Bücherlei Notate

Themenbereich: Bücher/Literatur


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In den Miszellen Notiertes aus dem Bereich Literatur, Lektüre, Bücher, das zu kurz ist, um einen eigenen Eintrag in den Plaudereien zu bekommen.

  Ein 15-teiliger Podcast nimmt uns mit in Victor Klemperers Tagebücher und somit in die Zeit von 1918 bis 1959.

  "Zurück ins Flachland" ist ein Online-Game zu Thomas Manns Zauberberg. Mit dem Protagonisten Hans Castorp spielt man sich durch sieben Level und muß Aufgaben wie Fiebermessen, eine Schneewanderung oder eine Séance meistern.

  Franz Werfel zu Kafka: "Eigentlich müßte man mit Ihnen verkehren, als wären Sie schon tot." (Kafka S01E04)

  In "Das ungebaute Leipzig" zeigt Arnold Bartetzky, was in Leipzig an (Bau)Projekten mal gedacht war, die aber nicht umgesetzt wurden, also Luftschlösser blieben.

  Retweet: Roderich Kiesewetter ist ein Name, den Thomas Mann hätte erfinden können.

  Um vorbereitet zu sein für den Notfall, gibt es "Blackout - nichts geht mehr. Wie wir uns mit Filmen und TV-Serien auf einen Stromausfall vorbereiten können" von Denis Newiak. In der Kulturzeit vom 25. Oktober gefunden.

  In der Graphic Novel "Philosophix" gehts quer durch die Ideengeschichte der Philosophie.

  Retweet: Hoffe, Kiwi verspielt es nicht, Sibylle Bergs Gesamtausgabe später als 'Bergwerk' herauszugeben.

  In einem spannenden Kulturzeit-Bericht über den Aufbau-Verlag den Begriff "Plusauflage" gehört. Aufbau erwarb für westdeutsche Bücher zwar Lizensen, druckte dann jedoch viel mehr Exemplare davon, durchaus ein Vielfaches des Vereinbarten.

  Der Schriftsteller Martin Gross zog unmittelbar nach der Wende Anfang 1990 nach Dresden, um den Umbruch hautnah mitzuerleben und zu dokumentieren. Sein daraus entstandenes, 1992 im Berliner Basis-Druck-Verlag erschienenes Buch "Das letzte Jahr" war vergessen, bis viele seiner Niederschriften 2019 in dem Materialband "Das Jahr 1990 freilegen. Remontage der Zeit" (Perlentaucher) publiziert wurden. In einem Interview (mp3) schildert Martin Gross seine damaligen Beweggründe und manche Begebenheit. Mir war dieses Buch völlig unbekannt und erweckt mein Interesse, weil ein Westdeutscher in freiwilliger Zeitzeugenschaft sehr nah am Puls der Veränderungen in den Monaten nach der politischen Wende war.

  "Wie stehen eigentlich die aktuellen Wetten in Sachen Literaturnobelpreis heute mittag? Mein Herz schlägt für Haruki Murakami und Paul Auster oder John Irving. Aber wahrscheinlich wird es ein Heimatdichter vom Mururoa-Atoll, dessen antikisierende Lyrik in Deutschland nur in einer seit 1987 vergriffenen Auswahlausgabe erschienen ist, das von einem Studenten nach der griechischen Ausgabe, die sich wiederum auf die englische Übersetzung eines französischen Japaners stützte, erschienen ist." (Tobias Wimbauer) - Naja, so ähnlich. Lyrik-Louisa hatte Glück. Glück-wunsch!

  Über Claudia Klinger auf "Vom Niedergang der Buchblogs" gestoßen. Wie sie kann ich auf jetzt schon 20 Jahre Buchblogs zurückblicken und behaupten, alle Auf- und Niedergänge miterlebt und -erlitten zu haben. Und wie sie mutierte ich zum Nichtmehrleser, nehme trotzdem Anteil an dem Bedauern über den Schwund der literarischen und buchaffinen Diskussionskultur im Netz. Vor den Blogs war das Usenet (de.rec.buecher) mit der für mich intensivsten und ergiebsten Zeit, dann die literarischen Foren, von denen es noch einige gibt; ich selbst bin seit 2002 im Literaturschock- und Klassikerforum aktiv gewesen und wenige Jahre später im weitaus akademischeren Litteratur-Forum, welches vom belesensten Menschen unterhalten wird, den ich persönlich kenne und sehr schätze! Die Buchblogs müssen sich Aufmerksamkeit mit den anderen sozialen Medien teilen. Auf Twitter, Instagram & Co läuft es freilich nicht so ausufernd und gründlich, wie Blogger sich ein literarisches Wechselspiel ausmalen. Vergangenem sollte man nicht nachweinen, weil so die zu kostbare Gegenwart demoliert wird. Vielen Dank an Claudia nach Berlin, daß sie dieses Miszellen explizit empfohlen hat: "Wer die Kürze liebt und eine Mischung aus Medientipps und Erlebnissen eines Krankenpflegers verkraftet, ist da genau richtig." Sehr lieb von der Netzurgesteinin, mit welcher ich seit 1996 (Mailingliste Netzkultur) in Kontakt bin.

  "Sie hören, wenn ein Orchester gesund ist." - In Orchestern können durch Erwartungsdruck, Hierarchien u.v.m. zwischen Musikern Konflikte entstehen. Hans-Peter Achberger hat darüber ein Buch geschrieben: "Der Ohr-an-Ohr-Konflikt. Störungsmuster in der musikalischen Interaktion".

  Die schöne Wendung "Zehenzwischenraum des Kalten Krieges" vernommen. Geäußert von Tim Boltz, der mit Zonenrandkind einen autobiografisch gefärbten Roman über das Leben im, wie es die Amerikaner nannten, Fulda-Gap schrieb.

