wendover und
Haywards Heath käme, die Leute in Büchern nachgucken müßten, um
rauszufinden, was wohin komme. (Julian Barnes: Metroland)
Preysing gab zunächst keine Antwort, sondern dachte
nach, und das machte ihm große Mühe. Er war ein braver
Mensch, dieser Generaldirektor Preysing, korrekt,
geradlinig, sauber innen und außen. Ein Geschäftsgenie
war er nicht, es fehlte ihm an Phantasie, an
Überredungsgabe, an Schwung, Sooft man ihm
entscheidende Entschlüsse auflud, rutschte er herum wie
auf Glatteis. Wenn er die Unwahrheit sagte, fehlte es
ihm an Überzeugungskraft. Er brachte nur kleine
schwächliche Mißgeburten von Geschäftslügen zustande.
Er stotterte leicht, und unter seinem Schnurrbart
bedeckten kleine Schweißtropfen die Oberlippe. (Vicki
Baum: Menschen im Hotel, S. 12)
Kringelein, obwohl unbeholfener und bescheidener Natur,
war nicht eben dumm, er besaß Idealismus und
Bildungsstreben. Daß er sich selber scherzhaft als
Moribundus bezeichnete, bezog sich beispielsweise auf
einen Ausdruck, der ihm in einem Buch aus der
Leihbibliothek begegnet war, das er unter ziemlichen
Mühen gelesen und in schwierigen Gesprächen mit dem
Notar durchgekaut hatte. Kringelein hatte von Geburt an
das normale Leben des Kleinbürgers geführt, das etwas
verdrossene, aufschwunglose und verzettelte Leben des
kleinen Beamten in der kleinen Stadt. Er hatte früh und
ohne starken Antrieb geheiratet, ein Fräulein Anna
Sauerkatz, Tochter des Kolonialwarenladens Sauerkatz,
eine Person, die ihm von der Verlobung bis zur Hochzeit
sehr hübsch vorkam, aber kurz nach der Heirat häßlich
wurde, unfreundlich, geizig und voll kleinlich-
wichtiger Schwierigkeiten. Kringelein bezog ein fixes
Gehalt, das von fünf zu fünf Jahren ein wenig
aufgebessert wurde, und da seine Gesundheit nicht die
beste war, verhielt ihn Ehefrau und Familie auf ein
nebelhaftes "Versorgtsein" späterhin. Ein Klavier, daß
er sich zeitlebens heftig wünschte, blieb ihm
beispielsweise versagt; auch den kleinen Teckel namens
Zipfel mußte er verkaufen, als die Hundesteuer
heraufgesetzt wurde. Am Hals hatte er immer eine wunde
Stelle, weil seine dünne, blutarme Haut die
aufgerauhten Ränder der alten, abgetragenen Hemdkragen
nicht vertrug. Zuweilen schien diesem Kringelein etwas
mit seinem Leben nicht ganz richtig zu sein, aber er
fand nicht, was es war. Manchmal, im Gesangverein, wenn
sein hoher tremolierender und zarter Tenor über die
andern Stimmen hinaustieg, kam ein schwebendes und
genußvolles Gefühl über ihn, so, als fliege er sich
selber davon. Manchmal ging er abends die Chaussee
hinaus gegen Mickenau zu, bog von der Straße ab,
überkletterte den feuchten Straßengraben und wanderte
den Rain zwischen zwei Feldern hinein. Es sauste still
zwischen den Halmen, und wenn die Ähren seine Hand
streiften, freute er sich auf unerklärliche Weise.
(Vicki Baum: Menschen im Hotel, S. 24)
"Aber", so sagte Kringelein, "wo ist das wirkliche
Leben? Ich habe es noch nicht erwischt. Ich war im
Kasino, ich sitze hier mitten im teuersten Hotel, aber
es ist immer noch nicht richtig. Ich habe immer den
Verdacht, das richtige, das wirkliche, das eigentliche
Leben spielt sich ganz woanders ab, das sieht ganz
anders aus. Wenn man nicht dazugehört, dann ist es gar
nicht so leicht, hineinzukommen, verstehen Sie?" "Ja,
wie stellen Sie sich das mit dem Leben vor!" erwiderte
darauf Doktor Otternschlag. "Gibt es das Leben
überhaupt, wie Sie sich es vorstellen? Das Eigentliche
geschieht immer woanders. Wenn man jung ist, denkt man:
Später. Später denkt man: Früher war es das Leben. Wenn
man hier ist, denkt man, dann denkt man, es ist dort,
in Indien, in Amerika, am Popoketepetl oder sonstwo.
Aber wenn man dort ist, dann hat sich das Leben gerade
weggeschlichen und wartet ganz still hier, hier, von wo
man davon gerannt ist. Mit dem Leben geht es, wie es
dem Schmetterlingsjäger mit dem Schwalbenschwanz geht.
