Dichter über Dichter (1)

Lob und Tadel unter Kollegen [^^] [^]


Themenstreusel: Dichter über Dichter
Rosendorfer über Agatha Christie
Tim Parks über William Faulkner
Heiner Müller über Thomas Bernhard
Mauriac über Balzac
Solschenizyns Rückkehr
Klemperer: Manns Joseph-Roman
Martin Walser über Hans Mayer
Gertrude Stein & die Kunst
Anna Seghers - So viel Charme!
Revolutionäres Herauswühlen
Anna Seghers: russische Literatur
Christa Wolf - Empfindlichkeiten
Die helvetischen Dioskuren
Damit meinte sie Shakespeare
Hornby über Hoagland
Paul Valery über Anatole France
Analyse statt Synthese
Markus Werner: Hermann Hesse
Grass über Alfred Döblin
Grass zu Bettine von Arnim
Zarter, beseelter Dichter
Die Reise ans Ende der Nacht
Eloge auf Sigmund Freud
Hundert Jahre Einsamkeit
Frederic Beigbeder: Francois Mauriac
Georg Klein: Koeppen
Fleischhauer: Balzac, Sand, Homer
Wolfgang Fleischhauer: Dickens
Julien Green: Cocteau
Rosendorfer: Oskar Maria Graf
Anton Cechov: Hymne auf Maupassant
Hesse: Eduard Mörike
Hesse: Gontscharow lesen
Meyrink übersetzt Dickens


Rosendorfer über Agatha Christie

Ich bin, im Gegensatz zu meiner Frau, kein Leser von Kriminalromanen. Meine Frau schon, wie Sie vielleicht ohnedies wissen. Vielleicht hängt das damit zusammen, daß sie Anglistin ist. Sie liest die Kriminalromane in der Sprache, in der sie gelesen gehören: auf Englisch. Dort und in dieser Sprache liegen Kriminalromane literarisch gesprochen, sagt meine Frau, auf der Leiste ganz oben, gleich unterhalb von Shakespeare. Wohlgemerkt englische Kriminalromane, nicht amerikanische. Die sind nur mit der Faust geschrieben, während die englischen sozusagen ins karierte Plaid gewickelt am Kaminfeuer beim Tee verfaßt werden. Die Dantessa Alighieressa des Kriminalromans ist, so jedenfalls die, wie ich mir durchaus vorstellen kann, begründete Meinung meiner Frau, ist Agatha Christie. (Herbert Rosendorfer: Die Donnerstage des Oberstaatsanwalts) ^


Tim Parks über William Faulkner

Whiskey und Schreiben sind in Faulkners Leben durchgängig miteinander verwoben, nähren sich gegenseitig, behindern sich gegenseitig, lassen nie zu, dass er eine Stabilität erlangte, während er ständig anderen Männer die Ehre bezeugte, von denen er fürchtete, dass er ihnen nie gleichen würde. Als er fünfzig war, schien das Ende unausweichlich zu sein. Man kann nur soundso viele Male in einer Klinik ausnüchtern und betrunken vom Pferd fallen. Es war geradezu ein Wunder, dass Faulkner seine liebe Mutter um ein Jahr überlebte, bevor eine weitere mutige Sauftour, eine weitere Ehrenbezeugung an die wirklich Mutigen, wie er es sah, ihn im Alter von vierundsechzig zur Strecke brachte. (Tim Parks: Worüber wir sprechen, wenn wir über Bücher sprechen)  ^


Heiner Müller über Thomas Bernhard

Thomas Bernhard ist auch ein Beamter. Er schreibt ja so, als ob er vom österreichischen Staat angestellt wäre, um gegen Österreich zu schreiben. Er könnte auch wirklich eine Pensionsberechtigung dafür beanspruchen. Österreichbeschimpfung, das ist seine Funktion … Weil Österreich braucht das, das ergänzt sich hervorragend: Das subjektive Gefühl oder Empfinden oder Bewußtsein von Thomas Bernhard, daß er gegen Österreich kämpft, und das Interesse des österreichischen Staates, bekämpft zu werden, im Theater … Es gibt keine bessere Österreichwerbung als Thomas Bernhard. (Heiner Müller)  ^


Mauriac über Balzac

Ich nahm jeden Tag nach la Chicane einen der Balzac-Bände meines Vaters mit, in der Charpentier-Ausgabe von 1839, von der einige Titel nicht in die Gesammelten Werke aufgenommen worden sind. Balzac ist keineswegs mein Lieblingsautor: er ist mir zu plump (ich meine seinen Stil). Aber er ist der Autor, der für mich am unmittelbarsten als Stimulanz des Nichtsterben-Wollens wirkt. Ich verabscheue diese Rasse von jungen Ehrgeizlingen, die er beschreibt; und trotzdem machen sie mir Lust, gleichfalls mein Glück zu versuchen, auf meinen eigenen Wegen, die ich erst entdecken muß. (Francois Mauriac: Der Jüngling Alain) ^


