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Bibliomanische FAB / [B]
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Ich weiß noch genau, daß ich mir gar nicht vorstellen
konnte, was das ist, Frieden. Aber ich wußte, daß der
Krieg einmal zu Ende sein würde, und ich ahnte sehr
deutlich, wie. Als es dann soweit war, arbeitete ich
auf dem Hof eines Mittelbauern im Sächsischen, in der
Gegend von Löbau. Als ich das erstemal freibekam,
setzte ich mir einen verwegenen Hut auf und marschierte
in die Kreisstadt. Dort ging ich in eine Buchhandlung.
Leere Regale starrten mich an. Eine alte Frau kam aus
der Ladenstube. Ich fragte sie nach einem Buch. Sie
verstand nicht. Ob sie ein Buch hätte, egal, welches!
Sie sagte, sie hätte eine erste Buchsendung bekommen,
einen Titel, ein paar Exemplare, "warten Sie, hier ist
es". "Effi Briest"! ... Beim Bezahlen noch begann ich
zu lesen. Ade, ihr trüben literarischen Gestalten
meiner Jugendjahre. Ihr wart nicht schlecht, aber es
ist nicht schade um euch! Durchs Leben geht es besser
mit Fontane, Heine, Kleist, Shakespeare, Goethe,
Schiller, (...) Proust, Lessing, Anna Segehrs, Brecht,
Büchner, Gorki, Heinrich Mann, ach mit so vielen! Die
die Schallmauer der Oberfläche durchbrechen wie ein
dünnes, kleines Papier und den Leser dahin führen, wo
das Wissen tief, das Leben steil und die Liebe ein
weites Feld ist. Die Liebe ein weites Feld? Wer sagte
es? War es nicht jener Herr von Briest, damals, 1945,
als ich in der kleinen Buchhandlung hockte, unter den
leeren Regalen, mit nichts in der Hand als einem Buch
und nichts im Kopf als einer großen Hoffnung. (Helmut
Baierl: Mit nichts im Kopf als einer großen Hoffnung)
Geschmack ist kein künstlerischer Begriff, sondern ein
gesellschaftlicher. Ich bin gern bereit, bei jemandem
im Wohnzimmer guten Geschmack zu zeigen, wenn ich kann,
doch unsere Leseleben ist zu kurz, als daß ein
Schriftsteller in irgendeiner Weise höflich sein
könnte. Da seine Worte das Gehirn eines anderen in
Stille und Intimität betreten, sollte er so ehrlich und
explizit sein, wie wir uns selbst gegenüber sind.
(Nicholson Baker: U & I. Wie groß sind die Gedanken? S.
71)
Die Funktion einer großen Bibliothek ist es, entlegene
Bücher zu sortieren und zu lagern. Das ist in erster
Linie die Aufgabe, deren Erfüllung wir von einer
Bibliothek verlangen: an Büchern festzuhalten, die wir
nicht genügend wollen, um sie zu besitzen, an Büchern
von sehr begrenztem Reiz, ungeschützt von Cliffs Notes-
Interpretationshilfen oder allgegenwärtigen Zitierungen
oder schlichter Allbekanntheit. Ein Buch, das man
unbedingt neben dem Bett liegen haben will oder dessen
Referenz- oder Snobwert man sein ganzes Leben lang zu
glauben braucht, kauft man. Bibliotheken sind die
Fundgruben für die vergriffenen und weniger verlangten,
und dafür schätzen wir sie unendlich. Daß die meisten
Bibliotheksbücher selten ausgeliehen werden, ist Teil
des Mysteriums und der Macht einer Bibliothek. Die
Bücher sind da, warten von einem Zeitalter zum
nächsten, bis ihr Augenblick kommt. Und bei manchen
Büchern kommt dieser Augenblick vielleicht nie - aber
wir haben keine Möglichkeit, das vorauszusagen, da wir
nicht wissen können, was eine zukünftige Zeit einmal
interessant findet. (Nicholson Baker: U und I. Wie groß
sind die Gedanken? S. 399)
Als drittes auf meiner Liste der notwendigen Dinge, die
ein Zimmer gemütlich, heiter und schön machen, kommen -
Bücher und Bilder. An dieser Stelle werden manche
ausrufen: "Aber Bücher und Bilder kosten eine Menge
Geld!" Ja, Bücher kosten Geld, ebenso Bilder; doch
Bücher sammeln sich in den meisten Häsuern, wo
überhaupt Bücher gelesen werden, rasch an; und wenn
jemand wirklich Bücher will, dann ist es erstaunlich,
wie viele innerhalb weniger Jahre zusammenkommen
können, ohne daß man sich bei anderen Dinge allzusehr
einschränken muß. (Nicholson Baker: U und I. Wie groß
sind die Gedanken? S. 447)
Im Alter von achtzig Jahren und zwischen zwei
Premierministerperioden faszinierte William Gladstone
das Problem der Bücherlagerung, und anläßlich eines
Besuchs beim Oxforder All Souls College "ließ er sich
eines Abends im Dozentenzimmer über dieses Thema aus",
so ein Beobachter, "und illustrierte seine Ideen für
Bücherregale mittels eines komplizierten Gebrauchs von
Messern, Gabeln, Gläsern und Karaffen". Gladstone war
sich nicht so recht sicher, wie England all die Bücher,
die es produzierte, lagern wollte, ohne daß seine
Bürger, wie er schrieb, "in einigen Jahrhunderten
vermöge der exorbitanten Ausmaße ihrer Bibliotheken in
die sie umgebenden Gewässer verdrängt" werden. Doch
einer Sache war Gladstone sich sicher: Bücherregale
sollten einfach sein. "Es ist seit einiger Zeit Mode,
Bücherregale äußerst schmuckvoll zu gestalten", sagt
er. "Doch Bücher brauchen für und an sich überhaupt
keinen Schmuck. Sie selbst sind der Schmuck."
(Nicholson Baker: U und I. Wie groß sind die Gedanken?
S. 447)
Ich bin mal in einen Secondhand-Buchladen gegangen, nur
zum Stöbern, er hieß Bonnie's Books. Aber dann war es
nicht so ganz das, was ich mir vorgestellt hatte, es
gab fast keine alten Bücher, sondern bloß kürzlich
erschienene, vorgenossene. De facto also eine Bücherei.
(Nicholson Baker: Vox, S. 76)
Was man morgens als Erstes tut, kann den ganzen Tag
beeinflussen. Wenn man als Erstes im Schlafanzug
blinzelnd und sackkraulend zum Computer schlurft, um
nach E-Mails zu sehen, wird man den ganzen Vormittag
nach Elektronik gieren. Also das nicht. Liest man als
Erstes die Zeitung, wird man voller Wortspiele und
Kümmernisse sein - verschieben. Eine Weile dachte ich,
der Schlüssel zum Leben sei es, als Erstes ein wenig in
einem Buch zu lesen. Sinn der Sache ist, zu dem
Bücherstapel neben dem Bett hinunterzulangen, noch
bevor ich ganz wach war, eines hochzuholen und es
aufzuschlagen. Das funktioniert nur in den Monaten des
Jahres, in denen man in einer Welt aufwacht, die hell
genug ist, um Druckzeilen zu erkennen, aber manchmal,
selbst wenn man das Buch aufschlägt und es in dem Grau
nicht ganz lesen kann, selbst wenn man sieht, wie das
Wort, von dem man weiß, daß es ein Wort ist, in einem
körnigen Augenpartikelreigen schwebt und man dann
merkt, daß man es lesen kann, wenn man richtig darauf
starrt, und das Wort ist beinahe, kann die Lektüre
dieses eizelnen Wortes so gut sein wie die eines
ganzen Kapitels unter normalen Lichtbedingungen. Die
Fingerspitzen sind noch vom Schlaf aufgequollen, und
die Buchecke ist das erste Scharfe, das man fühlt, und
man holt es hoch und schlägt es wahllos auf, ohne zu
wissen, welches Buch die Hände gefunden haben, und dann
wird diese beinahe in den Mückenschwärmen des
Dämmerlichts langsam scharf. Das verändert den ganzen
Tag. (Nicholson Baker: Eine Schachtel Streichhölzer, S.
79)
Vorsicht bei der ersten Tageslektüre. Bücher müssen als
Sonnenaufgänge betrachtet werden. Wenn sie nichts
erleuchten, soll man sie weglegen.
Nachdenkerei und Schriftstellerei, maßlos ehrgeizig
betrieben, machen krank. Freunde sollen einander davon
abhalten.
Falls Tischlektüre während der Mahlzeiten gewünscht
wird, um banales Gerede aus den Räumen zu verbannen,
dann soll durch einen begabten Leser der Don Quixote
des Cervantes vorgetragen werden. (Alexander Balletta:
Regulae ad directionem ingenii et corporis)
Ich bin eine krasse Ignorantin, ich lese viel, aber ich
lese ohne Plan. Ein Buch führt mich auf das andere
über. Die Titel mehrerer Werke finde ich auf dem
Umschlag dessen, das ich gerade vor mir habe; aber
niemand leitet mich an, und so stoße ich oft auf sehr
langweilige. Was ich an moderner Literatur gelesen
habe, dreht sich um die Liebe, das Thema also, das uns
so viel zu schaffen gemacht hat, da doch unser ganzes
Schicksal durch den Mann und für denn Mann geschaffen
wird... (Honore de Balzac: Memoiren zweier
Jungvermählter, S. 322)
Godeschal hatte (...) den Plan ausgeheckt, ein
sogenanntes architriclinisch-juristisches Register von
höchster Altertümlichkeit herzustellen; es sollte aus
den Stürmen der Revolution gerettet sein und von
Bordin, dem Staatsanwalt am Chatelet, herstammen,
den umittelbaren Vorgänger Sauvagnests, des
Anwalts, dem Desroches seine Bestallung dankte. Sie
begannen damit, bei einem Altpapierhändler
irgendein Registerbuch mit Wasserzeichen aus dem
achtzehnten Jahrhunderts zu suchen, das gut und
zweckentsprechend in Pergament gebunden war;
darauf sollte eine Verfügung des Großen Rats zu
stehen kommen. Nachdem jenes Buch gefunden
worden war, wurde es durch den Staub geschleift, in
den Ofen gesteckt, in den Kamin durch den
Küchenschmutz gewälzt; sie ließen es sogar in der
Örtlichkeit liegen, die die Schreiber die 'Kammer der
heimlichen Entschlüsse' nennen, und so bekam das
Buch ein Patina, die jeden Antiquar entzückt hätte,
Risse von wüster Altertümlichkeit, zerfledderte Ecken,
daß man hätte meinen können, die Ratten hätten sich
daran gütlich gebräunt. (Honore de Balzac: Ein
Lebensbeginn)
... sein Harem an Büchern hat ihn mit Ekel
vor jedem zu schaffenden Werk erfüllt.
