Geschichte & Politik (2) [<<]

Historie, Zeitgeschehen & Gesellschaft [^^] [^]


Themenstreusel: Politik
Themenstreusel: Geschichte
Karrierestufen
Das Volk, die traurige Masse
Zwang & Gewalt
Ein neues Herz
Die Welt ist finster geworden
Political incorrect
Der fünfmilliardste Bewohner
Die heraufziehende Apokalypse
Alles ein Filz
Mißtrauensvotum 1982
Bah, Kleinigkeit!
Vorkriegszeit 1914
Im Mittelalter
Eine kaltblütige Zeitgenossin
Hochrangige Rechtsnormen
Hamstern
Massaker in Moabit
Die Welt aus den Fugen
Betriebswirtschaft & Erster Weltkrieg
GB 1973/74
Marode englische Wohnungen
Bigotte Industrie
4 Jahreszeiten der Kriege
Der überforderte Gott
Alte Nationen
Marode Schulen
Bespuckte
Über Israel (nicht) reden
Trotz der Unversorgten
Die viel zu große Geschichte
Angst
Futterneid
Sport & Diktatur
Mengele
Absinkende Innovationskurve
Rebound-Effekt
Folgen der Pferdehaltung
Differente Subgruppen
Läuse im Krieg
Erster Weltkrieg & USA
Fantasien zur Landnahme
Wiener Studenten
Verteilte Furcht
Aus dem Lager
Kaserne und Wehrpflicht
Viel Armes Fließt Zu Wenig Reichem
Kriegserklärung
Schweden
Zur Raison kommen
Ein Gegner des Kaisers
Vor dem ersten Weltkrieg
Nationalsstolz
Auswirkungen des Krieges


Karrierestufen

Er war der Sohn eines Beamten, der in Petersburg in verschiedenen Minsterien jene Laufbahn vollbracht hatte, welche die Leute endlich in eine Stellung bringt, aus der sie wegen ihres langen Dienstes und hohen Ranges nicht mehr hinausgejagt werden können, wiewohl es sich erwiesen hat, daß sie zu keinem ernsthaften Amt wirklich taugen. Sie erhalten darum dann auch eigens für sie ausgedachte fiktive Posten und durchaus nicht fiktive sechstausend bis zehntausend Rubel jährlich, von denen sie dann noch bis ins höchste Greisenalter leben. (Lew Tolstoj: Sämtliche Erzählungen, Band 4)  ^


Das Volk, die traurige Masse

Ihr habt euerm Stimmvieh gut vorschwatzen, daß ihr hohe Ideen und nationale Heiligtümer aufrichten wollt; es ist ein oft gekauter Fraß, den ihr ihm auf den Tisch setzt. Da es ihn gehorsam hinunterschlingt, habt ihr recht. Nur bildet euch nicht ein, daß das, was dann Hoch und Hurra schreit, und euch den Hokuspokus glaubt, das Volk ist oder gar die Nation. Ihr seid eine Phalanx von Professoren, Hofräten und Generälen, und die euch den Begeisterungsschwindel vorspielen, ist die traurige Masse derer, denen ihr ein Jahrhundert lang eingetrichtert habt, daß Professoren, Hofräte und Generäle die Blüte des Vaterlandes sind. Volk, o Gott. Volk ist etwas anderes. Wenn ich mich unters Volk mische, spür ich es wie einen einzigen Leib, spüre, wie dieser Leib zuckt und sich windet und kein Ende sieht der Qualen und nur für seinen armseligen Bissen Brot zittert. (Jakob Wassermann: Faber oder die verlorenen Jahre) ^


Zwang & Gewalt

Die ganze Geschichte der Menschheit sei das Resultat von Zwang und Gewalt, eine fortlaufende Kette von Blutopfern, Schlachtengreueln, Bruderkriegen, Verfolgungen, Hinrichtungen und von Mord in jeglicher Form. Gegen einen Friedensbringer und Propheten der Schönheit und des Glücks träten immer tausend auf, die Haß und Vernichtung predigten, Völkerhaß, Rassenhaß, und was ihnen an triftigen Argumenten fehle, ersetzten sie durch Lüge, durch nichts als Lüge, und von nichts erfüllt und getrieben als von Ehrgeiz, Konkurrenzneid, Machtgier und Besitzgier. Niemals habe ein großer Arzt, ein großer Erfinder, ein großer Astronom auch nur annähernd soviel Verehrung und Ruhm genossen wie diejenigen, die ihre Mitmenschen zu Millionen in den Tod gehetzt, und wer immer sich dawider auflehne, dessen Rede werde erstickt und dessen Andenken vertilgt. (Jakob Wassermann: Faber oder die verlorenen Jahre)  ^


Ein neues Herz

"Früher hat eine strenggewohnte Ordnung die Glieder zur Leistung verpflichtet", sagte sie sanft. "Pflicht war hart und lieblos geworden, aber sie war. Jetzt reißt eingebildete Freiheit die Verbindungen entzwei, und den Menschen wird allmählich von außen her nichts mehr gewährt, als was sie durch Gewalt oder Betrug erraffen. Aber Kritik, Klage, was nützen die? Auflehnung, was soll die? Neue Geschlechter werden erscheinen, und die müssen ein neues Herz mitbringen." (Jakob Wassermann: Faber oder die verlorenen Jahre)  ^


Die Welt ist finster geworden

Die Welt ist finster geworden, Sohn. Der Geist hat abgedankt und ist ins Grab gestiegen. Nun treiben die Gespenster ihren greulichen Unfug. Frömmelei und Wirklichkeitsflucht sind am Werk, um frech zu zerstören, was wir mit unserer Herzenskraft mühselig aufgebaut haben. Jammervoll hat die Zeit in den Seelen der Menschen gehaust, wer leugnets? Aber früher lebten wir auch nicht im Garten Eden, und wenn man verzweifeln wollte, gabs doch ein paar aufrechte Streiter, mit denen man Sturm lief gegen den Feind. Wo sind sie? Es ist keiner mehr da. Die Schwärze hat sie verschluckt, und wer das Wort Freiheit in den Mund nimmt, läuft Gefahr, gesteinigt zu werden. (Jakob Wassermann: Faber oder die verlorenen Jahre) ^


Political incorrect

"Man kann leider keine jüdischen Witze mehr erzählen, ohne in den Geruch des Antisemitismus zu kommen. Außer man ist selbst Jude. Erzähle ich so einen Witz, behaupte ich notfalls, ich sei Jude. Das ist ja schwer nachzuprüfen außer in der Sauna, doch erstens gehe ich nicht in die Saune und zweitens würde ich dort keine jüdischen Witze erzählen, wahrscheinlich überhaupt keine Witze. Noch gefährlicher ist es mit Zigeunerwitzen. Man darf ja nicht einmal mehr das Wort Zigeuner benutzen, ohne gegen das, was ich als 'Political Incorrectness' bezeichne, zu verstoßen. Ich benutze es dennoch, denn ich habe nichts gegen Zigeuner, im Gegenteil... Wenn ich Ihnen also versichere, daß ich weder gegen Lehrlinge etwas habe, wenn ich sie Lehrlinge und nicht Azubi nenne, nichts gegen Neger, wenn ich sie Neger und nicht - ja, wie? Wie darf man Neger 'political incorrect' nennen? Das ändert sich, habe ich den Eindruck, stündlich. Ich habe nichts gegen Putzfrauen, wenn ich sie Putzfrauen und nicht Reinigungsdamen nenne, ich habe nichts gegen Bäume, wenn ich sie Bäume nenne, und ich habe nichts gegen Zigeuner, wenn ich sie Zigeuner nenne. (Herbert Rosendorfer: Die Donnerstage des Oberstaatsanwalts) ^


