Über die Zeit (1)

Vom Augenblick bis zur Unendlichkeit [^^] [^]


Themenstreusel: Zeit
Öde, faule, träge Tage
Vorindustrielles Zeitverhältnis
Mehr/Weniger arbeiten
Exekutivfunktion
Die ersten Uhren
Die unbegreifliche Zeit
Zeit, Unzufriedenheit und Fantasie
Der Zeitplan eines Beamten
Entmoosungsfragen
Carpe diem
Regime der Zeit
Anästhesie
Warten
Kurz vor Tagesanbruch
Unter der Oberfläche
Die gegenwärtige Ewigkeit
Trügerische Zeitgewinne
Zähe Zeit
Pausenwohlstand
Zeitlos
Zeitiges Aufstehen
Unpünktlichkeit
Gleichzeitigkeitsartisten
Geschichtliche Blickrichtungen
Jahreswechsel
Nahe Lebenszeiten
Zeitvielfalt ist bekömmlicher
Zeitwohlstand (2)
Zeitwohlstand (1)
Pessoa: Zeit
Verliert nicht Zeit
Glaubwürdigkeit der Vergangenheit
Klumpen und Historiker
Kollektive Extasetechniken
Ein Halt im Strom der Zeit
Zunehmende Musealisierung
Eine neue Nutzung der Zeit
Die Tretmühle des 24-Stunden-Taktes
Die Kontrolle der Zeit
Religiöser Glanz
Baier: Zeitkandare
Baier: Begradigung
Baier: Zeitknappheit und Information
Baier: Zeitvertreib
Baier: Zusammenspiel der Giganten
Bovenschen: Zeitgeiz
Hesse: Dazwischen
Wharton: Vorher, Nachher
Aitmatow: Wirkungen der Musik
Freud: Distanz notwendig
Strauß: Verschiedene Geschwindigkeiten
Gedmin: Urbane Zeitverläufe
Schirrmacher: Zeitfresser
Steinbeck: Loslösung
Schulze: Inkongruenz
Llamazares: Wie ein Fluß


Öde, faule, träge Tage

...nachdem ich den Schlüssel im Schlosse umgedreht hatte gegen einen wieder einmal für mich nicht ganz geheuren Tag, der nunmehr in die sommerliche Abenddämmerung überging. Und es war durchaus kein in ärgerlicher oder geistigbeschwerlicher und überhasteter Arbeit hingebrachter Tag, sondern einer von den faulen, trägen, apathischen, die, wenn sie einer hinter dem anderen hinschleichen, auf die Länge noch unerträglicher werden als die erste Art. O über diese langen, schleppenden Stunden, die bei dem Regsten, Lebendigsten nach zurückgelegtem dreißigsten Lebensjahre sich einzuschleichen beginnen und sogar durch den Kampf mit ihnen dann und wann nur vervielfältigt werden! Das sind die Tage, in denen man sich selber wie ein Charakter in einem schlechten Romane vorkommen kann, ein unmögliches Geschöpf, mit dem der Autor eben auch nichts anzufangen wußte. (Wilhelm Raabe: Alte Nester) ^


Vorindustrielles Zeitverhältnis

Für Eduard hatte die Neuzeit erst mit der Erfindung der Atomuhr begonnen oder eigentlich erst vor zwei Jahren, als die Sekunde neu festgelegt wurde, als sie endlich nicht mehr, wie seit dem Spätmittelalter, nach dem sechsundachtzigtausendvierhundertsten Teil eines mittleren Sonnentags, sondern nach dem Zäsium-Atom bestimmt wurde. (...) Eduard wartete unter der Rathausuhr auf Paul. Der kleine Zeiger stand auf sechs; der große übertrat gerade die zwölf. Er verglich die Zeit, stellte eine Differenz von einer Minute fest. Das ärgerte ihn nicht mehr. Die Rathausuhr war die älteste und ungenaueste der Stadt. Sie vermittelte noch ein duldsames, vorindustrielle Verhältnis zur Zeit. Ihr mechanisches Getriebe bewegte sich stur und schwermütig. Daß sie bloß um eine Minute abwich, war das Verdienst des staatlich geprüften Stadtuhraufsehers Anton Becker, der den offiziellen Titel Genosse Leitender Facharbeiter für Uhrenkunde tragen durfte. (Emma Braslavsky: Aus dem Sinn) ^