(Honore de Balzac: Beatrix)
Es kamen noch vier weitere Seiten in einer dünnen,
gedrängten Handschrift, auf denen Calyste die furchtbare
Drohung erklärte, die die letzte Bemerkung enthielt, und auf
denen er von seiner Jugend und aus seinem Leben erzählte;
aber er schrieb jetzt in Phrasen, die Ausrufe waren; es kamen
darin viele der Pünktchen vor, wie sie die moderne Literatur an
gefährlichen Stellen verschwendet wie Planken, die der
Phantasie des Lesers zur Überschreitung von Abgründen
dargeboten werden. (Honore de Balzac: Beatrix)
Frau Bella Schoe plauderte mit William Ask, der seinen
höflich-betrübten Gesichtsausdruck bewahrt hatte. "Ja,
mein Kabinett ist hübsch", berichtete sie. "Man möchte
doch auch gerne einen Platz im Haus haben, der einem
selbst ein bißchen gehört. Ich spüre ab und zu
zumindest das Bedürfnis nach einem Zimmer ohne
Telefon." "Andere können ohne dieses Gebimmel gar nicht
mehr sein", etngegnete William Ask. Frau Bella lächelte
ein klein wenig: "Das ist wahr, aber es ist und bleibt
störend, wenn man liest." "Ja, ich weiß", sagte
William, "Sie sind eine der wenigen, die hierzulande
Bücher kaufen." (Herman Bang: Ein herrlicher Tag, S.
197)
... daß nämlich Lesen allezeit und für jedermann
vielleicht nie etwas anderes war, als sich auf einen
Punkt zu konzentrieren, um von dem
unkontrollierbaren Fortgleiten der Welt nicht verführt,
und nicht zerstört, zu werden. Nichts läse man, gar
nichts, wenn nicht aus Angst. Oder um die
Versuchung eines zerstörerischen Wunsches
abzuwehren, der man, wie man weiß, nicht
widerstehen kann. Man liest, um nicht zum Fenster
aufzuschauen, soviel steht fest. Ein aufgeschlagenes
Buch ist immer der Beweis für die Anwesenheit eines
Feiglings - die Augen fest auf die Zeilen geheftet, um
sich den Blick nicht von der Glut der Welt abspenstig
machen zu lassen." (Alessandro Baricco: Land aus
Glas, S. 70)
Ich trat jeden Tag in der Bib Nat an und arbeitete mich durch Stapel
von Material, das ich brav auf Karteikarten übertrug. Das Thema war
so, daß ihm mit ehrlicher Ochserei und einem instinktiven Gefühl
dafür, wo man nachschauen mußte, gut beizukommen war; wenn man mit
dem Bibliothekskatalog umgehen konnte, hatte man das Ergebnis
praktisch schon in der Tasche. Selbstständiges Denken war wenig
erforderlich, nur die Fähigkeit, anderer Leute Beobachtungen
zusammenfassen. Das hatte natürlich von Anfang an zu meinem Plan
gehört: Such dir was, woran du arbeiten kannst, ohne dabei die
wertvollen Teile des Kopfes aufzubrauchen, und sie zu, daß du jede
Menge Freizeit hast. (Julian Barnes: Metroland)
Hidebound Books - der Name sollte eine doppelte Ironie bergen -
brachte hübsche kleine Paperbacks zu den verschiedensten Themen
heraus; manches davon Marklückenbüßer, manches wohlbedachte
Reprints; aber ein gehöriger Anteil Originalausgaben. Tonis
Monographie war in einer Serie erschienen, die - nach Orwell -
'Wie's mir paßt' hieß. Darin stellte er dar, wie alle wichtigen
Bücher bei ihrem ersten Erscheinen grundlegend mißverstanden werden,
egal, ob man sie lobt oder verreißt. Werden sie verrissen, finden
sich immer Leute für einen erbitterten Disput; werden sie hingegen
gelobt, kümmert sich niemand um die Fehler der Rezensenten. Flaubert
hat gesagt, Erfolg geht immer daneben. 'Madame Bovary' ist wegen
seiner farcenhaften Stellen ein Hit geworden. Tonis Ansicht nach ist
die Psychologie von Leuten, die ein erfolgreiches Werk aus den
falschen Gründen loben, noch interessanter als die von Leuten, die
es aus den falschen Gründen heruntermachen. (Julian Barnes:
Metroland)
Das eine versprach: "Ich mache dich klug,
in mir stehen Weisheiten mehr als genug."
das andere meinte: "Ich mache dir Spaß."
Da las ich das Buch und las und las -
und las dann im klugen Buch weiter,
doch das lustige war viel gescheiter.
Von dieser Konfrontation mit der Unendlichkeit der
Lektüremöglichkeiten ist es nicht mehr weit bis zu dem
Gedanken der Ermutigung zum Nichtlesen. Denn wie sollte
man angesichts der unermeßlichen Zahl von
veröffentlichten Büchern nicht zum Schluß kommen, daß
jedes Leseunterfangen, selbst wenn es auf ein ganzes
Leben verteilt wird, vergebliche Liebesmüh ist im
Hinblick auf all die Bücher, die für immer unbeachtet
bleiben müssen? Lesen bedeutet in erster Linie nicht
lesen, und selbst bei den großen Lesern, die ihr ganzes
Leben dieser Tätigkeit verschrieben haben, verbirgt die
Geste des Ergreifens und Öffnens eines Buches stets die
ihr entgegengesetzte, die darin enthalten ist und
demzufolge unbemerkt bleibt: die unfreiwillige Geste
des Nichtergreifens oder Zuklappens sämtlicher Bücher,
die bei einer anderen Organisation der Welt an die
Stelle des glücklich auserwählten hätten treten können.
(Pierre Bayard: Wie man über Bücher spricht, die man
nicht gelesen hat, S. 20)
... da auch das ernsthafteste und gründlichste Lesen schon
bald einem Querlesen gleichkommt und sich im Nachinein
als bloßes Überfliegen darstellt. Um dies festzustellen
genügt es, dem Akt des Lesens eine Dimension
hinzuzufügen, die von vielen Theoretikern übersehen
wird, die Dimension der Zeit. Das Lesen ist nicht nur
Kenntnisnahme eines Textes oder Erwerb von Wissen. Es
ist immer auch, und zwar sobald es einsetzt, einem
unabwendbaren Vorgang des Vergessens unterworfen. Schon
während des Lesens fange ich an zu vergessen, und
dieser Prozess, der unvermeidlich ist, setzt sich so
lange fort, bis ich irgendwann wieder an dem Punkt bin,
als hätte ich das Buch nicht gelesen, und ich von neuem
zum Nichtleser werde, der ich, wäre ich besser beraten
gewesen, geblieben wäre. Die Aussage, daß man ein Buch
gelesen hat, kann ruhig als Metonymie betrachtet
werden. Man hat von einem Buch immer nur einen mehr
oder weniger großen Teil gelesen, und selbst dieser ist
über kurz oder lang zum Verschwinden verurteilt.
(Pierre Bayard: Wie man über Bücher spricht, die man
nicht gelesen hat, S. 66)
Valéry erzählte mir, was ihm als jungem Mann in London
zugestoßen war. Es regnete jeden Tag. Er war allein und
elend in seiner schäbigen Bude und wie er andeutete,
sehr arm. Eines Tages entschloß er sich, Selbstmord zu
begehen, aber als er den Schrank öffnete, um seinen
Revolver herauszunehmen, fiel ein Buch zu Boden, er hob
es auf, setzte sich hin und las. Der Autor hieß Scholl,
an den Titel konnte er sich nicht mehr erinnern. Es war
ein humoristisches Buch, er las es durch und unterhielt
sich dabei so gut, daß ihm jede Lust an Selbstmord
vergangen war, als er es beendet hatte. Wie schade, daß
Valéry sich nicht an den Titel erinnern konnte! Es
gelang mir nicht einmal, den Namen Scholl in
irgendeinem Katalog aufzustöbern. (Sylvia Beach:
Shakespeare and Company. Ein Buchladen in Paris,
Suhrkamp, S. 178)
Ich verstehe nicht viel von Literatur, doch so viel
steht wohl fest, daß ein Buch, bevor es fertig ist,
Seite für Seite geschrieben werden muß. Daran wird sie
sich die Zähne ausbeißen. Meine Redaktion ist voll von
Leuten, die Romane angefangen haben; das Romananfangen
scheint eine Art Krankheit zu sein, von der viele in
jungen Jahren befallen werden wie von Mumps. (Jurek
Becker: Amanda herzlos, S. 33)
Wörter übten schon seit frühester Kindheit eine magische
Anziehungskraft auf Bei Dao aus. In seinem Elternhaus gab es zwei
Arten von Büchern: offen zugängliche, wie die von Marx und Mao, und
in einem Oberschrank verborgene. Als er sieben Jahre alt war,
kletterte er unermüdlich auf einen Stuhl, um an den nicht für ihn
gedachten Lektürestoff zu gelangen - und stürzte immer wieder zu
Boden: "Seitdem verbinde ich mit Lesen Schmerz." (Tobias Wenzel:
Solange ich lebe, kriegt mich der Tod nicht. Friedhofsgänge mit
Schriftstellern)
Angelo Rinaldi übertreibt, wenn er meint, dieses Buch
hätte "Hundert Jahre Seichtigkeit" heißen sollen, auch
wenn es immer Spaß macht, die altehrwürdige
Kritikergröße Jean Daniel zu ärgern. Sergeant Garcia
Marquez lebt immer noch, er hat 1982 den
Literaturnobelpreis bekommen, und viele barocke
Schriftsteller haben ihm alles zu verdanken: Jose
Saramago; Günter Grass oder Salman Rushdie, die beiden
Erstgenannten bereits nobelpreisgeschmückt. Letzterer
nobelpreiswürdig. Und die Moral: Schreiben Sie
ausufernde und unübersichtliche Romane und Sie haben
größere Chancen auf den Nobelpreis, als wenn Sie
Marguerite Duras paraphrasieren. (Frederic Beigbeder:
Letzte Inventur vor dem Ausverkauf. Die fünfzig besten
Bücher des 20. Jahrhunderts, S. 69)
Viele Bücher des Jahrhunderts stellen unsere Geduld auf
eine harte Probe: 'Das Ufer der Syrten' von Julien
Gracq, das zehn Jahre später erschien, ebenso wie
'Warten auf Godot' von Beckett oder, in jüngerer Zeit
und in einem ganz anderen Genre, 'Die Liebe in den
Zeiten der Cholera' von Garcia Marquez. Im Grunde muß
jedes gute Buch die Erwartung schüren, zumindest die
des Lesers; damit er Lust hat weiterzublättern, bedarf
es einer gewissen Anspannung, und was bewirkt eine
stärkere Anspannung, als ihn warten zu lassen? Lesen
heißt, auf die nächste Seite zu hoffen. Man mag das
Buch am allerliebsten, das es geschafft hat, einem die
Zeit zu vertreiben (das nennt man die "Spannung" oder
den "Motor der Erzählung", je nachdem, ob man Alfred
Hitchcock oder Schüler einer Elite-Hochschule ist.