Solschenizyns Rückkehr

... will er [Solschenizyn] nicht wie ein x-beliebiger Emigrant zurückkehren. Nein, er nimmt das Flugzeug bis Wladiwostok und fährt von dort aus mit dem Zug nach Moskau. (...) So löst diese grandiose Rückkehr in Moskau nur Gleichgültigkeit oder Ironie aus: die ewige, unvermeidliche Ironie der Mittelmäßigen angesichts des Genies, aber auch jene der neu angebrochenen Zeiten gegenüber dem Anachronismus, den Solschenizyn verkörpert. Fünf Jahre zuvor hätten sich die Massen auf die Knie geworfen. Damals war gerade Der Archipel Gulag erschienen, und man konnte es nicht fassen, nun das Recht zu haben, es zu lesen. Jetzt kehrt er in eine Welt zurück, in der Literatur nach einigen Jahren der Bulimie niemanden mehr interessiert, vor allem nicht seine. Die Leute haben genug von Konzentrationslagern; die Buchhandlungen verkaufen nur noch internationale Bestseller und jene Gebrauchsanweisungen, die die Angelsachsen how-to nennen: Wie verliert man ein paar Kilos, wie wird man reich, wie nutzt man sein Potenzial. Die endlosen Diskussionen in den Küchen, die Verehrung für Dichter, das Prestige eines Verweigerers: All das ist vorbei. Diejenigen, die dem Kommunismus nachtrauern - und deren Anzahl Solschenizyn nicht zu ahnen vermag -, halten ihn für einen Kriminellen, die Demokraten für einen Ayatollah, die Literaturliebhaber sprechen über Das rote Rad nur mit hämischem Grinsen (sie haben es nicht gelesen, niemand hat es gelesen), und für die Jugendlichen ist Solschenizyn eine Figur, die auf dem Friedhof der sowjetischen Ikonen fast mit Breschnew durcheinandergerät. (Emmanuel Carrere: Limonow) ^


Klemperer: Manns Joseph-Roman

... brachte als nachträgliches Weihnachtsgeschenk: Jaakob[] von Thomas Mann. Ein neues Buch von Th. Mann – u. nirgends habe ich es angezeigt gesehen. Die Presse darf über diesen anrüchigen liberalistischen Autor nichts mehr bringen. (Liberalistisch ist jetzt ein fast beliebteres Schlagwort als das schon abgelaatschte marxistisch) (...) Und von dieser grandiosen Dichtung ist in keiner Zeitung die Rede, das Buch steht in keinem Schaufenster. Auf ihm lastet der doppelte Fluch von Mann zu sein u. von Israel (statt von einem nordischen Osterhelden) zu handeln. [Victor Klemperer: Die Tagebücher, 16. und 27.1.1934] ^


Martin Walser über Hans Mayer

"Du hast, während [Hans] Mayer spricht, vielleicht auch zum ersten Mal das Gefühl, daß Du einen Sinn hast in dieser Welt, Du hast nicht umsonst gelebt, denn Hans Mayer bestätigt Dir, das es schon eines Lebens Sinn sein kann, Symptome vor Hans Mayer zu tragen, Anlaß einer Mayer-Diagnose zu sein, die Dich - das spürst Du gleich - überleben wird. Du siehst ihn so reden, schräg nach oben Sätze versendend, als denke Mayer ballistisch und wolle noch nebenbei Leipzig erreichen; Du hörst, daß doch alle Krankheiten zur Gesundheit wollen und Du betrachtest diese Gesundheit namens Mayer. (...) Wenn Mayer aufgehört hat zu sprechen, kommst Du Dir vor wie nach dem Kino. Du blinzelst. Mußt Dich zurückfinden. Routiniertere Mayer-Hörer im Saal gehen Dir voran, bahnen auch Dir einen Weg." (Martin Walser: Brief an einen ganz jungen Autor)


Gertrude Stein & die Kunst

Miss Stein ist das typische Beispiel für ein reiches, verhätscheltes und behütetes Kind, dem man nie gestattete, mit den Beschwerlichkeiten des Lebens in Berührung zu kommen. Ihr Bruder Leo hat für sie die Malerei entdeckt. Sie verfügte über ein ererbtes Einkommen und zusammen mit Leo erwarb sie eine beträchtliche Anzahl Bilder von Malern, die man später "Kubisten" oder "Moderne" nannte. Sie richtete sich in einem eleganten Studio in der Rue de Fleurus ein und verbreitete erfolgreich die Nachricht, sie sei eine Gönnerin der bildenden Künste. Selbstverständlich wollen Maler ihre Bilder verkaufen, und bald galt es als prestigefördernd, wenn man sein Werk Gertrude Steins Sammlung einverleibt hatte. Ihre Anhänger würden das Bild nicht nur in ihrer Wohnung sehen, sie würden es auch für große Kunst halten, weil Miss Stein es besaß. Einige Bilder in ihrem Besitz, vor allem Erwerbungen der letzten Jahre, sind fürchterlicher Schritt - besonders die von Sir Francis Rose, der jeden Malstil beherrscht, außer einem eigenen. (Robert Mcalmon: Orakel und herhätscheltes Kind)


Anna Seghers - So viel Charme!