Der fünfmilliardste Bewohner

Erst kamen noch die Nachrichten, für die sich natürlich niemand interessierte. (...) Bis die Kamera auf einen Schleimklumpen in den Händen eines strahlenden Chirurgen zoomte, in einem Land, das damals noch Jugoslawien hieß. Da hatte der Bildschirm auf einmal eure volle Aufmerksamkeit. Gesandte der Vereinten Nationen standen lachend und kameragewohnt um das Bett einer Frau, die sich die vergangenen vierzehn Stunden dumm und dusslig gepresst hatte. Während zwischen ihren Beinen wieder zusammengenäht wurde, was dort allzu weit auseinandergerisssen worden war, hielt man ihr ein Bukett Blumen und ein Mikrophon vor die Nase. Ob sie glücklich sei? Sie war soeben Mutter von Matej Gaspar geworden, dem fünfmilliardsten Bewohner dieses Planeten, dem fleischgewordenen Symbol der Überbevölkerung. Bravo, bravo, bravissimo. (Dimitri Verhulst: Die Unerwünschten)  ^


Die heraufziehende Apokalypse

... gibt einen stichwortartigen Überblick über die heraufziehende Apokalypse: der drohende Zerfall der Europäischen Union, die Rückkehr des Nationalismus, die neue Salonfähigkeit des Rassismus und der Bigotterie, die demokratisch gewählten Despoten, die ihre Länder, mit Einverständnis der Bevölkerung, in Diktaturen transformieren – ein Vorgang, der einen an der Sinnhaftigkeit der Demokratie selbst zweifeln lasse –, der um sich greifende Antiintellektualismus, den die Intellektuellen selbst zu verantworten haben, und die damit einhergehende Legitimation der Ignoranz, die offen geäußerte Sehnsucht nach starken Führern, der moralische Bankrott der Wirtschaftseliten, die sich benehmen wie die letzten Gebrauchtwagenhändler, die drohende nächste Wirtschaftskrise, der die Zentralbanken nichts entgegenzusetzen haben werden, weil sie das Geld gar nicht mehr billiger machen können und demzufolge ihren letzten Pfeil im Köcher bereits verschossen haben, die Freihandelspolitik, kombiniert mit einem protektionistischen Subventionssystem, welches die Millionen Armen des Südens in den Norden treibt, die Stagnation des Wirtschaftswachstums, trotz digitaler Revolution, die Alternativlosigkeit des Kapitalismus, obwohl dieser zwangsläufig zu einem immer steiler werdenden Wohlstandsgefälle führt, welches dem System selbst, in naher Zukunft, die Beine wegziehen wird... (Jonas Lüscher: Kraft) ^


Alles ein Filz

"Ich weiß nicht, wen ich wählen soll. Entweder man muss Typen wählen, die man nicht kennt und die behaupten, sie hätten in den dunklen Kriegszeiten dem Vaterland gedient, im Untergrund, wovon unsereiner nichts mitgekriegt hat, oder man kennt sie aus den Jahren vor vierzig, und das sind dann die Typen, die sich nach London verdrückt haben, weil sie die Hosen voll hatten. Und wenn nicht sie, dann ihr Onkel oder ihr Schwager." "Die verschiedenen Richtungen, damit streuen sie den einfachen Bürgern nur Sand in die Augen. Es ist doch alles ein Filz. Gewerkschaftler, Abgeordneter, Aktionär, Militär. Und die Zeitungen vertreten nur scheinbar verschiedene Standpunkte, weil sie sich dann besser verkaufen, aber alles ist diktiert und abgesprochen. Wir bewegen uns ein bisschen nach links und dann ein bisschen nach rechts, ein Tango, aber vor allem bringen wir unsere Schäfchen ins Trockene." (Hugo Claus: Der Kummer von Belgien) ^


Mißtrauensvotum 1982

Als der Bundeskanzler in einem dunklen Dreiteiler mit einer schmalen silberblauen Krawatte, das dichte graue Haar zur Seite gekämmt, in ungemein staatsmännischer Gelassenheit, ja, Kraft fand, dass sogar vom geräuschvollen Abhusten des Kettenrauchers etwas Staatsmännisches ausging, als Erster ans Rednerpult trat und es bereits im ersten Satz fertigbrachte, ganz nonchalant von sich in der dritten Person zu sprechen und damit den geplanten Kanzlersturz von Anfang an wie einen von einem beleibten Riesen angezettelten Zwergenaufstand erscheinen zu lassen. Dieser Mann, das wusste Kraft genau, hatte das Format eines großen Staatenlenkers, und, wovon für Kraft eine noch größere Faszination ausging, er trug eine Lockerheit zur Schau, die es, so kam es ihm vor, in diesem Land überhaupt noch nie gegeben hatte. Mit allen Großen dieser Welt sprach Schmidt auf Augenhöhe; neben Carter saß er breit lachend, Dynamik und Entschlusskraft ausstrahlend, neben Giscard d’Estaing stehend wirkte er wie ein besonnener Intellektueller und verströmte Esprit und Charme, und Honecker degradierte er durch seine bloße Anwesenheit zu einem kleinen Mann unter einer viel zu großen Pelzmütze. Seine Zweifel wurden auch nicht durch den Auftritt Rainer Barzels ausgeräumt, der für die Opposition das Misstrauensvotum zu begründen hatte und keineswegs mit weniger Selbstvertrauen als sein Vorredner auftrat, dabei aber weder elegant noch souverän wirkte, sondern wie ein überheblicher Schulhoftyrann, der vom Oberstudienrat die Pausenaufsicht übertragen bekommen hat. Der Kanzler saß derweil hinter der Regierungsbank in seinen Sessel geflegelt, pfiff sich seelenruhig eine Ladung Schnupftabak nach der anderen in die Nasenlöcher und schaffte es dabei auszusehen, als schlürfe er Austern. Sicherlich, in ihrer Überheblichkeit nahmen sich die beiden Männer nichts, aber während Barzels Überheblichkeit etwas Rohes anhaftete, wirkte Schmidt, als stünde ihm die seine zu. (Jonas Lüscher: Kraft) ^


Bah, Kleinigkeit!

... ein Gewimmel, eine Menschenmenge, in der sich französische Soldaten und deutsche Gefangene mischten, Blonde, Brünette, die eingefallenen Gesichter der Sterbenden, die bleichen, erstaunten Mienen der zum ersten Mal verwundeten Kinder, die zu prahlen, den Kopf hoch zu tragen, zu lächeln versuchten, die Bauern, die "Aua, aua" sagten und stöhnten und sich ihren Schmerz aus dem Leib reißen zu wollen schienen, als zögen sie eine tiefsteckende Pflugschar aus dem Morast die Schwachen, die weinten wie Frauen, die Stummen, die Mutigen, die Feigen und jene, die schamlos sagten: Was für ein Dusel! Für mich ist Schluß, wenn sie eine "gute Wunde" hatten, und auch solche, die wie in den Zeitungen, die den Patriotismus der Menge schüren sollten, schmerzensbleich murmelten: "Bah, Kleinigkeit! Das wird man schon wieder hinkriegen." (Irène Némirovsky: Feuer im Herbst) ^


Vorkriegszeit 1914

Der gesegnete Moment, an dem der Franzose sich sagen kann: "Ich habe gut gesät. Jetzt werde ich ernten." Und im Geiste ordnet er die Zukunft. Jedem Ereignis weist er in der Abfolge der Jahre ein genaues Datum zu: 'Im Oktober werde ich mich niederlassen. Im zweiten Jahr werde ich ans Meer fahren können...' Sein Leben ist von vornherein festgelegt, bis zum Erfolg, bis zum Alter, bis zum Tod vorgezeichnet. Denn natürlich gibt es den Tod. Er hat seinen Platz in den häuslichen Berechnungen. Aber es ist kein wildes Tier, das auf der Lauer liegt, bereit, loszuspringen. Wir befinden uns im Jahre 1914, zum Teufel! Im Jahrhundert der Wissenschaft, des Fortschritts. Vor diesem Licht macht sogar der Tod sich ganz klein. (Irène Némirovsky: Feuer im Herbst) ^