  "Vielleicht klagt man doch mit Unrecht über die neue Zeit, daß sie Alles umzustoßen suche, ohne etwas Besseres dafür aufzustellen. Wollt Ihr denn, wenn Ihr ein Zimmer malen laßt, den Erfolg nach dem Zeitpunkte beurtheilen, wo man die alte Farbe von den Wänden abkratzt, und die neue nur erst eingerührt wird? Wartet bis sie aufgetragen seyn wird und trocken ist. Taugt sie dann nichts, so habt Ihr Recht zu sagen: Besser, man hätte es beim Alten gelassen!" (Hermann von Pückler-Muskau, Tutti Frutti. Aus den Papieren des Verstorbenen. 1834)

  "Druck' es oder zerreiß' es - alte Journalistenregel." (Tatort "Verraten und verkauft")

  Ein schöner Langtext über das Lesen und die Befürchtung, wir alle könnten Twittergehirne bekommen. Schön auch der Ausdruck "Drüberhuscher" für das selektive, mäandernde Lesen, wie es das Internet mit sich bringt. - "Es gibt drei Dinge, die mich beunruhigen: Erstens geht die Komplexität der Gedanken verloren, und mit der Komplexität verlieren wir auch die Empathie und das kritische Denken. Zweitens verlieren wir Schönheit. Wenn wir nur drüberhuschen, verstehen wir nicht, wie sehr der Autor damit gerungen hat, das 'mot juste' zu finden, den richtigen Ausdruck. Wir verpassen die Nuancen. Das könnte man als Luxussorgen abtun, aber der dritte Punkt ist eine echte Gefahr für unsere Demokratie: Wir werden faul, kognitiv ungeduldig und bleiben lieber in unseren Gedankensilos, weil das weniger Zeit und Anstrengung braucht. Damit sind wir leichte Beute für falsche Ängste und trügerische Hoffnungen, und dies sind die beiden wichtigsten Werkzeuge von Demagogen. Diese Atrophie, also das Verkümmern unseres Denkens, hat Auswirkungen auf unsere Demokratie." Mehr findet sich in dem neuesten Buch der Leseforscherin Maryanne Wolf.

  Du bist, was du kaufst. Der Soziologe Jörn Höpfner hat in Einkaufwagen geschaut. Multioptionsparalyse nennt sich die Unfähigkeit zur Entscheidung angesichts vieler Möglichkeiten durch eine große Auswahl. Der Wissenschaftler und Science-Slammer hat darüber ein Buch geschrieben: "Sag mir, was du kaufst, und ich sag dir, wer du bist. Der Supermarkt als Petrischale der Gesellschaft".

  Ein Zufall. Liisa beklagt Augenprobleme und ihre exazerbierte Angst zu erblinden, womit sie sich ja in guter, d.h. meiner Gesellschaft befindet. Kaum 2 Minuten später teasere ich das neue Video mit dem Literaturclub vom Februar an und höre als erstes: "Kennen Sie das, die Angst vor dem Erblinden? Für mich eine absolute Horrorvorstellung." Angekündigt wird die Buchbesprechung von "Rot vor Augen".

  Auch Wolfgang Tischer hackte auf dem Literarischen Quartett vom Mai herum, insbesondere auf Claus Peymann, den ich überhaupt zum ersten Mal in meinem Leben wahrnahm. Da ich ein Faible für geniale Menschen habe, die ihren Weg gehen und ihnen konzediere, daß sie mit ihrem Nonkonformismus und auch Egoismus nicht allen, ja noch nicht einmal einer Mehrheit von Menschen gefallen müssen, faszinieren sie mich trotzdem. Peymann ist so ein Karl-Lagerfeld-Typ. Besessen von dem, was er möchte, besessen auch von der eigenen Vision, in der er naturgemäß die größte Rolle spielt. Nicht alle genialen Typen können den Charme eines Roger Willemsen besitzen, den ich ebenfalls verehre. Mich jedenfalls amüsierte das Mai-Quartett mit Peymann. In der Nacht sah ich zudem noch die letzten beiden Literaturclubs.

  Gestern führte ich Herbert Rosendorfer als einen Schriftsteller auf, von dem ich alle Bücher unbesehen kaufe und lesen will. Dasselbe gilt übrigens auch für den eben erst wieder gelesenen, 80 Jahre alt gewordenen Hartmut Lange, Knut Hamsun, Urs Widmer u.v.a. Bei ihnen bin ich bei der Werkletüre auch bereits so weit vorgedrungen, daß ein Ende in Sicht ist.

  Keyserlings "Fräulein Rosa Herz" ist die Art von Klassiker, in dem man kein Date, nicht einmal ein Rendevous hat, sondern ein Stelldichein.

  Nachdem ich kürzlich ein Buch, einen Debütroman, nach 50 Seiten abgebrochen hatte, brach ich eben einen weiteren Debütroman nach nur 35 Seiten ab. Die Lebenszeit wird immer begrenzter. Früher zwang ich mich durch alle begonnenen Bücher, jetzt müssen Stichproben genügen. (8.5.2017)

  Nach der ersten Erzählung "Der gefälschte Kupon" in Tolstojs "Sämtliche Erzählungen. Band 5" legte ich das Buch beiseite und haderte mit mir. Weiterlesen, pausieren, abbrechen? Für das Moralisierende bin ich wohl verloren; und Tolstoj Lesenden ist dieser Ton vertraut. Nachdem ich eine Weile ein anderes Buch begonnen hatte, probierte ich am frühen Nachmittag weiter und befinde mich nun inmitten der langen Erzählung "Hadschi Murat", mit 150 Seiten eher schon ein kleiner Roman, die ich auf alle Fälle noch lesen möchte. Also kein ungetrübter Lesetag, der sich charakterlich dem draußen agierenden Aprilwetter anzupassen versucht, wie mir scheint. Überhaupt zeitigt meine Unleidlichkeit, was Lektüre betrifft, neue Amplituden. Die Begrenzung, der Impuls, auszusieben, wegzulassen, wird immer prägnanter. (17.4.2017)