Als ich las, was Jorge Amado schrieb: Er, Ilja Ehrenburg und Pablo Neruda hätten sie als ihre "Schwester" angesehen, als ihre "Fee": "Niemals besaß jemand auf der Welt so viel Charme und Phantasie wie Anna - so viel, so viel!" - da dachte ich für eine Sekunde: Warum konnte sie nicht unter solchen großzügigeren Völkern zur Welt kommen, die sie erkannt, die sie geliebt hätten und auf ihre Weise hätten gelten lassen. Warum, dachte ich, mußte sie gerade unter uns, die Deutschen, geworfen werden, die Feenhaftes, Zauberhaftes plattmachen müssen, die Charme kaum wahrnehmen und die nicht begreifen, wenn ihnen einmal eine Erscheinung geschenkt wird, die ganz irdisch und nicht ganz von dieser Welt ist. (Christa Wolf: Gesichter zu Anna Seghers)


Revolutionäres Herauswühlen

Christa Wolf: "Sie schreiben in Ihrem Dostojewski-Essay sehr eindringlich über Ihre frühen Eindrücke von anderer Literatur, zum Beispiel gerade von der Erregung, die Sie und Ihre Freund während Ihrer Studienzeit für Dostojewski erfaßt hatte. Woher kam diese Erregung?" - Anna Seghers: "Ich habe das, meine ich, in dem Essay sehr genau beschrieben. Eine Wirklichkeit ist uns aus den Büchern gekommen, die wir im Leben noch nicht gekannt haben. Für uns war es eine erregende, eine revolutionäre Wirklichkeit. Ich spreche jetzt nicht von der politischen Revolution, die ja nah war, zeitlich nah war damals, sondern ich spreche von einem revolutionären Herauswühlen, In-Bewegung-Gehen des menschlichen Schicksals, etwas durch und durch Unkleinbürgerliches." (Christa Wolf: Ein Gespräch mit Anna Seghers)


Anna Seghers: russische Literatur

Einem Moskauer Freund schreibt sie [Anna Seghers] auf eine Frage nach der Wirkung russischer Literatur: "... Da kamen in den russischen Büchern die Gedanken und Handlungen, auch die größten, aus dem Leben heraus. Das Leben war dichter als meins, die Menschen waren mehr Menschen, ihr Leid war mehr Leid, ihre Freiheit war mehr Freiheit, der Schnee war auch mehr Schnee, das Korn mehr Korn. Weil aber alles unmittelbar aus dem Leben kam, gewann ich sozusagen den Mut zum Schreiben. Ich verstand, daß es nichts gibt, was man nicht schreiben kann... (Christa Wolf: Das siebte Kreuz)


Christa Wolf - Empfindlichkeiten

Ich habe Dir x-Mal mündlich gesagt, was ich jetzt schriftlich wiederhole: Ich kann und kann nicht verstehen, warum Du, was man über deine Arbeit sagt, immer so schrecklich wichtig nimmst. Das heißt, wichtig ist nicht das richtige Wort. Es ist schon gut, in der richtigen Art auf andere zu hören. Du aber, sei mir nicht bös, laßt es Dir ins Herz gehen. Meistens ist es für den Kopf gedacht, was man sagt. (Anna Seghers an Christa Wolf, 23.10.1968)


Die helvetischen Dioskuren

"Dieses brüderliche Paar, die helvetischen Dioskuren Frisch und Dürrenmatt, hatten jahrelang die deutschsprachige Bühne beherrscht, und sie hatten es bei aller Freundschaft schwer miteinander. Sie konnten es nicht voreinander verbergen [...] Gern habe ich immer wieder die Aufgabe übernommen, Balsam auf die Wunden zu streuen, die sie sich schlugen. Das ging nicht ohne Alkohol ab und endete oft genug in einer ausgelassenen Zecherei." (Ernst Schröder) - Sie war nicht nur, wie Dürrenmatt 1961 im Gespräch mit Horst Bienek glauben machte, sportiver Art ("wenn Frisch zum Beispiel ein neues Stück geschrieben hat [...], komme ich rein sportlich wieder in Schwung; das Gefühl, nachspurten zu müssen, ist schließlich auch in der Schriftstellerei belebend"). (Friedrich Dürrenmatt; Max Frisch: Briefwechsel, S. 66))


Damit meinte sie Shakespeare

Gestern hättest Du Tinka sehen sollen, wie sie "Romeo und Julia" las (sie grast augenblicklich die Literatur nach Liebesgeschichten ab und ärgert sich über die vielen unglücklichen Ausgänge). Sie fraß dazu Kekse mit Schlagsahne und hörte Beat-Musik, je nach ihrer Beziehung zu den einzelnen Titeln in unterschiedlicher Lautstärke. Dazwischen gab sie ihr Kommentare: "Mann o Mann, ich ahne Schreckliches!" Oder: "Ja, sieht denn der Blödmann nicht, daß die gar nicht tot ist?! Oder: "Wie die schon reden! O jammervoller Tag, o Tag, o Tag! Wer sagt denn so was! Oder haben die früher so geredet?" Und am Ende: "So, jetzt hat er, was er wollte!" Damit meinte sie Shakespeare. (Christa Wolf, in: Reimann/Wolf: Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen. 1964-1973)