Wenn man ihn gefangen hat, sind die Farben abgegangen
und die Flügel lädiert." (Vicki Baum: Menschen im
Hotel, S. 50)
Nachdem die Grusinskaja die zwei ersten, schmerzhaften
Tränen geboren hatte, ging es leichter. Es fing mit
einem dünnen, leicht hinfließenden Tränenschauer an,
der warm und kühl zugleich war wie ein Sommerregen -
Gaigern mußte an Hortensienbeete im Garten von Ried
denken, er wußte nicht, wieso - dann wurde ein
leidenschaftliches Strömen daraus, ein schwarzes
Strömen, weil die Augenbrauentusche sich vollends
löste, und zuletzt warf die Gusinskaja sich auf ihr
Bett und schluchzte viele russische Worte in ihre
Hände, die sie gefaltet vor ihrem Mund gepreßt hielt.
Gaigern verwandelte sich bei diesem Anblick aus einem
Hoteldieb, der nahe daran gewesen war, die Frau
niederzuschlagen, in einen Mann, in ein großes,
einfaches und gutmütiges Mannsgeschöpf, das keine Frau
weinen sehen konnte, ohne helfen zu wollen. (Vicki
Baum: Menschen im Hotel, S. 129)
Erst mit dem Geld fängt man an, ein sauberer Mensch zu
werden. Nicht einmal die Luft ist in Ordnung, wenn man
kein Geld hat, man darf nicht lüften, weil die teure
Wärme hinauszieht. Man kann nicht baden, weil das warme
Wasser Kohlen kostet. Die Rasierklingen sind alt und
kratzen. Mit der Wäsche wird gespart. Die Haarbürste
hat keine Borsten mehr, die Kaffeekanne ist gesprungen
und gekittet, die Löffel sind schwarz geworden. In den
Kopfkissen sind so schwere Klumpen von schlechten,
alten Federn. Was kaputtgeht, bleibt kaputt. Nichts
wird gerichtet. Die Versicherungspolice muß bezahlt
werden. Und man weiß gar nicht, daß man falsch lebt,
man glaubt, es muß so sein." Er hatte seinen Kopf an
Flämmchens Kopf gelegt, so beteten sie zusammen die
Litanei des armen Lebens herunter. (Vicki Baum:
Menschen im Hotel)
Solange der Mensch sich nicht selbst in den Augen und
Herzen seiner Mitmenschen begegnet, ist er auf der
Flucht. Solange er nicht zulässt, dass seine
Mitmenschen an seinem Innersten teilhaben, gibt es für
ihn keine Geborgenheit. Solange er sich fürchtet,
durchschaut zu werden, kann er weder sich noch andere
erkennen - er wird allein sein. Wo können wir solch
einen Spiegel finden, wenn nicht in unserem Nächsten.
Hier in der Gemeinschaft kann ein Mensch erst richtig
klar über sich werden und sich nicht mehr als den
Riesen seiner Träume oder den Zwerg seiner Ängste
sehen, sondern als Mensch, der - Teil des Ganzen - zu
ihrem Wohl seinen Beitrag leistet. In solchem Boden
können wir Wurzeln schlagen und wachsen; Nicht mehr
allein wie im Tod, sondern lebendig als Mensch unter
Menschen." (Richard Beauvais)
Der Hausdiener, ein freundlicher Franzose, (...) lud
mich dann in den Anrichteraum ein, wo er mir ein
Spiel namens 'Pigeon vole' beibrachte. Er erzählte mir
viele wunderbare Geschichten, und ich hatte nichts
dagegen, daß er ein Auge auf mich hatte. Diesem
freundlichen Mann verdanke ich eine erste Ahnung
von Beschwingtheit und tiefer Freude, von Licht und
Ebenmaß und das Gefühl von einem unverlierbaren
Gewinn - die Umrisse jener dauerhaften Liebe, die ich
seit damals immer für sein Land empfunden habe.
(Sybille Bedford: Ein Vermächtnis, S. 225)
Öffentliche Skandale, jedenfalls solche, die sich in
einigermaßen gefestigten Zeiten abspielen, in denen
viele bereit sein mögen, der bestehenden
Gesellschaftsordnung einen Stoß zu versetzen, aber
nur wenige sie wirklich nieder reißen wollen, laufen
nach einem bestimmten Schema ab. Irgend etwas,
ein Amtsvergehen, ein Verbrechen oder eine grobe
Ungerechtigkeit, wird durch Zufall bekannt oder
absichtlich öffentlich gemacht und löst ein Echo aus.
