Silvia-Bovenschen-Splitter [<<]Fundstücke aus dem Buch "Älter werden"
Gott Älter werdendZieht man die Mystifikationen ab, in die wir unsere kleinen Lebensepisoden gerne tauchen, so bleibt eine schlichte Erfahrung, die Lichtenberg schon formulierte: "Wenn man selbst anfängt alt zu werden, so hält man andere von gleichem Alter für jüngere, als man in früheren Jahren Leute von eben dem Alter hielt... Mit anderen Worten: Wir halten uns selbst und andere noch in denen Jahren für jung, in welchen wir, als wir noch jünger waren, andere schon für alt hielten." (Silvia Bovenschen: Älter werden, S. 52) WiedergeburtseuphorieInterviews mit Menschen, die sich bei einer Flugzeugenentführung lange Zeit in Todesangst befanden. Der Reporter fragt sie, ob sich nach ihrer Rettung das alltägliche Leben geändert habe. Ja, das sei schon der Fall, sagt eine Entronnene, es komme jetzt gelegentlich vor, daß sie das Konto überziehe. Auch daran denke ich ohne Häme. Es ist wohl kaum möglich, sich stets auf der Höhe einer Wiedergeburtseuphorie zu halten. (Silvia Bovenschen: Älter werden, S. 108) VerbitterungAlte berühmte Männer, die viel, ja nahezu alles Menschenmögliche erreicht haben und nun plötzlich das Ende einer Leiter vor sich sehen, legen oft eine unangenehme Verbitterung an den Tag. Ihnen fehlt der matte Charme des alt gewordenen Verlierers. Zuweilen werden sie sogar gefährlich. (Silvia Bovenschen: Älter werden, S. 90) SekundärliteraturAls ich die Mittelstufe des Gymnasiums erreichte und eine neue Deutschlehrerin auf meine kleine Bühne trat, eine Lehrerin, die ich mochte und der ich imponieren wollte, gab ich ruckartig die Sphärentrennung auf, beendete meine selbstverordnete Leseisolation, setzte massiv alles gestaute Wissen im Unterricht ein, ging ihr auf die Nerven und kam in den einschlägigen Fächern auf gute Noten. In diesem Alter entdeckte ich den Luxus öffentlicher Bibliotheken und stieß dort auf das Phänomen der Sekundärliteratur. Heimlich las ich, was Kluge, jedenfalls solche, die ich damals dafür halten mußte, über die Texte, die wir besprachen, schon einmal gesagt hatten. Ich tat es heimlich, weil ich diesen Gedankenklau für illegal gielt. Mußte man nicht alles selbst erstmalig denken, original aus eigenen tiefsten Gründen herausholen? Was konnte so ein Gedanke aus zweiter Hand schon noch wert sein? Wie ein Dieb schaute ich mich verstohlen um, wenn ich die Bibliothek mit hochgeklappten Mantelkragen betrat oder sie verließ, stets auf der Hut davor, bei dieser Ideenverschleppung ertappt zu werden. Einige Jahre älter, merkte ich dann, daß das, was ich dort mit schlechtem Gewissen betrieben hatte, ungefähr dem entsprach, was man "wissenschaftliches Arbeiten" nennt. Mit gutem Gewissen machte es aber nicht mehr so viel Spaß. Jetzt, 2001, bei meinem erneuten Umzug, habe ich unter dem Gebot des Platzmangels mit großer Lust die Sekundärliteratur nahezu komplett aussortiert. (Silvia Bovenschen: Älter werden, S. 65) Launen des AltersWenn du wider jede Wahrscheinlichkeit alt werden solltest, so dachte ich einmal an der Schwelle zu den mittleren Jahren, dann wirst du hoffentlich so ein schlecht gelauntes, aber partiell witziges Monster werden, wie es Adele Sandrock auf die alten Tage war. (Silvia Bovenschen: Älter werden, S. 85) BegabungEr war das, was die Leute einen begabten Hund nennen. Jeden Dienstag gingen wir nach der Arbeit mit anderen Freunden Pool-Billard spielen. Er war befähigt, aus dem Stand ein metrisch lupenreines und inhaltlich witziges Barock-Sonett über eine versehentlich versenkte schwarze Acht zu extemporieren. (Silvia Bovenschen: Älter werden, S. 46) HundeGeblieben ist die Sehnsucht nach der Freundschaft mit einem Hund. Nein, sie richtet sich nicht erneut auf eine erschlichene optische Machtfülle, wie man sie bei Kampfhundeignern beobachten kann, dergleichen hat meine ganze Verachtung. Im Gegenteil. Die Sehnsucht gilt primär der Freundlichkeit, der Geselligkeit und dem sozialen Witz, all dem, was die guten Hunde auszeichnet. Sie sind, wenn der Mensch sie nicht versaut, Meister der Konfliktregelung, der Soziabilität. (Silvia Bovenschen: Älter werden, S. 84) EleganzGanz junge Leute sind nie wirklich elegant. Zur Eleganz gehört nach meinem Dafürhalten eine gewisse (Nach-)Lässigkeit, die zur Müdigkeit tendiert. Sie ist den ganz Jungen nicht angemessen. Ältere Leute dagegen müssen sich Mühe geben, eine "natürlich" wirkende Eleganz (nichts ist unnatürlicher als Eleganz - außer bei Raubkatzen und Pferden), die den Anzeichen des Verfalls entgegenwirkt, herzustellen. Eleganz ist eine Balancefrage. Eleganz arbeitet (in bewußter Vergeblichkeit) gegen den Tod, ohne sich auf Jugend zu abonnieren. (Ist das eine dieser Alterssentenzen, mit denen man Jüngeren auf die Nerven geht?)(Silvia Bovenschen: Älter werden, S.44) Man lebt nicht einmal einmalÜber keine Krankheit werden so viele Witze gemacht wie über die Krankheit mit dem Namen Alzheimer. Die nackte Angst. Eine Krankheit, die zunehmend alle Erinnerungsspuren löscht und damit das Material, aus dem wir unser Ich zwanghaft und willkürlich zugleich immer wieder erstehen lassen. Eine Krankheit, die vor dem Tod schon das, was wir unser Ich nennen, vernichtet. Wandelnde Hüllen. Ganz nah an der Idee des Gespenstes. Und wir, die mit den "normalen" Erinnerungsverlusten? Haben wir wirklich gelebt? Ja, natürlich. Natürlich? Schon ist Trost geboten: Selbst wenn wir uns an nichts mehr erinnern könnten - es gibt ja schließlich Zeugen. Unsere Eltern, unsere Geschwister, unsere Freunde aus dem Sandkastenleben, unsere Freunde und Feinde aus dem Schulleben, unsere Freunde und Feinde aus dem Studienleben, unsere Freunde und Feinde und Bekannten und Kollegen aus den Berufsleben, unsere Freunde und Feinde aus dem Privatleben, unsere Freunde aus den schlechten Zeiten. Begleitung aus vielen (zu vielen?) aufeinanderfolgenden und parallel laufenden Leben, die doch nur eines sind und, wenn wir Karl Kraus glauben, nicht einmal das. ("Man lebt nicht einmal einmal.") Wenig Vorhänge, aber viel Publikum hat so ein Leben. Es ist jedoch ein unkonzentriertes Publikum, das rein und raus geht, das oft schon vor der Pause die Veranstaltung verläßt. Man kann nur hoffen, daß zum Schluß noch einer da sitzt. Er muß ja nicht applaudieren. (Silvia Bovenschen: Älter werden, S. 32f.) Glück des VertrautseinsGlück: Gute, langwährende Ehen, alte Freundschaften beglücken vermutlich durch einen Erinnerungsaustausch, der beständig durch die Filter aller hinzukommenden Erfahrung