Hornby über Hoagland

Tony Hoagland zählt zu der Sorte von Lyrikern, die man immer zu entdecken hofft und dann doch nie findet. Seine Lyrik ist locker, trügerisch eingängig für Auge und Ohr, sie hat witzige Momente und unvermittelte kleine Eruptionen mit melancholischem Nachall. Darüber hinaus begreife ich praktisch jedes Wort, und sie ist dennoch klug - wie Sie sicherlich wissen, ist zeitgenössische Lyrik so eine Art Reykjavik, ein Schauplatz, an dem Allgemeinverständlichkeit und Intelligenz während des letzten halben Jahrhunderts ihr Pendant zum Kalten Krieg führten. Wenn ich irgendwas auch nach mehrmaligem Lesen nicht begreife, sage ich normalerweise "dann leck mich doch", aber hier mußte ich nicht ein einziges Mal fluchen. Meinetwegen dürfen sie mich auf dem Umschlag zitieren. Sollten sie machen. Wer könnte einen Gedichtband links liegen lassen, auf dem steht: "Ich hab nicht ein einziges Mal geflucht"? Da wüßte doch jeder auf Anhieb, was gemeint ist. Und 'What Narcissism Means To Me' ist auch ein geiler Titel, oder? (Nick Hornby: Mein Leben als Leser)


Analyse statt Synthese

Die Werke von Romain Rolland - "Jean Christophe" - und von Thomas Mann - "Der Zauberberg" - waren erschienen. Letzteres hatte ich ins Jiddische übersetzt und Gelegenheit gehabt, seine Konstruktion von innen her zu analysieren. Beide Werke waren eigentlich lange Essays, gewürzt mit Beschreibungen. Weder Jean Christophe noch Hans Castorp waren lebende Wesen, sie waren nur Sprachrohre, durch die ihre Autoren sprachen. Beiden Büchern fehlte die Spannung und Lebendigkeit, die große Literatur im Leser erzeugen soll, selbst wenn er eine schlichte Seele ist. Sie waren Werke für Intellektuelle, die ein Ziel suchten, Gehalt, einen Querschnitt der Kultur, einen Hinweis auf die Zukunft und andere hochgestochene Dinge, die keine Form der Kunst (und auch die Philosophie nicht) imstande ist zu liefern. Sie waren Werke für Kritiker, nicht für Leser. Mich langweilten sie, aber ich fürchtete mich, dies zu sagen, denn alle sogenannten Ästheten hatten sich auf sie gestürzt wie auf Kostbarkeiten. Mir war schon damals klargeworden, daß es eine neue Art von Leser gab, einen Leser, der nicht die Synthese in einem Buch suchte, sondern die Analyse. Diese Leser sezierten die Bücher, die sie lasen, und je toter der Leichnam, desto erfolgreicher die Autopsie. Mir gefielen Thomas Manns "Buddenbrooks" und Romain Rollands "Colas Breugnon" viel besser, das waren Bücher prall gefüllt mit Lebenshunger. (Isaac Bashevis Singer: Verloren in Amerika, S. 155)


Paul Valery über Anatole France

"Das große Publikum war meinem ruhmvollen Vorgänger unendlich dankbar, daß er ihm das reizvolle Gefühl einer Oase verschafft hatte. Der erfrischende Gegensatz seiner abgemessenen Schreibweise zu den geräuschvollen und verwickelten Stilarten, in denen ringsumher geschrieben wurde, rief nur angenehme, freundliche Überraschung hervor. Es schien, als seien Ungezwungenheit, Klarheit und Einfachheit auf die Erde zurückgekehrt. Sie sind ja die gefälligen Göttinnen der Mehrheit. Jeder mußte eine solche Sprache lieben, die sich ohne vieles Grübeln genießen ließ, deren gefällige Natürlichkeit verführte, deren Durchsichtigkeit bisweilen wohl einen Hintergedanken durchscheinen ließ, der aber nicht undeutbar, im Gegenteil stets leicht verständlich, wenn auch nicht immer ganz befriedigend war. Seine Bücher bewiesen eine vollendete Kunst, die gewichtigsten Gedanken und Probleme obenhin zu streifen. Nichts behinderte den schweifenden Blick, außer etwa das Erstaunen selbst, keinem Widerstand zu begegnen." (Paul Valery über Anatole France)


Markus Werner: Hermann Hesse

Im übrigen habe seine Frau nicht nur die Aquarelle Hesses, sondern auch seine Literatur geliebt, wahrscheinlich, weil sie immer ein wenig auf der Suche gewesen sei, und für Suchende sei Hesse ja eine feine Adresse, man könne seine Bücher aufschlagen, wo man wolle, man stoße stets auf eine Lebensweisheit oder Lebensregel, was er, Loos, eher zum Verzweifeln finde, während sich seine Frau in einem karierten Heftchen eine Sammlung von solchen Weisheiten angelegt habe. (...) Im Bett habe ihm seine Frau dann noch ein Gedicht vorgelesen, das, auf ein DIN-A4-Blatt gedruckt, im Hesse-Museum aufgelesen habe und von dem sie sehr angetan gewesen sei. Zwei Zeilen daraus habe sie ihm dreimal vorgelesen, weshalb er sie auswendig könne: 'Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe / Bereit zum Abschied sein und Neubeginne." Als sie ihn gefragt habe, ob das nicht schön sei, habe er taktloserweise nur schläfrig gegrunzt, worauf sie das Licht gelöscht habe. (Markus Werner: Am Hang)