Das Regime, das jenes Vergehen geduldet oder
begangen oder ihm sonstwie Vorschub geleistet hat,
versucht die zutage geförderten Tatsachen zu
bestreiten oder zu beschönigen. Wenn aber diese
Tatsachen zu sehr von dem abweichen, was der
normale Bürger von denen, die ihn regieren, erwartet,
wenn sie hinreichend verwerflich, anrüchig oder
sensationell sind oder so dargestellt werden, oder
auch wenn der normale Bürger nur sehr arm und
gedrückt oder abgestumpft ist, dann gerät der
Skandal wirklich an die Öffentlichkeit, und der Stein
kommt ins Rollen. Entscheidend ist nun, wer aus
welchen Motiven die Stimme erhebt - aber solche
Motive sind meist ein Gemisch aus vielen Motiven.
Manchen Ankläger treibt die Zugehörigkeit zu einer
Partei oder ein Prinzip, anderen geht es um die Moral
oder die eigene Karriere, oder sie denken an Freunde
und Feinde, den meisten wird ein bißchen von
alledem durch den Kopf gehen; aber fast jeder wird
glauben, das große Ganze gehe ihm über alles und er
handele in Erfüllung seiner staatsbürgerlichen Pflicht.
Auch die Amtsinhaber werden sich von Parteitreue
oder gegenseitige Loyalität und dem Glauben an die
Nützlichkeit ihres Wirkens für ihr Land und für sie
selbst leiten lassen. Es wird ein gewisses Maß an
Ehrlichkeit und ein gewisses Maß an Wahrhaftigkeit
und oft ein beträchtliches Maß an gutem Willen ins
Spiel kommen, aber von allem auch - und in sehr
hohem Maße - das Gegenteil. (Sybille Bedford: Ein
Vermächtnis, S. 289)
Beim Eintritt ins Leben wog ich vierzehn Pfund,
und es war eine schwere Geburt. Ich wuchs heran.
Ganze 1,93 m. Ich wiege 104 Kilo. Mein Kopf ist
riesig, kantig, mit Haaren wie Persianerpelz.
Mißtrauische Augen, gewöhnlich leicht
zusammengekniffen. Polterndes Benehmen. Große
Nase. Ich war eines von drei Kindern und das
einzige überlebende. Mein Vater mußte alle seine
Milde aufbieten, um mir das zu verzeihen, und ich
glaube nicht, daß er es je völlig tat. Als ich in
das heiratsfähige Alter kam, versuchte ich, um
Freude zu machen, und entschied mich für ein
Mädchen unserer eigenen sozialen Schicht. Eine
bemerkenswerte Person, schön, groß, elegant,
sehning, mit langen Armen und goldenem Haar,
zurückhaltend, fruchtbar und ruhig. Niemand von
ihren Angehörigen kann mir verübeln, wenn ich
hinzufüge, daß sie schizophren ist, denn sie
ist es wirklich. Ich gelte gleichfalls für
verrückt, und mit gutem Grund - ich bin launisch,
schroff, tyrannisch und vermutlich übergeschnappt.
Nach dem Alter der Kinder gerechnet, waren wir
rund zwanzig Jahre lang verheiratet. Da wären
zunächst Edward, Ricey, Alice, dann noch zwei
weitere - du lieber Himmel, ich habe eine
erkleckliche Zahl von Kindern. Der Herr segne
den ganzen Haufen. (Saul Bellow: Der Regenkönig,
S. 6)
Man wird von so sonderbaren Leiden befallen. Einfach, weil
man Mensch ist, aus keinem anderen Grund. Ehe man's sich
versieht, ist man eines schönen Tages genauso wie die
anderen Menschen, die man kennengelernt hat, mit all
diesen besonderen menschlichen Übeln, genauso ein Gefäß
für Launen, Eitelkelkeiten, Unbesonnenheiten und
dergleichen. Wer will das alles, wer hat etwas davon. Diese
Dinge machen sich an der Stelle breit, wo des Menschen
Seele sein sollte. (Saul Bellow: Der Regenkönig, S. 81)
Was den König betraf, so schien sein Interesse an mir
immer mehr zu wachsen. Halb lächelnd erforschte er mich
mit zunehmender Eindringlichkeit. Wie sollte ich je die
Absichten und Ziele erraten, die sich in seinem Herzen
verbargen? Gott hat mir nicht halb so viel Intuition verliehen,
wie ich ständig nötig hätte. Da ich dem König nicht
vertrauen konnte, mußte ich ihn zu verstehen suchen. Ihn
verstehen? Wie sollte ich das anfangen? Zum Teufel! Das
wäre etwa so, als versuchte man, einen Aaal aus der Suppe
zu fischen, nachdem er ihn Stücke zerkocht ist. Auf diesem
Planeten leben Milliarden Bewozhner, denen unzählige
Milliarden voraufgegangen sind und denen weitere Milliarden
folgen werden, und keinen von ihnen, keinen einzigen,
werde ich wohl je verstehen.
