Hermann-Hesse-Splitter (1) [<<] 

Gesammeltes von & zum Montagnolaer Einsiedler


Index & Inhalte

Bibliomane Texte
Bibliomane Zitate
Allgemeine Zitate I
Allgemeine Zitate II
Fundstücke (FAB): Allgemeine
Fundstücke (FAB): Bibliomane
Fundstücke (FAB): Thematische


Sprache als persönliches Eigentum

Und nicht nur daß jedes Volk oder jede Kulturgemeinschaft sich die ihren Herkünften entsprechende und zugleich ihren noch unausgesprochenen Zielen dienende Sprache geschaffen hat, nicht nur daß ein Volk die Sprache geschaffen hat, nicht nur daß ein Volk die Sprache des andern lernen, bewundern, belächeln und dennoch niemals ganz und völlig verstehen kann! Nein, es ist auch für jeden einzelnen Menschen, sofern er nicht in einer noch sprachlosen Vorwelt oder in einer zu Ende mechanisierten und damit wieder sprachlos gewordenen Wirklichkeit lebt, die Sprache ein persönliches Eigentum; es haben für jeden Sprachempfänglichen, also für jeden heilen und unzerstückelten Menschen die Worte und Silben, die Buchstaben und Formen, die Möglichkeiten der Syntax ihren besonderen, nur ihm eigenen Wert und Sinn, es kann jede echte Sprache von jedem für sie und mit ihr Begabten auf ganz persönliche und einmalige Weise empfunden und erlebt werden, auch wenn er nichts davon weiß. So wie es Musiker gegeben hat, denen gewisse Instrumente oder gewisse Stimmlagen besonders lieb oder auch besonders verdächtig oder unvertraut waren, so haben die meisten Menschen, sofern sie überhaupt einen Sprachsinn haben, zu gewissen Worten und Klängen, gewissen Vokalen oder Buchstabenfolgen eine eigene Hinneigung, während sie andere eher meiden, und wenn jemand einen bestimmten Dichter besonders liebt oder ablehnt, dann hat daran auch dieses Dichters Sprachgeschmack und Sprachgehör seinen Anteil, welche dem seiner Leser verwandet oder fremd sind. (Hermann Hesse: Betrachtungen und Berichte II)


Hermann Hesse: Militärdienstverweigerer

Man lacht über die Militärdienst-Verweigerer! Nach meiner Meinung sind sie das allerwertvollste Symptom der Zeit, auch wenn der einzelne sonderbare Gründe angibt für sein Tun. Jetzt aber ist man schon so weit, daß eine ernsthafte Motion im Gange ist, man solle denen, die aus sittlichen Gründen den Dienst verweigern, Gelegenheit schaffen, ihren Dienst in ziviler Arbeit abzuleisten. Vielleicht wird das nicht durchgehen, heut noch nicht, aber kommen wird es absolut sicher, und vielleicht kommt dann auch eine Zeit, wo auf drei Soldaten zehn Zivildiensttuende kommen werden, wo man ganz natürlich das Kriegshandwerk, soweit es noch existiert, den geborenen Raufbolden und Sauhunden überläßt. (Hermann Hesse - Hans Sturzenegger: Briefwechsel 1905-1943, S. 42)


Eine gesunde Skepsis

Viele Male habe ich zugesehen, wie ein Saal voll Menschen, eine Stadt voll Menschen, ein Land voll Menschen von jenem Rausch und Taumel ergriffen wurde, bei dem aus den vielen Einzelnen eine Einheit, eine homogene Masse wird, wie alles Individuelle erlischt und die Begeisterung der Einmütigkeit, des Einströmens aller Triebe in einem Massentrieb Hunderte, Tausende oder Millionen mit einem Hochgefühl erfüllt, einer Hingabelust, einer Entselbstung und einem Heroismus, der sich anfänglich in Rufen, Schreien, Verbrüderungsszenen mit Rührung und Tränen äußert, schließlich aber in Krieg, Wahnsinn und Blutströmen endet. Vor dieser Fähigkeit des Menschen, sich an gemeinsamem Leid, gemeinsamem Stolz, gemeinsamem Haß, gemeinsamer Ehre zu berauschen, hat mein Individualisten- und Künstlerinstinkt mich stets aufs heftigste gewarnt. Wenn in einer Stube, einem Saal, einem Dorf, einer Stadt, einem Lande dies schwüle Hochgefühl spürbar wird, dann werde ich kalt und mißtrauisch, dann schaudere ich und sehe schon das Blut fließen und die Städte in Flammen stehen, während die Mehrzahl der Mitmenschen, Tränen der Begeisterung und Ergriffenheit in den Augen, noch mit dem Hochrufen und der Verbrüderung beschäftigt ist. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 14: Betrachtungen und Berichte. 1927-1961, S. 242)


Anschuldigungen an Hesse

Um noch einmal auf das für die Jugend so anziehende Thema des Selbstmordes zu kommen: Mehrmals habe ich Briefe von Lesern bekommen mit dem Bericht, sie seien gerade im Begriff gewesen, sich das Leben zu nehmen, da sei ihnen dies Buch in die Hände gefallen, habe sie befreit und aufgeklärt, und es gehe nun wieder aufwärts. Über das gleiche Buch aber, das so heilend wirken konnte, schrieb mir mit schwerer Anklage der Vater eines Selbstmörders: mein dreimal verfluchtes Buch habe zu denen gehört, die sein armer Sohn in seiner letzten Zeit noch auf dem Nachttisch habe liegen gehabt, und es allein sei verantwortlich zu machen für das Geschehene. Ich konnte zwar diesem empörten Vater erwidern, daß er sich die Verantwortlichkeit für seinen Sohn doch allzu leicht mache, wenn er sie auf das Buch abschiebe, aber es dauerte doch eine gute Weile, bis ich jenen Vaterbrief "vergessen" konnte, und man sieht ja, was für ein Vergessen es war. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 14: Betrachtungen und Berichte. 1927-1961, S. 227)


Die nackte Wirklichkeit

Nein, so wie der Abonnent, wenn er die Zeitung überflogen hat, für einen Augenblick die Illusion genießt, er wisse nun in der Welt für vierundzwanzig Stunden Bescheid und es sei im Grunde nichts passiert, als was kluge Redakteure schon in der Donnerstagsnummer teilweise vorausgesagt hätten, ganz ebenso malt und lügt sich jeder von uns jeden Tag und jede Stunde den Urwald der Geheimnisse in einen hübschen Garten oder in eine flache, übersichtliche Landkarte um, der Moralist mit Hilfe seiner Maximen, der Religiöse mit Hilfe seines Glaubens, der Ingenieur mit Hilfe seiner Rechenschieber, der Maler mit Hilfe seiner Palette und der Dichter mit Hilfe seiner Vorbilder und Ideale, und jeder von uns lebt so lange leidlich zufrieden und beruhigt in seiner Scheinwelt und auf seiner Landkarte weiter, als er nicht durch irgendeinen Dammbruch oder irgendeine schreckliche Erleuchtung plötzlich die Wirklichkeit, das Ungeheure, schrecklich Schöne, schrecklich Grausige, auf sich einstürzen und sich von ihm ausweglos umarmt und tödlich gepackt fühlt. Dieser Zustand, diese Erleuchtung oder Erweckung, dieses Leben in der nackten Wirklichkeit dauert niemals lang, es trägt den Tod in sich, es dauert jedesmal, wenn ein Mensch von ihm ergriffen und in den furchtbaren Wirbel gestürzt wird, genau so lange, als ein Mensch es eben ertragen kann, und dann endet es entweder mit dem Tode oder mit der atemlosen Flucht ins Nichtwirkliche, ins Erträgliche, Geordnete, Übersehbare zurück. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 14: Betrachtungen und Berichte. 1927-1961, S. 218)