Grass über Alfred Döblin

Anders die Rede "Über meinen Lehrer Döblin", gehalten siebenundsechzig. In ihr versuchte ich, die Akademie daran zu erinnern, wie eines ihrer Mitglieder im Jahr dreiunddreißig ausgestoßen wurde: ein finsteres Kapitel ihrer Geschichte. Er mußte flüchten. Die Heimkehr aus dem Exil mißglückte. Er starb verbittert. Ein deutscher Schriftsteller mehr, der seinem Land fremd blieb. Nun wollte ich ihn meinen Zuhörern empfehlen, sie neugierig auf seine Wortgeröll wälzenden Abenteuer machen, sie "zu Döblin verführen, damit er gelesen werden möge". Abschließend sprach ich den Saal direkt an: "Er wird Sie berunruhigen; er wird Ihre Träume beschwerden; Sie werden zu schlucken haben; er wird Ihnen nicht schmecken; unverdaulich ist er; auch unbekömmlich. Den Leser wird er ändern. Wer sich selbst genügt, sei vor Döblin gewarnt."(Günter Grass: Grimms Wörter, S. 167) (Günter Grass: Grimms Wörter, S. 218)


Grass zu Bettine von Arnim

"Ihr unbekümmerter Mut. Ihr inständiges Räsonnieren. Ihre schwerelose Phantastie. Und ihr beflissenes Mitleid mit Bedürftigen, Verstoßenen, Verfolgten: niemand entging ihrer Barmherzigkeit. All das erschwerte den Umgang mit ihr. Die trotz der Jahre Last - sie war in Jacobs Alter - immer noch jugendlich anmutende Mutter von sieben Kindern, deren ungestillter Liebesdrang sich nicht nur in Briefen ergoß, fiel selbst ihren Freunden zur Last. Dahlmann und Gervinus beklagten ihr kaum zu überhörendes Wortgetümmel. Immerfort führte sie Beschwerde. Einerseits bewundert, galt sie andererseits als Nervensäge". (Günter Grass: Grimms Wörter, S. 75)


Zarter, beseelter Dichter

Als Frühlingsfutter für diese schönen Tage habe ich mir aus dem Bücherhaufen, den die Verleger bei mir abladen, einige Goldkörner gepickt, die liegen bereit, häufig nehme ich eins dieser lieben Bücher mit zu den Maiblumen, zur Orchis und zum Kuckuck. Dazu gehört "Im Schatten der jungen Mädchen" von Marcel Proust, deutsche Ausgabe im Verlag "Die Schmiede" in Berlin. Vor drei Jahren noch, als Proust endlich anfing, auch in Deutschland beachtet zu werden, sprachen unsere Kritiker von ihm flüsternd und geheimnisvoll wie von einem vergrabenen Schatz - heut' sind sie schon wieder mit ihm fertig und finden, er sei doch eben nur ein schwächlicher, entnervter Mensch mit Gefühlen zweiten Ranges. Möge den Kerls Schimmel auf der Zunge wachsen! Ich kümmere mich den Teufel um sie, ich bin froh, daß es etwas so beseelet Schönes, etwas so Warmes, Blumiges und Liebenswertes gibt wie die Gespinste dieses zarten Dichters, der nun schon lange den Kuckuck nicht mehr rufen hört. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 14: Betrachtungen und Berichte. 1927-1961, S. 28)


Die Reise ans Ende der Nacht

Manche Bücher sind unerklärbar. Sie scheinen aus dem Nichts aufzutauchen, und dennoch fragt man sich, wenn man sie liest, wie die Welt bis dahin ohne sie hat auskommen können. Die 'Reise' scheint zu dieser kleinen Familie zu gehören: Ihre Evidenz stellt das Leben aller ihrer Leser auf den Kopf. Celines ungeschliffene Sprache verändert für immer Ihre Art zu sprechen, zu schreiben, zu lesen und zu leben. "Nur die Musik ist eine direkte Botschaft an das Nervensystem. Der Rest blabla." Das übersteht man nicht unbeschadet. Ich beneide diejenigen unter Ihnen, die dieses irrsinnige Monumentalgemälde von Aas und Ungeziefer noch nicht gelesen haben; ihnen steht die geistige Entjungferung noch bevor. Sie wissen, wie ich das meine: Am Anfang ist es nicht immer angenehm, doch dann beginnt es einem zu gefallen. Als Held auf der Flucht durchquert Ferdinand Bardamu, Nachfahre von Ulysses und Vorfahre der Beatgeneration, den Ersten Weltkrieg, den Kongo, New York, Detroit, Paris, Toulouse, wird Arzt in den Pariser Vorstädten, dann Leiter einer psychiatrischen Klinik. In gewisser Weise könnte man die 'Reise ans Ende der Nacht' als den ersten Globalisierungsroman bezeichnen. Fünfzig Jahre vor der Zeit beschreibt Celine die Schrumpfung des Planeten, seine Uniformisierung. Überall trifft seine Antiheld nur auf Tote oder Sterbende, wie Robinson beim Volksfest von Batignolles. Überall eine Gesellschaft, die nur dazu dient, zu töten oder wahnsinnig zu machen. Celine schreibt den finstersten Schelmenroman der Geschichte; daneben ist 'Don Quichotte' ein Sonntagsspaziergang! Celine hat das Kunststück vollbracht, mit schwarzer Tinte auf schwarzem Grund zu schreiben und trotzdem lesbar zu sein. "Ich habe geschrieben, damit man mich nicht lesen kann", sagte er später. Keinem seiner unzähligen Nachahmer, darunter viele große Talente (Sartre, Camus, Genry Miller, Marcel Ayme, Antoine Blondin, Alphonse Boudard, San Antonio, Charles Bukowski...), ist es je gelungen, auch nur annähernd die Klarheit seiner Schwärze, die Amoralität seiner Apokalypse, die Hysterie seines Albtraums, den Ekel seines Epos zu erreichen. (Frederic Beigbeder: Letzte Inventur vor dem Ausverkauf. Die fünfzig besten Bücher des 20. Jahrhunderts, S. 147)