Ich habe das Gefühl, die menschliche Natur folgt einem
Gesetz, in dem die Gewalt eine Rolle spielt. Der Mensch ist
ein Wesen, das unter Schlägen nicht stillhalten kann.
Nehmen wir einmal das Pferd - es braucht nie Rache. Auch
nicht der Ochse. Aber der Mensch ist ein Rache-Wesen.
Wenn er bestraft wird, sinnt er darauf, von der Bestrafung
loszukommen. Kann er von der Bestrafung nicht
loskommen, droht sein Herz daran zu vermodern. (Saul
Bellow: Der Regenkönig, S. 204)
Die Männer mit dem größten Appetit waren von jeher
diejenigen mit dem größten Zweifel an der Wirklichkeit.
Diejenigen, die es nicht ertragen konnten, daß Hoffnung sich
in Elend, Liebe sich in Haß, Tod und Schweigen und so
weiter verwandelt. Der Geist hat ein Recht auf seine
vernünftigen Zweifel, und mit jedem kurzen Leben erwacht
er, sieht und versteht er, was soviele andere Geister von
gleich kurzer Lebensspanne hinterlassen haben. Es ist ganz
natürlich, wenn man sich zu glauben weigert, daß so viele
kurze Spannen etwas so großartig Einheitliches geschaffen
haben sollten. Daß Menschenwesen durch Nachdenken
makellos werden sollten. Das läßt einen Menschen
aufseufzen. (Saul Bellow: Der Regenkönig, S. 222)
Zeit ist etwas, das man um so weniger begreift, je mehr
man davon erfährt. Man kann ihrer nie sicher sein.
Achtet man auf die Zeit, so schleicht sie dahin wie
eine Schnecke, aber sobald man sich von etwas anderem
ablenken läßt, springt sie davon wie ein Wiesel. Sie
ist immer da, aber wenn du sie packen willst, greifst
du ins Leere, denn sie ist schon wieder vergangen. Gut,
ich habe ein bißchen Erfahrung mit der Zeit gemacht,
aber ich weiß auf keine Art über sie bescheid."
(Hans Bemmann: Stein und Flöte)
Obwohl über zwanzig Jahre vergangen waren, war das
Geschäft immer noch als das erkennbar, was es in Miss
Dorseys Tagen gewesen war, denn außer der Einführung
einer Kühltruhe und mehrerer Kühlschränke hatte Mr.
Anwar die bestehende Einrichtung einfach seinen
veränderten Erfordernissen angepaßt. Schubladen, die
früher der vornehmen Ausstaffierung eines Lebens in
Müßiggang gewidmet gewesen waren - Strickmuster,
Häkelnaden, Kräuselbänder -, beherbergten nun Nan und
Pita-Brot; Gewürze ersetzten Häubchen und gestrickte
Babyschuhe, und die Regale und tiefen Schubladen, die
einst Sturmpf- und Miederwaren in sich geborgen hatten,
waren nun mit Reise und Kichererbsen gefüllt. (Alan
Bennett: Cosi fan tutte, S. 27)
Ein guter Arzt ist das beste, das wir haben können, sagte
Reger, aber kaum jemand hat einen guten Arzt, wir haben
es ja doch immer nur mit medizinischen Stümpern und
Scharlatanen zu tun, sagte er, und glauben wir einmal, jetzt
haben wir einen guten Arzt gefunden, so ist er entweder zu
alt oder zu jung, entweder er versteht etwas von der
neuesten Medizin und hat keine Erfahrung oder er hat
Erfahrung und versteht nichts von der neuesten Medizin, so
ist es, sagte Reger. Der Mensch braucht ganz dringend
einen Körperarzt und einen Seeelenarzt und beide findet er
nicht, lebenslänglich ist er auf der Suche nach einem guten
Körperarzt und nach einem guten Seelenarzt und beide gibt
es für ihn nicht, das ist die Wahrheit. (Thomas Bernhard:
Alte Meister, S. 272)
Natürlich ist alles ein Milderungsgrund, sage ich. Die Leute
können alles angeben als Milderungsgrund, sage ich. [..] Die
armen Teufel können sagen vor Gericht, sie seien arm
gewesen, die Reichen, reich. Alle mit gleichem Recht. Wie die
Dummen, daß sie zeitlebens dumm gewesen sind. Die einen
geben an, sie sind zeitlebens benachteiligt gewesen, die
andern geben an, zeitlebens bevorzugt. Alles ist ein
Milderungsgrund. Die einen, sie hätten die ganze Welt
gesehen, die andern, sie hätten nichts gesehen. Die einen,
daß sie eine hohe Schulbildung haben, die andern, daß sie
überhaupt keine Schulbildung haben. Der Philosoph, daß er
Philosoph gewesen ist, wie der Fleischhauer, daß er
Fleischhauer gewesen ist. Alle diese Leute haben immer ein
Alibi. Jede Existenz ist ein Milderungsgrund, geehrter Herr.