(Frederic Beigbeder: Letzte Inventur vor dem
Ausverkauf. Die fünfzig besten Bücher des 20.
Jahrhunderts, S. 79)
Der Bücherwurm ist überall,
in einem Bus, im Wartesaal,
Im U-Bahnschacht und in der Nacht
liest er Bücher mit Bedacht.
Insgeheim jedoch, wenn es ganz schlimm um mich stand,
blätterte ich häufig in Büchern, um vielleicht in ihnen ein paar
hilfreiche Worte zu finden, und eines Tages las ich: "Die
Vergebung der Sünden ist ewig, und der Rechtschaffenheit
als Voraussetzung bedarf es nicht." Das beeindruckte mich
so tief, daß ich es ständig vor mich hin sagte. Aber dann
vergaß ich, in welchem Buch es stand. Es war eines von
Tausenden aus der Hinterlassenschaft meines Vaters, der
auch eine Anzahl davon geschrieben hatte. Und ich suchte in
Dutzenden von Bänden, aber alles, was zum Vorschein
kam, war Geld, denn mein Vater hatte Geldscheine als
Lesezeichen benutzt - so wie er sie gerade in seinen
Taschen vorfand - Fünf-, Zehn- oder Zwanzigdollarnoten.
Ein paar ungültige der dreißiger Jahre, diese großen gelben
Lappen, kamen zum Vorschein. Da sie an vergangene
Zeiten erinnerten, freute mich das Wiedersehen mit ihnen,
ich schloß die Tür zur Bibliothek ab, um vor den Kindern
sicher zu sein, und verbrachte den Nachmittag auf einer
Leiter mit dem Ausschütten von Büchern, und das Geld
schwebte auf den Fußboden herunter. Doch jene Äußerung
über die Vergebung habe ich nie wiedergefunden. (Saul
Bellow: Der Regenkönig, S. 5)
Fragt man nach meinem Hobby, antworte ich prompt:
Lesen! Man erwartet wahrscheinlich eine andere Antwort;
eher ein sportliches Steckenpferd. Und doch, ich weiß
keine andere Tätigkeit, die mir ein vergleichbares
Vergnügen bereitet. Auf jeder Bahnfahrt freue ich mich
deshalb: nirgendwo bin ich so allein und so ungestört
mit meinem Buch. Die Stationen, die Autobahnen, die
Fabriken, die Atommeiler fliegen draußen vorbei.
Fahrgäste steigen ein und aus. "Zehn Minuten
Verpätung", klagen sie. Mich kümmert es nicht. Ich bin
dem allen entrückt, ins viktorianische England, nach
"Howards End": Charles hat eben den lästigen Mr. Bast
erschlagen. Die Spannung wächst: wird die kurz zuvor
geschlossene Ehe zwischen Margarete Schlegel und Heny
Wilcox die Konflikte überstehen? Je älter ich werde,
desto anspruchsvoller werde ich in der Wahl meiner
Lektüre. Noch genieße ich Romane und Erzählungen,
Kriminalromane sogar, doch mehr fesseln mich
Tagebücher, Briefe, Aufzeichnungen, Autobiographien.
Nicht erdichtete Gestalten, die Verfasser oder
Verfasserinnen selber und seufzen. Lesen, was sie denken
und fühlen. Selbstbeobachtung und Selbstprüfung ist ihr
Motiv. Suche nach Wahrheit, die bis zur
Selbstentblößung vordringt, treibt sie an. Lichtenberg,
Rousseau, Emerson, Stendhal, Hebbel, van Gogh,
Katherine Mansfield, Gide, Pavese, Julien Green,
Canetti, Cioran will ich nennen; und Jules Renard, den
liebenswürdigsten von allen. Die Ausgabe seines
Tagebuchs besitze ich seit zwei Jahren. Sie liegt auf
meinem Schreibtisch. Auf Reisen nehme ich sie mit.
Renard ist weniger radikal als die aufgezählten
Autoren. Ein "süßer Mann!", schwärmte Tucholsky.
"Manches habe ich beinahe wörtlich so empfunden und
auch so geschrieben", fährt Tucholsky fort, und gerade
auch darin stimme ich mit ihm überein. Mit gezücktem
Bleistift lese ich Renards Tagebuch. Ich will behalten,
was er mir vor- und zuspricht. Ich will wiederfinden,
was ich an seinen Notizen bewundere: die Genauigkeit
der Beobachtungen, die Lakonik der Sprache, die Poesie
der Vergleiche oder Metaphern.
(Hans Bender: Mit gezücktem Bleistift, aus: Von Büchern
und Menschen: Frankfurt/M.: FVA, 1988)
Aus der Schülerbibliothek bekommt man ein Buch. In
den unteren Klassen wird ausgeteilt. Nur hin und wieder
wagt man einen Wunsch. Oft sieht man neidisch ersehnte
Bücher in andere Hände gelangen. Endlich
bekam man das seine. Für eine Woche war man
gänzlich dem Treiben des Textes anheimgegeben, das
mild und unheimlich, dicht und unablässig, wie
Schneeflocken einen umfing. Dahinein trat man mit
grenzenlosem Vertrauen. Stille des Buches, die weiter
und weiter lockte! Dessen Inhalt war gar nicht so
wichtig. Denn die Lektüre fiel noch in die Zeit,
da man selber Geschichten im Bett sich ausdachte, Ihren
halbverwehten Wegen spürt das Kind nach. Beim
Lesen hält es sich die Ohren zu; sein Buch liegt
auf dem viel zu hohen Tisch, und eine Hand liegt immer
auf dem Blatt. Ihm sind die Abenteuer des Helden noch
im Wirbel der Lettern zu lesen wie Figur und Botschaft
im Treiben der Flocken. Sein Atem steht in der Luft der
Geschehnisse, und alle Figuren hauchen es an. Es ist
viel näher unter die Gestalten gemischt als der
Erwachsene. Es ist unsäglich betroffen von dem
Geschehen und den gewechselten Worten, und wenn es
aufsteht, ist es über und über beschneit vom
Gelesenen.
Der Reiz des Lesens lag in seiner Indifferenz: Literatur hatte
etwas Erhabenes. Büchern war es egal, wer sie las oder ob sie
überhaupt gelesen wurden. Vor ihnen waren alle Leser gleich,
auch sie selbst. Die Literatur, dachte sie, ist ein
Commonwealth; Bücher darin die Republiken. Tatsächlich
hatte sie diesen Ausdruck, die Republik der Bücher, schon
mehrfach gehört - bei Examensfeiern,
Ehrendoktorverleihungen und dergleichen-, ohne genau zu
wissen, was damit gemeint war. Zu jener Zeit hatte sie
jegliche Erwähnung wie auch immer gearteter Republiken,
noch dazu in ihrer Gegenwart, als leicht beleidigend oder
zumindest taktlos empfunden. Erst jetzt begriff sie, was die
Worte bedeuteten. Bücher buckelten nicht. Alle Leser waren
gleich, und das erinnerte sie an ihre frühen Lebensjahre. Einer
der aufregendsten Momenten ihrer Jugend was die
Siegesnacht am Ende des Zweiten Weltkrieges gewesen, als
sie und ihre Schwester sich aus dem Palast geschlichen und
unbekannt unter die feiernde Menge gemischt hatten. Etwas
Ähnliches geschah beim Lesen, spürte sie. Es war anonym,
gemeinsam und allgemein. Und da sie ein Leben hinter
Schranken verschiedenster Art geführt hatte, verlangte es sie
nun genau danach. Auf diesen Seiten, zwischen diesen
Buchdeckeln konnte sie unerkannt umherschweifen. (Alan
Bennett: Die souveräne Leserin, S. 31)
Besonders beängstigend war ein schottischer Schriftsteller.