Mehr/Weniger arbeiten

In Deutschland haben alle Beschäftigten seit ein paar Jahren sogar einen Rechtsanspruch auf weniger Arbeit bei entsprechend weniger Lohn. Und doch zögern viele Männer und Frauen, ihre Arbeitszeit etwa auf beispielsweise 30 Stunden zu reduzieren. Wer als gut verdienender Angestellter seinem Abteilungsleiter, Oberarzt oder Chefredakteur mit einem solchen Anliegen kommt, stößt auf Befremden. In der Schweiz hingegen wird ein solcher Wunsch fast immer erfüllt. Dort ist es üblich, die Arbeitszeit maßvoll auf beispielsweise 80 Prozent zu verringern. Kaum ein Unternehmen hat Probleme damit. Die Schweizer Angestellten akzeptieren es allerdings, daß es die freie Zeit nicht gratis gibt: Für das Mehr an Selbstbestimmung sind sie bereit, auf den entsprechenden Teil ihres Gehalts zu verzichten. Mit dieser Einsicht haben die deutschen Kollegen ihre Not. Die 35- Stunden-Woche war in den 1980er Jahren nur durchzusetzen, weil die Gewerkschaften vollen Lohnausgleich aushandelten. Dennoch liegt die mittlere Arbeitszeit aller Beschäftigten heute bei über 39 Stunden, nach den anderen Statistiken sogar bei über 42 Stunden, weil so viele Werktätige Überstunden schieben und sich diese auszahlen lassen. Durch ein Privileg, das die Nazis einst für ihre Rüstungsindustrie einführten, sind Überstundenzuschläge steuerfrei. So schafft der Staat mit einem Aufwand von über acht Milliarden Euro pro Jahr Anreiz zur Mehrarbeit. (Stefan Klein: Zeit: Der Stoff, aus dem das Leben ist) ^


Exekutivfunktion

Der Fachbegriff für diese Fähigkeit, seine Absichten zu ordnen, heißt "Exekutivfunktion". (...) Zudem braucht die Exekutivfunktion offenbar eine Weile, bis sie überhaupt zufriedenstellend arbeitet - wie ein Motor, der sich erst warmlaufen muß. Wenn wir etwas Neues beginnen, schweift die Aufmerksamkeit zunächst herum; nach Untersuchungen von Arbeitswissenschaftlern können sich die meisten Menschen frühestens nach 15 Minuten so konzentrieren, wie es viele Aufgaben verlangen. Bis dahin sind sie für jede noch so kleine Ablenkung empfänglich. (...) Das ist der Preis, den wir für unsere geistige Beweglichkeit zahlen. Denn worauf sich die Aufmerksamkeit richtet, wird von der Exekutivfunktion in jedem Augenblick neu ausgehandelt. Nur so können wir unser Handeln einer sich ständig verändernden Welt anpassen. Aufmerksamkeit bedeutet Wettbewerb. Das Arbeitsgedächtnis hat gespeichert, was wir uns vorgenommen haben; dieses Anliegen geht nun gegen all anderen Impulse und Sinneseindrücke ins Rennen. Gegen einen verlockenderen oder auch bedrohlicheren Einfall hat der ursprüngliche Plan einen schweren Stand. Daß wir für eine Überweisung am Ende des Monats überhaupt eine langweilige Arbeit abschließen, statt beim ersten Sonnenschein sofort an den Badesee zu flüchten, ist eine hohe Leistung unseres Verstandes: Die Exekutivfunktion kann spontane Impulse durchaus niederringen und bei einem einmal gewählten Vorhaben bleiben. (Stefan Klein: Zeit: Der Stoff, aus dem das Leben ist) ^