Im Mittelalter

(Was einen vor Schreikrämpfen bewahrt... nun, das ist vielleicht ein bißchen übertrieben... sagen wir, es erleichtert einem die Arbeit, wenn man ein Gespür dafür hat, wie die Dinge damals waren. Worauf ich hinauswill, ist, daß man sich erst einmal einen Zugang zum Mittelalter schaffen muß, um die Zusammenhänge zu begreifen. Die Menschen damals waren nicht einfach wie wir, nur in prächtigen Kleidern, die Höhergestellten geihrzt und geeuchzt und "Gehabt Euch wohl" gesagt und sich überhaupt einer für unsere Ohren geschraubten Sprechweise bedient haben. Im Gegensatz zu uns standen ihnen nur wenige Arten der Zerstreuung zur Verfügung - zwischen Geburt und Tod, Schlaf, Arbeit und den Gebeten, die sie an den allmächtigen Vater und seinen leidgeprüften Sohn richteten, wenn das Leben sie mal wieder arg beutelte. (J.L. Carr: Ein Monat auf dem Land)  ^


Eine kaltblütige Zeitgenossin

Ich lese, höre und schaue Nachrichten, News, Kommentare, Brennpunkte, immer, wenn etwas passiert; ich fühle mich aufgerufen, bedroht und unbeteiligt, ich google wieder und wieder IS und TTIP, Syrien und Lampedusa, NSA und Ukraine. Eine düstere Unterhaltsamkeit, geschäftiges Surfen, sich ein Bild machen, mitreden, wenn der Tsunami oder Ebola oder die Kernschmelze kommen, es ist entsetzlich, das Entsetzliche so gut verarbeiten zu können. Nichts wirft mich aus der Bahn, niemals will ich die Tasche packen und helfen, aber andere tun das, sie ziehen Schutzanzüge an und stehen vor Ort bei den Menschen und tun das, was sie am besten können, sie nähen, fotografieren, reparieren, füttern oder trösten, oder, was auch ich könnte: sie schreiben. Ich tue es nicht, und genauso wenig höre ich weg (beides geht nicht), ich bin eine kaltblütige Zeitgenossin. Halbherzig lasse ich die Ereignisse in mich hineinrieseln, fadenscheinige Empörungsspuren ziehen sich durch die nächsten Tage, ich lese den Argumenten noch eine Weile hinterher, aber schon schlägt die nächste Kugel ein. (Annette Pehnt: Briefe an Charley) ^


Hochrangige Rechtsnormen

Je hochrangiger die Rechtsnorm, desto großzügiger und näher ist sie den großen Prinzipien, die das Recht (mit betontem Artikel) begründen. Regierungen mögen per Verordnung kleine Niederträchtigkeiten begehen, doch die Verfassung oder die Menschenrechtserklärung können diese ächten und sich in der himmlischen Sphäre der Tugend bewegen. Glücklicherweise stehen die Verfassung oder die Menschenrechtskonvention höher als nationale Verordnungen, und man wäre herzlich dumm, dieses Ass nicht aus dem Ärmel zu ziehen, um die Winkelzüge eines Buben oder selbst eines Königs zu hintertreiben. (Emmanuel Carrere: Alles ist wahr)  ^


Hamstern

Das Gutshaus, sämtliche Scheunen und Lager auf Sauermühle und Umgebung wurden von Mindel sofort nach der Kriegserklärung bis zum Rand mit Lebensmitteln vollgestopft. Im Reich wollte man tatsächlich allen weismachen, der Krieg wäre eine Art forscher Osterspaziergang, auf dem man hier und da Salut schießt. Ansonsten müsste man nur die eleganten Uniformen mit etwas Pulverdampf lüften, um nach höchstens drei Monaten mit allen afrikanischen Kolonien im Sack wieder heimzukehren. In tiefem Misstrauen gegen solches Maulheldentum und derlei Traumtänzereien verschickte Mindel zur Kriegserklärung sofort teure Blitzdepeschen in alle Richtungen: +++ Die Kluge baut vor! VORRÄTE!!! Eilt! +++ Sie verwendete entgegen aller Gewohnheit dieses Mal ein teures Telegramm mit sechs Wörtern, für das normalerweise auch nur zwei Silben genügt hätten: »Hamstern«. Doch dieses Wort war im Kaiserreich verboten, es stand unter Strafe. Überall schnüffelte die kaiserliche Geheimpolizei nach vermeintlichen Defaitisten. Nach der Blitzdepesche an alle Kohanim-Töchter gingen Eilbriefe ab mit einer ausführlichen Liste von Lebensmitteln, Wein, Öl, Schnaps, Seifen, Stoffen, Wolle, Leder, Garnen, Nähnadeln, Knöpfen, Nägeln und worauf bei der Einlagerung zu achten wäre, wo man Rabatte erhalten könnte und dergleichen mehr. (Marcia Zuckermann: Mischpoke!)  ^


Massaker in Moabit

In Berlin, München oder Kiel schoss alle fünf Minuten irgendwer in die trostlose deutsche Luft, um die eine oder andere Revolution auszurufen. (...) Neuntausend bewaffnete Spartakisten standen an einem Märztag auf dem Alexanderplatz an die vierhundert unbewaffneten, meist übergewichtigen älteren Offizieren, die die Gicht plagte und die auch sonst nicht sonderlich gut zu Fuß waren, gegenüber. Unter ihnen an vorderster Front General von Hoffmann und Admiral von Tirpitz. Das Volk verstummte. Kein Schuss fiel. Wie hypnotisierte Kaninchen starrten die Arbeiterführer auf die Uniformen der Generäle. Offenbar waren sie plötzlich eingeschüchtert durch den Glanz der alten Macht. Schließlich sprachen die hohen Herren ja mit ihnen! Diese wussten die Situation zu nutzen: Als hätten sie Kreide gefressen, appellierten sie treuherzig, dass Deutsche nicht auf Deutsche schießen dürften. Tatsächlich ließen sich die Aufständischen von nur fünfundzwanzig dicklichen, graubärtigen Offizieren, denen vor Angst die gichtigen Finger zitterten, übertölpeln und widerstandslos entwaffnen. Der Lohn für diese friedfertige Gutgläubigkeit folgte auf dem Fuß. An die zweitausend Spartakisten, darunter viele Frauen und Kinder, die nach der abgesagten Revolution brav den Heimweg in ihre Arbeiterquartiere im Wedding und Prenzlauer Berg antreten wollten, wurden von kleinen Stoßtrupps im Hof des Untersuchungsgefängnisses Moabit zusammengetrieben. "In Gruppen zu je fünfundzwanzig Personen wurden die Männer, Frauen und Kinder aneinandergefesselt mit drei Maschinengewehren niedergeschossen. Das Massaker dauerte vier Stunden", berichtete<(a> der einzige Augenzeuge, der amerikanische Reporter Ben Hecht, der auf einen Baum geklettert war und so die Vorgänge im Hof des Untersuchungsgefängnisses beobachtet hatte. Keiner deutschen Zeitung war das eine Meldung wert. (Marcia Zuckermann: Mischpoke!) - (Anmerkung: 2000 Zivilisten wurden damals hingerichtet) ^


Die Welt aus den Fugen

Mit dem Ende des Krieges zeigten sich auf den Straßen Berlins neue Wesen. Als Sinnbild der Epoche sah man auf dem Kurfürstendamm einen Hund auf dem Rücken seines Herrn. Dem Herrchen hatte man an der Front das Rückgrat gebrochen und seine Beine trugen ihn nicht mehr. Der bettelnde Kriegsinvalide kauerte deshalb auf einem Rollbrett mit zusammengefalteten, unbrauchbaren Beinen fünf Zentimeter über dem Straßenpflaster, das eine Parallele zu seinem Oberkörper bildete. Obenauf ritt der Hund auf dem Rücken seines Herrn. Und der abgedankte Kaiser ging in Holland Holz hacken! Grotesker konnte die Welt nicht aus den Fugen sein, meinte man. (Marcia Zuckermann: Mischpoke!) ^


