Die Bibliothek bei NachtInhalt
Ein wunderbar verrückter Ort Ein wunderbar verrückter OrtBibliotheken, ob nun meine ganz persönliche oder eine, die ich mit einem größeren Publikum teile, sind mir schon immer als wunderbar verrückter Ort vorgekommen, und solange ich mich überhaupt zurückerinnern kann, hat mich ihre labyrinthische Logik verführt, die uns weismachen will, Vernunft (wenn auch keine Kunst) herrsche über eine kakophonische Ansammlung von Büchern. Es macht mir ein abenteuerliches Vergnügen, mich in Regalen, wo sie dicht an dicht stehen, zu verlieren, immer in abergläubischen Vertrauen darauf, daß jede feste Hierarchie der Buchstaben und Zahlen mich eines Tages ans verprochene Ziel bringen wird. (Seite 12) PrallvollAus schierer Notwendigkeit hat meine Bibliothek Regale, die gleich über dem Fußsockel beginnen und so weit hinaufreichen, daß gerade noch ein Buch im Oktavformat unter die Dachbalken paßt. (Seite 21) Anfängliches ÜberwältigtseinWie die meisten Arten von Liebe muß man die Liebe zu Bibliotheken lernen. Keiner, der zum ersten Mal in einen Raum voller Bücher tritt, weiß instinktiv, wie er sich benehmen soll, was von ihm erwartet wird, was erlaubt ist, was versprochen. Er könnte es mit der Angst zu tun bekommen - angesichts der Menge, der Unüberschaubarkeit, der Stille, der Überwachung, der spöttischen Erinnerung an all das, was er nie wissen wird -, und etwas von diesem Gefühl des Überwältigtseins bleibt vielleicht, selbst nachdem er die Rituale und Konventionen erlernt hat, nachdem er die Geographie erkundet und festgestellt hat, daß die Einheimischen durchaus freundlich sind. (Seite 13) SpiegelbildWenn eine Bibliothek ein Spiegel des Universums ist, dann ist ein Katalog das Spiegelbild dieses Spiegels. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 63) Des NachtsTagsüber ist die Bibliothek ein geordnetes Reich. Ich bewege mich zielstrebig durch die senkrechten und waagerechten Buchstabenkorridore, auf der Suche nach einem bestimmten Namen oder einer Stimme, lenke mein Augenmerk auf die in Reih und Glied geordneten Bücher. Die Struktur des Ortes ist deutlich sichtbar: Ein Labyrinth aus geraden Linien, in dem man sich nicht verirren, sondern zurechtfinden soll; ein klar unterteilter Raum mit einer offensichtlichen, logischen Ordnung, einer nach Inhalten, Alphabeten und Zahlen geordneten Geographie. Nachts aber verändert sich die Atmossphäre. (...) Unversehens bekommen meine Bewegungen etwas Verstohlenes, Geheimnisvolles. Ich verwandle mich in eine Art Geist. Die Bücher sind jetzt die wahren Lebewesen, die mich, den Leser, durch die kabbalistischen Rituale halbverschwommener Buchstaben heraufbeschwören und zu einem bestimmten Band, einer bestimmten Seite locken. Die Ordnung der Bibliothekskataloge ist in der Nacht nur Konvention; sie ist ohne Bedeutung im Reich der Schatten. Auch wenn meine eigene Bibliothek keinen solchen grandiosen Katalog hat, verlieren selbst lockere Ordnungsprinzipien wie die alphabetische Anordnung nach Autoren oder die Unterteilung in verschiedene Sprachen an Macht. Frei von den Zwängen des Alltags gleiten meine Augen und Hände zu so später Stunde ungehindert an den ordentlichen Reihen entlang und stellen das Chaos wieder her. Ein Buch ruft überraschend nach einem anderen, schafft Bündnisse über Kulturgrenzen und Jahrhunderte hinweg. Aus Gründen, die im hellen Licht des Tages betrachtet unklar bleiben, findet eine halberinnerte Zeile ihren Nachhall in einer anderen. Die Bibliothek, die in den Morgenstunden die Sehnsucht nach einer streng an Vernunftsprinzipien orientierten Weltordnung widerspiegelt, taucht nachts voller Freude ein in das elementare, fröhliche Durcheinander der Welt. (Seiten 22f.) Die Macht des LesersDie eigentliche Macht des Lesers liegt nicht in seiner Fähigkeit, Informationen zu sammeln, sie zu ordnen oder zu katalogisieren, sondern in seiner Gabe zu interpretieren, zu assoziieren und sich das Gelesene anzuverwandeln. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 107) Kein ungetrübtes VergnügenUnd doch ist die nächtliche Bibliothek nicht nach jedermanns Geschmack. Michel de Montaigne beispielsweise teilte meine Vorliebe für die Dunkelheit nicht. Seine Bibliothek (er sprach von librairie, nicht von bibliotheque, da die Bedeutung dieser Wörter in seinem wildbewegten sechszehnten Jahrhundert gerade im Wandel begriffen war) hatte er in einem alten Lagerraum im dritten Stock seines Turms. "Dort verbringe ich die meisten Tage meines Lebens und die meisten Stunden des Tags; des Nachts halte ich mich dort niemals auf", gestand er. In der Nacht schlief Montaigne, denn er war überzeugt, daß der Körper tagsüber genug unter dem lesenden Geist litt. "Bücher haben viele angenehme Seiten für die, welche zu wählen verstehen, doch es gibt keinen Nutzen ohne Mühe. Das Lesen ist kein einfaches und ungetrübtes Vergnügen, nicht einfacher und ungetrübter als jedes andere; es hat seine Unannehmlichkeiten, und diese sind beschwerlich; die Seele tummelt sich, aber der Körper, für den zu sorgen ich nicht vergessen habe, bleibt untätig und wird matt und müde und traurig." (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 25) LückenDie Qual der Lücke gehört ebenso zu jeder Bibliothek wie die Beschränkung durch Ordnung und Raum. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 130) BuchaufkleberWenn es sich um ein antiquarisches Buch handelt, lasse ich alle Spuren früherer Benutzer unangetastet, dieser Reisegefährten, die ihren Weg mit flüchtigen Randnotizen markiert haben, einem Namen auf dem Vorsatzblatt oder einem Busfahrschein als Lesezeichen. Alt oder neu, das Einzige, wovon ich meine Bücher stets zu befreien suche (in der Regel mit wenig Erfolg), ist das Preisschild, das böswillige Buchverkäufer auf den Rücken kleben. Dieser gräßliche weiße Schorf löst sich nur widerwillig und hinterläßt schwärende Wunden und klebrige Spuren, an denen sich im Laufe der Zeit Staub und Schmutz festsetzen, so daß in mir die Sehnsucht nach einer speziellen klebrigen Hölle erwacht, in der der Erfinder dieser Aufkleber bis ans Ende aller Zeiten schmoren soll. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 27) Cottons OrdnungsprinzipSir Robert Cotton, ein exzentrischer englischer Büchersammler des siebzehnten Jahrhunderts, bewahrte seine Bücher (darunter viele seltene Manuskripte, wie zum Beispiel die einzige bekannte Handschrift des 'Beowulf' und ein Exemplar des Evangeliars von Lindisfarne aus der Zeit um 698 n.Chr.) in zwölf Bücherschränken auf, ein jeder gekrönt von der Büste eines der zwölf römischen Cäsaren. Als die British Library einen Teil seiner Sammlung erwarb, behielt sie Cottons ungewöhnliches Ordnungsprinzip bei, und das Evangeliar von Lindisfarne trägt noch heute die Signatur 'Cotton MS Nero D. IY', weil es einst an vierter Stelle auf dem vierten Brett von oben in dem Bücherschrank mit der Büste des Kaisers Nero stand. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 55) Anordnung und KatalogisierungWenn ich eine Bibliothek betrete, bin ich stets aufs Neue fasziniert davon, wie dem Leser durch die Art der Katalogisierung und Anordnung eine bestimmte Weltsicht vermittelt wird. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 58) Auspacken von BüchernDas Auspacken von Büchern ist eine Offenbarung. Im Jahr 1931 beschrieb Walter Benjamin anläßlich eines seiner zahlreichen Umzüge die Erfahrung, inmitten seiner Bücher zu stehen. "Die leise Langeweile der Ordnung umwittert sie noch nicht." Sie weckten Erinnerungen an die Zeiten und Orte, an denen er sie zusammengetragen hatte, an die Begleitumstände, durch die jeder einzelne Band erst wirklich sein Eigentum geworden war. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 52) Ordnung schafft KonturAuch wenn Bücher chaotische Schöpfungen sind, deren tiefste Bedeutung sich dem Leser stets im letzten Augenblick entzieht, verleiht ihnen die Ordnung, in der ich sie aufbewahre, in gewisser Hinsicht Kontur (wie trivial auch immer) und auch einen gewissen Sinn (selbst wenn er noch so willkürlich erscheint) - ein bescheidener Anlaß zum Optimismus. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 79f.) Zweckfreies, zweckgerichtetes LesenVirginia Woolf hat einmal versucht zu unterscheiden zwischen Menschen, die das Wissen lieben, und solchen, die das Lesen lieben, und kam zu dem Schluß, daß es "zwischen den beiden keinerlei Verbindung gibt". "Ein Gelehrter", schrieb sie, "ist ein gesetzter, konzentrierter, einsamer Enthusiast, der Bücher durchforstet auf der Suche nach einem ganz bestimmten Körnchen Wahrheit, an dem sein Herz hängt. Wenn ihn die Leseleidenschaft packt, verliert er sein Ziel aus den Augen, und der Nutzen zerrinnt ihm zwischen den Fingern. Ein Leser hingegen muß seine Sehnsucht nach Wissen von Anbeginn an zügeln; wenn er Wissen erwirbt, gut und schön, aber sobald er bewußt danach strebt und systematisch liest, um zum Spezialisten oder zur Koryphäe zu werden, tötet er aller Wahrscheinlichkeit nach genau das ab, was in unseren Augen die menschlichere Leidenschaft ist, die Leidenschaft für das reine, zweckfreie Lesen." (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 27f.) ErwartbarAuf jeder Seite in jedem Buch in meiner Bibliothek könnte die perfekte Darstellung meiner geborgensten Erfahrung der Welt schlummern. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 40) Ritual der WiedergeburtGestaltlos wie Wasser, zu groß, als daß ein Sterblicher es wahrnehmen könnte, lädt das Web uns ein, das nicht zu Bewältigende mit dem Unendlichen zu verwechseln. Und das Web ist wandelbar wie das Meer: 70 Prozent seiner Botschaften bleiben noch nicht einmal vier Monate lang bestehen. Gerade das Virtuelle garantiert eine permanente Gegenwart - was für die Gelehrten des Mittelalters eine Eigenschaft der Hölle war. Alexandria und seine Gelehrten dagegen vergaßen nie, was Vergangenheit bedeutete; sie wußten, daß sie der Quell einer immer neuen Gegenwart war; in der neue Leser sich auf alte Bücher einließen, die mit jedem Lesen wieder neu wurden. Jeder Leser garantiert dem Buch, das er liest, eine bescheidene Unsterblichkeit. Lesen ist, so gesehen, ein Ritual der Wiedergeburt. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 38) Eine AhnungVielleicht bietet jede Bibliothek, egal wie persönlich, durch das Kaleidoskopartige in ihrer Natur jedem, der sie betritt, einen Spiegel dessen, was er sucht, eine verlockende Ahnung davon, was wir als Leser sind, einen Blick auf eine verborgene Seites unseres Ichs. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 331) Die Kraft des ErinnernsDie Existenz jeder Bibliothek, selbst meiner eigenen, gibt dem Leser einen Begriff davon, worum es beim Handwerk des Lesens in Wirklichkeit geht, ein Handwerk, das sich gegen die Zwänge der Zeit stemmt, indem es Bruchstücke der Vergangenheit in die Gegenwart hereinholt. Es gestattet den Lesern einen Blick, so verstohlen oder indirekt er auch mag, in den Verstand anderer Menschen und vermittelt ihnen gewisse Kenntnisse über sich selbst durch Geschichten, die hier für sie aufbewahrt werden. Mehr als alles andere sagt eine Bibliothek den Lesern, daß das Handwerk des Lesens aus der Kraft des Erinnerns besteht, aktiv und unter Mithilfe der gedruckten Seite, Erinnerung an ausgewählte Momente der menschlichen Erfahrung. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 41) GegensätzlichBei Licht lesen wir das, was andere ersonnen haben; in der Dunkelheit erfinden wir unsere eigenen Geschichten. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 297) Eine namenlose BibliothekManchmal träumte ich nachts von einer gänzlich namenlosen Bibliothek, in der die Bücher weder Titel noch Autor kennen, sondern zu einem kontinuierlichen Erzählstrom verschmelzen, in den alle Genres, alle Stilrichtungen und alle Geschichten einfließen und wo alle Protagonisten und Orte unbenannt sind, ein Strom, in den ich an jedem beliebigen Punkt eintauchen kann. In einer solchen Bibliothek würde der Held aus Kafkas "Schloß" an Bord der "Pequod" auf die Suche nach dem Heiligen Gral gehen, auf einer einsamen Insel stranden, um dort aus den angespülten Wrackteilen eine neue Gesellschaft zu errichten, würde von seiner schicksalhaften ersten Begegnung mit dem Eis sprechen und in allen Einzelheiten davon berichten, wie er früh zu Bett ging. In einer solchen Bibliothek gäbe es nur ein einziges Buch in einigen tausend Bänden und - Kallimachos und Dewey mögen mir verzeihen - keinen Katalog. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 75) Keine letzten KäufeFür Leser wie mich gibt es keine "letzten" Käufe, bevor ich nicht im Grabe liege. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 82) RaumproblemeEin höchst beunruhigendes Merkmal der physischen Welt aber trübt den Optimismus, den der Leser in jeder wohlgeordneten Bibliothek empfindet: die Begrenztheit des Raums. Ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, daß, ganz gleich, wie ich meine Bücher anordnen will, der dafür zur Verfügung stehende Raum notgedrungen meine Entscheidungen beeinflußt und - was noch wichtiger ist - binnen kürzester Zeit zu klein für sie wird, so daß ich mich gezwungen sehe, die Ordnung erneut zu verändern. In einer Bibliothek bleibt ein leeres Regalbrett nicht lange leer. Wie die Natur ertragen auch Bibliotheken kein Vakuum, und es gibt keine Sammlung von Büchern, die nicht unter Platzproblemen leidet. Hier liegt das Paradox jeder allgemeinen Bibliothek: Wenn sie sich im mehr oder weniger großen Umfang zum Ziel gesetzt hat, durch das Sammeln und Aufbewahren von Büchern so umfassend wie möglich Zeugnis von der Welt abzulegen, dann muß diese Absicht sich irgendwann selbst überflüssig machen, da sie erst dann ihr Ziel erreicht, wenn die Grenzen der Bibliothek mit denen der Welt selbst zur Deckung kommen. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 80) Ausweise für Kinder?Später, in meinem Haus in Toronto, stellte ich praktisch überall Bücherregale auf - in den Schlafzimmern und in der Küche, auf den Fluren und im Badezimmer. Sogar der überdachte Windfang vor der Haustür war mit Regalen bestückt, so daß meine Kinder sich schließlich beklagten, sie bräuchten demnächst einen Bibliotheksausweis, wenn sie ihr eigenes Zuhause betreten wollten. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 81) Behausung und SchutzDas Zimmer, in dem sich ein Schriftsteller (diese ganz besondere Subspezies des Lesers) mit all den Dingen umgibt, die er für sein Arbeit benötigt, erinnert irgendwie an den Bau oder das Nest eines Tieres; es bietet seinem Körper Schutz und ist zugleich Behausung für seine Gedanken. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 200) Auslöschen zweitrangiger LiteraturLetztlich übersteigt die Zahl der Bücher immer die Kapazitäten des zur Verfügung stehenden Raums. Im zweiten Kapitel von 'Sylvie und Bruno' ersann Lewis Carroll die folgende Lösung: 'Das wäre freilich eine großartige Sache..., wenn wir diese Regel wirklich auf Bücher anwenden könnten! Sehen Sie, um das kleinste gemeinsame Vielfache zu ermitteln, außer in dem Glied, in dem sie zu ihrer höchsten Potenz erhoben ist. Wir müssten folglich jeden aufgezeichneten Gedanken auslöschen und ihn nur in dem Satz stehen lassen, der ihn am intensivsten ausdrückt." Worauf seine Gesprächspartnerin einwendet: 'Ich fürchte, von einigen Büchern blieben nur die blanken Seiten übrig.' 'Bestimmt', räumt der Erzähler ein. 'Die meisten Bibliotheken würden schrecklich viel an Quantität einbüßen. Aber stellen Sie sich vor, wie sehr sie an Qualität gewönnen!' Ein ähnlicher Tenor findet sich in einem am Ende des ersten Jahrhunderts in Lyon formulierten strengen Gesetz: Es fordere, daß nach jedem Dichterwettstreit die Verlierer ihre poetischen Bemühungen mit der Zunge löschen sollten, damit keine zweitrangige Literatur überdauerte. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 84) Lebendig begrabenUm der ständig wachsenden Bestände Herr zu werden (allerdings nicht immer im Dienste höherer Qualität), haben Leser alle möglichen schmerzlichen Methoden ersonnen: Sie haben ihre Schätze ausgedünnt, die Bücher in zwei Reihen hintereinander aufgestellt, haben sich von bestimmten Sektionen getrennt, ihre Taschenbücher verschenkt, manche sind sogar ausgezogen und haben das Haus ihren Büchern überlassen. Dem einen oder anderen scheint keine dieser Möglichkeiten erträglich. Kurz nach Weihnachten 2003 mußte ein dreiundvierzigjähriger New Yorker namens Patrice Moore von der Feuerwehr aus seiner Wohnung gerettet werden, nachdem er zwei Tage lang verschüttet unter einer Lawine von Zeitschriften und Büchern gelegen hatte, die er beharrlich über mehr als ein Jahrzehnt angehäuft hatte. Nachbarn hörten sein Stöhnen und Murmeln durch die Tür, die vom vielen Papier versperrt war. Erst als man das Schloß aufbrach und die Retter sich einen Weg durch die alles verschüttenden Berge von Druckwerk bahnten, fand man Moore in einer winzigen Ecke seiner Wohnung, buchstäblich unter Büchern begraben. Es dauerte mehr als eine Stunde, bis man ihn befreit hatte; fünfzig Säcke mit bedrucktem Papier mußten herausgeschleppt werden, ehe man diesen unermüdlichen Leser erreichte. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 85f.) Sich laut vorlesenDer humanistische Lehrer Battista Guarino (...) war der festen Überzeugung, man solle nicht still lesen oder "leise vor sich hin murmeln, denn es geschieht allzu oft, daß jemand, der sich selbst nicht hören kann, eine Anzahl von Versen überspringt, als sei er in Gedanken anderswo. Lautes Lesen fördert in hohem Maße das Verständnis, denn das, was wie eine von außen kommenden Stimme zu uns dringt, weckt über unser Ohr den Verstand zu höchster Aufmerksamkeit". Guarino meint sogar, das laute Vortragen eines Textes sei der Verdauung des Lesers zuträglich, denn es "steigert die Temperatur und verdünnt das Blut, reinigt alle Venen und öffnet die Arterien und läßt keinen Tropfen Flüssigkeit reglos dort verweilen, wo Nahrung aufgenommen und verdaut wird." Außerdem dient es auch der geistigen Verarbeitung des Gelesenen: In meiner Schreibecke in der Bibliothek, wo niemand mich hören kann, lese ich mir oft vor, weil ich mir dabei den Inhalt des Textes besser einverleiben, ihn besser in mich aufnehmen kann. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 201) Bibliothek und ArchitekturBücher verleihen einem Zimmer eine eigene Identität, die in bestimmten Fällen auf den Besitzer abfärben kann - eine Tatsache, der sich auch unkultivierte Menschen sehr wohl bewußt sind, weswegen sie manchmal darauf bestehen, vor einer Bücherwand abgelichtet zu werden, denn sie hoffen, dies könne sie mit einem Hauch von Bildung umgeben. Seneca verspottete Leser, die ihre Bücher ostentativ zur Schau stellten, um sich so intellektuelles Ansehen zu verschaffen; er fand, man solle nur eine geringe Zahl von Büchern besitzen, keine "endlosen Regale, wie sie die Speisezimmer der Unwissenden zieren". Der Raum, in dem wir unsere Bücher aufbewahren, verändert seinerseits unser Verhältnis zu ihnen. Je nachdem, ob wir in einem runden oder eckigen Raum sitzen, einem Raum mit niedriger Decke oder hohen Dachbalken, verändern sich unsere Lesegewohnheiten. Und die geistige Atmossphäre, die wir beim Lesen schaffen, der imaginäre Raum, den wir errichten, wenn wir uns in den Seiten eines Buches verlieren, harmoniert entweder mit der physischen Gestalt der Bibliothek oder läuft dieser zuwider, beeinflusst durch den Abstand der Regale, die Masse oder geringe Anzahl der Bücher, durch Dinge wie Geruch und Textur und das Verhältnis von Licht und Schatten. "Jeder Bibliothekar ist in gewissem Sinne Architekt", sagt Michel Melot, der Direktor der Bibliothek des Pariser Centre Pompidou. "Er gestaltet seine Sammlung als Ensemble, in dem sich der Leser einen Weg suchen, sich selbst entdecken und leben muß." (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 152f.) Einflüsse und DauerWelche Bücher an einem Ort zusammenkommen, hängt ab von den skurrilen Vorlieben eines Sammlers, den Hausgöttern einer Gemeinschaft, von Kriegen und der verstreichenden Zeit, von Nachlässigkeit oder Sorgfalt, davon, daß niemand voraussehen kann, was überdauern wird, oder von willkürlichen Säuberungsaktionen, und manchmal dauert es Jahrhunderte, bis eine Ansammlung von Büchern tatsächlich die Bezeichnung Bibliothek verdient. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 187) Bibliothek & RäumlichkeitDie Bibliothek, die ich mir für meine Bücher vorgestellt hatte, schon lange vor Beginn der Bauarbeiten, zeigte bereits deutlich, wie ich gerne lesen wollte. Es gibt Leser, die eine Geschichte am liebsten in einem winzigen Raum einsperren wollen; anderen bietet ein weiträumiger, runder, öffentlicher Raum eher die Möglichkeit, sich vorzustellen, wie der Text sich zu fernen Horizonten hin entfaltet; wieder andere finden Gefallen an einem Labyrinth von Räumen, das sie von Kapitel zu Kapitel durchwandern können. Ich selbst träumte von einer niedrigen, langgestreckten Bibliothek, wo die beleuchteten Inseln auf meinem Schreibtisch immer von so viel Dunkelheit umgeben waren, daß ich mir vorstellen konnte, draußen herrsche Nacht, von einem rechteckigen Raum mit spiegelbildlich gleichen Wänden auf beiden Seiten, wo ich stets das Gefühl haben konnte, alle Bücher befänden sich in Griffweite. Ich lese sehr unsystematisch, folge bei der Lektüre meinen Assoziationen, entdeckte Verbindungen zwischen Büchern einfach nur durch ihre räumliche Nähe oder weil sie von gegenüberliegenden Seiten des Raumes miteinander kommunizieren. Die Form, die ich für meine Bibliothek wählte, kommt meinen Lesegewohnheiten entgegen. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 153) BuchauswahlWir wandern an endlosen Bibliotheksregalen entlang und wählen ohne ersichtlichen Grund bald diesen, bald jenen Band, verlockt durch ein Umschlagbild, einen Titel, einen Namen vielleicht; weil jemand etwas über dieses Buch gesagt hat oder auch nicht; aus einem unbestimmten Gefühl oder eine Laune heraus, aus Versehen oder weil wir glauben, in diesem Band eine ganz bestimmte Geschichte oder Figur zu finden; weil wir denken, das Buch sei uns auf den Leib geschrieben, oder weil wir glauben, es richte sich an alle außer uns selbst, und nun herausfinden wollen, warum wir nicht mit dazugehören; weil wir etwas lernen wollen oder lachen oder einfach alles ringsumher vergessen. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 246f.) Der Mann von OuadaneIn Ouadane erzählt man sich die Geschichte von einem Bettler, der Anfang des fünfzehnten Jahrhunderts an den Toren der Stadt erschien, verhungert, die Kleider zerlumpt. Man brachte ihn in die Moschee, nährte und kleidete ihn, aber keiner konnte ihn dazu bringen, den Namen seiner Geburtstadt zu verraten, Alles, woran dem Mann zu liegen schien, waren lange Stunden zwischen den Büchern von Ouadane, und er saß in vollkommender Stille dort und las. Nach Monaten solch geheimnisvollen Betragens verlor der Imam schließlich die Geduld, und er sagte zu dem Bettler: "Es steht geschrieben, daß der, welcher sein Wissen nicht mit anderen teilt, im Himmelreich nicht willkommen ist. Jeder Leser ist nichts als ein Kapitel im Leben eines Buches, und wenn er sein Wissen nicht an andere weitergibt, dann ist es, als verdamme er das Buch dazu, daß es lebendig begraben ist. Willst du das etwa den Büchern wünschen, die du so gern gelesen hast?" Als er das hörte, öffnete der Fremde den Mund und gab einen langen und klugen Kommentar zu dem frommen Text, den er vor sich liegen hatte. Der Imam erkannte in dem Besucher einen hochberühmten Gelehrten, der an der Taubheit der Welt verzweifelt war und ein Gelübde abgelegt hatte zu schweigen, bis er an einen Ort käme, an dem die Gelehrsamkeit noch wahrhaft etwas galt. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 189) Die Höfe der AltenWenn Niccolo Machiavelli, am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts seinen Verstand an seinen Lieblingsbüchern schulte, tat er das am liebsten nachts - die Zeit, wo es ihm am leichtesten fiel, das zu genießen, was für ihn am meisten die Beziehung zwischen Leser und Buch bestimmte: Intimität und entspanntes Nachdenken. "Wenn es Abend wird, kehre ich heim und gehe in mein Studierzimmer. An der Tür entledige ich mich meiner mit Dreck und Staub bedeckten Alltagskleidung und ziehe höfische und geistliche Kleider an. So bekleidet, wie es sich gehört, trete ich in die altehrwürdige Höfe der Alten ein. Von ihnen liebenswürdig empfangen, nehme ich von der Speise zu mir, die alleine die meine ist und für die ich geboren bin. Ich schäme mich nicht, mit ihnen zu sprechen und nach den Gründen ihres Tuns zu fragen, und sie sind menschlich genug, mir zu antworten. Und für die Dauer von vier Stunden fühle ich keine Langeweile, vergesse alle meine Sorgen, fürchte ich nicht die Armut und ängstige ich mich nicht vor dem Tode: Ihnen gebe ich mich ganz hin." (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 212) Autobiografische BibliothekIn meiner Bibliothek gibt es keinen Katalog; wenn ich die Bücher selbst in die Regale gestellt habe, weiß ich in der Regel, wo sie sind, sobald ich mir die Bibliothek vorstelle, und Licht und Dunkel spielen bei meinen Erkundungen keine große Rolle. Die erinnerte Ordnung folgt einer inneren Struktur, der Form und Unterteilung der Bibliothek; dabei gleiche ich einem Sternenkundigen, der die stecknadelgroßen Lichtpunkte der Sterne zu erzählenden Mustern verbindet, und die Bibliothek spiegelt zugleich die Gestalt meines Geistes, ihres fernen Astrologen. Die planvolle und dennoch willkürliche Anordnung auf den Regalen, die Wahl der Themen, die ganz persönliche Biographie eines jeden Buches, die Spuren bestimmter Zeiten und Orte zwischen den Seiten, all das sind Hinweise auf die Persönlichkeit eines lesenden Individualität. Ein guter Beobachter könnte wahrscheinlich sagen, wer ich bin, wenn er auf meinen Regalen die zerfledderte Ausgabe der Gedichte von Blas de Otero sähe, die Menge an Büchern von Robert Louis Stevenson, die vielen Kriminalromane, die verschwindend geringe Bücher von Platon, die wenigen von Aristoteles. Jede Bibliothek ist autobiographisch. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 218) Reihenfolge der LektüreBücher verändern sich durch die Reihenfolge der Lektüre. Liest man den 'Don Quijote' nach Kiplings 'Kim', ist es nicht dasselbe Buch wie wenn man zuvor 'Huckleberry Finn' gelesen hat, denn es verändert sich im Lichte der vorangegangenen Erfahrungen des Lesers mit Reisen, Freundschaften und Abenteuern. Jedes Buch aus diesem Kaleidoskop wandelt sich unablässig; jede neue Lektüre gibt ihm eine neue Wendung, läßt ein anderes Muster entstehen. Vielleicht ist jede Bibliothek im Grund unbegreiflich, denn wie der Verstand reflektiert sie sich selbst, vervielfacht sich exponentiell mit jeder neue Spiegelung. Und doch erwarten wir von einer Bibliothek aus realen Büchern eine ganz andere Konsequenz als von der Bibliothek unseres Geistes. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 220) Bibliothek & ErinnerungSolche fließenden, geistigen Bibliotheken sind (oder waren) nichts Ungewöhnliches; sie sind charakteristisch für die islamische Welt. Obwohl der Koran sehr früh aufgezeichnet wurde, existiert ein Großteil der altarabischen Literatur lange Zeit ausschließlich im Gedächtnis ihrer Leser. So fand man nach dem Tod des bedeutenden Dichters Abu Nuwas im Jahr 815 nirgendwo eine Ausgabe seiner Werke; der Dichter hatte seine sämtlichen Gedichte auswendig gelernt, und um sie zu Papier zu bringen, mußten die Schreiber auf das Gedächtnis derer zurückgreifen, die dem Meister gelauscht hatten. Präzision der Erinnerung war von überragender Bedeutung, und während des gesamten arabischen Mittelalters galt es als wertvoll, durch den mündlichen Vortrag eines Buches zu lernen als durch private Lektüre, denn durch den Vortrag fand der Text über den Geist Zugang zum Körper, nicht nur über die Augen. Autoren veröffentlichten ihre Werke nicht, indem sie sie selbst niederschrieben, sie diktierten sie ihren Gehilfen, und Schüler lernten, indem sie dem Vortrag dieser Texte durch ihre Lehrer lauschten. Da man in der islamischen Welt glaubte, die mündliche Weitergabe sei die einzig legitime Form der Überlieferung (nicht das physische Abbild in der materiellen Welt der Bücher und Manuskripte, obwohl diese immerhin so wichtig waren, daß man sie in Schulen und Moscheen aufbewahrte), galt das Gedächtnis als die große Schatzkammer des Wissens. In gewisser Hinsicht waren "Bibliothek" und "Erinnerung" gleichbedeutend. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 221) Nebentätigkeit einer MinderheitBibliotheken waren von jeher Einrichtungen, die nicht von jedem benutzt wurden. Ob in Mesopotamien oder in Griechenland, in Buenos Aires oder Toronto - überall leben Leser und Nichtleser Seite an Seite, und die Leser waren schon immer in der Minderzahl. Ob in den exklusiven Skriptorien der Sumerer oder des europäischen Mittelalters, im volkstümlichen London des achtzehnten oder im populistischen Paris des einundzwanzigsten Jahrhunderts - die Zahl derer, für die das Lesen von Büchern lebenswichtig ist, ist verschwindend gering. Was sich verändert, sind nicht die zahlenmäßigen Proportionen, sondern die Haltung, die unterschiedliche Kulturen gegenüber dem Buch und der Kunst des Lesens einehmen. Und dabei kommt wieder der Unterschied zwischen dem inthronisierten Buch und dem tatsächlich gelesenen Buch ins Spiel. Wenn ein Besucher aus der Vergangenheit in einer unserer heutigen Städte stranden würde, wäre dieser Gulliver gewiß überrascht über unsere Lesegewohnheiten. Was würde er sehen? Riesige Konsumtempel, in denen Tausende von Büchern über den Ladentisch gehen, gewaltige Bauwerke, wo die publizierte Welt fein säuberlich nach Kategorien geordnet die gelenkte Aufmerksamkeit der Gläubigen erwartet. Er würde Bibliotheken sehen, zwischen deren Regalen Leser umherlaufen, wie sie es seit Jahrhunderten tun. Er würde sehen, wie sie die virtuellen Bibliotheken erforschen, die einen Teil der Bücher ersetzen, so daß sie nur noch ein Leben als flüchtige, elektronische Gespenster fristen. Auch jenseits der Bibliotheksmauern würde unser Zeitreisender überall auf Leser treffen: auf Parkbänken, in der U-Bahn, in Bussen, Straßenbahnen und Fernzügen, in Wohnungen und Häusern, überall. Man könnte es unserem Besucher nicht verübeln, wenn er zu dem Schluß käme, wir lebten in einer überaus belesenen Gesellschaft. Doch das Gegenteil ist der Fall. Unsere Kultur nimmt das Buch als gegeben hin, aber den Akt des Lesens - der einst nicht nur als nützlich und wichtig galt, sondern auch als potenziell gefährlich und subversiv - wertet sie herablassend als reinen Zeitvertreib, als gemächlichen Zeitvertreib, der nicht viel bewirkt und nichts zum Allgemeinwohl beiträgt. Wie unser Besucher schließlich feststellen würde, ist das Lesen in der heutigen Kultur nichts als eine Nebentätigkeit, und das große Reservoir unserer Erinnerungen und Erfahrungen, die Bibliothek, gilt weniger als lebender Organismus denn als unpraktische Aufbewahrungsstätte. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 248) Die EselsbibliothekUnter den Gestalten, die Bibliotheken heutzutage annehmen, gibt es auch einige, die ohne neue Techniken auskommen (oder sie sich nicht leisten können). 1990 richtete das kolumbianische Kultusministerium eine Organisation reisender Bibliotheken ein, die Bücher bis an die entferntesten Winkel des Landes brachte. Busse als rollende Bibliotheken hatte es in den Bezirken rund um Bogota schon seit 1982 gegeben, aber die Regierung wollte auch die Bewohner der entlegenen ländlichen Gegenden erreichen. Zu diesem Zweck ersann man große grüne, leicht zusammenfaltbare Tragetaschen, in denen sich Bücher auf Eselsbrücken durch Urwald und Sierra transportieren ließen. Hier überläßt man die Bücher für einige Wochen einem Lehrer oder Dorfältesten, der damit de facto Bibliothekar wird. Die Taschen werden aufgeschlagen und an einen Pfosten oder Baum gehängt, so daß die Einheimischen sich das Angebot ansehen und etwas aussuchen können. Manchmal liest der Bibliothekar denen, die nicht lesen gelernt haben, laut etwas vor; gelegentlich liest auch eine Familienmitglied, das zur Schule gegangen ist, für die anderen. "So können wir erfahren, was wir nicht wissen", sagte ein Dörfler, "und es an die anderen weitergeben." Nach einer bestimmten Zeit kommt ein neues Sortiment, und das alte wird wieder abgeholt. Die meisten sind technische Werke, Agrar- Handbücher, Anweisungen zur Filterung von Wasser, Schnittmustersammlungen und Leitfäden zur Tierheilkunde, aber ein paar Romane und andere literarische Werke sind immer dabei. Eine Bibliothekarin berichtet, daß die Bücher in Ehren gehalten würden. "Ich weiß von nur einem einzigen Fall, in dem ein Buch nicht zurückkam, erzählt sie. "Wir hatten mit den üblichen praktischen Titeln auch eine spanische Übersetzung der 'Ilias' mitgegeben. Als die Zeit zum Wechsel kam, weigerten die Dorbewohner sich, sie wieder herauszugeben. Wir beschlossen, sie ihnen zu schenken, aber wir wollten wissen, warum sie denn gerade dieses Buch behalten wollten. Sie erklärten, daß Homer genau ihre Geschichte erzähle: ein vom Krieg zerissenes Land, wo wütende Götter willkürlich über das Schicksal der Menschen entscheiden, die nicht einmal wissen, worum überhaupt gekämpft wird, und nicht wissen, wann sie umkommen werden." Diese kolumbianischen Leser wissen es - unser Leben fließt, wie ein unmöglicher Fluß, in zwei Richtungen: Von der unendlichen Zahl an Namen, Orten, Geschöpfen, Sternen, Büchern, Ritualen, Erinnerungen, Erkenntnissen und Steinen, die wir die Welt nennen, zu dem Gesicht, das und jeden Morgen aus der Tiefe des Spiegels anstarrt; und von diesem Gesicht, von diesem Körper, der ein Zentrum umhüllt, das wir nicht sehen können, das, das wir meinen, wenn wir "ich" sagen, hin zu allem, was das andere ist, draußen, jenseits. Ein Gefühl für unseren Platz, als Gemeinschaft, in einem unvorstellbaren Universum, verleiht unserem Leben so etwas wie einen Sinn, den die Bücher in unseren Bibliotheken in Worte fassen. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 255f.) KZ-BibliothekenIm September 1943 richteten die Nazis als Erweiterung des Ausschwitz-Komplexes im Wald von Birkenau ein "Familienlager" ein; dazu gehörte auch ein Block, Nr. 31, der speziell für Kinder gebaut war. Damit sollte der Welt bewiesen werden, daß die Juden, die man in den Osten deportierte, nicht in den Lagern umgebracht wurden. Tatsächlich durften sie sechs Monate lang am Leben bleiben, bevor sie das gleiche Schicksal wie die anderen Opfer ereilte. Nachdem es seinen Propagandazweck erfüllt hatte, wurde das "Familienlager" geschlossen. In seiner aktiven Zeit beherbergte Block 31 bis zu fünfhundert Kinder zusammen mit einigen Gefangenen, die als "Betreuer" abkommandiert waren, und trotz strengster Überwachung hatte er, so unglaublich das klingt, eine versteckte Kinderbücherei. Sie war winzig; sie bestand aus acht Büchern, darunter H.G. Wells' "Die Geschichte unserer Welt", ein Russisch- und ein Geometrielehrbuch. Ein- oder zweimal gelang es jemandem, der aus einem anderen Lager kam, ein neues Buch einzuschmuggeln, und die Gesamtzahl stieg auf neun oder zehn. Am Ende jedes Tages wurden die Bücher zusammen mit anderen wertvollen Dingen, Medizin etwa oder Nahrungsmitteln, einem der älteren Mädchen anvertraut, dessen Aufgabe es war, die Sachen jede Nacht an einem anderen Ort zu verstecken. Es ist paradox, aber Bücher, die im ganzen Reich verboten waren, fanden manchmal einen Weg in die Konzentrationslager. (...) Dabei wechselten sie sich ab, so daß sie jedes Mal anderen Kindern "vorlasen". Dieses System der Rotation bezeichneten sie als "Büchertausch". (...) Sogar die normale, alltägliche Routine des Lesens ging unbeirrt weiter. Dieses Beharrungsvermögen steigert unser Staunen ebenso wie unser Entsetzen: darüber, daß Männer und Frauen mit diesem Albtraum vor Augen die Geschichten von Victor Hugos Jean Valjean und Tolstois Natascha lesen konnten, daß sie die Vorzüge eines zeitgenössischen Autors diskutierten oder sich wieder einmal in Heines wohlklingende Verse vertieften. Das Lesen und die damit verbundenen Rituale wurden zu Akten des Widerstands. Wie der italienische Psychologe Andrea Devoto sagt, "konnte man alles als Widerstand deuten, weil alles verboten war." Unter den Insassen des Konzentrationslagers Bergen-Belsen kursierte ein einziges Exemplar von Thomas Manns 'Zauberberg'. Ein Junge erinnerte sich, wie es war, wenn er das Buch endlich in Händen hielt, der "Höhepunkt des Tages... Ich zog mich in eine Ecke zurück, um ungestört zu sein, und dann blieb mir eine Stunde zum Lesen". Ein anderes junges Opfer aus Polen sagt über diese Tage voller Angst und Verzagtheit: "Das Buch war mein bester Freund, es verriet mich nie; es tröstete mich in der Verzweiflung; es zeigte mir, daß ich nicht allein war." (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 268) BuchbearbeitungIch habe keinerlei Schuldgefühle gegenüber den Büchern, die ich nicht gelesen habe und vielleicht nie lesen werde; ich weiß, meine Bücher haben unbegrenzte Geduld mit mir. Sie werden auf mich warten bis ans Ende meiner Tage. Sie erwarten nicht von mir, daß ich tue, als ich tue, als ob ich sie alle kenne, noch drängen sie mich, ein "berufsmäßiger Buchbearbeiter" zu werden, wie Flann O'Brien sie sich ausmalt - Leute, die eifrig Bücher sammeln und die (gemäß O'Brien) ihr Geld damit verdienen könnten, daß sie gegen eine geringe Summe Bücher "bearbeiten", dafür sorgen, daß sie gelesen aussehen, sie mit falschen Randbemerkungen und Widmungen versehen, ja selbst Theaterprogramme und andere Erinnerungsstücke als Lesezeichen zwischen die jungfäulichen Seiten stecken. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 280) Samuel Johnson als LeserSamuel Johnson selbst las ohne jede Disziplin oder Methode; manchmal ließ er Bücher unaufgeschnitten und las nur die Seiten, die sich zwischen den Bögen öffneten. "Ich glaube nicht", sagte er, "daß auf den verschlossenen Seiten Schlimmeres steht als auf den offenen." Er fühlte sich nie verpflichtet, ein Buch zu Ende zu lesen oder auf der ersten Seite zu beginnen. "Wenn jemand in der Mitte eines Buches anfängt und weiterlesen will, dann sollte er sich nicht zwingen, zum Anfang zu blättern. Vielleicht spürt er den Wunsch zum Weiterlesen dann nicht mehr." Er fand, es sei "ein seltsamer Rat", wenn jemand dränge, ein Buch zu Ende zu lesen. "Man kann sich ebenso gut damit abfinden", sagte er, "daß man die Bekanntschaft, die man macht, sein Leben lang behalten wird." Er suchte auch nicht nach bestimmten Titeln, sondern las, was ihm gerade begegnete. Für seine Begriffe war der Zufall ein genauso guter Ratgeber wie die Wissenschaft. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 281/82) Imaginäre BibliothekIn einem der Memoirenbände, mit denen sie gern ihre Leser der dreißiger und vierziger Jahre schockierte, erzählt Colette von den imaginären Bibliothekskatalogen, die ihr Freund Paul Masson zusammenstellte - ein ehemaliger Kolonialbeamter mit einem Posten an der Bibliotheque Nationale, ein Exzentriker, der seinem Leben ein Ende setzte, indem er sich ans Ufer des Rheins stellte, sich in Äther getränkte Wattebäusche in die Nasenlöcher steckte und in bewußtlosem Zustand in gerade fußhohem Wasser ertrank. Colette berichtet davon, wie Masson sie in ihrer Villa am Meer zu besuchen pflegte und aus den Taschen eine Schreibunterlage hervorholte, einen Füllfederhalter und ein kleines Päckchen leerer Karteikarten. "Was machst du da, Paul?", fragte sie ihn eines Tages. "Ich arbeite", antwortete er. "das ist meine Arbeit. Ich gehöre zur Katalogabteilung der Bibliothekque Nationale, ich katalogisiere die Bestände." "Oh... und