hindurchgetrieben, erneuert und lebendig gehalten wurde bis zu dem Punkt, an dem ihr Witz und ihre Wahrheit nicht mehr im Anspruch auf eine allgemeine Geltung, sondern in den Akten dieser vertrauten Verständigung selbst liegt. (Kundera hat darüber klug geschrieben.) (Silvia Bovenschen: Älter werden, S. 38) Dankbarkeit einer Nachgeborenen... daß ich für die große Verschonung, die Windstille eines langen Friedens, wahrhaftig so etwas wie Dankbarkeit entwickelt habe. (Gibt es eine Dankbarkeit ohne Adressaten?) (Silvia Bovenschen: Älter werden, S. 30) RuhmRuhmsucht: Sie ist vermutlich verbunden mit dem Versuch einer totalen Synchronisation. Die Verpflichtung aller auf eine einzige, nämlich die eigene Perspektive; die verabsolutierende memoriale Zurichtung sogar zukünftiger Generationen auf die eigenen biographischen Legenden. (Schreiben Sie das auf, Eckermann!; Notieren Sie, Riemer!) Goethe, ein Meister des Marketing, hat es vermocht, daß ein ganzes Zeitalter unter seinen Namen sortiert wurde. Die Geschichte und das Land, Zeit und Raum hereingeholt in die eigenen vorauseilend nachgelassenen Imagines. Das muß man erst mal schaffen. (Silvia Bovenschen: Älter werden, S. 38) Frage"Wenn eine gute Fee käme und du dir ein beliebiges Alter aussuchen könntest, welches würdest du wählen?" (Silvia Bovenschen: Älter werden, S. 25) VerähnlichungMit zwei gleichfalls älteren Freundinnen erörtere ich den Umstand, daß sie übereinstimmend behaupten, sich die Gesichter heutiger Stars nicht mehr merken zu können. Sie führen das auf einen Mangel an physiognomischer Prägnanz der zeitgenössischen Idole zurück. "Die sehen doch alle irgendwie gleich aus. "Hatten das nicht unsere Eltern über unsere Idole auch gesagt? Ich kann mich nicht erinnern. Oder ist mit den wachsenden Möglichkeiten der chirurgischen und kosmetischen Schönheitsherstellung doch so etwas wie eine Verähnlichung eingetreten? Ich weiß es nicht. Wenn es nur noch schöne Mädchen gibt, gibt es keine schönen Mädchen mehr. (Silvia Bovenschen: Älter werden, S. 21) ErinnerungenVermutlich wechseln wir alle immer mal wieder die Kulissen und die Beleuchtungen, in die wir unsere Erinnerungen stellen. (Silvia Bovenschen: Älter werden, S. 37) Genügend Leid... als eine Schriftstellerin - auch nicht mehr die Jüngste -, sich in die Gentechnologiedebatte einmischend, behauptete, daß es doch die schadhaften Unvollkommenheiten seien, die Defekte, die das Humanum auszeichneten. Erst im Leid komme der Mensch zu sich. Ja, was denkt sie sich denn da, in ihrer Sorge um das Genügen des Leids? Für den Schmerz war seit Hiob noch immer gesorgt. Geht Pest, kommt Aids. Was immer auf den biotechnologischen Baustellen der Menschheitsumgestaltung zu unserem Schaden oder unserem Nutzen erdacht und gemacht werden kann, fürs Leid wird es immer genügend Schlupflöcher geben. (Silvia Bovenschen: Älter werden) ZeitgeizIch lese Silvia Bovenschens Älter werden. Weil es ein Buch mit so klugen Gedanken ist, werde ich vermutlich noch mehrmals daran anknüpfen. Beim Thema "Zeitgeiz" von "angestrengter Sprungbereitschaft" gelesen. Die Autorin wundert sich über fehlende Gelassenheit bei manchen Menschen, die angesichts der Kürze unseres Lebens ein allzu ökonomisches Verhältnis zur Zeit haben. "Ich mag Geiz in