Als sie ihn fragte, woher seine Inspiration komme, entgegnete
er heftig: "Die kommt nicht, Eure Majestät. Man muß
rausgehen und sie sich holen." (Alan Bennett: Die souveräne
Leserin, S. 51)
"Lesen, Ma'am." "Verzeihung?" "Eure Majestät haben
angefangen zu lesen." "Nein, Sir Claude. Man hat immer
gelesen. Man liest nur dieser Tage ein wenig mehr." Nun
wußte sie natürlich, warum er gekommen war und wer ihn
dazu gebracht hatte, und so war er nicht länger nur
Gegenstand ihres Mitgefühls, sondern wurde einer ihrer
Verfolger; das Mitleid schwand also, sie fand ihre Fassung
wieder. "Ich finde, Lesen allein kann nicht schaden, Ma'am."
"Das hört man ja mit Erleichterung." "Nur, wenn es ins Extreme
getrieben wird. Da liegt das Problem." "Wollen Sie mir raten,
die Lektüre zu rationieren?" "Eure Majestät haben immer ein
so vorbildliches Leben geführt. Daß Ma'am gerade aufs Lesen
verfallen sind, ist beinahe glücklich zu nennen. Wenn Eure
Majestät eine andere Beschäftigung mit solchem Eifer
betrieben, wäre sicher manche Augenbraue tadelnd in die
Höhe gegangen." "Womöglich. Allerdings hat man sein Leben
lang versucht, genau das zu vermeiden. Manchmal habe ich
das Gefühl, das war keine besondere Leistung." "Ma'am
mochten doch immer gern Pferderennen." "Richtig. Im
Augenblick allerdings finde ich daran wenig Gefallen." "Ach",
sagte Sir Claude. "Das ist ja schade." Dann entdeckte er eine
mögliche Verbidnung zwischen Lesen und Rennen. "Ihre
Majestät die Königinmutter war immer ganz begeistert von
Dick Francis." "In der Tat", sagte die Quee. "Ich habe eins
oder zwei seiner Bücher gelesen, aber sie bringen einen nicht
besonders weit. Swift, habe ich entdecktm schreibt sehr gut
über Pferde." Sir Claude nickte bedächtig, da er Swift nicht
gelesen hatte und hier offenbar nicht weiterkam.
"Natürlich", sagte die Queen, "aber Informieren ist nicht gleich
Lesen. Es ist im Grunde sogar der Gegenpol des Lesens.
Information ist kurz, bündig und sachlich. Lesen ist
ungeordnet, diskursiv und eine ständige Einladung.
Information schließt ein Thema ab, Lesen eröffnet es." (Alan
Bennett: Die souveräne Leserin, S. 22)
Doch immer häufiger bezog die Queen ihren Lesestoff aus
den eigenen Bibliotheken, vor allem aus der in Windsor, wo es
zwar kein unbeschränktes Angebot an modernen Büchern
gab, aber immerhin zahlreiche klassische Romane auf den
Regalen standen, viele davon natürlich handsigniert - Balzac,
Turgenjew, Fielding, Conrad; Bücher, die ihr vor nicht allzu
langer Zeit als zu hoch erschienen wären, die sie jetzt jedoch
rasch durchmaß, immer den Bleistift zur Hand. Im Verlauf
dieser Klassikerlektüre versöhnte sie sich sogar wieder mit
Henry James, dessen Abschweifungen sie inzwischen leichter
ertrug: "Schließlich", so notierte sie, "muß ein Roman nicht der
Vogelfluglinie folgen." (Alan Bennett: Die souveräne Leserin,
S. 72)
Untertanen schmollten selten in Gegenwart der Queen, dazu
hatten sie kein Recht, und vor Zeiten wären sie deswegen im
Tower gelandet. Noch vor ein paar Jahren hätte sie gar nicht
bemerkt, was Norman oder sonst jemand tat, und wenn es ihr
jetzt auffiel, dann nur, weil sich in die Lage anderer Menschen
versetzen konnte, Aber das erklärte immer noch nicht, warum
er so beleidigt war. "Bücher sind etwas Herrliches, nicht
wahr?", sagte sie zum Vizekanzler, der zustimmte. "Auch
wenn sich das vielleicht eher nach einem Steak anhört", fuhr
sie fort, "sie machen einen zarter." (Alan Bennett: Die
souveräne Leserin, S. 101)
Was ich mit meiner Dichtung will, das ist nicht etwas
die Erfüllung einer außerhalb meiner selbst und
außerhalb meiner Dichtung gelegenen Aufgabe. Es ist
zunächst etwas auf mich selber Bezogenes, nicht etwas
auf die anderen Menschen Bezogenes, an die sich
zugegebenermaßen und unmißverständlich meine Dichtung
doch wendet. Und dennoch sind diese anderen, nenne man
sie Leserschaft oder Publikum, auf eine Weise bei aller
dichterischen Hervorbringung zugegen, denn zum
mindesten unbewußt stellt der Dichter sich immer den
Leser vor Augen, den er freilich mit sich selber zu
identifizieren geneigt sein wird. Etwa wenn er sich
über seiner Arbeit die Frage vorlegt: Ist dieser oder
jener erzählerische Zusammenhang bereits deutlich genug
geworden, ist dies Motiv, ist jenes Geschehnis schon
genügend vorbereitet, erscheinen die Handlungen der und
der Gestalt auf Grund dessen, was bisher von ihr
ausgesagt wurde, auch glaubhaft, oder bedürfte der und
der Zug am Ende einer Unterstreichung? Für den Dichter
selber, der doch die darzustellenden Vorgänge kennt,
brauchte es solcher Überlegungen ja nicht. Ich meine,
dieses Beispiel mache es einleuchtend, wie sehr ein
imaginärer Leser dem Schreibenden fortwährend über die
Schulter guckt und wie sehr der Schreibende, der nur
sich selber zu befriedigen, nur die eigene Lust zu
sättigen denkt, diese Sättigung doch erst erreicht, und
sei es auch nur in der Approximation, und wenn er
diesem imaginären, diesem idealischen Leser Genüge
getan zu haben glaubt. Denn dieser Leser ist ihm der
Richter, und dieses Lesers zum wenigsten vermeintliches
Urteil ist ihm der Maßstab, an dem er den nie ganz auf
der Welt zu schaffenden Abstand zwischen dem von ihm
Gewollten und dem ihm Gelungenen mißt. Dieser während
des Hervorbringungsprozesses meist durchaus unbewußt
auftretende Gedanke an den Leser wird den Dichter auch
da beherrschen, wo er etwas schreibt, dessen
Veröffentlichung er, aus welchen Gründen immer,
keineswegs beabsichtigt. Der imaginäre Leser würde
sogar zugegen sein, wenn ich a la Robinson auf eine
wüste Insel verschlagen und, aller Hoffnung auf
Rückkehr zu den Menschen endgültig beraubt, etwas auf
getrocknete Palmblätter Gedichte oder Erzählungen
schriebe.
Der Mann steht auf. "Ich darf doch?" Er
steht vor dem Bücherregal. "Ja.
Klar." Er hält den Kopf albern
schief, um die Buchrücken zu lesen.
Dabei wippt er mit den Füßen.
Auf und ab. Auf und ab. Bettina möchte
ihm... "Ah. Tucholsky. Hm. Du magst
Tucholsky?" "Hm." "Ich auch. Er ist so...
so..." "Ja." (Sibylle Berg: Ein paar
Leute suchen das Glück und
lachen sich tot, S. 103)
Einen Job hat Karla gefunden. In einer Bücherei, und
dort sitzt sie jeden Tag im Warmen, zwischen altem,
staubigem Papier, da kaum jemand kommt, da kaum
einer liest, wozu gibt es denn Fernsehen, lesen ist
out, und wenn, dann bitte Bücher von
Dreiundzwanzigjährigen, und so sitzt Karla ungestört,
liest und ab und an kommt dann doch ein Mensch.
(Sibylle Berg: Amerika, S. 70)
Durch lautes Lesen kann man seine fehlerhaften
Sprachorgane verbessern, wenn man nur die Töne langsam,
nachdrücklich und deutlich ausspricht. Demosthenes
vervollkommnete seine Sprachorgane durch Schreien: Uns
leistet lautes Lesen dieselben wohltätigen Dienste. Im
Stehen zu lesen ist für den Kopf und für die Füße
nachteilig; jener bekommt den Schwindel, diese fühlen
eine unnatürliche Schwäche, und wir sind fast nicht
imstande, uns selber zu tragen. Dies rührt ohne Zweifel
davon her, daß wir die beiden Endpunkte unseres Körpers
zugleich heftig anstrengen, und anstatt die Lebenskraft
auf einen Punkt zu ziehen, sie teilen und dadurch
schwächen. Das Lesen von Büchern, die nicht allzu
vieles Nachdenken erfordern, befördert den Schlaf. Wer
also nicht gleich einschlafen kann, wenn er sich
niederlegt, und durch die Begierde und den Willen zu
schlafen, den geist noch mehr beunruhigt und bestürmt,
muß sich in Schlaf lesen. Lautes Lesen nach Tisch ist
ebenso ungesund, als ein angestrengter Spaziergang. Wir
entziehen dem Magen die zur Verdauung nötigen Säfte und
fühlen daher Mattigkeit und Mißbehagen. Die schwerste
Probe des Lautlesens ist die Lektüre von Schauspielen.
Wir müssen dabei alle Charaktere annehmen und uns in
alle Launen schmiegen; unsere Stimmen und unsere
Affekte müssen den auftretenden Personen entsprechen,
und unsere Leidenschaften müssen sich in alle Farben
kleiden. Bald Liebe, bald Haß, bald Gutmütigkeit, bald
Menschenscheu, bald Heroismus, bald Feigheit, bald
Stolz, bald Herablassung muß in unserem Busen
abwechseln. Wer ist aber seiner so mächtig, daß er
immer alle Tönde seines Geistes anschlagen kann und daß
er immer unumschränkter Herr seiner Leidenschaften und
Gefühle ist? Oft überwältigt uns die Last unseres
Körpers, und wir erliegen der Materie. Wem gönnte das
Schicksal das Talent, immer allen alles zu sein, und
wer kann sich stets so ganz vergessen, daß er sich
seiner Persönlichkeit entäußernd, immer fremde
Charakter mit Ausdruck und Wahrheit darstelle?