1914

Natürlich haben beide recht, Magnolie und Zwergenbaum, Optimisten und Pessimisten. Nur halte ich erstere für gefährlicher, denn ich kann ihr heftiges Zufriedensein und sattes Lachen nicht sehen ohne mich an jenes Jahr 1914 zu erinnern und an jenen angeblich so gesunden Optimismus, mit welchem damals ganze Völker alles herrlich und entzückend fanden, und jeden Pessimisten an die Wand zu stellen drohten, der daran erinnerte, daß Kriege eigentlich ziemlich gefährliche und gewaltsame Unternehmungen seien, und daß es vielleichten auch betrüblich enden könnte. Nun, die Pessimisten wurden teil ausgelacht, teils an die Wand gestellt, und die Optimisten feierten die große Zeit, jubelten und siegten jahrelang, bis sie sich und ihr ganzes Volk gründlich müde gejubelt und müde gesiegt hatten und plötzlich zusammenbrachen, und nun von den einstigen Pessimisten getröstet und zum Weiterleben ermuntert mußten. Ich kann jene Erfahrung nie ganz vergessen. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 14: Betrachtungen und Berichte. 1927-1961, S. 104)


Gründe zum Wegreisen

Gründe zum Wegreisen sind ja immer da. Unsereiner, der mit der Welt nicht in guter Harmonie lebt, der weder an die dilettantische Philosophie Lenins noch an die kindliche des Herrn Ford in Amerika zu glauben vermag; unsereiner, der in der enthusiastischen Betriebsamkeit der Industrien und der Politik nicht viel anderes zu sehen vermag, als halbbewußte, aber unendlich zielsichere Vorbereitungen für den nächsten Krieg - unsereiner fühlt sich in seiner Haut niemals so wohl, daß er nicht gerne jeden kleinen Anlaß ergriffe, um ein wenig davonzufahren, ein wenig zu flüchten und sich zu zerstreuen. Wenn man so allein in seiner Studierstube sitzt und die Lächerlichkeit seines Tuns und Denkens täglich von allen Seiten her bestätigt bekommt, und nichts mehr zu tun hat, als den Nachtigallen im Garten zuzuhören und die zunehmende Gicht in den Fingern zu kontrollieren, nun, da hat man keine sehr feste Position, man ist leicht vom Ast zu schütteln. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 14: Betrachtungen und Berichte. 1927-1961, S. 31)


Das Notsignal

Das Notsignal! Seit Kinderzeiten war für mich das Notsignal entschieden das Hübschestes und Verlockendste in einer Eisenbahn, und esd gehörte zu den Schwächen meines Lebens, daß ich es niemals gewagt hatte, ein Notsignal zu ziehen. Auf hundert großen und kleinen Reisen hatte ich den Wunsch dazu empfunden, am stärksten als Knabe: am Handgriff reißen und den Zug zum Stehen bringen! Damit wäre man eine Minute lang König, wäre Herr über die Lokomotive, über den Maschinisten, den Zugführer, die Mitreisenden, den Fahrplan, über den Staat und seine Verbote, über diese ganze komplizierte Welt der Ordnung und der wohlgeregelten Langeweile! (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 14: Betrachtungen und Berichte. 1927-1961, S. 37)


Antisemitismus

Der primitive Mensch haßt das, wovor er sich fürchtet, und in manchen Schichten seiner Seele ist auch der zivilisierte und gebildete Mensch ein Primitiver. So beruht auch der Haß von Völkern und Rassen gegen andere Völker und Rassen nicht auf Überlegenheit und Stärke, sondern auf Unsicherheit und Schwäche. Der Haß gegen die Juden ist ein verkleidetes Minderwertigkeitsgefühl: dem sehr alten und sehr intelligenten Volk der Juden gegenüber empfinden die weniger klugen Schichten einer anderen Rasse. Konkurrenzneid und beschämende Unterlegenheit, und je lauter und heftiger dies üble Gefühl sich als Herrentum aufspielt, desto gewisser steckt Furcht und Schwäche dahinter. Ein wirklich Überlegener, ein wirklicher Herr wird den, dem er sich überlegen weiß, bemitleiden, vielleicht gelegentlich auch verachten niemals aber hassen. Wir alten Leute haben die Zeit noch erlebt, da man in Deutschland den Judenverfolgungen in Rußland und andern Ländern nur mit Schauder und Entsetzen las und sprach. Ob man nun die Juden liebte und zu schätzen wußte oder nicht, man empfand diese Pogrome als barbarisch und menschenunwürdig. Doch reichte freilich die Verstandes- und Herzensbildung nur selten so weit, daß man den Antisemitismus auch im eigenen Volk und Staat erkannte und verurteilte, wo er sich vorläufig nicht in Schlächtereien, sondern nur in Rechtsbeschränkungen und in einem Vokabular von Spott- und Schimpfnamen für die andere Rasse äußerte. Die scheinbar kleine Unterlassungssünde hat sich entsetzlich gerächt. Dasselbe deutsche Volk, das einst die Pogrome in andern Ländern mit Schaudern verdammte, hat ein paar Jahrzehnte später alle diese Scheußlichkeiten so überboten, daß seither in vielen Ländern der Erde das deutsche Wesen für viel gefährlicher und schändlicher gilt als jemals das der Juden oder der Hunnen. (Hermann Hesse: Stufen des Lebens. Briefe, S. 86)


Moderner Reisebetrieb

Als mir nahegelegt wurde, etwas über die Poesie des Reisens zu schreiben, schien es mir im ersten Augenblick verlockend, einmal von Herzen über die Scheußlichkeiten des modernen Reisebetriebes zu schimpfen, über die sinnlose Reisewut an sich, über die öden modernen Hotels, über Fremdenstädte wie Interlaken, über Engländer und Berliner, über den verschandelten und maßlos teuer gewordenen badischen Schwarzwald, über das Geschmeiß von Großstädtern, die in den Alpen leben wollen wie zu Hause, über die Tennisplätze von Luzern, über Gastwirte, Kellner, Hotelsitten und Hotelpreise, verfälschte Landweine und Volkstrachten. Aber als ich einmal in der Bahn zwischen Verona und Padua einer deutschen Familie meine diesbezügliche Ansichten nicht vorenthielt, und als ich ein andermal in Luzern einen niederträchtigen Kellner ohrfeigte, wurde ich nicht ersucht, sondern tätlich gezwungen, das Haus mit unschöner Eile zu verlassen. Seither lernte ich mich beherrschen. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 13: Betrachtungen und Berichte. 1899-1926, S. 28)


Zwischengenerationen

Jede Zeit, jede Kultur hat ihren Stil, hat ihre Schönheiten und Grausamkeiten, nimmt gewisse Übel geduldig hin. Zur Hölle wird das menschliche Leben nur da, wo zwei Zeiten einander überschneiden. Es gibt Zeiten, wo eine ganze Generation so zwischen zwei Zeiten, zwischen zwei Lebensstile hineingerät, daß ihr jede Selbstverständlichkeit, jede Sitte, jede Geborgenheit und Unschuld verlorengeht." (Hermann Hesse, Der Steppenwolf, S. 27f.)