keiner Form. Auch diesen nicht. Es ist ja zu keiner Zeit des Lebens gesagt, wieviel Zeit noch bleibt. Und ich habe keine Lust, meinen mentalen Haushalt der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu unterwerfen." (S. 22) - Die "angestrengte Sprungbereitschaft" attestiert Bovenschen einigen Akademikerinnen, die jede Minute ihrer Existenz etwas Wichtigem vorbehalten wollen. EinsamkeitEinsamkeit: daß man, älter geworden, allein ist mit seinen Erinnerungen; (...) daß die Jugenderinnerungen für die jetzt Jugendlichen klingt wie eine Erzählung aus dem Dreißigjährigen Krieg. (Silvia Bovenschen: Älter werden, S. 38) ZivilisationskrusteWie diese Häuser nach dem Krieg ausgesehen haben? Dunkel waren sie. Braunverfärbte Tapeten, graues, verrußtes Gemäuer, Hinweisschilder auf den Luftschutzkeller, rumpelnde, unzuverlässige Boiler. Gesprungenes Porzellan, Klos und Waschbecken mit alten verdächtigen Rändern. Viel schadhafte weiße Emaille. Es roch ein wenig nach Kohle, zuweilen nach Urin und Kohl. Durchgetretene Dielen, kaputtes Parkett, selbst in einst hochherrschaftlichen Häusern des Frankfurter Westends. Da gab es nichts zu romantisieren. Da war Sanierung angebracht. Fünfzig Jahre Wohlstand haben diese Spuren beseitigt. Allerdings nicht immer nur zum Wohle der Häuser, in denen später auch der Billigmarmor und die Rauhfasertapete Einzug hielten. Ich überlege, wie schnell im Falle eines voranschreitenden wirtschaftlichen und (damit einhergehend) zivilisatorischen Niedergangs ein ähnlicher oder noch schlimmerer Zustand wieder eintreten könnte. Sehr viel schneller, als man denkt, denke ich. Schnellverslumung. Die Zivilisationskruste ist dünn. Die Materialien sind nicht unbedingt besser geworden. (Silvia Bovenschen: Älter werden) LektüreempfindenWie man nach dem Kippen eines guten Weinbrandes oder Whiskeys kurz das Gesicht verzieht, sich schüttelt und "Oh, ist das gut!" stöhnt, ergeht es mir mit Silvia Bovenschens Notatebuch Älter werden. Ich muß mich auf jeder Seite kurz schütteln, so grausam gut sind ihre Notate. Wohliges Schaudern bei der Lektüre, das ist ein herrlicher Genuß. GottFür eine alternde behinderte Mehrfachkranke ist der Glaube an einen zentralen Verursacher mehrfach behindert. Man muß entweder eine schlechte Meinung von sich selbst oder von dem Verursacher haben. (Silvia Bovenschen: Älter werden, S. 90) VergleichsniederlagenDie "gesicherten Vergleichsniederlagen" (Silvia Bovenschen) früherer Zeiten gehen dann verloren, wenn ein Abgleich nurmehr lächerlich wäre. Solange wir jung und einigermaßen präsentabel und schön sind, gewährt uns der Vergleich mit anderen eine Chance der Einordnung, wenn auch in den meisten Fällen eine Enttäuschung, eben eine "Vergleichsniederlage". In späteren und späten Jahre kann man dann allenfalls Falten zählen. Beziehungsweise, um das weiterzuspinnen, gerät unter älteren und alten Herrschaften ein Vergleich von Krankheiten und Symptomen eher zu einem triumphalen Aufzählen, einem zählerischen und zahlreichen Auftrumphen. Fehlte nur, daß ein Sieger gekürt würde: der Kränkeste, der Versehrteste, der mit den beeindruckendsten Blessuren. Zitate
Quelle und © - Silvia Bovenschen: Älter werden. Notizen. Frankfurt/M.: S. Fischer, 2006. 154 S. ISBN: 3-10-003512-7 |