Vor jedem Gericht, vor jedem Selbstgericht. (Thomas
Berhard: Watten)
Mein Großvater wünschte die klare, die knappe Rede,
er haßte die Auschweifung, die Anläufe und Umwege,
an welchen die ganze übrige Welt leidet, wenn sie
etwas zum besten zu geben hat. Er litt unter der
Umständlichkeit seiner Umgebung, die sich nur
dilettanisch äußerte und in jedem Falle, wenn sie sich
überhaupt etwas zu ihm zu sagen getraute, der
Verdammung meines Großbaters sicher gewesen war.
Ich kannte seine Abneigung gegen das
Umständegeschwätz. Die Halbgebildeten tischen nur
immer wieder ihren abgestandenen schauerlichen Brei
auf, sagte er. Er war nur von Halbgebildeten
umgeben. Es ekelte ihn, wenn sie die Stimme
erhoben. Bis an sein Lebensende haßte er ihren
Artikulierungsdilettantismus. Wenn ein einfacher
Mensch spricht, ist das eine Wohltat. Er redet, er
schwätzt nicht. Je gebildeter die Leute werden, desto
unerträglicher wird ihr Geschwätz. (Thomas Bernhard:
Ein Kind, S. 26f.)
Er mußte zeitlebens den Eindruck gehabt haben, daß er
sich in einer Welt aufzuhalten hatte, in welcher es
keine anderen als nur Gescheiterte gibt, die schon an
dem ersten höheren Schwierigkeitsgrad des Geistes
gescheitert sind, weil sie entweder von Natur aus für
einen solchen Geistesweg und also für einen solchen
Lebens- und Existenzschwierigkeitsgrad nicht bestimmt
waren oder weil sie es gar nicht in Betracht gezogen
hatten, sich einem solchen Geistesweg und also einer
solchen Lebens- und Existenzschwierigkeit auszusetzen.
(Thomas Bernhard: Die Billigesser)
... daß es tatsächlich zwei Menschenkategorien gibt,
die eine empfinde nichts, wenn sie schiefhängende
Bilder sehe, die andere verzweifelte daran und es sei
den Menschen immer auch gleich abzulesen, zu welcher
der beiden Kategorien sie zu zählen seien, zu der
einen, welcher schiefhängende Bilder an der Wand nichts
ausmachten, oder zu der anderen, die die Tatsache
schiefhängender Bilder an der Wand mit der Zeit
wahnsinnig mache. (Thomas Bernhard: Die Billigesser)
Ehe er zum erstenmal Dresdner Boden betrat, hatte er sogar
bereits ein neues Wort gelernt, ein Fremdwort fast - kein
Dialektausdruck, ganz und gar nicht. Vielmehr reichte es über
ein gutes Hochdeutsch weit hinaus, als die Dame mit aller
Selbstverständlichkeit ein "Wöllte" in einen ihrer Sätze
einfließen ließ und Martin damit einen Eindruck davon gab,
was es bedeutet, Höchstdeutsch zu beherrschen.