Betrachtungen und Berichte

Betrachtungen und Berichte. 1899-1926 von Herman Hesse bildete Buch Nummer 2108. Ich splitte die Lektüre des knapp 500-seitigen 13. Bandes der Sämtlichen Werke (SW) in zwei Teile. Hesse schrieb ja viel, nicht nur Romane, Gedichte und Erzählungen, sondern auch für Zeitungen und Journale. Er war ein begnadeter Briefeschreiber, was, als es sich herumsprach, ihm besonders im Alter zur Last wurde. Band 13 und 14 der SW beinhalten die so genannten Betrachtungen und Berichte, in denen Reiseberichte, Kuraufenthalte stehen, Schilderungen davon, wie er bestimmte Zeiten verbringt, wie er arbeitet, gärtnert, spazieren geht, die Natur erlebt, aber auch seine Zeit, Kultur, Musik, Malerei... Und nicht zuletzt sein Leben und seinen Umgang mit Büchern. Deswegen sind sie für mich als Bibliomanen so unverzichtbar. Wer es einfacher machen und nur die "Büchersachen" lesen will, dem sei unbedingt und uneingeschränkt eines meiner Liebslingsbibliomanika ans Herz gelegt: Die Welt der Bücher. Wer Hesses 'Berichte und Betrachtungen' liest, begreift, wie er "tickt". Daß er, wie seine Kritiker ihm vorwerfen, ein Idylliker gewesen sei, ein elitärer, weltfremder Wahlschweizer hoch oben in seiner Tessiner Klause, mag teilweise stimmen, was Bilder und Stilmittel betrifft, die er in seiner Prosa benutzt. Doch ist das ein Lack, der oberflächlich glänzt; darunter verbirgt sich ein wacher, ein immer nachfragender und insistierender Zeitgenosse, den nichts kalt ließ, der immer nach dem Besten strebte, was Menschen aus sich und ihrer Umgebung machen können und, ja, machen sollten. Dieser Ton, diese Marotte, daß jeder Mensch seinen Eigensinn kultivieren und hochhalten solle, zieht sich durch ALLES, was Hesse schrieb. Dieser erste Teil des ersten Bandes der Betrachtungen enthält reichlich Berichte von Reisen, die Hesse besonders als junger Mann immer wieder nach Italien führte, dem Land, dessen Sonne und ars vivendi ihm zusagten, deren Landweine er hektoliterweise genossen haben wird. Zu Gast bei Schustern, die seine durchgelaufenen Schuhe unterwegs auf Vordermann bringen sollten, bei Wirtsleuten, Bauern. Unterwegs in diesem Teil 1911 auch in Indien. Übrigens eine Welt, deren Wandel durch Industrialisierung und Verstädterung ab 1900 Hesse auch sieht, er ist dankbar, daß er diese Idyllen der Einfachheit und Natur noch erleben darf und blickt auf seine jungen, stürmischen Jahre auch später gerne zurück.


Einheit & Harmonie

Der Mensch, so wie ihn Gott gedacht und wie die Dichtung und Weisheit der Völker ihn manche tausend Jahre lang verstanden hat, ist geschaffen mit einer Fähigkeit, sich zu freuen an Dingen, auch wenn sie ihm nicht nützen, mit einem Organ für das Schöne. An der Freude des Menschen am Schönen haben stets Geist und Sinne in gleichem Maße teil, und solange Menschen fähig sind, sich mitten in den Drangsalen und Gefährdungen ihres Lebens solcher Dinge zu freuen: eines Farbenspiels in der Natur oder im gemalten Bilde, eines Anrufes in den Stimmen der Stürme und des Meeres oder einer von Menschen gemachten Musik, solange ihnen hinter der Oberfläche der Interessen und Nöte die Welt als Ganzes sichtbar oder fühlbar werden kann, worin vom Kopfdrehen einer spielenden jungen Katze bis zum Variationenspiel einer Sonate, vom rührenden Blick eines Hundes bis zur Tragödie eines Dichters ein Zusammenhang, ein tausendfältiger Reichtum an Beziehungen, Entsprechungen, Analogien und Spiegelungen besteht, aus deren ewig fließender Sprache den Hörern Freude und Weisheit, Spaß und Rührung zuteil wird - solange wird der Mensch seiner Fragwürdigkeiten immer wieder Herr werden und seinem Dasein immer wieder Sinn zuschreiben können, denn der "Sinn" ist ja eben jene Einheit des Vielfältigen, oder doch jene Fähigkeit des Geistes, den Wirrwarr der Welt als Einheit und Harmonie zu ahnen.


Was ist normal?

Aber was ist groß oder klein, wichtig oder unwichtig? Die Psychiater erklären einen Menschen für gemütskrank, der auf kleine Störungen, kleine Reizungen, kleine Beleidigungen seines Selbstgefühls empfindlich und heftig reagiert, während derselbe Mensch vielleicht Leiden und Erschütterungen gefaßt erträgt, welche der Majorität sehr schlimm erscheinen. Und ein Mensch gilt für gesund und normal, dem man lange auf die Zehen treten kann, ohne daß er es merkt, der die elendste Musik, die kläglichste Architektur, die verdorbenste Luft klaglos und beschwerdelos erträgt, der aber auf den Tisch haut und den Teufel anruft, sobald er beim Kartenspiel ein bißchen verliert. (Hermann Hesse: Kurgast)


Zirkadiane Befindlichkeiten

Alles, was mein Leben schwer und heikel und zu einem gefährlichen, ja häßlichen Problem macht, spricht am Morgen überlaut, steht übergroß vor mir. Alles, was mein Leben süß und schön und außerordentlich macht, alle Gnade, aller Zauber, alle Musik, ist am Morgen fern und kaum sichtbar, klingt kaum noch wie Sage und Legende herüber. Aus dem allzu seichten Grabe meines schlechten, kurzen, oft unterbrochenen Schlafes erhebe ich mich am Morgen, nicht beflügelt mit Auferstehungsgefühlen, sondern schwer, müde und zaghaft, ohne jeden Schutz und Panzer gegen die einstürmende Umwelt, die meinen empfindlichen Morgennerven all ihre Schwingungen wie durch einen heftigen Vergrößerungsapparat mitteilt, mir ihre Töne durch ein Megaphon zuheult. Erst von Mittag an wird das Leben wieder erträglich und gut, und an glücklichen Tagen wird es am Spätnachmittag und Abend wunderbar, strahlend, schwebend, innig durchglüht von zartem Gotteslicht, voll Gesetz und Harmonie, voll Zauber und Musik, und entschädigt mich golden für die tausend und tausend bösen Stunden. (Hermann Hesse: Kurgast)


Hesse und Berlin

Ich müßte aus tausend Gründen notwendig nach Berlin, und davor graut mir sehr. Das einzige, was mir an Berlin gefällt, ist, dass es so weit weg von hier liegt. (Herman Hesse)

Hesse und Berlin, das ist ein unverborgenes Nichtverhältnis. Denn den Dichter zog es lebenslang in den Süden, nie nach Norden. 1928 kam er auf Kurzbesuch nach Berlin, zeigte sich entsetzt, wurde krank, konsultierte einen Lankwitzer Arzt, ging zu Furtwängler ins Mozart- Konzert und zum Pferderennen. Dann flog er schnellstens mit der Lufthansa nach Zürich zurück. (Gunnar Decker)

Hermann Hesse hat diese Stadt nie gemocht. Sie war ihm wohl zu groß und zu kalt. Orte, an denen kein Wein wuchs, hielt er für unbewohnbar. (Antje Hildebrandt)


Augsburg

Meine letzen Stunden in Augsburg waren die schönsten. Ich hatte Glück in dieser Stadt und ich hatte Ihr gestern Abend sehr unrecht getan, sie mit Nürnberg zu verwechseln. Außer allem Hübschen und Liebeswerten, das mir hier schon entgegengekommen war, fand sich auch noch eine besondere Überraschung ein. Es gab in Augsburg ein Ehepaar, das hatte vor vierzehn Jahren ein Buch von mir gelesen und mir damals gschrieben und hatte seine damals geborene erste Tochter nach einer Figur meines Buches getauft, und jetzt fand dieses Ehepaar sich ein und lud mich zu Tisch und gab sich eine liebevolle Mühe, mir erst ein ausgesucht gutes Essen vorzusetzen und mir dann, mit Hilfe eines Wagens, in wenigen Stunden das Schönste und Wichtigste vom alten Augsburg zu zeigen. Wenn es mich auch sehr beschämte, all diese Liebe und Aufmerksamkeit einem Buche zu verdanken, das mir heute unleidlich erschien, gute Stunden sind es dennoch gewesen. Ach und was für schöne und außerordentliche Dinge bekam ich in dieser Märchenstadtzu sehen! In der Sakristei von Sankt Moritz eine Sammlung alter Messgewänder von einer Üppigkeit, daß man in Rom zu sein meinte und dicht daneben, in einer Kapelle vier sitzende Bischöfe, nicht etwa Holz- oder Steinfiguren, sondern die Leiber, die Mumien selbst, im reichen Ornat. Für mich das Schönste war die eherne Pforte der Kathedrale.