Eloge auf Sigmund Freud

Der ungläubige Nabokov definierte die Psychoanalyse als "die tägliche Anwendung alter griechischer Mythen auf die Geschlechtsteile". Dabei ließ er jedoch außer Acht, daß die 'Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie' die gesamte Literatur des Jahrhunderts beeinflußt haben. Wenn man es recht bedenkt, hätte es ohne Freud natürlich keinen Surrealismus, keinen Zweig oder Schnitzler gegeben, aber auch keinen Proust - der nicht einmal Sigmund hatte lesen müssen, um Freudianer zu sein -, keinen Gide, keinen Thomas Mann, ja, im Grunde genommen stünden ohne Freud überhaupt nur wenige Namen auf unserer Liste. Ohne seine Pest hätten wir auch auf die Bücher von Philip Roth und die Filme von Woody Allen verzichten müssen. Allein um Roths und Allens willen muß man Freud schon dankbar sein, daß er den Menschen gekränkt hat, indem er ihn als infantiles, vom Sexualtrieb gesteuertes Wesen bezeichnete. Sie müssen sich darüber im Klaren sein, daß Sie immer, wenn Sie Ihre Verlobte "hysterisch", Ihren besten Kumpel "mythoman", Ihren Arbeitgeber "paranoid" oder ihren Vater "latent homosexuell" nennen, Freud damit Ehre erweisen. Hätte es ihn nicht gegeben, würden Sie sagen, sie seien "verrückt", "verlogen", litten unter"Verfolgungswahn" und Äh... Papa, zieh doch bitte dieses Kleid aus". (Frederic Beigbeder: Letzte Inventur vor dem Ausverkauf. Die fünfzig besten Bücher des 20. Jahrhunderts, S. 94)


Hundert Jahre Einsamkeit

'Cien anos de soledad' ist 1976 wie ein Erdbeben von Kolumbien her über uns hereingebrochen. Man kann sagen, daß es in der Literaturgeschichte dieses Jahrhunderts ein Vor und ein Nach diesem Buch gibt. Seit seinem Erscheinen hat man nämlich Geschmack gefunden an diesen epischen Latino-(Dino-Maus-und-du-bist-aus-)Romanen mit ihrem Bilderreichtum, ihren völlig verrückten Figuren, ihren überraschenden, tropischen Wendungen. Übrigens ist es interessant festzustellen, daß die großen Romane des 20. Jahrhunderts oft auf dem Wunsch beruhen, das Universum zu komprimieren: ein Tag mit einem Alkoholiker in Dublin, das Leben in einem Pariser Mietshaus oder, wie hier, hundert Jahre in der Geschichte eines imaginären, vom Rest der Welt abgeschnittenen kolumbianischen Dorfes namens Macondo. (Frederic Beigbeder: Letzte Inventur vor dem Ausverkauf. Die fünfzig besten Bücher des 20. Jahrhunderts, S. 67)