Philosophische Schriften dürfen nicht lauft gelesen
werden, weil uns das Vernehmen der Töne an dem
Überschauen des Ganzen hindert. Wir vergessen, was wir
gelesen haben, und denken immer nur an das, was
gegenwärtig ist. Wir können daher weder die
Folgerichtigkeit noch die Wahrheit der behaupteten
Sätze prüfen.
Zu Hause lese ich schon seit Jahren kein Buch mehr,
hier im Bordone-Saal habe ich schon Hunderte Bücher
gelesen, aber das heißt nicht, daß ich alle diese
Bücher im Bordone-Saal ausgelesen hätte, ich habe
niemals in meinem Leben ein einziges Buch ausgelesen,
meine Art zu lesen ist die eines hochgradig
talentierten Umblätterers, ich habe in meinem Leben
millionenmal mehr umgeblättert als gelesen, aber am
Umblättern immer wenigstens so viel Freude und
tatsächliche Geisteslust gehabt wie am Lesen. Es ist
doch besser, wir lesen alles in allem nur drei Seiten
eines Vierhundertseitenbuches tausendmal gründlicher
als der normale Leser, der alles, aber nicht eine
einzige Seite gründlich liest, sagte er. (Thomas
Bernhard: Alte Meister, S 38)
Es ist besser, zwölf Zeilen eines Buches mit höchster
Intensität zu lesen und also zur Gänze zu durchdringen, wie
gesagt werden kann, als wir lesen das ganze Buch wie der
normale Leser, der am Ende das von ihm gelesene Buch
genausowenig kennt, wie ein Flugreisender die Landschaft,
die er überfliegt. Er nimmt ja nicht einmal die Konturen
wahr. So lesen heute die Leute alle alles im Flug, sie lesen
und kennen nichts. Ich betrete ein Buch und lasse mich
darauf nieder, mit Haut und Haaren. (Thomas Bernhard:
Alte Meister, S. 39f.)
Es ist nicht notwendig, den ganzen Goethe zu lesen, den
ganzen Kant, auch nicht notwendig, den ganzen
Schopenhauer; ein paar Seiten Werther, ein paar Seiten
Wahlverwandschaften und wir wissen am Ende mehr über
die beiden Bücher, als wenn wir sie von Anfang bis Ende
gelesen hätten, was uns in jedem Fall um das reinste
Vergnügen bringt. Aber zu dieser drastischen
Selbstbeschränkung gehört so viel Mut und so viel
Geisteskraft, daß sie nur sehr selten aufgebracht werden
kann und daß wir selbst sie nur selten aufbringen; der
lesende Mensch ist wie der fleischfressende auf die
widerwärtigste Weise gefäßig und verdirbt sich wie der
fleischfressende den Magen und die gesamte Gesundheit,
den Kopf und die ganze geistige Existenz. (Thomas
Bernhard: Alte Meister, S. 40f.)
Wenn Sie sich Zeit nehmen und einmal Goethe eindringlicher
als normalerweise und mit einer viel größeren
Unverschämtheit als normalerweise lesen, kommt Ihnen am
Ende das Gelesene lächerlich vor, ganz gleich, was es ist,
Sie brauchen es nur öfter als normalerweise zu lesen, es
wird unweigerlich lächerlich und selbst das Gescheiteste ist
am Ende eine Dummheit. Wehe, Sie lesen eindringlicher, Sie
ruinieren sich alles, was Sie lesen. Es ist ganz gleich, was Sie
lesen, es wird am Ende lächerlich und ist am Ende nichts
wert. (Thomas Bernhard: Alte Meister, S. 68)
Noch heute ist meine Lieblingslektüre der Atlas.
Immer die gleichen Punkte, immer andere Phantasien.
Einmal würde ich in Wirklichkeit überall da sein,
worauf mein Finger zeigte. Mit dem Finger über die
Landkarte, für mich war das kein gedankenlos
hingeworfener Spruch, es war ein Hochgefühl.
(Thomas Bernhard: Ein Kind, S. 93)
Ich hatte mir das kleinste der oberen Zimmer als
sogenanntes Bücherzimmer hergerichtet und so
ausgestattet, daß ich in ihm wirklich nichts anderes
tun konnte als lesen, Bücher, Schriften studieren, zu
welchem Zwecke ich nur einen einzigen Sessel in
diesem Zimmer aufgestellt hatte, der vor dem
einzigen Fenster stand, einen harten, für alle Begriffe
unbequemen und vollkommen einfachen Sessel, den
zum Lesen zweckmäßigsten, den man sich vorstellen
kann, so vor dem Fenster auf diesem Holzsessel
sitzend, konnte ich mich, war ich einmal dazu
entschlossen, ungehindert in gleich was für eine
gewünschte Lektüre vertiefen, an diesem Nachmittag,
wie ich mich genau erinnere, in eine Ausgabe von
Schopenhauers 'Die Welt als Wille und Vorstellung',
die ich aus der Bibliothek meines Großvaters
mütterlicherweits geerbt habe und in welcher ich
immer dann gelesen habe, wenn ich vom Lesen nichts
anderes erwartete, als ein mich in jeder Hinsicht
reinigendes Vergnügen. 'Die Welt als Wille und
Vorstellung' war mir schon von frühester Jugend an
das wichtigste aller philosophischen Bücher gewesen
und ich habe mich auf seine Wirkung, nämlich die
vollkommene Erfrischung meines Kopfes, immer
verlassen können. In keinem anderen Buch habe ich
jemals eine klare Sprache und einen ebenso klaren
Verstand gefunden, kein Literaturwerk hat jemals auf
mich eine tiefe Wirkung ausgeübt. Mit diesem Buch
zusammen, war ich immer glücklich gewesen. Aber
nur selten hatte ich die für dieses Buch unbedingt
notwendige natürliche und geistige Vorbereitung und
also nur selten, die Möglichkeit gehabt, mit diesem
außerordentlichen und wahrhaft weltentscheidenden
Buche zusammenzusein, denn für 'Die Welt als Wille
und Vorstellung' gilt wie für wenige andere 'höchste
Bücher', daß sie sich nur in dem Zustande der
äußersten Fähigkeit und also Aufnahmefähigkeit und
Aufnahmewürdigkeit einem öffnen und sich entziffern
lassen. (Thomas Bernhard: Ja, S. 66)
Bernhard macht Übersetzungen und Übersetzer zur
Schnecke. "Ein übersetztes Buch ist wie eine Leiche,
die von einem Auto bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt
worden ist. Da können Sie dann die Trümmer
zusammensuchen, aber es nützt nichts mehr. Übersetzer
sind ja was Furchtbares. Das sind arme Leute, die
nichts kriegen für ihre Übersetzung. Niedrigste
Honorar, und machen auch eine furchtbare Arbeit. Da
gleicht sichs wieder aus. Und warum übersetzt jemand?
Da soll er gleich was eigenes schreiben. Das ist eine
furchtbare Art des Dienens."
Goldschmidt bewohnte eine kleine Zweizimmerwohnung über
seinem Geschäft und mache sich alles allein. Tagsüber
sei er in seiner Buchhandlung mit der Geschichte und
mit der Literatur zusammen und die halben Nächte mit
ihren Erzeugern und Verleumdern, wie er, Goldschmidt,
sich Koller gegenüber ausgedrückt ausgedrückt haben
soll. Er, Goldschmidt, soll zu Koller gesagt haben, er
diente der Geschichte und der Literatur, wenn er auch
wisse, daß er damit dem falschen Herren diente. Er sei
Buchhändler geworden, weil er genug Masochist sei zu
diesem Zwecke einerseits, weil ihm ein Onkel, ein
Bruder seiner Mutter, die Buchhandlung hinterlassen
habe andererseits. Er empfinde natürlich an jedem Tage
und im Grunde solange er die Buchhandlung unterhalte,
den mit einem solchen Geschäft auf Gedeih und Verderb
verbundenen Geschichts- und Geistesleerlauf, er habe
sich aber damit abgefunden und wenn er sich an den
Produkten, die er jetzt schon über drei Jahrzehnte
verkaufe, genug geekelt habe, finde er dann immer
wieder in einem jener historischen Sätze Zuflucht, die
ein verrückter sogenannter Dichter oder Denker zur
Beglaubigung seiner Verrücktheit geschrieben habe. Es
seien aber schon lange Zeit keine Bücher mehr, die ihn
retten könnten, sondern nurmehr noch Sätze, einzelne
Sätze von Novalis beispielsweise, von Montaigne, von
Spinoza, von Pascal, an welchen er sich von Zeit zu Zeit
anklammern müsse, um nicht untergehen zu müssen. Die
Buchhändler seien von allen die Bedauernswertesten,
weil auf ihnen wie auf nichts sonst die ganze
Scheußlichkeit und Gemeinheit der Menschengeschichte
und die ganze Hilflosigkeit und Erbarmungswürdigkeit
der Kunst laste und sie sich immer zu fürchten haben,
von dieser antimenschlichen Last erdrückt zu werden.