Psychoanalyse

Über die Kosten der Analyse habe ich noch nicht nachgedacht, ich hoffe eigentlich, daß Jung nichts von mir nimmt oder daß dann jemand in Zürich hilft. Ein Stück Analyse und Auflockerung brauche ich, da mein Leben so wie jetzt nimmer lang zu ertragen wäre, die Lähmung durch den vollkommenen Unglauben an den Wert unsrer ganzen Literatur ist für mich zu groß, und für stille angenehme Stunden habe ich wohl das Malen, das hilft mir leben, aber hilft mir nicht mein Leben rechtfertigen, weder geistig noch materiell. (Hermann Hesse: Stufen des Lebens. Briefe, S. 19)


Möglichkeit des Einzelnen

Was "die Menschheit" betrifft, so halten Sie mich für optimistischer als ich bin. Ich habe mich für sie nie stark interessieren können. Der Mensch als Masse ist mir fremd und höchst fragwürdig. Und was aus dieser Masse seit den Zeiten meiner Jugend, wo sie noch durch starke Bindungen und Hemmungen beherrscht war - was aus der Masse werden kann, haben wir ja seit 1914 gesehen. Nein, was ich am Menschen liebe, sind die Möglichkeiten des Einzelnen. Der Gedanke, es könnte übermorgen keine Menschheit mehr geben, hat für mich nichts Schreckendes. Wohl aber wäre es mir ein tiefer Schmerz zu wissen, daß es künftig keine Goethe, keinen Mörike, keinen Tolstoi oder Tschechow, keinen Renoir oder Cezanne mehr geben werde, und keine mehr von jenen Menschen, die der Freude und Schwermut über Beethoven, Bach oder Hölderlin fähig sein. (Hermann Hesse: Stufen des Lebens. Briefe, S. 82)


Illusion der Wahl

Wenn Klugheit und Vermeiden von Aufregungen allein unser Tun und Lassen leiten sollte, wie sähe da das Leben aus? Wissen wir nicht, daß unser Schicksal uns eingeboren und unentrinnbar ist, und hängen wir nicht dennoch alle innig und glühend an der Illusion der Wahl, der Willensfreiheit? Könnte nicht jeder von uns, wenn er den Arzt für seine Krankheit, wenn er Beruf und Wohnort, wenn er eine Geliebte und Braut wählt, dies alles ebenso gut und vielleicht mit besserm Erfolge dem reinen Zufall überlassen - und wählt er nicht dennoch, wendet er nicht dennoch eine Menge von Leidenschaft, von Mühe, von Sorge an all diese Dinge. (Hermann Hesse: Kurgast)


Magie der Liebe

Je weniger ich an unsere Zeit glauben kann, je mehr ich das Menschentum verkommen und verdorren zu sehen meine, desto weniger stelle ich diesem Verfall die Revolution entgegen, und desto mehr glaube ich an die Magie der Liebe. Kein Mensch fühlt im andern eine Schwingung mit, ohne daß er sie selbst in sich hat. Die Welt und das Leben zu lieben, auch unter Qualen zu lieben, jedem Sonnenstrahl dankbar offenstehen und auch im Leid das Lächeln nicht ganz zu verlernen - diese Lehre jeder echten Dichtung veraltet nie und ist heute notwendiger und dankenswerter als je. Fühle mit allem Leid der Welt, aber richte deine Kräfte nicht dorthin, wo du machtlos bist, sondern zum Nächsten, dem du helfen, den du lieben und erfreuen kannst. Die Welt zu durchschauen, sie zu verachten, mag großer Denker Sache sein. Mir aber liegt einzig daran, die Welt lieben zu können, sie und mich und alle Wesen mit Liebe und Bewunderung und Ehrfurcht betrachten zu können.


Bäume sind Heiligtümer

Bäume sind Heiligtümer. Wer mit ihnen zu sprechen, wer ihnen zuzuhören weiss, der erfährt die Wahrheit. Sie predigen nicht Lehren und Rezepte, sie predigen, um das einzelne unbekümmert, das Urgesetz des Lebens. Ein Baum spricht: In mir ist ein Kern, ein Funke, ein Gedanke verborgen, ich bin Leben vom ewigen Leben. Einmalig ist der Versuch und Wurf, den die ewige Mutter mit mir gewagt hat. Einmalig ist meine Gestalt und das Geäder meiner Haut; einmalig das kleinste Blätterspiel meines Wipfels und die kleinste Narbe meiner Rinde. Mein Amt ist, im ausgeprägten Einmaligen das Ewige zu gestalten und zu zeigen. Ein Baum spricht: Meine Kraft ist das Vertrauen. Ich weiss nichts von den tausend Kindern, die in jedem Jahr aus mir entstehen. Ich lebe das Geheimnis meines Samens zu Ende, nichts anderes ist meine Sorge. Ich vertraue, dass Gott in mir ist. Ich vertraue, dass meine Aufgabe heilig ist. Aus diesem Vertrauen lebe ich. Wenn wir traurig sind und das Leben nicht mehr gut ertragen können, dann kann ein Baum sprechen: Sei still! Sieh mich an! Leben ist nicht leicht, leben ist nicht schwer! Das sind Kindergedanken. Bäume haben lange Gedanken, langatmige und ruhige, wie sie ein längeres Leben haben als wir...


Ich Foxtrottel

Aber wenn die Fasnacht vorbei ist, werde ich mich umbringen, aus Kummer darüber, daß ich ein so ein überlebensgroßer Trottel war und mein ganzes Leben vergeudet habe. Ich war ein richtiger Foxtrottel, daß ich mich 30 Jahre mit den Problemen der Menschheit abgemüht habe, ohne zu wissen, was ein Maskenball ist. Herrgott, wenn ich bloß noch wüßte, wie das schöne, schöne Mädchen gestern geheißen hat! Lieber Gott, laß sie mich wiederfinden! Ich muß noch einen Fox mit ihr trotten, und jenen holden Tanz, den man mit Recht Wonne- Stepp nennt. Es umarmt dich unter bitteren Freudentränen. Dein heute schwerkranker H. H. Unterhaltungsschriftsteller. (Brief an Hugo Ball)


Hesse-Apologie

Mein Vorschreiber im neuen und bekannt zu gebenden Literaturforum Litteratur.ch kann die Faszination für Hermann Hesse "nach Abschluss der Adoleszenzphase kaum bzw. gar nicht verstehen. Das ist spezifische Jugendliteratur, das hat (etwa der Steppenwolf) etwas Renitentes, Anarchisches oder aber man findet sich in Narziss und Goldmund (oder dem Glasperlenspiel) wieder, weil man von dieser vergeistigten Welt fasziniert ist, Bücher liebt. Paradigmatisch etwa der 'Traktat' im Steppenwolf: Einsamkeitsattitüde, in der sich viele Heranwachsende wiedererkennen - aber wenn man das später liest, hat man doch nur den Eindruck einer Peinlichkeit." Worauf ich schrieb: "Möglicherweise ist das bei mir anders, weil ich Hesse als über 20-Jähriger entdeckt habe. Ich mag die, wenns um Hesse geht, meist zuerst genannten Prosawerke wie Demian und Steppenwolf weniger. Die Zweitklektüre des letzten ließe mich so schulterzuckend zurück, wie du es als Normalfall für den annimmt, der Jugendlektüren noch mal vorzerrt. Ich lernte Hesse zurerst durch sein Leben kennen - und er war ja einer der größten Briefeschreiber des 20. Jahrhunderts -, durch die mehr oder weniger autobiografischen Schriften, die bibliomanen. Hier entwickelt er auch den Humor, der in seinen Prosawerken vermißt wird. Dadurch daß er in seinen Erzählungen die Kindheit so herausstellt und thematisiert, könnte er u.U. für älter Werdende wieder interessant werden, die sich den Blick zurück wieder gönnen. Und wie Nachgeborenen & Friedenskinder dürfens zumeist tun und eine vergangene Welt entdecken, wie auch Hesse sie entdeckte. Nämlich einfach durch die Zeit, die verging, die Dinge, die sich veränderten, ein Kontrastprogramm zu heute. Komischerweise werde ich bei Hesse nie satt, auch wenn in seinen Töpfen Themen köcheln, die man sich bis zum Überdruß zu Gemüte geführt hat. Bei mir nicht. Bei mir ist die Frage 'Warum lebe ich heute eigentlich noch, während doch rings um mich alles zu beschissen ist?' Tag für Tag von neuem der Renner."