Betriebswirtschaft & Erster Weltkrieg

Bei der ältesten Kohanim-Schwester, in Gerson und Fanny Segals Schneideratelier in der Berliner Leipziger Straße, herrschte zu dieser Zeit eine fiebrig-hektische Geschäftigkeit. Unzählige Offiziersuniformen für hochgestellte Persönlichkeiten warteten auf ihre Fertigstellung. Die Kundschaft drängelte sich im Atelier und war noch ungeduldiger und unleidlicher als sonst. Fast schien es so, als könnten sie alle nicht schnell genug auf das Schlachtfeld, um ihr Blut auf den Äckern der Normandie und in den Weiten Russlands zu vergießen. (...) Trotz des ganzen Hochbetriebs war den Segals nicht wohl zumute. "Das ist alles Panikblüte", brummte Gerson verdrießlich. (...) "Was, wenn sich der Krieg hinzieht? Was, wenn der Krieg viele Opfer fordert, auch unter unserer Kundschaft?" (...) "Gerson, ich weiß, dass du das nicht gern hörst. Aber wir sollten unser Geschäft sofort auf Damenbekleidung des mittleren Genres umstellen und künftig für die großen Kaufhäuser arbeiten." Für einen Herrenmaßschneider, der sich als die Krone seiner Zunft betrachtete, war ein derartiger Vorschlag in etwa so, als wolle man einen Erzkatholiken dazu bewegen, Martin Luther die Hand zu küssen. (Marcia Zuckermann: Mischpoke!) ^


GB 1973/74

Nihil novi sub sole. Oder: wie Lektüre einen an aktuelle Szenarien erinnern kann. In meinem Fall wurde ich bei Ian McEwans "Honig" daran erinnert, wie politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche (Schief)Lagen wiederkehren, wie sie sich ähneln, so daß der Erleuchtungseffekt beim Lesen enorm sein kann. "Wer regiert Großbritannien? (...) Die eigentliche Frage, das wusste das Land, lautete: wieder Heath oder wieder Wilson? (...) "Wer ist der Unpopulärere?", fragte ein Witzbold in einem Leitartikel. (...) Und so kam es, dass Edward Heath allen Vorhersagen zum Trotz (...) aus Downing Street ausziehen musste, und Harold und Mary Wilson für eine zweite Amtszeit zurückkehrten. (...) Alle waren müde, und (...) außerdem niedergeschlagen, weil das Land den Falschen gewählt hatte." Der IRA-Terror hielt Europa in Schrecken, der Jom Kippur Krieg die ganze Welt. Die wirtschaftliche Situation war durch die Ölkrise miserabel: "Das britische Empire, unser Sieg im Zweiten Weltkrieg treiben uns um und beschämen uns Heutige, aber warum nur diese elende Stagnation in den Trümmern unserer großen Vergangenheit? Die Kriminalitätsrate schießt in die Höhe, die allgemeinen Umgangsformen sind im Niedergang, die Straßen verdreckt, Wirtschaft und Moral liegen darnieder, unser Lebensstandard ist unter den der kommunistischen DDR gesunken, wir sind gespalten, zerstritten und bedeutungslos. Unruhestifter träumen von Aufruhr und demontieren unsere demokratischen Traditionen, im Fernsehen wird nur entsetzlich albernes Zeug gezeigt, Farbfernseher sind zu teuer, und alle sind sich einig: Es gibt keine Hoffnung, das Land ist am Ende, unsere Ära in der Geschichte ist vorüber." Und damals, als man die Grundlage für den Brexit geschaffen hat, nämlich durch Eintritt in die EU bzw. EWG, sah man das Ganze noch positiv: "Man forderte mich auf, etwas zum kürzlichen Beitritt Großbritanniens zum Europäischen Binnenmarkt zu sagen. Ich sei dafür, erklärte ich, das sei gut für die Wirtschaft, es werde unsere Isolation abmildern, unsere Esskultur verbessern."  ^


Marode englische Wohnungen

Die meisten Häuser in der Straße waren in mehrere Parteien unterteilt und unrenoviert, obwohl ich mich nicht erinnern kann, dass irgendjemand damals dieses Wort benutzt oder in solchen Kategorien gedacht hätte. Geheizt wurde mit Heizlüftern, Flure und Küchen waren mit uraltem braunem Linoleum ausgelegt, die anderen Räume mit geblümtem Teppichboden, der unter den Füßen klebte. Die kleinen Ausbesserungen stammten wahrscheinlich aus den zwanziger oder dreißiger Jahren - die Stromleitungen verliefen durch staubige, an die Wand geschraubte dünne Rohre, Telefon gab es nur im zugigen Korridor, der Boiler mit dem hungrigen Stromzähler speiste brühend heißes Wasser in das winzige, kalte Badezimmer ohne Dusche, das sich vier Frauen teilten. Diese Häuser hatten ihr düsteres viktorianisches Erbe noch nicht abgestreift, aber nie hörte ich jemanden darüber klagen. Wie ich es in Erinnerung habe, begann es in den Siebzigern den normalen Leuten, die in diesen alten Kästen wohnten, gerade erst zu dämmern, dass sie außerhalb der Stadt vielleicht angenehmer leben könnten, wenn hier die Preise weiter so anstiegen. (Ian McEwan: Honig) ^


Bigotte Industrie

Wir haben einen unterirdischen Tank für fünftausend Gallonen, aber Mobil weigert sich, ihn zu füllen, bevor wir unsere Rechnung bezahlt haben. Gleichzeitig sponsern sie scheinheilige Dokumentarfilme im Fernsehen über die Erhaltung des Singkranichs und des kleinen Weißlings im Großen Salzsee. Was ist das für eine Doppelzüngigkeit der Industrie? Rettet den Weißling und laßt die Menschen auf dem Weg zur Heiligkeit verrecken? (John Updike: S.) ^


4 Jahreszeiten der Kriege

Bagdad im Frühjahr.
Normandie im Sommer.
New York im Herbst.
Stalingrad im Winter.
Die vier Jahreszeiten der Kriege.
(Jaroslav Rudis: Nationalstraße)  ^


Der überforderte Gott

... daß Gott völlig überfordert gewesen sein muß in einem Weltkrieg, der von allen Parteien angerufene Gott, der von den Feinden, den Russen ebenso um Beistand angefleht wurde wie von den Franzosen und Engländern und Italienern und auf der anderen Seite von den Österreichern und erst von den Deutschen, der von allen Feinden und Freunden beanspruchte Gott, inbrünstig von Orthodoxen, Katholiken, Protestanten auf beiden Seiten der Front zur Parteinahme aufgefordert, genau wie der Heidengott Allah bei den türkischen Freunden und den Feinden auf dem Balkan. (Friedrich Christian Delius: Die Liebesgeschichtenerzählerin) ^


Alte Nationen

Leider hat er sich, wie alle echten Idealisten, in Träumen gewiegt, die auf dieser Erde nicht zu verwirklichen sind. Er glaubte zum Beispiel an einen europäischen Gemeinschaftsgeist. Holde Illusion! Die europäischen Nationen sind viel zu alt und verkalkt, um noch eine gemeinsame Basis zu finden. Nur junge, aufstrebende Völker haben noch diese Chance - und meistens ist es sehr fraglich, ob sie sie erkennen. Alte Nationen denken nicht mehr über ihr Privatinteresse hinaus. Ihr verstorbener Gatte, Madame, predigte die Republik im irrigen Glauben, die Nation könnte sich auf ihren Schwingen erheben wie der Phönix aus der Asche. (Wilkie Collins: Lucilla)