Frederic Beigbeder: Francois Mauriac

Eine Frau hat immer Recht, wenn sie ihre Sinnlichkeit ausleben will. Schließlich hat man nur ein Leben, sollte man das mit einem finsteren Vollidioten verplempern, nur weil er Geld hat, weil alle Welt es genauso macht und weil man dazu erzogen wurde, den Mund zu halten? Nein, Teufel nochmal! "Therese Deskejeruhs" ist der erste feministische Roman, so viel ist sicher: Mauriac-Beauvoir, ein und derselbe Kampf! Therese ist Zerstörung pur, "sie raucht wie ein Schlot", flieht aus ihrem Gefängnis, und alle Frauen des 20. Jahrhunderts sind ihr gefolgt. Doch Therese Desqueyroux ist eigentlich er, Mauriac (er selbst hat erklärt, sie sei sein "weiblicher Doppelgänger", gleichsam eine Neuauflage von Flaubert mit seiner Bovary): Sein ganzes Leben lang hat er die Welt, der er angehörte, kritisiert, ohne ihr je anders zu entfliehen als durch die Literatur. Mauriac ist ein gefährlicher Spion, ein Reicher, der die Reichen haßt, ein Verräter seiner Klasse, der durch die städtischen Abendgesellschaften und die Academie Francaise zieht, um sich gehässige Bemerkungen über seine hochmögenden Artgenossen zu notieren. Er vollführt einen Drahtseilakt, bei dem ihm permanent der Absturz droht. Seine Faszination für die Sünde ist seine Art sich aufzulehnen. Wie jeder gute Katholik wird er vom Verbotenen angezogen. Ohne Schuld verliert das Laster seinen Sinn (so das Credo der Papisten Sollers und Ardisson). Mauriac ist überholt, aber das ist ihm schnuppe, heute würde er sich langweilen, weil alles erlaubt ist! Ob er in den Backrooms der Landes Extasy schlucken würde? Ob Therese Desqueyroux einen Latexanzug tragen und in einer ungewidmeten Kirche Sadomaso-Sitzungen organisieren würde? Was man Mauriac letztlich vorwirft, ist, daß er nie falsch gelegen hat (gegen die Säuberung, gegen den Algerienkrieg usw.); nichts ist lästiger als jemand, der immer Recht hat. (Frederic Beigbeder: Letzte Inventur vor dem Ausverkauf. Die fünfzig besten Bücher des 20. Jahrhunderts, S. 62)


Wolfgang Fleischhauer: Dickens

"Das ist doch alles nicht wahr, was Sie mir da erzählen? Das hört sich ja an wie eine Gruselgeschichte aus der Feder Ihres großen Landsmannes Dickens." "Dickens ist ein großer Schriftsteler. Aber wissen Sie, warum er dazu auch noch erfolgreich ist?" Antoine wußte es nicht. "Weil er von den grauenvollen Zuständen, die er beobachtet hat, nur die Hälfte erzählt, die erträglichere Hälfte, die er dazu noch durch eine feine Ironie dämpft, die dem Mitleid mit seinen Figuren gewachsen ist. Die Wirklichkeit ist unendlich schlimmer, als daß man sie in einem Roman beschreiben könnte. Man könnte es vielleicht, aber niemand würde das lesen. (Wolfram Fleischhauer: Die Frau mit den Regenhänden, S. 292)


Julien Green: Cocteau

Cocteau kam mir mit ausgestreckten Händen entgegen und begann sofort zu reden. Was er sagte, daran erinnere ich mich nicht mehr, aber die Worte, die er gebrauchte, schienen einer Sprache anzugehören, die ich nie zuvor gehört hatte und dennoch bestens verstand. Es waren Worte, die wir tagtäglich gedankenlos aussprechen, doch Cocteau schien ihnen einen neue Bedeutung zu geben; banale Ausdrücke wurden schön und kostbar durch die Unvorhersehbarkeit, mit der er sie in seine Sätze einbaute; ein armseliger Gemeinplatz erstrahlte plötzlich in der Frische, die er in seiner Jugend einst gehabt hatte. Cocteus Art zu sprechen war eine Reihe von Überraschungen, die den Verstand entzückten und ihn ständig neue, noch größere Freuden erwarten ließen. Sie glich der Rede eines Zauberers und bewirkte unter anderem, daß der Zuhörer plötzlich schneller zu denken vermeinte, als er in seinem Leben jemals gedacht hatte, und daß er geistig auf eine Reise in eine seltsame neue Welt entführt wurde. (...) Cocteau erzählte eine Geschichte in drei Sätzen und so lebendig, daß selbst die Jahre sie nicht aus meiner Erinnerung löschen konnten. Gedanken und Gefühle brachten ihn fast unweigerlich auf Bilder, Vergleiche, die so persönlich, so vollendet schön waren, daß man bedauerte, nicht jedes Wort, das er sagte, aufschreiben zu können. (...) Man war nur noch fähig zu hoffen, er würde weitersprechen. (...) Die Theorie, daß Dichter Träumer sind, wurde beständig Lügen gestraft von diesem hellwachen kleinen Mann, dessen genaue und köstliche Worte alle Schatten zu zertreten schienen. (Julien Green: Erinnerungen an glückliche Tage, S. 236)


Rosendorfer: Oskar Maria Graf

Graf ist deshalb kein Volksschriftsteller, weil es überhaupt keine Volksschriftsteller gibt. Das Volk liest nicht, und wenn, dann allenfalls Groschenromane. Selbst die Bücher Karl Mays und die der Courth-Mahler sind Vergnügungen nostalgischer Intellektueller geworden. (...) Volksschriftsteller? Man kann nicht pessimistisch genug sein. Es sei denn, man bezeichnet einen Schriftsteller als Volksschriftsteller, wenn man wünscht, daß das Volk ihn läse. Dann wäre Graf ein Volkschriftsteller geworden. (Nachwort zu "Die Ehe des Herrn Bolwieser von Oskar Maria Graf)