Der Buchhändler, der sein Geschäft ernst nimmt, ist der
Bedauernswerteste des ganzen Menschengeschlechts, weil
er tagtäglich und ununterbrochen mit der absoluten
Sinnlosigkeit des jemals Geschriebenen konfrontiert ist
und wie kein zweiter die Welt als Hölle erlebt, so
Goldschmidt zu Koller. Goldschmidt sei aber einer der
allerwenigsten Buchhändler, auf die der Begriff des
Buchhändlers überhaupt noch anwendbar sei, denn die
Buchhändler wie Goldschmidt, die ihren Buchhandel ernst
nehmen und die den Buchhandel nicht als gemeines
Geschäft, sondern tatsächlich noch als eine der
Geschichte und der Literatur und der Kunst dienende
Geistesarbeit und - liebe auffaßten, seien beinahe
gänzlich ausgestorben. (Thomas Bernhard: Die
Billigesser)
Mein Vater klopfte an das Bürofenster und Bloch kam heraus. Er
begrüßte uns freundlich und führte uns sofort in den ersten Stock
hinauf, in die Bibliothek, und zwar, wie ich feststellte, lauter
ständig in Gebrauch befindliche ohne den geringsten sogenannten
bibliophilen Wert, in den man in den deutschsprachigen Ländern auf
die lächerlichste Weise verliebt, ja vernarrt ist. (Thomas Bernhard:
Verstörung)
Über das Bücherlesen in so fern es zum Luxus unsrer
Zeiten gehört. Das Lesen als Unterhaltung und
Zeitvertreib ist eines der verführerischsten Vergnügen,
welches den, der es einmal gekostet hat, so sehr
fesselt und anzieht, daß er sich nicht wieder losmachen
kann. Tagelang sitzt der Leselustige auf einer Stelle
und betrachtet jedes ernsthaftere Geschäft, daß ihn von
seinem Buche abruft, als eine Störung in seinem
Vergnügen, die er so lange zu entfernen sucht, als es
möglich ist. Und reißt er sich ja einmal loß, um
dringende Geschäfte zu verrichten: so thut er sie doch
nicht mit Attachement, Lust und Ernst, sondern seine
Gedanken sind immer abwesend, und nach halbgethaner
Arbeit eilt er wie ein Heißhungriger wieder an seinen
Lesetisch, um seine gespannte Neugier zu befriedigen,
die jedoch nie gesättiget wird. (Johann Rudolph
Gottlieb, 1795)
Ich muß als Kind auch Kinderbücher besessen haben. Man hat ja als
Kind keine Möglichkeit, dem Geschmack alter geschenkfreudiger
Tanten auszuweichen. Ich erinnere mich nur noch ganz schwach an
jene Bücher. Meine Tanten haben mir offensichtlich all jene
Bücher geschenkt, die ihnen so halbwegs gefielen: entweder weil
ihnen Bücher nichts sagten oder weil sie überzeugt waren, daß ich
für alles, was ihnen gefiel zu jung war. Oft legten sie es
scheinbar sogar darauf an, mich zu beleidigen. Sie schenkten mir
Bücher, die nach ihrer Meinung der Welt des Kindes entsprachen.
In dieser Welt lebte ich aber sowenig wie alle anderen Kinder.
Die Welt des Kindes ist eine anmaßende Vorstellung der
Erwachsenen; sie meinen damit die Welt des Niedlichen, des
Harmlosen, des Ungefährlichen. Was mich interessierte war nicht
die Welt des Kindes, sondern ganz einfach die Welt.
Ich muß als Kind auch Kinderbücher besessen haben. Man hat ja als
Man ist, wenn man liest, in Gesellschaft. Leser brauchen Mitleser.
Wenn ich ein Buch gelesen habe, suche ich einen, der es auch gelesen
hat. Wir diskutieren dann nicht über das Buch, wir sagen nur:
wunderbar! Und hast du das auch mitbekommen …? Wenn ich zwei
Menschen auf der Strasse sehe, die aufeinander zueilen und sich
umarmen, ist mein erster Gedanke immer: Die haben dasselbe Buch
gelesen.
Ich muß als Kind auch Kinderbücher besessen haben. Man hat ja als
Wenn Nietzsche sein spätes Selbstporträt, in dessen
Mittelstück er sich um eine neue Lesart seiner Bücher
bemüht, mit dem Passionstitel "Ecce homo" überschreibt,
dann wohl auch deshalb, weil er bei allem Wissen um die
Macht von Wort und Schrift - "ich habe Buchstaben, um
auch Blinde sehend zu machen" - wie kaum ein anderer
die dem schriftlichen Ausdruck gezogenen Grenzen zu
spüren bekam. Obwohl das Wort durch die Schrift Dauer
und Festigkeit gewinnt, erleidet es durch die
Verschriftung doch zugleich eine Passion, und dies
nicht selten mit jenem tödlichen Ausgang, der
'Schleiermacher' geradezu von einem "Mausoleum" des
Geistes sprechen ließ. (Eugen Biser: Das Buch in
medienkritischer Sicht)
Ein Tag des Bücherwühlens in Hay-on-Wye hinterläßt
Spuren. An den Armen hängen schwere Büchertaschen. Die
Finger sind dunkelgrau , denn das Geschäft mit
gebrauchten Büchern ist ein schmutziges. Wenn man die
Augen schließt, sieht man unweigerlich Buchrücken in
Regalen vor sich. Und ein bißchen benebelt ist man
auch. So wie die Schweizerin, die nach getaner
Büchersichtung im Pub aufseufzt: "Ich hätte nie
gedacht, daß Bücher so stinken können." (in der
HAZ 24. 01. 1998)
Der große Rest der Leser heute blättert hin und wieder in
Gesamtausgaben und behandelt sie nicht anders als
Fernsehprogramme oder das Internet, als einen Verbund höchst
unterschiedlicher und häufig heterogener Informationen, die man
intensiv oder flüchtig aufnehmen und nur manchmal vernetzen kann.
Gerade der Moloch Gesamtausgabe beweist, dass das Verstehenwollen
des Ganzen auch bei Büchern ein viel zu aufwendiges und ihre
Komplexität gerade reduzierendes Verfahren ist und lückenhafte
Lektüre oft effektiver. Alles ist wichtig, oder auch nichts. Auch
Bücher rauschen, die Informationen müssen erst herausgefiltert
werden. Das scheinbar kindliche Sammeln von verwendbaren Stellen
ist die zeitgemäße Datenverarbeitung und war immer schon legitim.
Goethe an Schiller in einem Brief vom 19. 12. 1798: "Übrigens ist
mir alles verhasst, was mich bloß belehrt, ohne meine Tätigkeit
zu vermehren oder unmittelbar zu beleben." Um solche lebendigen
Stellen in Büchern zu entdecken, muss man sie wieder und wieder
durchforsten. Einmal ist keinmal. Und da ist es gut, wenn man die
Bestände um sich weiß. Jede Gesamtausgabe spielt mit ihrem Leser
und lässt ihn glücklich finden, was er nie gesucht hat.
"Ich würde mir eine Bibliothek voller Bücher kaufen",
sagte der Tiger, "mit Büchern, die Bücher erklären, und
ich würde mir Bildung bis zum Abwinken reinziehen und
dann den Intellektuellen spielen. Da wirst du fürs
Reden bezahlt, dein Job ist es, immer recht zu haben.
Sonst wird nichts von dir verlangt. Du frißt und du
laberst, du laberst und du frißt: 'Ich würde sagen,
ehem, ja, wissen Sie, man darf das Dingsda von dem
Wieheißtdasnoch nicht mit dem Wieheißtdasnoch von dem
Dingsda verwechseln, könnten Sie mir bitte den Senf
rüberreichen, verstehen Sie, ehem, ich will damit
sagen..."
Sainte-Croix dagegen war in die Bücher vertieft, die er
mitgenommen hatte. Eines davon hieß Discours sur la
methode - Abhandlung über die Methode. Methode für was,
war unklar. Wahrscheinlich eine Methode, um Brücken
hochgehen zu lassen oder Fabriken zu sabotieren. Wenn
es eine Methode war, um Maikäfern beizubringen, wie man
Flügelhorn spielt, hätte der Autor nicht gezögert, das
auch zu sagen. Da war noch ein anderes Buch, es hieß
Essais - Versuche. Versuche über was, wieder unklar.
Vielleicht hatte der Autor LSD probiert, und war mit
dem Fahrrad nach Indien gefahren, hatte die Sahara mit
Rollschuhen durchquert. Jedenfalls war das Buch dick,
der Typ, der das geschrieben hat, muß ganz schön viele
Sachen ausprobiert haben. (Henri-Frederic Blanc: Randale, S. 79, 81)
"Haben Sie vielleicht ein Buch über Dinosaurier?" Der
alte Bouquinist betrachtete Joseph mit dem
bekümmerten und resignierten Ausdruck eines
Menschen, der sich im Laufe seines Lebens von
sadistischen Kunden mit maßlosen Forderungen
immer wieder die verrücktesten Fragen und
hinterhältigsten Bitten hatte gefallen lassen müssen.
(Henri-Frederic Blanc: Im Reich des Schlafes, S. 30)
Er hatte stets einen Stapel zeitgenössischer Romane
zur Hand, die alle mit Preisen ausgezeichnet waren
und deren wunderbar einschläfernde Wirkung er hoch
zu schätzen wußte. War es nicht bewunderswert, daß
sich in einem Land, wo die Schlaflosigkeit so rasant
um sich griff, so viele Schriftsteller fanden, die sich
mit derartigem Eifer der edlen Aufgabe widmeten,
ihren Nächsten zu sanftem Schlummer zu verhelfen?
Das jedenfalls dachte Joseph, als er versuchte, eine
Seite eines Autors zu entziffern, der von den Medien
mächtig gefeiert wurde und dessen ganze Kunst darin
bestand, Belanglosigkeiten virtuos
aneinanderzureihen. Das war auf brillante Weise
nichtssagend, von hochberedter Leere und mit dem
ständigen Bemühen fabriziert, dem Leser zu
imponieren. Das funkelte von Intelligenz, aber es
klang alles gekünstelt. Jede Zeile besaß die vulgäre
Vornehmheit, das augenfällige Raffinement des
Parvenus, der seinen Tee mit abgespreizten kleinen
Finger trinkt, den falschen Adel des schöngeistigen
Hochstaplers, der anderen seine Bildung wie
Marmelade aufs Brot streicht und seinen Stil zur
Schau stellt wie eine Nutte ihre Schenkel. Es war ein
Roman, der nicht geschrieben worden war, um seine
Leser zu berühren, sondern damit man seinen Autor
bewunderte, das Werk eines sprachlichen Seiltänzers,
eines hochgezüchteten Intellektuellen, der
unaufhörlich den Frustrationen, dem Voyeurismus und
dem Narzißmus des Lesers schmeichelte, statt ihm
einen ordentlichen Eimers kaltes Wasser ins Gesicht
zu schütten, damit er aufwacht. Nach einigen Seiten
fiel Joseph, die Grenzen menschlicher
Widerstandskraft waren erreicht, das Buch auf der
Hand. (Henri-Frederic Blanc: Im Reich des Schlafes, S.