Marode Schulen

Dein Kind (...) kam aber mit sechs Jahren immer noch nicht in eine städtische Schule, in einen der schäbigen Ziegelkästen, die stinken nach fiskalischem Geiz, in überfüllte Klassen, in denen die Kinder der Armen die Streite ihrer Eltern ausschlafen, in denen unterbezahlte Lehrer mehr auf die eigene Verteidigung bedacht sein müssen als auf den Unterricht, in eine Welt, in der Hieb gilt und Stich und Schlag. Gefielen dir nicht die zerbrochenen Bänke, die stinkenden Toiletten, die öden Zementhöfe hinter deftigem Maschendraht? (Uwe Johnson: Jahrestage 1)


Bespuckte

Politiker, gleich welchen Couleurs, sind im Grunde zu bedauern. Ihre Präsenz wird selten wirklich goutiert. Man hält sie für ungebildet und ordinär, ein wenig in der Art, wie man einst über Fußballer dachte. Was sich freilich geändert hat. Fußballer dienen heutzutage als Ausblick in die große, weite Welt. Während Politiker für all die unerfreulichen Entwicklungen im eigenen Lande geradezustehen haben. Man spuckt auf die armen Kerle. Darum auch fungieren sie so selten als Zierde einer Veranstaltung. Wer möchte schon mit einem Bespuckten gesehen werden? (Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell)


Über Israel (nicht) reden

In Wirklichkeit aber überlegte Cheng, daß Ginette doch wohl kein jüdischer Name sei. Und das sagte er jetzt auch, obwohl ihm die Erwähnung von etwas Jüdischem oder explizit Nichtjüdischem ein wenig unangenehm war. Er hatte noch selten erlebt, daß bei diesem Thema etwas Gutes herauskam. Es war ein Thema, bei dem alle aggressiv wurden, die Juden wie die Nichtjuden wie die Halbjuden und die Möchtegernhalbjuden und natürlich die Möchtegernnichtjuden. Man konnte einfach nicht darüber reden, über Israel und solche Sachen, ohne daß ein jeder ungemein persönlich wurde, quasi auch zu sich selbst, sofort etwas bekennend oder eingestehend, eigentlich die ganze Zeit ungefragte Fragen beantwortend. (Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell)


Trotz der Unversorgten

... traf auf Leute in Cresspahls Alter, in verwahrloster Kleidung, mit einem fauligen Geruch, die sie fast mit Unhöflichkeit am Betreten des Hauses hindern wollten. Sie hätte sich gern damit begnügt, den Jungen zu bedauern, daß er von der Arbeit zurückkam zu schlampigen Eltern, in eine verschmutzte Wohnung. Sie mochte lange nicht glauben, daß andauerndes Leben ohne Arbeit und Einkommen solche Gleichgültigkeit erzeugte, für die die Ritchetts tatsächlich auch sich geschämt hatten wie für eine private Verfehlung. Dann bekam sie heraus, daß Perceval mit seinem Lohn auch noch aufkam für die Eltern, dazu Geschwister, weil das Arbeitsamt von Richmond an ihrer Bedürftigkeit kleine Zweifel hatte. Jetzt dachte sie sich hinter den kahlen Fenstern in den Arbeiterstraßen mehr solche verreckten Haushalte, und konnte nahezu den Trotz der Unversorgten verstehen, die nur noch auf der Straße und in der Kneipe, mit gelegentlicher Rasur und ramschiger Kaufhauskleidung, einen bürgerlichen Schein wahrten. (Uwe Johnson: Jahrestage 1)


Die viel zu große Geschichte

Europa lag in Trümmern. Die Armeen von Marschall Schukow und Marschall Montgomery hatten sich siegreich vom Kaukasus bis zum S- Bahnhof Bornholmer Straße, vom Monte Cassino bis zur Akazienstraße durchgeschlagen, die Berliner liefen lustlos herum, räumten ihre Steinhaufen auf und aßen ihre Kartoffelsuppe, der Marshallplan nahm in Washington schon Gestalt an, und hin und wieder war noch Frankling D. Roosevelts sonore Stimme im Radio zu hören. Per Albin Hansson spielte mit dem Gedanken, die Koalition mit den bürgerlichen Parteien fortzusetzen, da es jetzt in der Nachkriegszeit keine wirklichen Probleme mit den Parteien mehr gab, die befreiten Brudervölker hatten ihren Jubelsommer gehabt, und über seinem großen, spartanisch einfachen Mahagonischreibtisch im Kreml zündete sich Generalissimus Josef Stalin die achtzehnte kurze, breite Dunhillpfeife dieses Tages an, gestopft mit feinem kaukasischen Tabak, und blätterte mit kurzem, derben Fingern in einem Bericht über Probleme mit Güterwagen und Lokomotiven an der Dritten Weißrussischen Front. Über dem Stillen Ozean summten noch immer die Kamikazeflieger, die armen Teufel, mit ihren weißen Binden, und wußten, daß kein Mensch es je wagen würde, anders als respektvoll von ihnen zu reden, denn so beschissen ist ja nun mal das Leben, daß man sich durch nichts anderes Respekt verschafft als dadurch, auf alles zu pfeifen, und die Bomben, die über Hiroshima und Nagasaki abgeworfen werden sollten, existierten schon als Teile in den Fabriken, und die Geschichte war überhaupt viel zu groß für die Menschen. (Lars Gustafsson: Die Kunst den November zu überstehen und andere Geschichten)


Angst

Alles Unheil der Welt beginnt mit der Angst. Ich sehe nicht ein, warum Menschen sich Gott als einen modernen Diktator vorstellen müssen, der die Leute mit Maulkörben und Handschellen im Kreis herumlaufen läßt. Der ganze Dreck in Deutschland konnte nur entstehen, weil man die Menschen dort seit ewigen Zeiten in Angst gehalten hat. Kaum daß ein Kind geboren wird, soll es auch schon Angst vor Vater und Mutter haben. Dann muß es auch noch Vater und Mutter ehren. Wozu? Entweder man liebt seine Eltern, dann ehrt man sie sowieso, oder man liebt sie nicht, dann können die Eltern mit der ganzen Ehre verdammt wenig anfangen. - Also zuerst verlangt der Vater, daß sein Kind Angst gehabt hat. Dann kommt die Angst in der Schule vor dem Lehrer, die Angst in der Kirche vorm lieben Gott, die Angst vor militärischen oder anderen Vorgesetzten, die Angst vor der Polizei, die Angst vorm Leben, die Angst vorm Tod. Schließlich ist ein Volk so versklavt und verkrüppelt durch Angst, daß es sich eine Regierung wählt, unter der es in Angst dienen kann. Und nicht genug damit: wenn es dann andere Völker sieht, die nicht darauf versessen sind, in Angst zu leben, ärgert es sich und sucht nun seinerseits, ihnen Angst zu machen. Zuerst haben sie Gott zu einer Art Diktator gemacht, jetzt brauchen sie ihn nicht mehr, weil sie einen besseren Diktator haben." (Irmgard Keun: Kind aller Länder)


Futterneid

"Kann man jedoch billige Materialien bekommen", blieb Herr Schou bei seinem Thema, "dann liegt es nur noch am Arbeitslohn. Alle Besitzenden sollten sich schnell gegen diese Gewerkschaften rüsten. - Oder was meinen Sie", wandte Herr Schou sich plötzlich an Herrn Ask, "was ist Ihre Meinung über die verfluchte Sozialdemokratie, die uns die halbe Konjunktur ruiniert?" "Ich meine nichts", antwortete William Ask. "Das ist wohl eine Partei wie die andern - mit Führern, die auch an die Krippe wollen." (Herman Bang: Exzentrische und stille Existenzen. Erzählungen)


Sport & Diktatur

Warum haben alle totalitären Regime eine solche Affinität zum Sport? (Weil Sport erfahrungsgemäß verblödet und solche Regime die Verblödung des Volkes gerne sehen? Oder bringt Sport und die daraus folgende Verblödung überhaupt erst das Volkssubstrat für Diktaturen hervor?) Jedenfalls: Sportveranstaltungen dauern lang. Stundenlang hupfen sie über Hürden oder sowas. Und dann die Ein- und Auszüge mit Fahnen. Warum hat Sport eine solche Affinität mit Fahnen? Sollte doch zu denken geben. Gibt aber nicht zu denken. Wer Sport treibt, denkt nicht. Das schätzen Diktatoren. (Herbert Rosendorfer: Die Nacht der Amazonen)