  Ich bin mir noch im unklaren, ob ich die inzwischen auf eine Sextalogie angewachsenen Martin-Schlosser-Romane weiterlesen werde. Der Einstiegsband ist naturgemäß aus der kindlichen Perspektive heraus verfaßt. Der Protagonist ist momentan im Vorschulalter. Henschel verfolgt ein lexikalisches uhd additives Prinzip. Man stößt auf fast jeder Seite auf Reime, Sprüche, Werbeslogans, Marken, Fernsehserien, Bücher, die das Leben des Aufwachsenden begleiten und prägen. Für mich als Ossi hat das sozusagen die Qualität, sowohl neue Informationen aufzusammeln als auch Erinnerungen aufzufrischen; denn entweder rekapituliert man beispielsweise Werbespots der eigenen Kindheit, die man bei ARD und ZDF aufgeschnappt und mit der Muttermilch eingesogen hat, oder es gab die beschriebenen Dinge, Sprüche, Verhaltensweisen auch bei uns. SO verschieden waren wir nicht. Viele Gegenstände und Umstände gab es auch für und bei uns im Osten. Trotzdem muß ich für mich noch klären, ob ich der Wucht standhalten möchte. Aus ähnlichem Bedenken heraus wagte ich mich bislang noch nicht an Guntram Vespers "Frohburg", das ein vergleichbares Füllhorn an Wissen und Fakten über einen ausschüttet. Im "Kindheitsroman" finden sich bis jetzt eher episodische, oft nur auf wenige Sätze beschränkte Passagen, weniger Durchgängiges, Längeres. Gänzlich unbekannt war mir die Serie Graf Yoster gibt sich die Ehre, die im Buch gerade erwähnt worden ist... (10.3.2017)

  Beim 1935 erschienenen Roman Das ist bei uns nicht möglich von Sinclair Lewis handelt es sich um eine Dystopie, in der in den USA eine faschistische Regierung installiert wird. "Der Roman schildert den Aufstieg von Berzelius "Buzz" Windrip vom belächelten Senator aus der Provinz zum mächtigen Gewaltherrscher. Mit unrealistischen Versprechungen besiegt er bei der Präsidentschaftswahl 1936 Amtsinhaber Franklin D. Roosevelt. Im neuen Job knebelt Windrip rasch die Presse, entmachtet den Kongress und hetzt seine Geheimpolizei auf Kritiker. Natürlich allein mit dem hehren Ziel, "Amerika wieder zu einem stolzen, reichen Land zu machen". - Um ein viel gebrauchtes Wort zu zitieren: Selbst in der düsteren Welt der Schwarzmalerei nichts Neues unter der, ähm, Sonne. Sinclair Lewis kenne ich nur namentlich und erinnere die zweibändige Ausgabe seine Romans "Hauptstraße" (Main Street, 1920) in der damals so heißgeliebten Edition "Taschenbuch der Weltliteratur" des Aufbau-Verlages, der wie hinterherhechelten.

  Bei Werfel soeben erstmalig den Ausdruck Pensionopolis vernommen. Zuerst gedacht, ein veralteter Begriff wie Chaiselongue, Canapee, Gamasche usw., wie man ihn in Werken von Schriftstellern des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu lesen bekommt. Interessanter Aspekt, daß die Idee durch den stattfindenen demografischen Wandel zunehmend wieder aufgegriffen wird.

  Im Klassikerforum eine Einlassung zum gestern gelesenen Erzählband "Raumpatrouille" (DNB) von Matthias Brandt, dem schauspielernden und nun auch schriftstellernden Sohn von Willy Brandt. Normalerweise hätte ich solch ein Buch nicht gelesen, weil ich künstlerischen Quertreibern skeptischer gegenüber trete als anderen. Malende Rockmusiker, bildhauernder Schriftsteller, in Leistungssport dilettierende Autoren... Doch bei Brandt kann ich nicht widerstehen, hatte ich letztens erst meine wachsende Vorliebe für solche semifiktionale, autobiografisch grundierte Bücher beschrieben. Eine Kindheit in den 70ern mit vielen Momenten, in denen ich sah, daß im Osten wie im Westen nicht immer nur die äußeren politischen Gegebenheiten entscheidend waren, sondern ganz einfach auch das Alter, in dem man viele Dinge in einem bestimmten Blickwinkel erlebt.

  Wie Lektüre einen an aktuelle Szenarien erinnern kann... Hier ein Beispiel aus Ian McEwan "Honig", bei dessen Lektüre ich mehrmals dachte, daß die Welt immer brisante Situationen durchlebte. In "Honig" begegnen wir dem Terror der IRA, der Ölkrise und dem Jom Kippur Krieg. Das tröstet einen in der momentanen Depression nach der US-Wahl zwar nur bedingt; aber der Erleuchtungseffekt während der Lektüre sorgt für schöne Momente der Klarheit.

  Der Roman "Null K" von Don DeLillo war im heutigen Büchermarkt das Buch der Woche. Ich habe den Namen DeLillo immer an meinen Ohren vorbeirauschen lassen. Der Funke sprang nie über, was offenbar nicht nur mir so geht; denn andernfalls existierte ein Thread (im KF, den ich hiermit initiierte) zu diesem Amerikaner, der immer wieder auch als Kandidat für den Literaturnobelpreis im Gespräch ist. Sigrid Löffler meinte, das Werk DeLillos verknappt sich, je älter der Autor wird. Hat ihn jemand mal gelesen?

  Retweet: Dass Bob Dylan seit zehn Tagen kein Wort zum Literaturnobelpreis verliert, gefällt mir gut. Denis Scheck hätte das nie geschafft.