39f.)
Schaumschlägerliteratur, eine Literatur ohne Biß.
Unter uns, Livingstone, es ist weniger vulgär, nach
Herzenslust und mit Überzeugung seine Notdurft zu
verrichten, als schöne Sätze zu ziselieren, wenn man
nichts zu sagen hat. (Henri-Frederic Blanc: Im Reich
des Schlafes, S. 23)
"Sagen Sie mir Leger, was halten Sie von Frauen?"
fragte Joseph und zündete sich eine Zigarette an,
während der andere ihm mit krummen Rücken ein
altes Pergament brachte. Leger seufzte und
antwortete mit bekümmerter Miene: "Es muß sie wohl
geben. Aber sie schaden dem Studium der schönen
Literatur. Ich persönlich bin der Meinung, sie sollten
einen Schleier tragen, so daß wir nicht mehr durch
das freche Schauspiel ihrer Frätzchen von unserer
Arbeit abgelenkt würden." (...) "Sie sind
manchmal so schön..." "Niemals so schön wie eine
Maxime von La Rochefoucauld oder eine
Originalausgabe des 'Verliebten Teufels' von Cazotte.
Glauben Sie mir, mein lieber Doktor, das Vergnügen,
das die Frauen uns verschaffen, entschädigt bei
weitem nicht für die Qualen, die sie uns bereiten.
(...) Schließlich kann man sich nicht mehr mit einem
schönen alten Schmöker ruhig auf eine Bank im Jardin
du Luxembourg setzen, ohne daß mitten im
schönsten Satz eine dieser Kreaturen vorbeigeht und
einige erlesene Teile ihres Körpers zur Schau trägt...
(...) Als legte man es bewußt darauf an, uns in
lüsterne Schweine zu verwandeln! ... Wenn die
Freiheit darin besteht, daß einem das Wasser im
Munde zusammenläuft, bis man nicht mehr weiß, wo
einem der Kopf steht, dann zum Teufel mit der
Freiheit. (Henri-Frederic Blanc: Im Reich des Schlafes,
S. 69)
Die Bibliothek war leer. Nur ein dicker Herr saß dort,
friedlich schnarchend, am Ende eines Tisches, ein
Stammgast, der nur inmitten alter Bücher schlafen
konnte. Leger hatte eine Schildermanie, überall hatte
er welche aufgestellt. 'Zugenageltes Fenster,
gefährliche Leiter, wackliger Tisch, nicht unter dem
Bord durchgehen...' Vor den Regalen war zu lesen:
'Vorsicht Rattenfallen...' Leger, der die Einsamkeit
liebte und im übrigen überzeugt war, daß die Leute
eigens in der Absicht kamen, seine Bücher zu
ramponieren, tat alles, um seine Besucher
abzuschrecken. Er erzählte ständig von schrecklichen
Unfällen mit Büchern, grauenvolle Geschichten von
mörderischen Lexika und von Schädeln, die durch
herabstürzende Enzyklopädien zerschmettert worden
waren. Joseph war einer der wenigen Leser, dessen
Kommen er schätzte, vielleicht weil sie eines
gemeinsam hatten. Beide liebten sie Bücher mehr um
ihrer selbst als um des Lesens willen. (Henri-Frederic
Blanc: Im Reich des Schlafes, S. 68)
Ganz unten, am Ende einer finsteren Treppe, lag ein langes
Kellergewölbe, kaum erhellt von einigen schmutziges Fensterchen,
hinter denen man eilige Schuhe vorbeihasten sah. Überall
stapelten sich staubige Bücher oder Bücherstaub in einer
Unordnung, die durch die Dunkelheit noch verschlimmert wurde.
Manche Regale begannen in der sichtbaren Welt und verschwanden im
schwarzen Nichts. Hoch aufgestapelte Folianten bedrohten den
Besucher. Das Niesen einer Spinne, der Seufzer eines Gespenstes,
ein Nichts, und Tausende Worte würden über dem Kopf des
unvorsichtigen Neugierigen zusammenstürzen. Ein Buch zu berühren
erforderte deshalb einen gewissen Abenteurergeist. Zwar gab es
Leitern, aber sie hatten Zahnlücken, waren wurmstichig und
abweisend wie Fallen. All diese undurchschaubaren Bände waren
verschlossene Türen zu vergangenen Welten. Wenn ich das Ohr an
die alten Einbände preßte, glaubte ich die Stromschnellen der
Zeit rauschen zu hören, wie man das Meer in einer Muschel hört.
Ich griff aufs Geratewohl nach einem Buch. Teufel, von...
von... Man sah wirklich nicht viel. Ich hatte wohl laut gedacht,
denn sogleich hallte eine Stimme durch das Gewölbe: "Herrliches
Halbdunkel! Und außerdem spart man Strom." Ein kleiner Mann mit
einem Bleistift hinter dem Ohr tauchte zwischen den Büchern auf.
"Wenn Sie ein ferngesteuerter Leser sind, ist da der Ausgang,
aber wenn Sie ein bereitwilliger Leser sind, der noch Zeit hat,
neugierig zu sein, stehe ich Ihnen zur Verfügung!... Habe ich
nicht recht? (Henri-Frederic Blanc: Teufelei)
Zum Schreiben kam ich unter anderem, weil ich das
Lesen liebe. Bücher sind für mich sehr wichtig - ein
Lebenselixier. Lesungen sind immer eine Chance, die
Zuhörer für das Lesen an sich zu begeistern. Mir
macht es trotz Lampenfiebers diebischen Spaß,
auszuprobieren, ob und wie ich die Leute dazu
bekomme, sich auf ein Buch einzulassen. Es ist fast
wie eine Reise: Wir sind fremde Leute und werden
zwei Stunden unseres Lebens zusammen in ein
unbekanntes Land fahren. Manche fahren freiwillig
mit, manche nur, weil es auf dem Stundenplan der
Schule steht. Und ich bin der Reiseführer. Von mir
hängt es zu einem großen Teil ab, ob sie das neue
Land mögen werden oder nicht - eine echte
Herausforderung.
Franz Blei, gelehrtester Essayist der Buchkultur,
schrieb: "Der Ruhm der ersten Druckwerke ist nie
übertroffen worden. Es ist, als ob die Schwierigkeit,
welche die neue Erfindung zu überwinden hatte, zu
den größten Anstrengungen getrieben und so den
Erfolg verbürgt hätte. Es dürfte die Erfindung der
Druckerkunst wohl aber auch deshalb sofort zu solch
hohen Ergebnissen gekommen sein, weil sie mit der
ganzen Sorgfalt arbeiten mußte, die der frühere
Schreiber seiner Handschrift gab, ja sie mußte die
Kunst der frühen Handschriften noch übertreffen,
wollte sie sich gut einführen und behaupten. So rasch
die Kunst sich auch ausbreitete, jeder Drucker setzte
seinen Ehrgeiz darein, den andern zu übertreffen.
Keiner nützte die Erfindung zu Schluderarbeit..."
Was Jungens gern lesen, ist immer gut. In frü
hen Jahren las man in Weihnachtsbüchern so
gegensätzliche Satzbilder wie etwas das
folgende: "Eiskalt pfiff der Nordwind über
die öde Prärie"; eine ungeheure Wä
rme war in diesem kalten Satz, ein Hinterglas-Ich
ritt mit dem Westmann durch ein Abziehbild, das
sich wundervoll löste. In 'gebildeten'
Bildern oder Büchern ist das Fenster niemals;
doch freilich, ich vergesse: das Zimmer in der
Bakerstreet, wo Sherlock Holmes wohnt, liegt noch
heute manchmal dahinter: wenn der Regen an die
Scheiben schlägt, Sherlock Holmes sitzt mir
Dr. Watson am Kamin, und es schellt. Mit dem
Fenster wie mit einer Maske abgetan trat man
heraus und endlich nach außen, ins Freie. Da
lag die Welt oder das Symbol der Welt aller
unserer früheren und jetzigen Bücher,
die man immer wieder las, weil man sie
vergaß wie einen Traum. Das Licht in den
Buden brannte und hinter den Bäumen leuchtet
es vor, das Zigeunerweib hat das Grafenkind
gestohlen, Rumpelstilzchen haust wo die Fü
chse und Wölfe sich gute Nacht sagen, das
Zauberpferd steigt, der Magnetberg droht,
Zaleukos, so empfängst du deinen Gastfreund?
Lässig schlugen die Segel an den Mast der
Brigg, indessen saß Kilian in seiner Hü
tte, Mitternacht war längst vorüber und
ehe noch der Morgen graut, müssen die Yumas
umzingelt sein, Sam Hawkens, Old Wabble, Old
Death, Old Surehand, Old Firehand durchstreiften
die weite Prärie. Nscho-tschi leuchtete,
Winnetou umarmte Old Shatterhand und nun erst
wurde er erkannt, der Blizzard rast, der Hurrikan,
der Monsun, der Taifun, dumpf setzt er an, wie
eine überblasene Baßtrompete, und nun
schwang sich die Fahrt herüber, fort vom
Furche la fave, von Little Rock, vom öden
Llano estacado und den Rocky Mountains, tief ins
heiße wimmelnde Asien, den Weg herauf von
Bagdad bis Stambul, treu reitet Halef zur Seite,
der verfolgte Krumir macht selbst den Führer
über Schott Dscherid, den furchtbaren
Salzsee. Kräftig begegnen sich Licht und
Finsternis, Omar und Abrahim Mamur, Schimin der
Schmied, der Bettler Busra, der alte Mübarek,
der Tod des Schut und das Reich des silbernen
Löwen. Wie das alles ineinander schä
umte, so nährte und umklang es die
Knabenseele, mischte ihr die Sehnsüchte,
immer heftiger glühten Mädchen,
energische Gelage, Tausendundeine Nacht herein.