Mengele

"In der Familie meines Vaters gibt es tatsächlich das Phänomen, dass die Männer etwa im Bar Mitzwa-Alter ihre maximale Größe erreichen, und Schluss. Ende der Fahnenstange! Länger wird’s nicht mehr! Das ist belegt, wir sind, soviel ich weiß, sogar von Mengele erforscht worden, ich meine, nur teilweise natürlich, vor allem die Hüft- und Oberarmknochen. Wir haben die Neugier dieses zurückhaltenden, feinen Mannes geweckt. Aus der Familie meines Vaters sind mindestens zwanzig an der Rampe an ihm vorbeimarschiert, Geschwister, Cousins, und ausnahmslos alle haben dank seiner entdecken dürfen: The sky is the limit. Nur mein Vater, der Bandit – für den Bruchteil eines Augenblicks leuchtet sein Gesicht auf –, hat das Rendezvous mit Mengele verpasst. Der hat im letzten Moment, bevor dort alles losging, die Biege nach Palästina gemacht, als Pionier. Meine Mutter dagegen ist ihm sehr wohl begegnet, diesem Doktor, mein ich, ihre ganze Familie ist vor dem aufmarschiert. Also, ich möchte mal sagen, in gewisser Weise war der für uns, was man auf Englisch einen family doctor nennt. Kann man doch so sehen, oder? Er klimpert treuherzig mit den Lidern in Richtung Publikum, das sich immer mehr verkrampft. Schon mal überlegt, wie viel der zu tun hatte, dieser Doktor? Die sind ja aus ganz Europa zu ihm gereist, die sind in den Zügen übereinandergeklettert, um zu ihm zu kommen, und trotzdem hat er sich Zeit genommen, sich jeden Einzelnen von uns genau anzusehen. Bloß eine zweite Meinung einholen durften wir nicht, unter keinen Umständen. Allein sein Wort galt! Und das Gespräch war kurz: Rechts, links, links, links, links – Vielleicht fünfzehnmal, ich bin mir nicht sicher, macht sein Kopf einen Linksruck wie ein hängengebliebener Sekundenzeiger." (David Grossman: Kommt ein Pferd in die Bar)


Absinkende Innovationskurve

Dass die meisten Wünsche und Träume der Wirtschaftswunderjahre von der Wirklichkeit überholt worden und abgestanden sind, zeigt sich auch an der radikal absinkenden Innovationskurve der einstmaligen Traumindustrien: Schon lange frage ich mich, warum die Astronauten zu dieser Weltraumstation fliegen, die da aus unerfindlichen Gründen im Orbit kreist; das ist doch nichts gegen die Mondlandung! Oder warum die Phantasie neureicher Gesellschaften nicht weiter reicht, als ein noch höheres Gebäude zu bauen – es wird ohnehin nie an den Wunschinhalt des Empire State Building oder des Chrysler Building heranreichen! Oder warum Autos und Flugzeuge einfach nur größer werden statt etwas ganz anderes! Oder warum so ein grotesker Wüstenstaat keine bessere Idee hat, als sich in eine Kitschkulisse in Palmenform zu verwandeln, wo die doch alles Geld der Welt hätten, mal was Interessantes zu machen! (Harald Welzer: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand)


Rebound-Effekt

Im Augenblick wird Nachhaltigkeit oft umstandslos mit Effizienz zusammengedacht, obwohl beides miteinander nichts zu tun hat. Die Voraussetzung für einen nachhaltigen Umgang mit Rohstoffen ist ihr sozialer Gebrauch, nicht die physikalisch mögliche Effizienz ihrer Nutzung. Je mehr Material oder Energie in einer expansiven Kultur verfügbar ist, desto mehr wird konsumiert – umgekehrt wird desto mehr Material und Energie genutzt, je effizienter sie generiert werden. Ökonomen nennen das den »Rebound-Effekt«. Effizienzsteigerung gehört zum Industriekapitalismus wie Kapital und Arbeitskraft, sie ist eine Bedingung seines Funktionierens. (Harald Welzer: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand)


Folgen der Pferdehaltung

Die Einführung des Autos war in amerikanischen Städten mit der Hoffnung verbunden gewesen, die ökologischen Probleme loszuwerden, die aus der Pferdehaltung resultierten: "Um ein Pferd zu füttern, bedurfte es zwei Hektar Land, so viel, wie zur Ernährung von acht Menschen nötig war. In Australien, wo um 1900 ein Pferd auf zwei Menschen kam, musste ein bedeutender Anteil der Getreideproduktion des Landes für die Erhaltung der Pferde aufgewendet werden. In den USA wurde im Jahr 1920 auf einem Viertel allen Ackerlandes Hafer angebaut. Der Hafer war die Energiequelle für das auf Pferdekraft beruhende Transportproblem. Die Versorgung der Tiere war aber nur ein Teil des Problems. Die Pferde verschmutzten die Straßen mit Tausenden Tonnen Mist. Die Städte begannen zu stinken, der Mist lockte Fliegen an, Krankheiten breiteten sich aus. In den Großstädten mussten jährlich 10000 bis 15000 Pferdekadaver von der Straße geräumt werden. Zu den Verlockungen des Automobils gehörte daher um 1910 neben seinen vergleichsweise glimpflichen Emissionen auch die Hoffnung, dass es die Städte von den Umweltproblemen, die die Pferde schufen, befreien würde." (Harald Welzer: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand)


Differente Subgruppen

Menschen glauben oft, sie seien schon nicht mehr Teil der Mehrheit, wenn sie diese kritisieren. Aber moderne Gesellschaften sind funktional differenziert: Sie sehen unendlich viele Nischen und Subkulturen vor, in die man sich zurückziehen bzw. zu denen man gehören kann. Dort findet man die, die so denken wie man selbst, die "gegen" die gleichen Dinge sind oder die dieselben Werte haben. Mit anderen Worten: Moderne, hoch arbeitsteilige Gesellschaften integrieren über Differenz, nicht über Homogenität. Jede Behörde, jeder Betrieb, jede Universität besteht aus differenten Subgruppen, die sich voneinander abgrenzen, um sich selbst zu definieren. Das zerstört nicht den Zusammenhang des sozialen Aggregats, es begründet ihn. (Harald Welzer: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand)


Läuse im Krieg

Schlump hatte Läuse. Schon lange. Damals beim Schanzen, als er mit den Polacken zusammenlag, hatte er sie aufgesackt. Aber das waren nur die großen weißen mit dem eisernen Kreuz auf dem Rücken. Jetzt hatte er noch die kleinen roten dazu gekriegt, die sich in den Hemdnähten versteckten. Das waren die schlimmsten. Und wenn er auf Posten stand, packte er mit der Faust den Rock an der Brust und rieb sich die Haut wund. Am meisten aber peinigten sie einen im Unterstand, wenn man schlafen wollte; denn in der Wärme wurden sie lebendig. Schlump setzte sich neben die Kerze und lauste sich. Er fing sie und hielt sie in die Flamme, bis sie zerknallten. Oder er ließ sie aufmarschieren auf dem schmalen Brettchen, wo sie das Brot hinlegten beim Essen, und fuhr dann glissando mit dem Daumennagel darüber. (Hans Herbert Grimm: Schlump)