Cechov: Hymne auf Maupassant

"Von allen modernen Schriftstellern lese ich übrigens ab und zu einzig Maupassant". Lysevic bewegte sich auf dem Diwan. "Ein wunderbarer Künstler! Ein furchtbarer, ungeheuerlicher, übernatürlicher Künstler!" Lysevic erhob sich vom Diwan und hielt die rechte Hand hoch. "Maupassant! Eine Seite von ihm gibt Ihnen mehr als alle Reichtümer der Erde! Jede Zeile, - ein neuer Horizont. Die weichsten und zärtlichsten Regungen der Seele wechseln mit starken, stürmischen Empfindungen; ihre Seele verwandelt asich, wie unter dem Druck von vierzigtausend Atmosphären, in ein winziges kleines Stückchen irgendeines Stoffes von unbestimmter rosiger Farbe, könnte man ihn auf die Zunge legen, würde man, glaube ich, einen herben, wollüstigen Geschmack verspüren. Was für tolle Übergänge, Motive, Melodien! Sie ruhen auf Maiglöckchen und Rosen, und plötzlich fliegt Ihnen ein furchtbarer, herrlicher, unwiderstehlicher Gedanke gleich einer Lokomotive entegegn, faucht Sie mit heißem Dampf an und betäubt Sie mit seinem Pfeifen. Lesen Sie, lesen Sie Maupassant! Meine Liebe, ich verlange es!" (Anton Cechov: Rothschilds Geige, Erzählungen, S. 98f.)


Hesse: Eduard Mörike

In unserer Tübinger Zeit kam es noch zuweilen vor, daß ein Student am Essen sparte oder auf eine Ferienreise verzichtete, um sich die Werke Mörikes kaufen zu können und mancher schrieb sich wenigstens eine Auswahl seiner Gedichte in ein Heftlein ab, um doch einen "eigenen Mörike" zu besitzen. Ich haben den Tag nicht vergessen, an dem ich damals die Summe, mit der ich eine drängende Rechnung hätte bezahlen sollen, für die vier rotleinenen Mörikebände hingab. Sie standen am Ehrenplatz meines Stehpultes und galten mir und meinen Freunden als ein Schatz und Kleinod, und nie ist einer der Bände staubig geworden. Seither ist meine Büchersammlung groß geworden und nimmt ein paar Wände ein, aber etwas Teureres und Köstlicheres als jener mit schlechtem Gewissen "ersparte" Mörike ist nicht darunter. (...) Und wenn ganze Reihen von Dichterromanen, denen eine Mode Glanz und Klang verlieh, wieder verklungen und vergessen sind, wird der bescheidene alte Schwabe noch leben und wird sein Werk denselben tiefen, lauteren Goldglanz haben, der uns Heutige verführt, beschämt und beglückt. (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910, S. 214/220) ^


Hesse: Gontscharow lesen

Mit der Zeit kommt alles einmal an die Reihe. Seit Jahren habe ich, und nicht ich allein, angesichts der Gorkibegeisterung und anderer seichterer Russenmoden daran erinnert, daß es noch keine befriedigende deutsche Ausgabe von Gogol und Gontscharow gebe. Inzwischen hat Georg Müller in München seine große Gogol-Ausgabe begonnen, zwei Bände liegen fertig vor, und nun kommt bei Bruno Carrirer in Berlin ein auf vier Bände berechneter Gontscharow heraus. Der eben erschienene zweite Band bringt den berühmten "Oblomow", das populärste Buch des großen Russen, in der vom Wiener Verlag übernommenen, etwas gebesserten Übersetzung von Clara Brauner, die sich nun recht gut liest. Der erste Band enthielt den Roman "Eine alltägliche Geschichte", der merkwürdigerweise in Deutschland so gut wie unbekannt war, ein großartiges und ergreifendes Werk, dem Besten von Tolstoi ebenbürtig. Wer von Gogol und Turgenjew, oder auch nur von Korolenko und Gorki her ein Ohr für den eigentümlichen Ton der guten russischen Dichtung gewonnen hat, wird bei Gontscharow reichen Genuß finden. (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910) ^


Meyrink übersetzt Dickens

Daß 'Gustav Meyrink" sich hinsetzt, um in jahrelanger Arbeit den alten 'Dickens' zu übersetzen, ist nicht schön von ihm. Wir hätten lieber eigene Bücher von ihm. Und Dickens lag in reichlichen Ausgaben deutsch seit Jahrzehnten vor. Gewiß, diese Übersetzungen waren schlecht, aber ob es sich lohnt, eine große Arbeit an die Übersetzung von Werken zu wenden, die auch im Original keine Kunstwerke sind? Ich unterschätze Dickens nicht, ich liebe ihn sogar und kenne den Schatz von Wärme, Herzlichkeit und naiver ethischer Kraft, die in seinen Büchern liegt. Aber diese Bücher sind sorglos geschrieben, und ich zweifle, ob Dickens sich mit dem Ausdruck im Original soviel Mühe gegen hat wie Meyrink mit der Übersetzung. Wirklich bringt dieser denn auch etwas heraus, was keine frühere Übersetzung hat, einen eigenen Ton zwischen Schlichtheit und Verzwicktheit, der der Sache gerecht wird. Und da es schließlich Meyrinks Sache ist, womit er seine Zeit hinbringen will, und da weiter der Verlag Langen sich mit den Dickensbüchern große Mühe gab, wollen wir diese große Neuausgabe dankbar annehmen und anerkennen, daß sie die beste ist, die wir haben. (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910) ^


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