  Einige Lesefundstücke von Wackwitz im KF gepostet und dabei geschrieben: "Überhaupt bemerke ich eine wachsende Vorliebe für solche semifiktionale, autobiografisch grundierte Bücher, wie ich sie zuletzt bei Joachim Meyerhoff bewunderte."

  Daß Felix Salten, der Schöpfer von Bambi, auch die Lebensgeschichte der Josefine Mutzenbacher verfaßte, war mir nicht klar.

  Wenn man ein Buch von 1975 liest ("Rotes Elfenbein" von Erich Loest), begegnet man, auch sprachlich, Zeitverhaftetem. In dem Krimi begleitet man die Spiele der Fußballweltmeisterschaft 1974, Rekapitulieren kann ich sie kaum, war ich zu diesem Zeitpunkt gerade einmal 8 Jahre alt. Jedenfalls lange nicht gelesen oder gehört: Jokus für Jux, Spaß. Und wenn man bei einer Europa- oder Weltmeisterschaft heute von den Italiern spricht, dann meist von den Azzurri. Bei Loest las ich: die Mannschaft vom Apennin. Belustigend auch, von der "Heule" zu lesen, kurz für Kofferheule, also einem Kofferradio, wie man es damals unterwegs mit sich herumtrug, wenn man am Ball bleiben wollte. (20.9.2016)

  Jemand eine Hand frei? Man müßte einmal die Schauspieler aufzählen, die meinten, sich partout auch schriftstellerisch betätigen zu müssen. Nun also auch Matthias Brandt mit dem Geschichtenband Raumpatrouille. Bei seinem Kollegen Joachim Meyerhoff ("Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke") hat es zugestandenermaßen außerordentlich gut geklappt und es wäre bedauernswert, hätte er den Schritt nicht getan. (8.9.2016)

  Nach dem gestrigen freien Tag ohne Lektüre geht es heute mit Erzählungen von Arthur Schnitzler weiter, die ich dem ersten Band der zweibändigen Ausgabe "Die erzählenden Schriften" entnehme, die 1000 Seiten umfaßt, welche ich mir in mehrere Etappen [A1, A2...] eingeteilt habe. Diese Einteilung entspricht der Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre als Fischer-Taschenbuch erschienenen Werkteilausgabe "Das erzählerische Werk in 12 Bde." Die ersten fünf Erzählbände bilden zusammen mit dem Roman "Der Weg ins Freie" den Inhalt des ersten Bandes der älteren Edition "Die erzählenden Schriften"; der zweite Band enthält die restlichen fünf Erzählbände sowie den Roman "Therese. Chronik eines Frauenlebens". Damals hatte ich mir nach und nach die ersten sechs Taschenbücher gekauft, dann einmal die zweibändige Ausgabe antiquarisch entdeckt und günstig erworben, so daß ich auf den Nachkauf der weiteren sechs Einzelbände verzichtete. Insgesamt gibt es eingedenk der zehn einzelnen Bände auch zehn Etappen, in denen ich die Erzählungen Schnitzlers wiederlese, und zwar momentan im zweiten Durchgang. (6.9.2016)

  Caitlin Doughtys Buch über die Thanatopraxie beleuchtet den Umgang mit den Toten in unserer modernen Welt, wobei logischerweise nicht mit Kritik gespart wird, Kritik unserer Verdrängung des Todes, der Geldschneiderei im Bestattungswesen, allerlei Auswüchsen und Kuriositäten. Man erfährt viel über praktische Belange wie Leichenabholung, -konservierung, Kremation, Umgang mit Angehörigen. In den USA gibt es Direktkremationen, bei denen man nichts weiter tun muß, als auf einer Webseite per Kreditkarte zirka 800 USD zu bezahlen, und einige Wochen später wird die Urne mit der Asche des Verstorbenen per Postbote nach Hause geliefert. Doughty fragt sich, ob unsere Überheblichkeit, was Bestattungsriten anderer Völker und Kulturen angeht, gerechtfertigt ist. Ein brasilianisches Naturvolk hätte die Eingeweide ihrer Toten gegessen (Endokannibalismus). Oder in Tibet wurden die Toten zerlegt, das Fleisch den Geiern vorgeworfen, wobei an dem Gedanken, daß der dahingegangene Mensch anderen als Nahrung zum Weiterleben dient, so gar nichts Verwerfliches zu finden ist. Sehr hart auch die Passage über den Umgang mit toten Säuglingen. (3.9.2016)

  Gestern, an meinem vorletzten Urlaubstag, flog mir die ansonsten in den vergangenen zwei Wochen ganz ordentlich bewältigte Tagesgestaltung um die Ohren, was sich freilich auch auf die Lektüre niederschlug. Erst am Abend begann ich einen der vier Prosabände mit den Humoresken Jaroslav Haseks. Gustav Just präpariert den Leser - ausgewiesen laut Kinderbuchverlag ab 12 - auf die teils schwarzhumorige Art des Tschechen. "Laßt euch da nicht beirren. Wenn ihr die Geschichten genau lest, dann seht ihr dahinter das spitzbübische Gesicht des Autors, der euch mit einem Augenzwinkern zu verstehen gibt, daß er natürlich niemals den kleinen Mila in der ungarischen Pußta aussetzen würde, wie er das in einer Erzählung behauptet. Und in manchen Geschichten werdet ihr vergeblich nach einem tieferen Sinn suchen, da "blödelt' Hasek einfach, wie ihr es untereinander auch manchmal tut. Spaß um des Spaßes willen - auch das gehört zum Leben, und nur Sauertöpfe wollen davon nichts wissen, weil sie selber dieser gelösten, beschwingten Heiterkeit nicht fähig sind." Das ist einerseits mit spürbar didaktischem Impetus, andererseits aber auch herrlich. (2.8.2016)

  Die Twitterkommentare während einer Sendung des Literarischen Quartetts verleideten mir diese Neuauflage des Fernsehklassikers. Seit vorgestern habe ich mir einige Folgen angesehen und finde sie weniger grausam, als ich den Kommentaren zufolge annahm. Maxim Biller erweist sich als Kotzbrocken, aber als ein intelligenter, kundiger, dessen literarischen Urteilen ich erstaunlich oft zu folgen vermag. Fortan werde ich das LQ neben dem SWR-lesenswert-Quartett (mit Denis Scheck, Ijoma Mangold und Felicitas von Lovenberg) und dem Schweizer Literaturclub goutieren und habe so eine Trias an audiovisueller literarischer Streitkultur zur Verfügung.