Erster Weltkrieg & USA

Der Krieg wurde an einem Freitag erklärt, und auch wenn für die folgende Woche Unterricht vorgesehen blieb, gaben sich nur wenige Studenten oder Professoren den Anschein, ihren Pflichten Genüge tun zu wollen. (...) Einmal gab es eine kurzlebige Demonstration gegen einen Professor, einen alten, bärtigen Dozenten der Germanistik, der, in München geboren, als Jugendlicher die Universität in Berlin besucht hatte. Als der Professor jedoch der aufgebrachten, triumphierenden kleinen Gruppe Studenten gegenübertrat, verwirrt blinzelte und ihnen die dürre, zitternde Hand hinstreckte, löste sich das Häuflein in mürrischer Konfusion wieder auf. Während dieser ersten Tage nach der Kriegserklärung litt Stoner ebenfalls unter einer gewissen Verwirrung, doch unterschied seine sich gründlich von jener, die fast alle auf dem Campus Anwesenden erfasst hatte. Obwohl er mit Dozenten und älteren Studenten über den Krieg in Europa geredet hatte, hatte er doch nie recht daran glauben wollen; und nun, da er ausgebrochen war, für ihn wie für sie alle, entdeckte er in sich ein großes Reservoir der Gleichgültigkeit. Ihm missfiel die Unruhe, die der Universität vom Krieg aufgedrängt wurde; außerdem konnte er in sich kein besonders ausgeprägtes patriotisches Gefühl wahrnehmen, und er brachte es auch nicht über sich, die Deutschen zu hassen. (John Williams: Stoner)


Fantasien zur Landnahme

1930 waren die imperialistischen Phantasien der Landnahme noch sehr lebendig. Zumindest in Deutschland, wo niemand damit rechnete, dass die politischen Grenzen und Verbote, die 1919 in Versailles festgelegt worden waren, auf Dauer bestehen würden; wo der Erste Weltkrieg den Traum vom Weltreich mächtig befeuert hatte; wo Karl Mays Geschichten aus dem Wilden Westen auch als Gebrauchsanweisungen für die vermeintliche Wildnis im Osten gelesen wurden. (Per Leo: Flut und Boden)


Wiener Studenten

Übrigens gehen die (Wiener) Studenten selbst eifrig dem Vergnügen nach, sind auf Wein und Speisen begierig, wenige erweisen sich als gelehrt, Tag und Nacht ziehen sie umher und bereiten den Bürgern großen Ärger. Sie kämpfen mit ihnen oft aus den geringsten Ursachen, greifen zu den Waffen und führen Schlachten wie in einem gerechten Krieg. Dazu reizt sie am häufigsten die Zudringlichkeit der Frauen, die sowohl den Freimut haben, zu sprechen, wann sie wollen, als auch zu gehen, wohin sie wollen, und sie sind nicht so keusch, wie sie schön sind. (Aeneas Silvius Piccolomini / Papst Pius II. in: "Historia Austrialis")


Verteilte Furcht

Beim nächsten mächtigen Stoß begann einer der Türme der Katharinenkirche sich zu neigen. Auch er fiel sehr langsam und zerbrach während des Fallens gemächlich in mehrere Stücke - als sei das Ganze eine Zeitlupenaufnahme und keine Wirklichkeit. Qualmfontänen wuchsen jetzt wie Pilze zwischen den Häusern empor. 509 hatte immer noch nicht das Gefühl von Zerstörung; unsichtbare Riesen spielten da unten, das war alles. (...) Eine Bombe fiel weit außerhalb der Stadt in die Wiesen, die sich zum Lager hinaufzogen. 509 spürte immer noch keine Furcht; alles das war viel zu weit weg von der engen Welt, die allein er noch kannte. Furcht konnte man haben vor brennenden Zigaretten an Augen und Hoden, vor Wochen im Hungerbunker, einem Steinsarg, in dem man weder stehen noch liegen konnte, vor dem Bock, auf dem einem die Nieren zerschlagen wurden; vor der Folterkammer im linken Flügel neben dem Tor - vor dem Steinbrenner, vor Breuer, vor dem Lagerführer Weber -, aber selbst das war schon etwas verblaßt, seit er ins Kleine Lager abgeschoben worden war. Man mußte rasch vergessen können, um die Kraft zum Weiterleben aufzubringen. Außerdem war das Konzentrationslager Mellern nach zehn Jahren der Torturen etwas müder geworden - selbst einem frischen, idealistischen SS-Mann wurde es mit der Zeit langweilig, Skelette zu quälen. (Erich Maria Remarque: Der Funke Leben)


Aus dem Lager

Junger Mann, diese Anrede war komisch. Ich wollte sogar lächeln, aber ich hatte das Lächeln verlernt. Die Muskeln meines Mundes, meiner Lippen, meiner Augen wussten nicht mehr, wie man lächelt, und meine zerschlagenen Zähne schmerzten. Ich war kein junger Mann mehr. Im Lager war ich viele Jahrhunderte gealtert. Ich hatte Unsagbares durchgemacht, und während wir unsere grausame Lehrzeit absolvierten, waren unsere Körper zerfallen. Wohlgenährt war ich einst fortgegangen, aber jetzt war ich nur noch Haut und Knochen. Zum Schluss ähnelten wir uns wie ein Ei dem anderen, wir waren zu ununterscheidbaren Schatten, waren austauschbar geworden, und so konnte man jeden Tag einige von uns ermorden und durch neue Gefangene ersetzen, ohne dass es auffiel. Die Schatten mit den knochigen Gesichtern sahen alle gleich aus, wir waren nicht mehr wir selbst. Wir waren keine Menschen mehr, sondern nur noch Angehörige einer Spezies. (Philippe Claudel: Brodecks Bericht)


Kaserne und Wehrpflicht

"Die Kaserne ist eine widerliche Erfindung der Neuzeit. Sie stammt erst aus dem siebzehnten Jahrhundert. Früher hatte man nur die gute alte Wachstube, wo die Soldaten Karten spielten und sich Geschichten erzählten. Ludwig der Vierzehnte ist der Vorläufer des Konvents und Bonapartes. Aber das Übel hat seinen Höhepunkt erreicht mit der scheußlichen Einrichtung der allgemeinen Wehrpflicht. Daß Kaiser und Republiken den Menschen die Pflicht zu morden auferlegt haben, ist ihre ewige Schande, das Verbrechen der Verbrechen. In den sogenannten barbarischen Zeiten vertrauten Fürsten und Städte ihre Verteidigung den Söldnern an, die als gewitzigte, kluge Leute ihre Kriege führten. Es gab in großen Schlachten mitunter nur fünf oder sechst Tote. Und die Ritter, die in den Krieg zogen, taten es doch wenigstens nicht gezwungen, sondern weil es ihnen Vergnügen machte, sich umbringen zu lassen." (Anatol France: Die rote Lilie)


Viel Armes Fließt Zu Wenig Reichem

Es ist lange her, daß Schwarzafrika sich mit Spiegeln und Perlen und, als Zugabe, einer Prise Salz begnügte, heutzutage liefern wir ihnen die Zauberlaternen, mit denen Bilder aus den 'reichen Ländern' zu empfangen sind. Die Völkerverschiebungen, die in vollem Gang sind, gehorchen nicht weniger als einem ökonomischen Gesetz der Kommunizierenden Röhren, dem drängenden und saugenden Gesetz: Viel Armes Fließt Zu Wenig Reichem. (A.F.Th. van der Heijden: Unterm Pflaster der Sumpf)


Kriegserklärung

Ich suchte nach einer Erklärung und fragte August leise und sehr erregt, als könne nur er mir das Geheimnis des Krieges verraten: "Was ist das - kapitalistisch...?" Er besann sich viele Minuten. Dann sagte er: "Das ist, wenn wenige auf Kosten vieler reich werden..." Ich verstand ihn nicht. "Wer sind diese Wenigen? Wie heißen sie?" Statt einer Antwort nestelte August aus seiner linken Tasche einen Brief seines Vaters. Er war mit Tintenblei geschrieben, seine Überschrift hieß: "Liebe Alle". August hielt ihn wichtig vor die Augen, übertrieben nahe, als lese er ein amtliches Dokument. Er glaubte an seinen Vater wie an eine medizinische Autorität. Sehr gemessen im Ausdruck und in schriftdeutscher Sprache begann er: "Diese Wenigen sind 1. die Generale - denn der Krieg ist ihr Handwerk; 2. die Minister - denn sie wollen Belgien und Polen haben; 3. die großen Unternehmer - denn sie verdienen an ihren Granaten Millionen. Diese drei Typen findest Du in allen Ländern. Deshalb geht der Krieg weiter. Sie haben sehr viele Angestellte, die durch schöne Reden und mit Hilfe einer idealistischen Philosophie das Volk betäuben. Diese Angestellten sind die Pfarrer, die Lehrer, die meisten Redakteure und jene bürgerlichen Dichter, die zu dumm oder zu faul sind, die Wahrheit zu sagen. (Ernst Glaeser: Jahrgang 1902)