Weihnachten

Es war die Zeit vor einem großen jährlichen Feste, das den Sinn hat, einesteils die Industrie zu fördern und einige Wochen lang den Handel zu beleben, andererseits aber durch das Ausstellen von abgesägten jungen Bäumen in allen städtischen Wohnungen eine Art von Erinnerung an die Natur und den Wald zu erwecken und die Freuden des Familienlebens zu feiern. Auch dies war ein Spiel und Übereinkommen, das ich bald durchschaute. Weder gab es jemand, dem die Erinnerung an Natur und Wald ein Bedürfnis gewesen oder der doch so töricht gewesen wäre, diese Zimmertannen für ein geeignetes Mittel zur Pflege der Naturfreude zu halten, noch auch wurde Familie, Ehe und Kindersegen von der Mehrzahl des Volkes sehr verehrt, sondern nahezu allgemein als eine Last empfunden. Aber das Fest beschäftigte vier Wochen lang Millionen von Angestellten und machte zwei Tage lang der gesamten Bevölkerung sichtlichen Spaß. Sogar mir, dem Fremden, bot man süßes Backwerk an und wünschte frohe Feiertage, und einige Stunden lang wurden in Häusern, denen dies recht ungewohnt war, Orgien von Familienglück begangen. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 13: Betrachtungen und Berichte. 1899-1926, S. 449)


Liebe & Freude

Aber wie sieht es denn bei uns mit der Liebe und mit der Freude aus? Um ein paar Tage oder höchstens Wochen im Jahr ein bißchen Freude zu haben, bringt ihr dreiviertel eures Lebens im Staub und Schweiß einer freudlosen Arbeit zu, die nicht adelt, sondern niederdrückt. Und wenn ihr dessen müde seid und ein Hunger nach Licht und Freude euch ergreift, so haben die allermeisten von euch sie nicht in sich selber zu holen, sondern müssen sie kaufen - im Theater, im Tingeltangel, in der Kneipe. Und wie steht es mit der Liebe? Der Mann, der zehn bis zwölf Stunden für den Gelderwerb, zwei bis vier für Kneipe oder anderes Vergnügen opfert, hat für Frau und Kinder, Brüder und Schwestern nur Augenblicke übrig. Er nimmt sich vor, das solle anders werden, sobald er Geld genug hat und sich zur Ruhe setzen kann. Aber wie vielen gelingt das? Und denen es gelingt, die sind dann müde und verbraucht und geben das sauer Erworbene entweder für die Zerstreuung ihrer Langeweile oder für Arzt und Apotheker aus. Dementsprechend nimmt die durchschnittliche Lebensdauer ab, die Kindersterblichkeit zu, und wie die Namen des Elends alle heißen. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 13: Betrachtungen und Berichte. 1899-1926, S. 162)


Magische Quellen

Schön und nachdenklich war es auch, alle diese Menschen bei ihren religiösen Übungen zu sehen, Hindus, Mohammedaner und Buddhisten. Sie haben alle, vom reichen städtischen Häuserbesitzer bis zum geringsten Kuli und Paria herab, Religion. Ihre Religion ist minderwertig, verdorben, veräußerlicht, verroht, aber sie ist Lebensstrom und magische Atmossphäre und sie ist das einzige, um was wir diese armen und unterworfenen Völker ernstlich beneiden dürfen. Was wir Nordeuropäer in unserer intellektualistischen und individualistischen Kultur nur selten, etwa beim Anhören einer Bachmusik, empfinden dürfen, das selbstvergessene Gefühl der Zugehörigkeit zu einer ideellen Gemeinschaft und des Kräfteschöpfens aus unversieglich magischer Quelle, das hat der Mohammedaner, der am fernsten Winkel der Welt abends seine Verbeugungen und Gebete verrichtet, und hat der Buddhist in der kühlen Vorhalle seines Tempels jeden Tag. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 13: Betrachtungen und Berichte. 1899-1926, S. 283)


Fliegerfreuden

Als ich vor einigen Jahren zum ersten Male auf der Frankfurter ILA einige Entdecker ihre schwachen Flugversuche machen sah, war mein sehnsüchtiger Gedanke: "Sobald das ein bißchen besser geht, mußt du mitfliegen!" Und als ich zwei Jahre später zum ersten Male in die Lüfte hinaufkam, in einem Zeppelinschen Luftschiff, da genoß ich wohl den wunderbaren Taumel der Höhe und die überraschend herrliche Aussicht und den neuen Aspekt der Landschaft, aber mein Flugverlangen war nur stärker erregt, und seitdem war es mein heimlicher Wunsch, nun bald einmal zu fliegen. Aber ich wohnte auf dem Lande und kam immer nur im Winter in große Städte, meine Freunde lachten mich aus und erklärten diese ganze Fliegerei für einen halsbrechecherischen, selbstmörderischen Sport, mit dem sich höchstens ehemalige Rennfahrer und entgleiste Turfexistenzen abgäben, und waren der Meinung, ein einigermaßen höherstehender Mensch, welcher Pflichten habe und gar Familienvater sei, dürfe sich unter keinen Umständen "der bloßen Sensation wegen" so einem Satansmöbel anvertrauen. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 13: Betrachtungen und Berichte. 1899-1926, S. 316)


Moderne Menschen

Sind nicht diese "modernen" Menschen mir weit überlegen, mit ihren Automobilen, ihrer Kaltschnäuzigkeit, ihren Ledermänteln, ihren unverwundbaren Amerikanergesichtern? Es mag sein. Obwohl ich den Fall erlebt habe, daß diese Herren der Erde, die ich so sehr beneide, trotz ihren cäsarischen Schnauzen und ihren Lederpanzern beim längeren Ausbleiben erwarteter Börsennachrichten und anderen kleinen Anlässen hinlänglich nervös und unbeherrscht werden können. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 13: Betrachtungen und Berichte. 1899-1926, S. 458)


Die wunschlose Liebe

Wenn man zusieht, wie zwei moderne Durschnittsmenschen, die sich eben erst durch Zufall kennenlernen und eigentlich gar nichts Materielles voneinander begehren - wie diese zwei sich gegeneinander benehmen, dann fühlt man es beinahe sinnlich, wie dicht jeder Mensch von einer zwingenden Atmossphäre, von einer Schutzkruste und Abwehrschicht umgeben ist, von einem Netz, gewoben aus lauter Ablenkungen von Seelischen, aus Absichten, Ängsten und Wünschen, die alle auf unwesentliche Ziele gerichtet sind, die ihn von allen anderen trennen. Es ist, als dürfe die Seele nur ja nicht zu Wort kommen, als sei es notwendig, sie ganz mit hohen Zäunen zu umgeben, mit Zäunen der Angst und der Scham. Nur die wunschlose Liebe vermag dies Netz zu durchbrechen. Und überall, wo es durchbrochen wird, blickt Seele uns an. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 13: Betrachtungen und Berichte. 1899-1926, S. 372)