Über den Tälern, Ebenen, Schluchten,
Gebirgen, gefährlichen Städten leuchtete
bald das Nordlicht erster metaphysischer Ahnung.
Kurz, es gab keinen Alltag in dieser Zeit,
jenseits der Schule; alles war übertrieben
oder wurde gänzlich still, in der ersten
Liebe, an den Wassern des Rokokogartens, im Lesen
der ersten spekulativen Bücher.
Manchmal stelle ich mir vor, daß ich in einem
etwas trostlosen Raum sitze. Auf einem
Plastikstuhl, wie man sie in Polizeiwachen oder
anderen Behörden findet. Umgeben von vielen
stillen Menschen, die leicht nach vorne gebeugt
dasitzen, als betrachteten sie etwas auf ihren
Knien. Und dann stehe ich auf und sage laut und
mit zitternden Händen: "Mein Name ist boeki und
ich bin Buchsüchtig" und alle um mich herum
strahlen mich an und der erste Schritt der
Therapie ist gemacht. Läuft das so nicht angeblich
bei den Anonymen Alkoholikern? Was für ein Glück,
dass die Lesesucht zwar auch abhängig macht, aber
wesentlich weniger Nebenwirkungen zeigt. Nein,
ernsthaft! Selbst wenn es die Anonymen
Buchsüchtigen geben würde, würde ich bestimmt
nicht hingehen, denn diese Art von Sucht ist ja
eigentlich ganz schön. Eigentlich? Nun ja, bei mir
läuft das meistens so ab wie heute: Ich habe hier
einen Stapel von sagen wir mal 15 Büchern, die ich
lesen möchte. Nachher darf ich mir zwei Pakete bei
der Post abholen, die bestellte Bücher erhalten.
Und eigentlich wollte ich in die Stadt gehen und
meinem Süßen das schönste Geschenk der Welt
kaufen. Und womit komme ich wieder? Jepp, ihr
werdet es erraten haben, mit einer Tüte voller
Bücher. Weil es die doch gerade auf dem
Grabbeltisch gab (miese Ausrede) und ich sie
sowieso mal kaufen wollte (schwache Ausrede) und
die zwei kleinen Bücher, die ich dann noch
mitgenommen habe, naja, die waren nicht reduziert,
aber wenn ich doch schonmal hier bin..... AHHH!
Ich besitze ungefähr 500 handfeste Ausreden, warum
ich mir ein Buch gekauft habe (S-Bahn verpasst, es
regnete, die Sonne schien, es schneite) und ich
genieße immer wieder das Gesicht des besten Mannes
der Welt, wenn er mir ungläubig zu hört und
währenddessen vermutlich überlegt, wann er wohl
die Zeit und die Kraft findet, mal wieder die aus
allen Nähten platzenden Regale aufzustocken. Aber
wenn ich dann sein verschmitzes Lächeln sehe, weil
ich mich mal wieder mit Händen und Füssen um Kopf
und Kragen rede, dann glaube ich, habe ich heute
zumindest doch eine Art Geschenk gefunden.
[© boeki]
... während sie seinen Kaffee trank (mit dem sie hin und
wieder sogar antiquarische Rarissima befleckte - ihr
Respekt vor jede Erscheinungsform von Büchern war
gering. (Heinrich Böll: Gruppenbild mit Dame, S. 42)
... Gutenachtlektüre, nahm ich an. Aus einer
öffentlichen Bücherei geklaut, aber das hatte keine
Bedeutung: Viele ansonsten unbescholtene Bürger
glauben, daß Bücherklauen nicht zählt. (Kyril
Bonfiglioli: Charlie Mortdecai in Das große
Schnurrbart-Geheimnis, S. 129)
"Nehmt einige Bogen Papier und schreibt drei Tage
hintereinander ohne Falsch und Heuchelei alles
nieder, was euch durch den Kopf geht. Schreibt, was
ihr denkt von euch selbst, von euern Weibern, von
dem Türkenkrieg, von Goethe, vom Kriminalprozess,
vom Jüngsten Gerichte, von euern Vorgesetzten – und
nach Verlauf der drei Tage werdet ihr vor
Verwunderung, was ihr für neue, unerhörte Gedanken
gehabt, ganz außer euch kommen. Das ist die Kunst,
in drei Tagen ein Originalschriftseller zu werden."
Lesen ist für mich seit je Luxus gewesen und bald
eine Sucht. Meine Jugend verlief, um es mild
auszudrücken, unregelmässig. Mit fünfzehn zog ich
nach Mexiko, mit sechzehn ging ich nicht mehr zur
Schule. Mit siebzehn war ich im Begriff, verrückt
zu werden. Das einzig Beständige in jener Zeit
ist, paradox genug, die Literatur gewesen, das
Unsicherste überhaupt. Bücher besassen einen ganz
besonderen und dazu geheimen Glanz. Zu lesen war,
als sei man unermesslich reich und niemand wüsste
davon. Ein deutscher Minnesänger hat das so
ausgedrückt: Er reite in einer Rüstung in den
Krieg, aber darunter trage er das Kleid eines
Narren.
[Die Neue Zürcher Zeitung frage Roberto Bolano:
Gibt es einen erträumten Leser? - Er antwortete:]
Ja. Den, der sich gründlich mit dem Gesamtwerk
eines Schriftstellers beschäftigt. Nur ein
einziges Buch von Camus zu lesen, scheint mir zum
Beispiel unverzeihlich. Oder ein einziges Buch von
Flaubert. Oder von Stendhal. Man muss alles von
Stendhal lesen, muss seine Bücher suchen, sammeln,
liebkosen. Eine andere Art des erträumten Lesers
ist der romantische Leser, der den "Werther" liest
und dann Schluss macht, indem er sich eine Kugel
in den Kopf schiesst; oder der, der Kerouac liest
und auf einer Landstrasse im Regen endet, beim
Trampen; oder der, der den Science-Fiction-Autor
Philip K. Dick liest und dann beginnt, finstere
Komplotte zu schmieden. Aber das geht vielleicht
zu weit. Ich möchte nicht, dass meine Leser
leiden. Ich möchte nicht, dass sie jung sterben.
Ich bin aufs Schreiben und auf die Kritik verfallen und
muß gestehen (meiner Mängel bewußt und diese
bedauernd), daß ich mit sehr erinnernder Wonne
wiederlese und daß neue Lektüren mich nicht begeistern.
Ich neige längst dazu, ihre Neuheit zu bestreiten, sie
in Schulen, Einflüsse, Mischungen zu übersetzen. Ich
vermute, wenn sie ehrlich wären, würden alle Kritiker
auf der Welt (und sogar einige in Buenos Aires) das
gleiche sagen. Es ist ganz natürlich: Die Intelligenz
ist sparsam und ordnend, und ein Wunder erscheint ihr
als schlechte Gewohnheit. Dies einzuräumen heißt
bereits, sich zu disqualifizieren.
Die gerechte Zuteilung des Ruhms ist eines, die reine
ästhetische Wonne etwas anderes. Mit Bedauern habe ich
bemerkt, daß jeder, indem er viele Bücher liest, um sie
zu beurteilen (und die Aufgabe des Kritikers ist nichts
anderes), zum bloßen Genealogen von Stilen und Fahnder
nach Einflüssen werden kann. Er lebt mit dieser
erschreckenden und fast unaussprechlichen Wahrheit:
Schönheit in der Literatur ist ein Zufall; sie hängt ab
von Sympathie oder Antipathie gegenüber den vom Autor
manipulierten Wörtern, und sie ist nicht mit Ewigkeit
verknüpft. Epigonen, die längst poetisch behandelte
Themen aufgreifen, erreichen gewöhnlich Schönheit;
Erneuerer fast nie.
Eine zarte und sichere Unsterblichkeit (zuweilen
errungen von Menschen, die gewöhnlich sind, aber
ehrliche Hingabe und langwierige Inbrunst besitzen) ist
die des Dichters, dessen Name mit einem Platz auf der
Welt verbunden ist. So die Unsterblichkeit von Burns,
die auf Schottlands Äckern und gemächlichen Flüssen und
Hügelzügen, liegt; oder die unseres Carriege, die am
verschämten, verstohlenen, fast verschütteten südlichen
Stadtrand von Palermo überdauert, wo extravagante
archäologische Mühsal das leere Grundstück
rekonstruieren kann, dessen gegenwärtige Ruine das Haus
ist, und den Schnapsladen, der Warenhaus wurde. Es
kommt auch vor, daß jemand in ewigen Dingen unsterblich
wird. Der Mond, der Frühling, die Nachtigallen
verkünden Heinrich Heines Glorie, das Meer, das grauen
Himmel erduldet, die von Swinburne, die langen
Bahnsteige und Landungsbrücken die von Walt Whitman.
Aber die besten Unsterblichkeiten - die zur Domäne der
Leidenschaft gehören - sind noch unbesetzt. Es gibt
keinen Dichter, der die totale Stimme des Liebens, des
Hassens, des Todes oder der Verzweiflung wäre. Das
heißt, die großen Verse der Menschheit sind noch nicht
geschrieben. Es ist dies eine Unvollkommenheit, die
unsere Hoffnung aufmuntern sollte.
Kein Mensch kann zweitausend Bücher lesen. In den
vier Jahrhunderten, die ich jetzt lebe, habe ich nicht
mehr als ein halbes Dutzend bewältigt. Außerdem
kommt es nicht auf das Lesen an, sondern auf das
Wiederlesen. Der Buchdruck, der heute abgeschafft
ist, war eins der schlimmsten Übel der Menschheit,
denn er lief darauf hinaus, überflüssige Texte zu
vervielfältigen, bis einem schwindlig wurde. (Jorge
Luis Borges: Spiegel und Maske. Erzählungen 1970
bis 1983)
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