Schweden

Über Schweden hatte Dick schon längst seine Schlüsse, nein, seine Bilanz gezogen. Früher einmal, noch in Brüssel, hatte er die Schweden als ein intelligentes Volk betrachtet, das unter einer repressiven und stagnierenden Gesellschaftsordnung litt, unter Zentralismus, Bürokratie und einer an Wahnsinn grenzenden Gewerkschaftsmacht, die wahren Wohlstand verhinderte. Jetzt, da alle diese Mächte anfingen, porös zu werden und von innen zu zerbröckeln, war es besser zu erkennen, daß die Schweden ihre Probleme womöglich verdient hatten. Man sah, wie weit nördlich und wie weit östlich das Land tatsächlich lag. Die Schweden waren im Grunde genommen ziemlich träge und schlaue Bauern, mit einem gewissen Hang zum Mystischen, zum Ekstatischen, der in den Konsum von Alkohol mündete, wenn er sich nicht im Religiösen ausdrücken konnte. So war es nachts. Tagsüber konnte man sie zu einer gewissen Ordnung und Disziplin bringen, vielleicht aufgrund einer alten herrschenden Klasse von Deutschstämmigen, vor allem Adligen, die seit dem Mittelalter traditionell die Städte beherrscht hatten und bis heute in einem unglaublichen Grad Regierungsposten und Verwaltungsapparat kontrollierten. Ohne diese städtische Klasse (Modell: deutsche Autoreparaturwerkstätten unter der Leitung von korrekten Werkmeistern mit Schwalbenschwanz und Goldrandbrille) befände sich dieses Land vermutlich noch auf russischem Niveau. (Lars Gustafsson: Geheimnisse zwischen Liebenden)


Zur Raison kommen

Der Major war in diesen Tagen sehr aufgeregt. Er schloß sich oft in sein Zimmer ein und schrieb Briefe. Als er sehr schweigsam und düster von einer Reise aus Berlin zurückkam, erzählte mir Ferd am nächsten Tag heimlich, sein Vater habe noch in der Nacht sein Testament gemacht. Es gäbe Krieg. Ich glaubte daran, denn auch mein Vater behauptete jeden Abend beim Essen, Österreich könne sich das unmöglich gefallen lassen. Meine Mutter lachte ihn aus. Sie sagte, für einen Krieg seien die Menschen viel zu gebildet. Mein Vater aber schüttelte den Kopf, er meinte, nichts sei notwendiger als ein Krieg, um die Menschen zu bessern und zu Gott zurückzuführen. Meine Mutter erwiderte, dies allein könne die Kunst. "Ach die Kunst", sagte mein Vater, "die Kunst ist doch nur etwas für Auserwählte, die Masse braucht derbere Mittel, um zur Raison zu kommen." (Ernst Glaeser: Jahrgang 1902)


Ein Gegner des Kaisers

Seine Fronde gegen den herrschenden Kurs entsprang nur seiner Liebe für eine Vergangenheit, die er heute bedroht sah. Er war konservativ, allerdings voller Kultur. Dies allein schon mußte ihn zu einem entschiedenen Gegner Wilhelm II. machen, der sich auf das halbgebildete Bürgertum und die weltfremde Ideologie einiger Professoren stützt und einem Volk eine Weltherrschaft versprach, das nicht einmal Geschmack genug hatte, sich gut zu kleiden und mit Genuß zu essen. "Was wollen diese Leute", sagte der Major, "mit einer Welt, selbst wenn sie sie politisch bekämen, anfangen? Auch in Kalkutta würden sie Rippchen essen..." (Ernst Glaeser: Jahrgang 1902)


Vor dem ersten Weltkrieg

Wenige Tage, nachdem Jaqueline zu den Notwendigkeiten ihres Vaters zurückgekehrt war, fand er in einer deutschen Buchhandlung in Tokio einen Band Jean Paul. Nach seiner Lektüre beschloß der Major, heimzufahren. (...) Als die die deutsche Grenze überschritten, war Ferd vier Jahre alt. Er konnte seinen Vater auf deutsch, englisch und französisch liebkosen. Als der Major in Berlin eintraf, erkannte er, daß er einer Romantik zum Opfer gefallen war. Jenes Deutschland, dessen Geruch ihm in Tokio vor einem Buch Jean Pauls das Herz betäubt hatte, existierte nicht mehr. Es wurde überall verleugnet. Deutschland lag nicht mehr unter dem milden Licht seiner fruchtbaren, geduldigen Sommer, die Gedanken, die es dachte, kamen nicht mehr auf den leisen Sohlen eines großen, weltgeborgenen Wissens - sie trompeteten, sie schrien, gebärdeten sich absolut - alles war laut, überschwenglich und ohne Kritik. In gleichem Schritt und Tritt glaubten alle jenem Platz an der Sonne entgegenzumarschieren, den ihr Kaiser mit schönen Worten polsterte. (Ernst Glaeser: Jahrgang 1902)


Nationalsstolz

Man mußte sich, alles in allem genommen, anderen Völkern überlegen fühlen, wenn man einer der großen Nationen entstammte. Ob es nun Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Rußland oder zur Not auch Italien war, alle boten Gründe und Argumente genug, das Selbstbewußtsein ihrer Sprößlinge fett zu füttern. Max notierte auf einem Zettel, das Unglück Europas bestehe vielleicht darin, daß jene vier oder fünf genannten Kulturvölker so eng beisammen lägen und, in ständiger Reibung aneinander, Funken schlügen. (Helmut Krausser: Nicht ganz schlechte Menschen)


Auswirkungen des Krieges

Ich wusste aus eigener Erfahrung und vom Beispiel vieler meiner Kameraden, was für eine unumkehrbar zerstörerische Wirkung es fast auf jeden Menschen hat, wenn er im Krieg gewesen ist. Ich wusste, dass die ständige Todesnähe, der Anblick von Gefallenen, Verwundeten, Sterbenden, Erhängten und Erschossenen, die riesige rote Flamme, die in der Eisluft einer Winternacht über angezündeten Dörfern steht, der Leichnam des eigenen Pferdes wie auch die akustischen Eindrücke, Sturmgeläute, Granateinschläge, das Pfeifen der Kugeln, verzweifelte Schreie, unbekannt von wem – all das geht niemals vorbei, ohne sich zu rächen. Ich wusste, dass eine wortlose, fast bewusstlose Erinnerung an den Krieg die meisten Menschen verfolgt, die ihn durchlebt haben, und in allen ist etwas zerbrochen für immer. Ich wusste von mir selbst, dass die normalen menschlichen Vorstellungen vom Wert des Lebens und von der Notwendigkeit der grundlegenden Moralgesetze – nicht töten, nicht rauben, nicht vergewaltigen, Mitleid haben –, dass sie sich nach dem Krieg zwar langsam in mir wiederhergestellt, ihre frühere Überzeugungskraft jedoch verloren hatten und nur noch ein theoretisches Moralsystem waren, mit dessen relativer Gültigkeit und Notwendigkeit ich prinzipiell einverstanden zu sein hatte. Die Gefühle, die ich dabei hätte haben müssen, die diese Gesetze erst hatten entstehen lassen, waren ausgebrannt durch den Krieg, es gab sie nicht mehr, und nichts hatte sie ersetzt. (Gaito Gasdanow: Das Phantom des Alexander Wolf)


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