Zugegeben, er stutzte kurz, ein "Wöllte" hatte er noch nie
gehört, in Dresden allerdings schien es den Menschen so
geläufig zu sein, als lernten die Kinder schon in der ersten
Volksschulklasse auch den Konjunktiv drei. Das wollte er ganz
rasch nachholen, nahm sich Martin vor, während er seiner
freundlichen Reisebegleitung mit den Koffern half und sich am
Bahnsteig auf das höflichste von ihr verabschiedete. Als er
dann vor dem Bahnhof noch mitbekam, wie eine Mutter ihr
Kind mit "Bleibe hier" ermahnte, klang das schon fast vertraut
hier heißt es eben "Sage einmal", heißt es "Erläre mir", und
selbst in Augenblicken, da man spürt, wie einem die
Zornesröte ins Gesicht steigt, weil ein unwilliges Kind zwischen
Passanten zu verschwinden droht, ruft man, wenn auch in
etwas schärferen Ton, noch: "Bleibe hier". Nicht einmal eine
überlastete Mutter, die dort drüben mit ihrem Gepäck jongliert,
würde sich in der Öffentlichkeit derart gehenlassen, daß sie in
ein grobes, ein bäurisches "Bleib" zurückfiele. Hier gilt in jeder
Lebenslage Schriftdeutsch, hier hat man seinen Luther
verinnerlicht, soviel begreift Martin auf Anhieb. (Marcel Beyer:
Kaltenburg, S. 157)
Weiß Gott, Centéglises ist eine alte Stadt; das muß ihr der Neid
lassen. Der bündigste und sowohl aus- wie eindruckvollste Beweis
ihrer Eigenschaft als Antiquität ist ihr Pflaster, das einen
vollkommenen Überblick über alle Steinarten gewährt, die in den
verschiedensten Perioden der Menschheitsgeschichte zum Pflastern
von Straßen verwendet worden sind, und nicht bloß über die Steine
selbst, sondern auch über die verschiedenen Techniken, mit denen
man sie zu Pflasterungsmaterial machte. Die rundlichen Steine des
achtzehnten Jahrhunderts, die Steine des Rokoko finden sich da
brüderlich eng vermischt mit den scharfkantigen Kieseln der
roheren und kräftigeren Gotik; der revolutionäre Asphalt ist
dagegen von den konservativen Vätern dieser antiquarischen Stadt
ihren Straßen ferngehalten worden. (Otto Julius Bierbaum: Der
Mann mit dem porösen Schädel)
Frechdachs (...) verstand sich auf Teufeleien, und so ist es kein
Wunder, daß er sich auch auf den Charakter des Teufels und seiner
Großmutter verstand. Er ging zu einer Felsenspalte, wo, wie er
wußte, der Teufel oft herauskam (...) "He," rief er da, "Herr
Baron! Herr Baron!" "We ... we ... wer ruft denn da?"
meckerte es aus der Felsenspalte. "Mein Enkel hat keine Zeit. Er
macht sich eine Klaviatur aus Geizhalsknochen." "Ah," rief
Frechdachs, "hochwohlgeboren die Frau Teufelin- Großmutter. Nein,
was für eine schöne Stimme! Sie sollten die Königin der Nacht
singen! Ich hab' mein Lebtag keinen solchen Sopran gehört." Des
Teufels Großmutter hatte ein Gefühl, als würde sie mit altem
Dachsfett eingerieben, so angenehm fuhr ihr diese Schmeichelei
über die runzelige Haut. (...) Als Kleidung trug sie lederne
Hosen und eine Jacke aus demselben Stoffe, beides Stücke der
Ausrüstung eines eben in der Hölle angekommenen Automobilisten,
der als Klecks an einer Gartenmauer geendet hatte, nachdem unter
seinem Mordwagen zwanzig Menschen umgekommen waren. Auch die
Lärmtrompete dieses Straßenmörders trug sie am Gürtel, und es
machte ihr Spaß, zuweilen auf den Gummiball zu drücken, daß es
nur so tutete. (Otto Julius Bierbaum: Das höllische Automobil)
Das war die Art von lästiger Pflicht, die ihm kalten
Schweiß auf die Haut trieb, ebenso wie einen Brief an
eine Behörde zu schreiben oder einen Klempner zu
suchen, der Zeit hatte und die menschliche Größe
besaß, einen undichten Wasserhahn zu reparieren.
Das Tragische war, daß seine Unbeholfenheit in
alltäglichen Dingen sich von Monat zu Monat, ja, fast
von Tag zu Tag verschlimmerte. Jede andere
Beschäftigung als lesen oder schlafen war ihm ein
Graus. (Henri-Frederic Blanc: Im Reich des Schlafes,
S. 37)
Er stellte den Wecker auf den Nachttisch zurück und
betrachtete ihn eine Weile. Er hatte nichts
Besonderes, dieser Wecker, aber gerade darin lag
seine Originalität. Es war ein sowjetischer Wecker
aus den fünfziger Jahren. Ein Wecker, der seinen
Begriff vollkommen adäquat war, ohne eine Unze
Phantasie, von vorbildlichen Ingenieuren mit
mustergültiger Rigorosität entworfen, ein strenges,
nüchternes, präzises und funktionelles Gerät, ein
gewöhnliches Uhrwerk mit arbarmunsglosen Zeigern,
unerbittlichen Ticktack und eiskaltem Klingeln: der
Inbegriff der Zeit. (Henri-Frederic Blanc: Im Reich des
Schlafes, S. 41)
Das Cafe war voller Leute; aber da es sich um
vornehme Menschen handelte, gab es wenig Lärm.
Scheintote verhutzelte alte Abgeordnete studierten
leicht zitternd die Gebäckkarte; dicke perlenbehängte
Puten plapperten, während sie ihre Erdbeertörtchen
zerstückelten; Börsenspekulanten rechneten, die
Zeitung auf dem Tisch ausgebreitet, bei einem Saint-
Honore ihre Gewinne aus; Gigolos hoben mit Eleganz
ihre Tasse, während sie ein Auge auf taumelige alte
Rentnerinnen warfen, die, unter der Last ihres Fetts
und ihre Juwelen schwankend, einen Tisch suchten.