  Antonio Lobo Antunes ist für mich das Alpha und Omega des zeitgenössischen Erzählens, die unangefochtene Nummer 1 meiner Top-Ten-Autoren. (29.7.2016)

  Buch begonnen: "Fado Alexandrino" von Antonio Lobo Antunes. Die Vorgeschichte: Am 12. Oktober 2013 begann ich dieses Buch zu lesen, unterbrach meine Lesetätigkeit, als mich am Morgen des 18. Oktober die Nachricht vom Tod nmeiner Mutter erreichte, quasi für mehr als zwei Jahre bis zum Beginn dieses Jahres. Denn die Krümel, die ich in der Zwischenzeit las, kann man getrost zusammenfegen und an irgendeiner Piste für Analfabeten liegen lassen. Nun nach mehreren Jahre Pause der neue Versuch, Lobo Antunes zu lesen, einem meiner Top-5-Autoren. (25.7.2016)

  "Als wir Huhn auf jüdische Art aßen..." (Uwe Johnson: Jahrestage 1) - Ähm, wie ißt man denn Huhn auf jüdische Art? - Nachdem ich das im KF gefragt hatte, kam diese Entgegnung: "Es gibt verschiedene Rezepte (ungarisch-jiddische) und das Jiddische Sprichwort "Wenn ein Armer ein Huhn ist, ist entweder er krank oder das Huhn." Daraufhin erwiderte ich: "Gestern in einer Comedy gehört: Das Huhn ist das (einzige?) Tier, welches in jeder Weltreligion als Nahrung geduldet wird außer bei den Vegetarieren. Wegen der Eier in ihm drin.

  "Machandel" erzählt vom Leben auf einem mecklenburgischen Dorf. Umspannt wird der Zeitraum 1940 bis heute; das hauptsächliche Geschehen in weiten Teilen des Buches konzentriert sich auf die unmittelbare Nachkriegszeit und die späte DDR nach 1985, später die Wendezeit. Das Nachkriegsdeutschland, die frühe und sehr späte DDR rücken in den Fokus, wie ich es so detailliert lange nicht erlebt habe. Regina Scheer verleiht abwechselnd verschiedenen Personen eine Stimme. Ein Kommunist, Konzentrationär, Parteifunktionär, Kamerad Ernst Thälmanns, später DDR-Minister; dessen Tocher Vera mit ihren zwei Töchtern. Ihr Bruder Jan und dessen Freund Herbert, die auf eine Kadettenanstalt in Naumburg gehen, eine Eliteschule der NVA für Führungsnachwuchs, die nur vier Jahre lang bestand. Jan reist 1985 in die BRD aus; Herbert, der Historiker, danach nach Cambridge in England. Die russische Zwangsarbeiterin Natalja mit ihrer Tochter Lena spielen eine Rolle, Einwohner des Kaffs Machandel, besonders eine Familie, um die sich eine Hamburgerin kümmert, nachdem die älteste Tochter, welche Mutterpflichten bei den zahlreichen Kindern übernommen hatte, als vermeintlich geisteskrank in die Irrenanstalt eingewiesen worden war und dort an den Folgen der Mißhandlung starb. Scheer verflicht die persönlichen Schicksale und das politische Geschehen. Insbesondere die Wirkungen des Lebens in der frühen DDR werden in ihrem Debütroman anschaulich geschildert. Wir schnuppern man Landluft. Immer wieder spürt Clara dem Machandelstoff nach. Rotfrontkämpfer, in der Nazizeit und durch das DDR-Regime verfolgte Kommunisten erhalten eine Stimme. Die Polyphonie der zahlreichen Personen sowie das tiefe Eintauchen in den Mikrokosmos Dorf verleiten einen, immer wieder Parallelen zu Juli Zehs "Unterleuten" zu sehen. Das Buches darf als Highlight meines Lesejahres 2016 bezeichnet werden.

  kress.de: Haben Sie einen E-Book-Reader oder genießen Sie noch die gedruckten Ausgaben? - Denis Scheck: Ich muss ja häufig Fahnen lesen, da ist ein E-Reader mitunter hilfreich. Ansonsten setze ich aber gern aufs Gutenbergmedium, dessen bedeutend längere Evolutionszeit sich in deutlich größerem Benutzerkomfort niederschlägt. (Interview).

  Fontanes Roman "Vor dem Sturm", an dem ich nunmehr seit 10 Tagen lese, erweist sich als zäher Brocken und hat dieses Schicksal sicherlich nicht verdient. Doch was will ich machen? Vermutlich liegt es größtenteils an meiner gesundheitlichten Verfassung, daß ich mich so mit ihm quäle. Aber, einmal in das Buch verbissen, werde ich es bei dem großen Namen des Verfassers nicht aufgeben. Ich werde nicht aufgeben. (3.7.2016)