Abgelenkter und veworfener Mensch

Ich habe in der Jugendzeit nähere und innigere Beziehungen zu Landschaften und Kunstwerken als zu Menschen gehabt, ja, ich träumte jahrelang von einer Dichtung, in der nur Luft, Erde, Wasser, Baum, Berg und Tier vorkämen und keine Menschen. Ich sah den Menschen so von der Bahn der Seele abgelenkt, so von Wollen beherrscht, so roh und wild hinter tierischen, äffischen, urweltlichen Zielen her, so auf Tand und Schund erpicht, daß mich vorübergehend der schlimme Irrtum beherrschen konnte, vielleicht sei der Mensch, als Weg zur Seele, schon verworfen und im Rückgang begriffen, als müsse anderswo aus der Natur diese Quelle sich ihren Weg suchen. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 13: Betrachtungen und Berichte. 1899-1926, S. 372)


Kunst aktiv genießen

Wer an den Werten der Kultur nur den Anteil des stillen Genießers hatte und sich in der Not von diesen Werten verlassen sieht, wem mit seiner Bibliothek die geistige Welt, mit seinem Konzert-Abonnement die Musik verloren geht, der ist ein armer Mann, und ohne Zweifel hat er zu jener schönen Welt des Geistigen schon vorher nicht das echte, richtige Verhältnis gehabt. Denn das richtige Verhältnis zu diesen Dingen ist nicht das des Genießers, er sei noch so gebildet, noch so belesen, noch so kennerhaft bewandert. Der Genießer besitzt Kultur bloß so wie ein untätiger Reicher Geld besitzt - am Tage, wo er es verliert, ist er ärmer als der Bettler, dem es bei seiner Armut sein kann. Die Besitztümer der Kultur sind eben nicht unpersönliche Dinge, die man sich erwerben, die man einkaufen und benützen kann. Die Musik, die ein großer Künstler unter Kämpfen und tiefen Erschütterungen seines inneren Lebens geschaffen hat, kann ich mir nicht als behaglicher Zuhörer im Konzertsessel so leichthin zu eigen machen. Und das tiefe Wort eines Denkers oder Dulders, das aus Drang und Not geboren ist, kann ich mir nicht als träger Bücherleser im Lehnstuhl erwerben und zu eigen machen. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 13: Betrachtungen und Berichte. 1899-1926, S. 368)


Der Mensch in der Gesellschaft

Die Erziehung, die wir vom Leben erfahren, fordert von jedem, der aus einem Kinde ein Mann werden soll, die Fähigkeit der Unterordnung und des Opferns, die Anerkennung von Zusammenhängen, deren Erhaltung und Pflege wir unsre eigene augenblickliche Lust und Begierde opfern müssen. Wir werden innerlich erwachsen und erzogen in der Stunde, wo wir diese Zusammenhänge anerkennen und uns ihnen nicht nur gezwungen, sondern freiwillig fügen. Darum ist der Verbrecher, der das niemals lernt, für unsere Erkenntnis ein Zurückgebliebener und Minderwertiger. Ebenso wie die menschliche Gesellschaft den Einzelnen nur trägt und stützt, wenn er sie anerkennt und ihr Opfer bringt, so fordert die allen Menschen und Völkern gemeinsame Kultur von uns eine Anerkennung und Unterordnung, nicht bloß ein Kennenlernen, Benützen und Genießen. Sobald wir diese Anerkennung innerlich geleistet haben, erwerben wir den wahren Mitbesitz an den Gütern der Kultur. Und wer nur ein einziges Mal einen hohen Gedanken in sich zur Tat hat werden lassen, wer einer Erkenntnis ein Opfer gebracht hat, ist aus dem Kreise der Genießer ausgetreten und gehört zu denen, welchen ihr geistiger Besitz in jede Lage treu und eigen bleibt. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 13: Betrachtungen und Berichte. 1899-1926, S. 369)


Mitschöpfer sein

Das Sichhingeben an irrationale, krause, seltsame Formen der Natur erzeugt in uns ein Gefühl von der Übereinstimmung unseres Inneren mit dem Willen, der diese Gebilde werden ließ - wir spüren bald die Versuchung, sie für unsere eigenen Launen, für unsere eigenen Schöpfungen zu halten - wir sehen die Grenzen zwischen uns und der Natur zittern und zerfließen und lernen die Stimmung kennen, in der wir nicht wissen, ob die Bilder auf unserer Netzhaut von äußeren Eindrücken stammen oder von inneren. Nirgends so einfach und leicht wie bei dieser Übung machen wir die Entdeckung, wie sehr wir Schöpfer sind, wie sehr unsere Seele immerzu teilhat an der beständigen Erschaffung der Welt. Vielmehr ist es dieselbe unteilbare Gottheit, die in uns und in der Natur tätig ist, und wenn die äußere Welt unterginge, so wäre einer von uns fähig, sie wieder aufzubauen, denn Berg und Strom, Baum und Blatt, Wurzel und Blüte, alles Gebilde in der Natur liegt in uns vorgebildet, stammt aus der Seele, deren Wesen Ewigkeit ist, deren Wesen wir nicht kennen, das sich uns aber zumeist als Liebeskraft und Schöpferkraft zu fühlen gibt.


Eiskalte Kontakte

Sitze in der Eisenbahn und beobachte zwei junge Herren, die einander begrüßen, weil der Zufall sie für eine Stunde zu Nachbarn gemacht hat. Ihre Begrüßung ist unendlich merkwürdig, ist beinahe ein Trauerspiel. Aus Urfernen der Fremde, Kälte, aus einsamen vereisten Polen her scheinen diese harmlosen Leute einander zu begrüßen - ich denke natürlich nicht an Malayen oder Chinesen, sondern an moderne Europäer - sie scheinen jeder für sich in einer Festung von Stolz, gefährdetem Stolz, von Argwohn und Kühle zu wohnen. Was sie reden, ist vollkommenener Unsinn, wenn man es äußerlich betrachtet, ist verkalkte Hieroglyphe aus der seelenlosen Welt, der wir beständig entwachsen und deren durchbrochene Eisränder beständig an uns hängen. Selten, überaus selten sind die Menschen, deren Seele auch schon im täglichen Reden sich äußert. Sie sind schon mehr als Dichter, sind fast schon Heilige. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 13: Betrachtungen und Berichte. 1899-1926, S. 373)


Glück kommt durch Liebe

Der Grund aller Weisheit ist: Glück kommt nur durch Liebe. Sage ich nun "Liebe deinen Nächsten!" so ist das schon eine verfälschte Lehre. Es wäre vielleicht viel richtiger zu sagen: "Liebe dich selbst so wie deinen Nächsten!" Und es war vielleicht der Urfehler, daß man immer beim Nächsten anfangen wollte... Jedenfalls: das Innerste in uns begehrt Glück, begehrt einen wohltuenden Zusammenklang mit dem, was außer uns ist. Dieser Klang wird gestört, sobald unser Verhältnis zu irgendeinem Ding ein andres ist als Liebe. Es gibt keine Pflicht des Liebens, es gibt nur eine Pflicht des Glücklichseins. Dazu allein sind wir auf der Welt. Und mit aller Pflicht und aller Moral und allen Geboten macht man einander selten glücklich, weil man sich selbst damit nicht glücklich macht. Wenn der Mensch "gut" sein kann, so kann er es nur, wenn er glücklich ist, wenn er Harmonie in sich hat. Also wenn er liebt. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 13: Betrachtungen und Berichte. 1899-1926, S. 386)


Ein schwieriges Leben

Ein Mensch von meiner Art, der im Grunde an den Wert des Menschenlebens nicht glauben kann, dem aber auch die gewohnten Auswege der Naiven, in den Selbstmord und in den Wahnsinn, verbaut und unmöglich sind, der also eigens von der Natur dazu erfunden zu sein scheint, sich und den anderen an seinem Beispiel die Unsinnigkeit und Aussichtsloigkeit dessen zu erweisen, was die Natur unternahm, als sie sich auf das Experiment "Mensch" einließ, ein solcher Mensch hat natürlich ein etwas schwieriges Leben und fühlt daher von Zeit zu Zeit das Bedürfnis, ein andres Register zu ziehen und dies oder jenes an seinem Leben zu verändern, damit es vielleicht etwas erträglicher und hübscher werde. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 13: Betrachtungen und Berichte. 1899-1926, S. 28)