(Henri-Frederic Blanc: Im Reich des Schlafes, S. 59)
Würde man bereitwillig seine Tage eingesperrt in
einem Büro verbringen, an eine Tastatur, ein Telefon
oder einen Bildschirm genietet, den Kopf mit Zahlen
und mit Dingen vollgestopft, die man nicht vergessen
darf, und schon mit der Furcht vor dem abendlichen
Stau im Nacken, würde man das bereitwillig tun,
wenn einem voll bewußt wäre, daß man dazu
bestimmt ist, die Radieschen von unten anzugucken?
Nein, meine Herren! Wenn man dem Tod ins Gesicht
sehen kann, bestellt man seelenruhig, mit frischem
Blick und leichtem Schritt seinen Garten. Einen Baum
zu pflanzen, das hat angesichts des Todes einen
Sinn. Nicht aber, in einer Fabrik oder einem Büro der
Knecht einer Maschine zu sein. Den Tod zu
vernachlässigen heißt sein Leben zu verfälschen. Der
Gedanke an den Tod rückt alles an seinen rechten
Platz, er stärkt den Guten und verfolgt den Bösen, er
gibt allem seinen wahren Geschmack und läßt uns
lieben, was das Leben an Bestem zu bieten hat:
Ruhe, Stille, Vergessen, die Ewigkeit der Berge, guten
Wein, wahre Bücher... und den Schlaf. Weit davon
entfernt, zur Passivität zu führen, macht das
Bewußtsein des Todes Mut. Was hat man zu fürchten,
wenn man weiß, daß man dem Schlimmsten nicht
entgehen kann? Empfangen wir den Tod an unserem
Tisch, schlemmen und prassen wir mit ihm, und wenn
es an der Zeit ist, ihn zurück auf sein Schloß im
tiefen Wald zu begleiten, dann wollen wir ihn selber
mit gut benetzter Kehle und prallem Wanst an der
Hand nehmen, neugierig zu erfahren, wo wir uns
wiederfinden werden. Was für eine Reise steht uns da
bevor! (Henri-Frederic Blanc: Im Reich des Schlafes,
S. 165)
Frei zu kaufen, was wir wollen, zu fahren, wohin wir
wollen, zu sagen, was wir wollen. Aber was ist das
für eine Freiheit, die jeder passiv hinzunehmen
scheint? Was ist das für eine Freiheit, die jeden
angesichts von Hungersnöten, Kriegen,
Naturzerstörung und aufdringlicher Profitgier sagen
läßt: Da kann man nichts machen...? Oh, eine
seltsame Freiheit ist das. Wir sind frei, uns mehr oder
weniger schnell in der ausgeschilderten Richtung zu
bewegen! Wir sind frei zu entscheiden, mit welcher
Soße wir verspeist werden wollen! Wir sind frei, die
Marke der Matratze und die Farbe der Bettwäsche zu
wählen, aber wir müssen jede Nacht den Lärm der
Autos, Flugzeuge und Sirenen ertragen! Wir sind frei,
ein ganzes Jahr lang in einer widerlichen Fabrik zu
schuften, um vierzehn Tage zwanzigtausend
Kilometer weit weg unter Palmen verbringen zu
dürfen, weil zu Hause der Wald gelb ist, der Fluß
nach faulen Eiern stinkt und die Vögel sich auf und
davonmachen! (Henri-Frederic Blanc: Im Reich des
Schlafes, S. 163)
Sehen Sie denn nicht, daß wir die schlimmsten Plagen
unseres Jahrhunderts nicht etwa einem Rest an
animalischen Urtrieben verdanken, sondern einem
Übermaß an Rationalität? Die forcierte Rationalität
tendiert von sich aus zum Totalitarismus. Ob es sich
nun um ideologische, administrative,
wissenschaftliche oder kaufmännische Rationalität
handelt, sie ist unersättlich, unfähig zur
Selbstbeschränkung, sie wächst, schreitet fort,
wuchert, erdrückt und frißt alles... In ihrem Schatten
wächst die Barbarei heran. Barbarei, meine Herren,
das sind nicht die Schreie der Primitiven, die um das
Feuer tanzen, Barbarei, das sind die Zahlen. Die
Zahlen sind die Todeswerkzeuge. (Henri-Frederic
Blanc: Im Reich des Schlafes, S. 161)
"Wozu reden? Wenn diese Leute in ihrem Alter immer
noch nichts begriffen haben, werden sie es nie
begreifen. Es sind alles Spezialisten, die nur sehen,
was sie unter ihrem Mikroskop haben, der Rest der
Welt ist in Nebel getaucht. Wissenschaftliche
Flohzirkusdompteure, Molekülklauber,
Fliegenbeinzähler. Und alle so vollgestopft mit
Theorien, so übersättigt von Systemen, Thesen und
Spekulationen, daß es leichter wäre, einem toten Esel
einen Furz zu entlocken, als sie zu einer Änderung
ihrer Vorstellungen zu bewegen. Sie haben ihren Weg
gemacht, haben längst alles hinter sich. Ihr Denken
ist hoffnungslos verkrustet, und eben deshalb können
sie davon leben. Sie werden immer einen
komplizierten Irrtum, den sie selbst gefunden haben,
einer gängigen Wahrheit vorziehen. Sie werden lieber
subtil ihre Intelligenz anwenden, als bescheiden
einen vernünftigen Gedanken nachzuvollziehen. Sie
werden stets einer Theorie von fünfhundert Seiten
eher Gehör schenken als den Worten eines einfachen
Menschen oder einem alten Sprichwort." (S. 155)
"Die Wissenschaft, Monsieur, ist Quatsch mit Soße.