  Mir schleierhaft, weshalb ich das bisher nicht gemacht habe: YouTube-Videos herunterzuladen und als mp3 am BoomBlaster zu hören, während ich im Bett liege. Mit heruntergeladenen Büchermarktsendungen und anderen Rezensionen mache ich das doch auch. Gestern lud ich also einige Literaturclubsendungen mittels "Free YouTube t MP3 Converter" auf meinen Stick und duselte nachts wohlig im Bett, während ich die April- und Januarsendung hörte. Am PC war mir stets die Zeit zu schade, ausschließlich eine ganze Sendung zu verfolgen, aber da ich, auch krankheitsbedingt, sowieso oft im Bett liege, ist es eine gute Sache. Bei dieser Gelegenheit entdeckt, daß es neben dem wiederaufgelebten Literarischen Quartett seit Herbst 2013 im SWR auch noch "lesenswert" mit Felicitas von Lovenberg und Denis Scheck gibt. Drei Sendungen sind, wie ich finde, kein so ganz verachtenswertes Angebot. In meinem Fall ein kaum zu verdauendes Zusatzbrot, weil ich bereits mit dem Nachhören des Audioarchives aus den Sendungen "Büchermarkt", "Buchkritik" und "Lesart" überfordert bin und mich neuerdings wieder auf die Perlentaucher-Bücherschau stürze. Selbst wenn ich frei habe, schaffe ich es nicht, alle heruntergeladenen Buchbesprechungen anzuhören. (19.5.2016)

  Gestern entdeckte ich eine Leselücke, die mir überhaupt nicht bewußt war: Anne Brontës "Agnes Grey" las ich nicht. Entdeckt übrigens, als ich sah, daß das Werk als epub frei verfügbar ist und somit umstandslos zur neuen Lektüre erklärt wird, mit der ich beginnen werde, sobald ich meine Buchentdeckungs- und -findungsroutinen für heute abgeschlossen haben werde. SO paßgenau hat sich mein Internet- und Leseleben seit langem nicht fruchtbringend verschränkt.

  Lektüreanmerkungen zu Hans Falladas Kleinstadtsatire "Bauern, Bonzen und Bomben". - Zwei Ausdrücke, die zum heutigen Sprachgebrauch differieren. Würde mich interessieren, ob das auf Fallada zurückgeht oder allgemein üblich war... Statt wie heute "Kripo" als Kurzform für Kriminalpolizei verwendet er "Krimpo". Außerdem heißt es sehr oft "die Fresse lackieren", während wir heute eher von "die Fresse polieren" reden. // "Überall gibt es Mithörer". Das Problem gab es also bereits 1931. Ein Regierungsassessor befürchtet, daß ein Telefonat nicht geheim bleiben würde. Und in Sachen Alliteration wird man bei Fallada ebenfalls bedient: "Der Metteur murrt, aber er gibt das Manuskript doch in die Maschine." (12.5.2016

  Thea Dorns fällt es in "Die Unglückseligen" leicht, durch ihren Johann Wilhelm Ritter Zivilisationskritik anzubringen. Als Johanna und Ritter in Deutschland einreisen, werden Eindrücke und Bilder geschildert, die Ritter vom jetzigen Zustand Deutschlands aufnimmmt und mit seinen Erinnerungen an das Deutschland seiner Zeit und vieler früheren Perioden vergleicht, beispielsweise als er als GI das zerbombte Köln erleben mußte. Schon berührend, wie er wehmütig Vergangenem hinterhersinnt. (6.4.2016)

  Thea Dorns "Die Unglückseligen" mit einer reizvollen Konstellation. Modernster Forscherdrang in Person der Molkularbiologin Johanna trifft auf ethische und neugierige Fragen in Person Johanns, des Physikers und Forschers aus dem 18. Jahrhunderts. Ein naiver Blick, ein Nachfragen kann dem in den Laboratorien anzutreffenden High-Tech-Impetus nur nützen. Keine ganz neue Frage, ob die Wissenschaft den Blick aufs Ganze verloren hat, wie weit sie gehen darf. Wir hecheln mit der aus der Zeit gefallenen Figur Johann Wilhelm Ritter den uns und ihm meistens unverständlichen Erkenntnissen hinterher; er stellt die Fragen, die wir uns stellen. Sein Blick steht an Stelle des unsrigen. Dies macht den Reiz des Buches (bis jetzt) aus. An sich mag ich künstlerisch verarbeitete Anachronismen. Ob das Konzept mir in den noch ausstehenden zwei Dritteln nicht noch auf die Nerven gehen wird, werden die nächsten Stunden zeigen (5.4.2016)

  Daß Goebbels einen Roman namens "Michael" geschrieben hat, wußte ich bis dato auch nicht.

  Herbert Rosendorfers "Die Nacht der Amazonen" ist derzeit absolut die passende Lektüre, hochaktuell und brisant, verbunden mit erstaunlichen Ahaeffekten, wenn man den Aufstieg der Nazis in den 20er und 30er Jahren mit dem Hintergrund der aktuellen Entwicklung (AfD, Rechtsruck in Europa) liest. Ich komme mit den Anstreichen gar nicht mehr hinterher. Bei allen, die jemals behaupten werden, sie hätten von nichts gewußt, weiß ich, sie haben "Die Nacht der Amazonen" nicht gelesen. Höchste amüsant, eben ein Rosendorfer auf der Höhe seiner UND unserer Zeit. (27.3.2016)

  Gestern und heute lange Stunden ungestörter Lektüre mit Christoph Heins jüngstem Roman "Glückskind mit Vater". Sage und schreibe 460 Seiten seit gestern Nacht, als ich zirka 3 Uhr an meinem zweiten und eigentlichen und einzigen richtigen freien Tag damit fortfuhr, nachdem ich am Sonntag die ersten 65 Seiten gelesen hatte. Dadurch tauchte ich ungewöhnlich tief und lange in das Buch ab und empfand es auch intensiv. Eventuelle negative Rezensionen werden mir nichts anhaben können. Ich lese sowieso alles von Christoph Hein und werde es weiterhin tun, solange er Bücher schreibt. Über eine lange Strecke bewegt sich das Buch in einer Zeit der DDR, die ich selbst nicht erlebt habe, der man in literarischer Aufbereitung jetzt auch nicht SO oft begegnet. Die Auseinandersetzung mit jener jungen DDR hatte ich vor einem Jahr mit Stefan Wolles Der große Plan. Alltag und Herrschaft in der DDR 1949-1961 nicht gescheut. Heins Roman kam nun zur rechten Zeit und ließ mich tief mitempfinden mit dem Protagonisten Konstantin Boggosch. Ein Lektüre-Highlight dieses sich dem Ende zuneigenden Monats. (23.3.2016)