Abwehr gegen den Tod

Wohl dem, der dann eine Heimkehr zu geliebter und sinnvoller Arbeit, zu geliebten Menschen, zu irgendeiner Heimat hat! Wer das nicht hat, wem diese Illusionen zerbrochen sind, der kriecht alsdann vor der beginnenden Kälte ins Bett oder flieht auf Reisen, und sieht als Wanderer hier und dort den Menschen zu, welche Heimat haben, welche Gemeinschaft haben, welche an ihre Berufe und Tätigkeiten glauben, sieht ihnen zu, wie sie arbeiten, sich anstrengen und mühen, und wie über all ihrem guten Glauben und all ihrer Anstrengung langsam und ungesehen sich die Wolke des nächsten Krieges, des nächsten Umsturzes, des nächsten Untergangs zusammenzieht; nur den Müßiggängern, nur den Ungläubigen und Enttäuschten sichtbar - den Altgewordenen, die an Stelle des verlorenen Optimismus ihre kleine, zärtliche Altersvorliebe für bittere Wahrheiten gesetzt haben. Wir Alten sehen zu, wie unterm Fahnenschwenken der Optimisten jeden Tag die Welt vollkommener wird, wie jede Nation sich immer göttlicher, immer fehlerloser, immer berechtigter zu Gewalt und frohem Angriff fühlt, wie in der Kunst, im Sport, in der Wissenschaft die neuen Moden und neuen Sterne auftauchen, die Namen glänzen, die Superlative aus den Zeitungen schmettern, und wie das alles glüht von Leben, von Wärme, von Begeisterung, von heftigem Lebenswillen, von berauschtem Nichtsterbenwollen. Woge um Woge glüht auf wie die Wärmewogen im Tessiner Sommerwald. Ewig und gewaltig ist das Schauspiel des Lebens, ohne Inhalt zwar, aber ewige Bewegung, ewige Abwehr gegen den Tod. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 13: Betrachtungen und Berichte. 1899-1926, S. 474f.)


Fünzig Jahre alt!

Gestern war ein fremder Herr bei mir, der machte mich darauf aufmerksam, daß im nächsten Jahr mein fünfzigster Geburtstag sei; darum sei er gekommen, um sich von mir allerlei aus meinem Leben erzählen zu lassen, für einen Gratulationsartikel, den er dann schreiben werde. Diesem Herrn sagte ich, es sei rührend von ihm, daß er sich so viele Mühe um mich gebe, ich hätte aber nichts zu erzählen, und daß er mich auf dies Jubiläum aufmerksam mache, sei gerade so nett, wie wenn zu einem Sterbenden ein fremder Herr käme, ihn auf die Nähe seines Ablebens aufmerksam machte und ihm den Katalog einer bestempfohlenen Sargfabrik in die Hand drückte. Den fremden Herrn bin ich losgeworden, den üblen Geschmack auf der Zunge nicht. Es ist Herbst, es riecht nach Welke, nach grauem Haar, nach Jubiläen, nach Friedhof. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 13: Betrachtungen und Berichte. 1899-1926, S. 478)


Neue Sinnsuche

In Zeiten wie der heutigen zeigt sich sowohl den überkommenen religiösen Bekenntnissen wie auch den Gelehrten-Philosophien gegenüber eine allgemeine Ungeduld und Enttäuschung; die Nachfrage nach neuen Formulierungen, neuer Sinngebung, neuen Symbolen, neuen Begründungen ist unendlich groß. In diesem Zeichen steht das Geistesleben unserer Zeit: Schwächung der überkommenen Systeme, wildes Suchen nach neuen Deutungen des Menschenlebens, Aufblühen zahlloser gutgesuchter Sekten, Propheten, Gemeinschaftsgründer, feistes Gedeihen des tollsten Aberglaubens. Denn auch der ungeistige, oberflächliche, dem Denken abgeneigte Mensch noch hat jenes uralte Bedürfnis, einen Sinn seines Lebens zu kennen, und wenn er keinen mehr findet, verfällt die Sitte, und das Privatleben steht unter dem Zeichen wildgesteigerter Selbstsucht und gesteigerter Todesangst. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 13: Betrachtungen und Berichte. 1899-1926, S. 481)


Zeitkolorit und Dauerhaftes

Ein beliebiger Roman aus den siebziger, ja achtziger Jahren ist heute alt, und desto älter, je moderner er damals war. Der Inhalt ist uns nimmer wichtig, die neuen Ideen sind nimmer neu, die Gesellschaftstypen und Sitten sind anders geworden, die Sprache ist rückständig, man schreibt jetzt nicht mehr so. Weshalb haben wir dieses Gefühl nicht dem "Wilhelm Meister" und auch nicht dem "Grünen Heinrich" gegenüber. Eine Romanfigur, die nach dreißig Jahren altmodisch erscheint, ist nur eine Interessantheit, nicht ein Sinnbild gewesen. Figuren, deren Wesentliches zeitlich ist, vergehen. Sinnbilder, deren Zeitliches nur ein Kleid des Ewigen ist, bleiben. (...) Denn sie alle sind nicht in erster Linie Repräsentanten ihrer Zeit, sondern schlechthin Menschen. Das, was ihr Schicksal ausmacht, ist zu allen Zeiten vorhanden und wieder möglich. Das ist die "Ewigkeit des Stoffes". Mit ihr läßt sich das, was man "Zeitkolorit", "Milieu" usw. nennt, sehr wohl verbinden. Obwohl Odysseus ein Sinnbild der ganzen Menschheit ist, gibt die Odyssee doch die wichtigsten und feinsten Details altgriechischen Lebens. Auch der Grüne Heinrich ist nichts weniger als zeitlos, sein München ist nicht das von heute, und seine Schweiz ist nicht die Schweiz schlechthin, sondern die seiner Zeit. Auch gibt es in den größten Dichtungen Elemente, die vor dem Veralten nicht sicher sind. In den Wahrverwandtschaften ist viel von Gartenanlagen die Rede, die uns kaum mehr interessieren, und bei Keller manches von einer Malerkunst, die uns altmodisch und verschollen dünkt. Aber die Ewigkeitswahrheit des Ganzen bewirkt, daß wir diese Züge nicht wie sonst lächerlich, sondern rührend finden. Was der Grüne Heinrich erlebt hat, wird heute und morgen und in hundert Jahren von vielen wieder erlebt werden. (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910, S. 241)


Wie wenig Neues es gibt

Und dann sieht man auch immer von Zeit zu Zeit einmal wieder ein, wie wenig Neues es gibt. Da ist eine Philosophie, ein neuer sozialer Gedanke, eine neue Kunstgattung, die wirken so neu und anders, daß das Gestrige schon alt daneben erscheint. Aber gar bald ist der Historiker da, der diese neueste Philosophie als schon von einem Denker des Mittelalters empfangen nachweist, den sozialen Gedanken bei den Phöniziern und die neue Kunstgattung im alten China längst vorhanden und gekannt findet. In der Dichtung ist es nicht anders. Neues kommt nur zutage, wo entweder einer der seltenen Riesen geboren wird oder wo ein bis dahin schweigsam gebliebenes Volk anfängt, sich auszusprechen, wie es seit fünzig Jahren in Rußland geschieht. Und auch dieses Neue gliedert sich, sobald die Überraschung des ersten Kennenlernens vorüber ist, schnell und sicher dem lebendig gebliebenen Alten. Denn bleibend ist nur das Sinnbild, nie das Abbild. (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910, S. 244)