das kannst du aus dem Gedächtnis?" staunte sie. "Dem Gedächtnis? Wozu sollte das gut sein? Nein, ich mache es besser. ich habe festgestellt, daß die Bibliothek nur sehr wenige lateinische und italienische Bücher aus dem fünfzehnten Jahrhundert hat", erklärte er. "Bis Zeit und Gelehrsamkeit die Lücken füllen, führe ich alle die hochinteressanten Werke auf, die es geben sollte... Diese Titel werden zumindest das Ansehen des Katalogs retten...." "Aber wenn es die Bücher doch gar nicht gibt...? "Nun", antwortete Masson mit einer leichtfertigen Geste, "ich kann ja nicht alles tun!" (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 310) Zu viel LichtWorte verlangen nach Licht, damit man sie lesen kann, dem gesprochenen Wort aber scheint das Licht abträglich. Als Thomas Jefferson um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts in Neuengland die Argandlampe einführte, stellte man fest, daß die Tischgespräche, die zuvor bei Kerzenlicht geführt wurden, längst nicht mehr so funkelten wie bisher, weil diejenigen, die dabei besonders geglänzt hatten, sich nun zum Lesen in ihre Zimmer zurückzogen. "Ich habe zu viel Licht", sagt der Buddha und weigert sich weiterzusprechen. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 297) Im Anfang war das WortDie Überlieferung lehrt uns, daß Worte, nicht das Licht, als Erste aus der Finsternis vor Anbeginn der Welt auftauchten. Als Gott sich anschickte, die Welt zu erschaffen, entstiegen nach der talmudischen Legende die zweiundzwanzig Buchstaben des Alphabets seinem ehrfurchtgebietenden, erhabenen Haupt und flehten ihn an, seine Schöpfung mit ihrer Hilfe zu bewerkstelligen. Gott willigte ein. Er gestattete dem Alphabet, Himmel und Erde in der Finsternis zu gebären und erst danach den ersten Lichtstrahl aus dem Inneren der Erde hervorbrechen zu lassen, so daß es aus dem Heiligen Land hervorbrach und von da aus das gesamte Universum erhellte. Licht, oder das, was wir für Licht halten, so erlärt Sir Thomas Browne, ist nur der Schatten Gottes, in dessen gleißend hellem Licht Worte unmöglich sind. Moses war so geblendet selbst von dem abgewandten Gott, daß er erst in der Dunkelheit des Sinai in der Lage war, seinem Volk die Gebote des Herrn zu verkünden. Der Evangelist Johannes faßt die Beziehung zwischen Buchstaben, Licht und Dunkelheit mit bemerkenswerter Knappheit in der berühmten Zeile zusammen: "Im Anfang war das Wort." (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 295f.) Dunkelheit, Worte & LichtWie jeder weiß, der in einer Bibliothek liest, rufen die Worte auf den Seiten nach Licht. Dunkelheit, Worte und Licht bilden einen himmlischen Kreislauf. Worte erschaffen das Licht und beklagen dann sein Verlöschen. Wir lesen bei Licht und reden im Dunklen. Als er seinen Vater drängte, dem Tod nicht einfach nachzugeben, beschwor Dylan Thomas den alten Mann mit der berühmt gewordenen Zeile, er müssen "rasen, rasen gegen das Krepieren von Licht". (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 296) Familie und ErbgutAber für beide gab es stets die Möglichkeit einer größeren, tieferen Erfahrung. Seneca, in Fortführung der noch um vier Jahrhunderte älteren Tradition der Stoa, widersprach der Vorstellung, daß nur die Bücher unserer Mitbürger und Zeitgenossen für uns von Bedeutung seien. Seneca sagt, wir könnten jedes Buch aus jeder Bibliothek nehmen, jeder Leser könne sich seine Vergangenheit selbst erfinden. Ja, er fand daß die übliche Annahme, wir könnten uns unsere Eltern nicht aussuchen, in Wirklichkeit nicht wahr sei; wir selbst können unsere Ahnenlinie bestimmen. "Es gibt Familien der erlauchtesten Geister", sagt er und zeigt auf seinen Bücherschrank. "Wähle, in welche du aufgenommen sein willst! Nicht nur dem Namen nach wirst du Sohnesstelle einnehmen, nein, auch hinsichtlich des Erbguts selbst; und dieses wirst du nicht zu bewahren haben auf eine niedrige und eigennützige Weise; es wird anwachsen, je mehr Menschen du es mitteilst... Einzig so läßt sich das Sterben verschieben und gar in Unsterblichkeit verwandeln." Wer das einmal begriffen hat, sagt Seneca, den "beengen nicht die nämlichen Grenzen wie die anderen Menschen. Einzig er steht außerhalb der Gesetze der Menschheit, und alle Jahrhunderte sind ihm untertan wie einem Gott. Ist eine Zeit dahingegangen, dann hält er sie in seiner Erinnerung zurück; ist sie gegenwärtig, so nützt er sie; wird sie erst sein, dann genießt er sie schon im Voraus. Sein Leben wird dadurch lang, daß er alle Zeiten in eine einzige zusammennimmt." (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 343) E- und PapiertextElektronischer Text, der kein Papier braucht, kann freundschaftlich neben gedrucktem Texte existieren, der keine Elektrizität braucht; im Streben, uns dienlich zu sein, müssen sie sich nicht ausschließen. Die menschliche Einbildungskraft ist nicht monogam und muß es auch nicht sein, und neue Geräte werden schon bald neben den Powerbooks stehen, die heute in der Multimedia-Bibliothek neben den echten Büchern stehen. War die Bibliothek von Alexandria das Symbol unseres Strebens nach Allwissenheit, so ist das Internet heute der Inbegriff unseres Traums von der Allgegenwart; aus der Bibliothek, die alles enthielt, ist die Bibliothek geworden, die alles Mögliche enthält. Bescheiden sah Alexandria sich als Mittelpunkt eines Kreises, den die Kenntnis der Welt umschrieb; das Internet, wie der Begriff Gottes im zwölften Jahrhundert, versteht sich als ein Kreis, dessen Mittelpunkt überall und dessen Begrenzung nirgens ist. (Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, S. 532) © Alberto Manguel: Die Bibliothek bei Nacht, Frankfurt/M.: S. Fischer, 2007. ISBN 978-3-10-048750-6 |