  Vermischen sich zwei Bereiche, übt das einen speziellen Reiz aus. Wenn Menschen, die ich aus dem Internet beispielsweise als Blogger, als Twitterer oder als Forenschreiber kenne, ein Buch veröffentlichen, ist dies so ein Fall. Plötzlich gewinnt ein Mensch, den man von diversen Postings, Aktionen und Kommentaren kennt, eine neue, ungewohnte Facette, die mit dem bisherigen Status so gar nichts zu tun hat. Es entsteht eine reizvolle Mixtur aus ziemlich unterschiedlichen Ingredenzien. Isabel Bogdan lief mir im virtuellen Leben immer wieder über den Weg, zuerst vermutlich vor vielen Jahren mit ihrem ehemaligen Antville-Blog. Seit geraumer Zeit gibt es das Interview-Projekt Was machen die da?, das Bogdan und Maximilian Buddenbohm unterhalten, ein zweiter, zum Schriftsteller mutierter Blogger und Netzbürger, dessen Erstling Zwei, drei, vier. Wie ich eine Familie wurde ich las. Nun von Isabel Bogdan ihr Debut Der Pfau, das in der Märzsendung des Schweizer Literaturclubs besprochen wurde und auf das ich durch Petra Gust-Kazakos aufmerksam geworden bin, der ich mich virtuell ebenfalls nah fühle. Und so zieht eins das andere nach sich. Am Anfang dieser Vermischung zweiter Welten stand 1997 der deutsch-tschechische Schriftsteller und Poetryslammer Jaromir Konecny, dem ich mich aus biografischen Gründen verbunden fühle. Nicht neu für Leser dieser Notizen ist mein Interesse für Alban Nikolai Herbst. Ich schätze, daß es künftig noch weitere Bekanntschaften und Kontakte aus dem virtual life geben wird, die sich in die Riege der Autoren eingliedern werden und die ich dann von beiden Seiten betrachten darf, ihrem Tun im trotz allem noch neuen Medium Internet und ihrem Schreiben, dem auf das gute alte Medium Buch ausgerichtete Tun. Der Wiener Misanthrop Christian Köllerer wird wohl noch eine Weile in der Welt herumgondeln, bevor er in seiner Privatbibliothek zum Stift greift. (15.3.2016)

  "Die Ernte des Bösen" von Robert Galbraith begonnen. Der dritte Cormoran-Strike-Roman von Joanne K. Rowling unter ihrem Pseudonym. Ich mochte die ersten beiden sehr, ich mag die Figur des Privatermittlers und dessen Sekretärin und inzwischen kongenialer Sidekick, so daß ich mit der Lektüre dieses dritten Bandes wenige Tage nach Erscheinen beginne, was früher nicht meine Art war. Aber Dinge ändern sich, selbst in einem Leseleben. (12.3.2016)

  "Begrabt mich hinter der Fußleiste" (PT) von Pawel Sanajew entpuppte sich als Schocker. Anfangs dachte ich - und hatte auch Lust darauf -, naja, eine weitere Kindheitsgeschichte mit den üblichen Erinnerungen an früher, Freuden, einige Entbehrungen, kleine und größere Leiden. Aber hier? Es ist eine Kindheitshölle, der wir zusehen bzw. zulesen müssen. Das gibt es nichts Gutes, nur sehr, sehr wenig Trost, das gehütet werden muß wie ein Schatz. Es ist eine Bernhardsche Verwerfung mit freilich anderen stilistischen Mitteln und trotzdem berührend und einen sprachlos hinterlassend. (12.3.2016)

  Buch beendet: "Der Pfau" von Isabel Bogdan, Kiepenheuer & Witsch, 256 Seiten. Interessanter Einfall, mittels eines durchgedrehten Pfaus quasi eine Screwball-Komödie als Kammerspiel zu inzensieren, dabei den Ton sachlich berichtend zu halten. Vielleicht in der zweiten Hälfte zu sehr auf dieses Szenario fokussiert gewesen, wobei es dann ein wenig überkonstruiert wirkte, weil Bogdan immer wieder erklärte, worum es gehe. Dennoch ein Lesevergnügen und ganz im Sinne meiner Vorliebe für skurrile kleine Romane. (9.3.2016)

  Isabel Bogdans "Der Pfau" ist mal wieder einer jener Rundum-Wohlfühlbücher, wie sie jeder Leser kennt und liebt und sich in seiner Entscheidung für die Literatur als Laster bestätigt sieht. Meine Vorliebe für Bücher mit skurrilen Inhalten oder Motiven wird bedient, indem Bogdan eine Gruppe Investmentbanker zu einem Gruppenseminar in der schottischen Pampa zusammenkommen läßt. Ein verrückt gewordener Pfau, der auf alles losgeht, was blau ist, verkompliziert die Situation zusehends, auch und gerade, als er schon längst tot ist. Eine wunderbare Farce und ein Kabinettsstück, in dem gruppendynamische Prozesse eine Rolle spielen und spezifische charakterliche Sonderlichkeiten der Personen hervorstechen. Bogdan erzählt schnörkellos, sachlich und linear. Ein wenig fühle ich mich an Hartmut Lange erinnert, der in seinen Novellen stets ein unheimliches Moment einbaut, das eine Stimmung erzeugt, von der man sich wundert, wie sie ob der prinzipiell banalen Situationen und Geschehnisse überhaupt bestehen kann. Als Autoren, die ähnlich abstruse Geschichten schrieben, mag ich Michael Schulte, Henri-Frederic Blanc, Amelie Nothomb, Dino Buzzati und eben und insbesonders Hartmut Lange. (9.3.2016)