Häusle bauen

Wenn man zuschaut, was so durchschnittlich in Land und Stadt zusammengebaut wird, von städtischen und privaten Architekten, von Handwerkern und Künstlern, so ist es leicht, seine Entrüstung zu äußern und zornig auf das gute, feine wohltuende Aussehen alter Gassen und Bauten hinzuweisen. Wenn man dann aber selber in die Lage kommt, sich mit bescheidenen Mitteln ein kleines nettes Wohnhaus bauen zu wollen, dann wird man viel stiller und lernt merken, wie schwer das Bauen ist. Die Baumeister sind entweder gerissene Techniker und Rechner, die lediglich aufs Nützliche gehen und sich überhaupt nie fragen, wie das fertige Häuslein dann aussehen und auf ein halbwegs sehfrohes Auge wirken wird; oder sie sind träumende Künstler, die über ein Braun des Anstrichs in der Küche acht Tage sinnen, schließlich aber den Abort oder Wasserablauf vergessen. Und ebenso sind auch fast alle Ratgeber, ich meine die Handbücher für Hausbau und die Vorlagenwerke; entweder atmen sie den Geruch der Gerwerbeschulen mit ödester Nüchternheit, die sich hinter angeklebten Renaissanceornamenten verbirgt, oder sie gehen aufs Malerische und trügen uns Bauten vor, die in der Wirklichkeit garnicht stehen und ihren Zweck erfüllen könnten, oder ganz anders aussehen. (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910, S. 402)


Wechsel, Erregung und Spiel

Das Bedürfnis, aus dem wir uns von den Modernen weg gelegentlich begierig und dankbar zu den Bildern früher umbrischer oder altdeutscher Meister wenden, mit dem wir zur schlichten Musik früherer Jahrhunderte oder zu den Dichtungen vergangener Zeiten und Völker zurückkehren, ist genau dasselbe, mit dem der erwachsene oder erwachsende Mensch zu Zeiten sich in das Gedächtnis seiner Kindheit flüchtet. Dem in Werden, Wechsel und Entwicklungsnot Befangenen erscheinen Zustände gewesener Zeiten leicht selig verklärt, er rettet sich gelegentlich zu ihnen wie auf eine feste Insel der Zeitlosigkeit, des aktuellen Lebens und des Tageskampfes müde - nicht viele anders als der Städter sich zur "Natur" flüchtet in dem instinktiven Bedürfnis, aus Wechsel, Erregung und Spiel flüchtiger Werte und Erscheinungen heraus einen Atemzug lang sich dem Sicheren, Zeitlosen, scheinbar Ewigen gegenüber zu wissen. (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910, S. 412)


Erinnerungskultur

Ich meinerseits finde es nicht übel, in einer Zeit zu leben, die von der Kinderschule bis zum Begräbnis keine alte, übernommene Form des Tuns und Denkens mehr passend und zureichend findet und eben darin, daß sie sich, nach einer gründlichen Umwälzung aller Lebensverhältnisse, ein neues Kleid und einen neuen Glauben und neue Götter zu schaffen gewillt ist, ihren Stolz und eine ganz neue Bahn des Wollens sucht. Darum bin ich nicht der Meinung, wir müßten die Kunst gewesener Jahrhunderte und ferner Völker unbedingt als uns überlegen hinnehmen. Hingegen kenne und würdige ich jenes Bedürfnis wohl, das uns am Abend eines unruhigen Tages einlädt, an unserer Kindheit zu denken, uns an Vaters Garten und an unsere Knabenspiele zu erinnern und dem Heute eine Stunde abzustehlen, die dem zeitlos Gewordenen gehört. Und wer aus diesem Bedürfnis alte Bilder ansieht, alte Musik hört und alte Bücher liest, dem kann es gewiß nur wohltun. (Hermann Hesse: Die Welt im Buch I. Rezensionen und Aufsätze aus den Jahren 1900-1910, S. 415)


Markus Werner: Hesse

Im übrigen habe seine Frau nicht nur die Aquarelle Hesses, sondern auch seine Literatur geliebt, wahrscheinlich, weil sie immer ein wenig auf der Suche gewesen sei, und für Suchende sei Hesse ja eine feine Adresse, man könne seine Bücher aufschlagen, wo man wolle, man stoße stets auf eine Lebensweisheit oder Lebensregel, was er, Loss, eher zum Verzweifeln finde, während sich seine Frau in einem karierten Heftchen eine Sammlung von solchen Weisheiten angelegt habe. (...) Im Bett habe ihm seine Frau dann noch ein Gedicht vorgelesen, das, auf ein DIN-A4-Blatt gedruckt, im Hesse-Museum aufgelesen habe und von dem sie sehr angetan gewesen sei. Zwei Zeilen daraus habe sie ihm dreimal vorgelesen, weshalb er sie auswendig könne: 'Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe / Bereit zum Abschied sein und Neubeginne." Als sie ihn gefragt habe, ob das nicht schön sei, habe er taktloserweise nur schläfrig gegrunzt, worauf sie das Licht gelöscht habe. (Markus Werner: Am Hang)


Wächter vor dem Inneren

Gern vergleicht der Bürger den Phantasten mit dem Verrückten. Der Bürger ahnt richtig, daß er selbst sofort wahnsinnig werden müßte, wenn er sich so wie der Künstler, der Religiöse, der Philosoph auf den Abgrund in seinem eigenen Inneren einließe. Wir mögen den Abgrund Seele nennen oder das Unbewußte oder wie immer, aus ihm kommt jede Regung unseres Lebens. Der Bürger hat zwischen sich und seiner Seele einen Wächter, ein Bewußtsein, eine Moral, eine Sicherheitsbehörde gesetzt, und er anerkennt nichts, was direkt aus jenem Seelenabgrund kommt, ohne erst von jener Behörde abgestempelt zu sein. Der Künstler aber richtet sein ständiges Mißtrauen nicht gegen das Land der Seele, sondern eben gegen jede Grenzbehörde, und geht heimlich aus und ein zwischen Hier und Dort, zwischen Bewußt und Unbewußt, als wäre er in beiden zu Hause. (Hermann Hesse: Betrachtungen und Berichte II)


Genies

Das Genie, wo es auch auftaucht, wird entweder von der Umgebung erdrosselt oder tyrannisiert sie; es gilt ohne Widerspruch als die Blüte der Menschheit und richtet doch überall Not und Wirrnis an, es tritt stets vereinzelt auf, zur Einsamkeit verurteilt, ist unvererblich und hat stets eine Tendenz zur Selbstaufgabe. So stirbt Novalis, unter einem Raketenregen von blühendster Geistigkeit, so bringt Kleist sich um, so flieht Hölderlin, flieht Nietzsche in den Wahnsinn. Und die scheinbar bejahrten Genies, die scheinbaren Optimisten, jene Bürgerlichen, Gersunden, Erfolgreichen, Altwerdenden, sie zeigen im Altern alle diese Tendez zur Entpersönlichung, welche ebensowohl das einer Vergöttlichung wie einer Selbstzerfleischung annehmen kann. (Hermann Hesse: Betrachtungen und Berichte II)


Schematisierte Arbeit

Wer von uns vermöchte seinen Beruf weiter auszuüben, wer ihm treu zu bleiben, ihm Opfer zu bringen und dafür wieder Freude an ihm zu erleben, wenn er nicht immer wieder Lust hätte, dem Sinn diese Berufes näher zu kommen und seine Entartung in ein starres System von mechanischen Handgriffen zu verhindern. In der Epoche der Technik, der allgemeinen Überschätzung des Geldes und der Arbeitszeit, ist ja jeder Beruf und jeder arbeitende Mensch, auch der gutgewillte, stets von neuem der Gefahr ausgesetzt, lebloser Maschinenteil zu werden und seine Arbeit aus einer persönlichen und verantwortlichen zu einer schematisierten und fabrikmäßigen werden zu lassen. (Hermann Hesse: Betrachtungen und Berichte II)


[Nach oben]  [FAB]  [Splitter]  [Startseite]