Man weiß, wie man Bakterienkulturen anlegt, aber
wie man Kinder erzieht, davon hat man keine Ahnung
mehr. Man kann mit Atomen jonglieren, aber man
kennt keine Höflichkeit mehr. Man fährt in den
Weltraum, aber das Meer stinkt und die Fische
krepieren. Man gibt mehr Geld für Raketentreibstoff
aus als für die Ernährung der Hungernden. Die
Wahrheit ist: Je mehr Sachen man weiß, desto
weniger versteht man zu leben. Wenn die
Wissenschaft nur dazu dient, die Völker zu
verdummen und den Planeten in einen Termitenhügel
mit Vollkomfort zu verwandeln, sage ich nein danke!
Lieber gehe ich wie die Papuas auf Löwenjagd und
mache jeden Abend einen Freudentanz. Die Technik
macht die Menschen nicht besser, aber sie
verzehnfacht die Macht des Bösen. Der Stiesel, der
vor zehntausenden Jahren mit Steinen nach Vögeln
warf, wenn seine Nerven ihm durchgingen, kann heute
eine Rakete auf ein vollbesetztes Flugzeug
abschießen. Der Fortschritt verringert die menschliche
Dummheit nicht, er macht sie nur gefährlicher." (Seite
114)
Ein anderes Mal sagte sie mit ihrem schönen Lächeln zu mir: "Ich
möchte einen Toten sehen." Da wir keinen fanden, gingen wir
wenigstens auf den Friedhof Kuchen essen. Louna äffte die Toten
nach und schnauzte sie an ("Na, sind die Trüffeln gut?"), dann
packte sie den Kuchen aus und wickelte das rosa Verpackungsband
um ein Kruzifix. Rittlings auf einem Kreuz biß sie in ihren
Windbeutel. Guck dir die Oma an, meinte sie mit vollem Mund, die
kann es nicht fassen. Neben éiner Leiche an einer Rose
schnuppern, das ist normal, aber sich einen Windbeutel einfeifen,
das schockt diese alten Dickwänste. Mach dir nicht ins Hemd,
Tantchen, wir krümeln nicht. (Dann wandte sie sich wieder an
mich:) Siehst du, es braucht nicht viel, damit aus den Dingen
etwas Besonderes wird. Ja, Louna,ja, du hast recht, auf
furchtbare Weise recht, die Liebesknochen schmecken zwischen den
Gräbern wirklich besser. (Henri-Frederic Blanc: Teufelei)
Nostradamus kehrte nie mehr nach Aix zurück. Er verbürgerlichte,
widmete sich den "Schminkereien" der Frauen, Konfitüren und
Prophezeiungen. Ich bin Gott sei Dank kein Psychologe, aber ich
meine, in diesen drei Beschäftigungen, die auf seltsame Weise
Frivolität und Metaphysik verbinden, einen gemeinsamen Punkt
ausmachen zu können. Dieser gemeinsame Punkt ist die Zeit. Balsam
für die Gesichter der Frauen zu mischen, heißt das nicht,
köstlich lange Stunden damit zuzubringen, ein verderbliches
Lebensmittel zu konservieren und die Bitterkeit der vergehenden
Zeit in Süße und Wohlgeschmack zu verwandeln? Prophezeiungen zu
verfassen, ist das nicht ein Mittel, um die Zeit zu beherrschen?
Die Angst vor dem Verrinnen der Zeit ist zwar ein Kennzeichen
überlegener Geister, aber bei unserem Mann ist sie zu einer
kosmischen Schlacht ausgeartet. (Henri-Frederic Blanc: Teufelei)
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