  Im Klassikerforum schrieb ich, daß ich Matthias Nawrats "Die vielen Tode unseres Opas Jurek" abbrach, weil mir der Erzählton zu flapsig war und schon nach wenigen Seiten auf die Nerven fiel. Dann: "Ich kanns nicht ändern. Mir sagte gerade die euphemistische Verfremdung überhaupt nicht zu. 'Dieses Mal' muß ich vielleicht sagen. Mein Bauchgefühl hat bei jeder weiteren Seite geraunt: Nein, nein nein. Also muß ich ihm folgen, nützt ja alles nichts." Weiter: "Grossmann, den ich gerade lese, löst das Grauen ganz anders - mit einem Zynismus, der mir wiederum sehr gefällt." (7.3.2016)

  Peter Wawerzinek hat mit "Rabenliebe" sozusagen ein Comeback hingelegt, nachdem er jahrelang vom literarischen Radar verschwunden war. Biografische Hintergründe finde ich hierbei interessant. Was macht ein Autor, der sich als solcher begreift und mit diesem Selbstverständnis eine Existenz aufgebaut hat, in dieser Zeit, in der er nichts publiziert, insofern er nicht an einem opus magnam schreibt? (25.2.2016)

  In meinem Haus- und Magenforum stieß ich auf einen Schriftstellernamen, den ich noch nie gehört habe: Gunstram Vesper. Gerade erst entdecke ich Peter Wawerzinek, den ich gleich weiterlesen werde, sobald ich mich durch die Foren gehangelt habe, die ich möglichst täglich verfolge. Über mangelnden Input brauche ich nicht zu beklagen; dabei kam ich in den letzten Wochen gar nicht dazu, Buchbesprechungen des Deutschlandfunkes oder -radios zu hören, die meine Leseliste erfahrungsgemäß am schnellsten anschwellen lassen. (25.2.2106)

  An einer Stelle las ich in Jochen Schmidts Buch von Kunsthoniggläsern und erinnerte mich lediglich an Hartpappebecher mit Kunsthonig. Aber in der Tat, es gab in der DDR auch Gläser mit Kunsthonig. Man vergißt so viel. Was interessant ist, ist die Rolle, die Politik in dem Buch offenbar NICHT spielt. Damit weicht Schmidt vom Erzählgestus von so ziemlich allen anderen Nachwenderomanen ab. (10.2.2016)

  "Müller haut uns raus" ist Jochen Schmidts Debütroman, er strotzt vor überbordenen Einfällen, ist ideenverpielt. Die Lektüre macht einen Riesenspaß. Die Nachwendezeit rückt einem wieder in den Blickpunkt. An viele dachte man lange nicht mehr, manches hat man vergessen. (10.2.2016)

  John Williams Roman "Stoner" ist ein kleines Wunder, denn eigentlich geschieht in ihm nichts. Ein Bauernjunge darf studieren, wird Hochschuldozent, heiratet - worin der Fehler bereits enthalten ist, quält sich durchs Arbeitsleben, die Tochter verkorkst und 'ne Säuferin und stirbt kurz nach der Emeritierung an Krebs. Aber der Autor schildert die Geschichte so unaufgeregt und trotzdem zwingend, daß der Leser nicht spürt, wie er gefesselt wird, tief hineingezogen in ein normales, ergo unglückliches Leben, dem doch Glück nicht fremd ist. Man weiß nicht, wen der drei Familienmitglieder man mehr bedauern soll. Der absolut bestechende Zauber dieses Buch erwächst aus der Kunst, aus diesem Nichts Literatur zu machen, ein Buch, das man nicht aus der Hand zu legen wagt. Viele Passagen sind sehr stark: wie er anfangs mit den Eltern umgeht, wie er mit Anfang 40 eine späte Liebe erfährt und wie er am Schluß stirbt. Ja, besonders dieses Sterben habe ich so lange nicht mehr gelesen. Der Übersetzer hat übrigens einen Orden verdient. Der Autor hat es leider nicht mehr miterlebt, wie sein Roman 1996 wiederentdeckt worden ist.

  Lesen fetzt. Nach einer mehr als zweijährigen Leseflaute muß ich mir mein Sensorium erst wieder erarbeiten. Welche Bücher welcher Autoren, in welcher Reihenfolge, was kann warten, was muß warten, was darf nicht warten, was muß so schnell wie möglich... Ohne Anhalt, eben weil alle Listen verloren sind, ist das, gerade wenn das Gespür dafür ebenso verloren ist, nicht einfach. Ich begann quasi bei 0, nehme mir nach und nach einzelne Namen der Schriftsteller vor, die mir einfallen, und von denen ich dann Bücher, die ich noch lesen will, erfasse. Updike, Auster und Philip Roth habe ich. Heute lief mir Evelyn Waugh über den Weg. Von einigen Autoren gibt es eingedenk deren umfangreichen Oeuvres noch viel zu lesen, so daß ich ihre Bücher öfter einplanen muß. So Balzac und Georges Simenon. (24.1.2016)

  Als nicht sonderlich gebildeter Mensch darf ich den Vorteil genießen, regelmäßig neuem Wissen, neuen Begriffen zu begegnen. Heute ist es mal wieder soweit: vom Sitzkrieg lese ich bei David Wagner zum ersten Mal. Nach gut einer Hälfte des Buches ist mir allerdings schleierhaft, warum er den diesjährigen Deutschen Buchpreis gewonnen hat. Dieser Krankheitsbericht ist mir überhaupt nicht literarisch genug für eine so hohe Auszeichnung.


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