Die ersten Uhren

Für unsere Vorfahren in den meisten Epochen der Geschichte war Zeitmangel kein Problem. Man folgte ohne zu fragen dem Rhythmus, den die Sonne, das Klima und die Religion vorgaben; die Menschen lebten nach dem, was Sozialpsychologen die "Ereigniszeit" nennen. In Stunden oder gar Minuten zu denken, war ihnen fremd. Allenfalls für die Astronomen hatten solche Einheiten Bedeutung. Ein Umbruch kündigte sich an, als auf den Kirchtürmen der Städte im 14. Jahrhundert die ersten Uhren installiert wurden. Bald verkündete eine Glocke das Öffnen und Schließen der Stadttore, gab den Beginn und das Ende des Marktes an; in Basel gab es außerdem eine Musglocke, damit alle Armen zur selben Zeit im Almosenhaus ihr Mus abholen kamen. (Stefan Klein: Zeit: Der Stoff, aus dem das Leben ist) ^


Die unbegreifliche Zeit

Zeit ist so unbegreiflich wie Gott, dachte er, sehr viel unbegreiflicher als Astronomie oder Mathematik. Man kann sie auf gar keine Weise messen. So langsam, wie hier im Laden die Minuten jetzt dahinkriechen, so rasend schnell war es in jener ungefähr sechs Tage dauernden Hölle aus Beulen, Blutungen und wütendem Geschrei zugegangen. Und keine Minute Pause. Keine Sekunde, keine einzige, um den Blick kurz nach oben zu richten – du übertreibst mit deinem Umgang mit der Zeit, Herr, du übertreibst das Geheimnis deines Stils – und danach wieder nach hier unten. (Margriet de Moor: Der Maler und das Mädchen) ^


Zeit, Unzufriedenheit und Fantasie

Hinter der Unzufriedenheit der Menschen steckte also nicht nur der Mangel an Zeit, sondern vor allem der Mangel an Fantasie. Sie nahmen einen Tag, der einigermaßen gut funktionierte, und dann blieben sie dabei und wiederholten ihn, mindestens von Montag bis Freitag. Das taten sie übrigens auch, wenn er nicht so gut funktionierte - was meistens der Fall war. Nur am Samstag und Sonntag gab es kleine Abweichungen, dann amüsierten sie sich ein wenig mehr. Der erste Vorschlag, den ich ihnen machen wollte, war, manche Dinge einfach umzudrehen. Zum Beispiel fünf lustige Tage und zwei ernste Tage einzurichten statt umgekehrt. Auf diese Art - ja, nennt mich ein Mathematikgenie - hätten sie in der Summe weitaus mehr Spaß. So wie es war, hatten sie eigentlich nur am Samstag Spaß, denn der Sonntag lag ein bisschen zu nah am Montag, als dass sie ihn wirklich genießen konnten. Als wäre der Montag so etwas wie ein kollabierter Stern im Wochensystem, der mit einem Übermaß an Schwerkraft alles in seine Richtung zog. Kurz gesagt, ein Siebtel der menschlichen Tage war angenehm. Die anderen sechs waren nicht so angenehm, und davon waren fünf praktisch immer der gleiche Tag, endlos wiederholt. (Matt Haig: Ich und die Menschen) ^


Der Zeitplan eines Beamten

Er setzte sich an den sorgfältig gedeckten Tisch, Besteck und Serviette lagen neben dem Teller. Es waren die kleinen Rituale, die in der Einsamkeit Halt gaben. Vor Jahren hatte er auf dem Athos im Bergkloster Dionysiou einen Eremiten getroffen, der sich von den Mönchen Gemüse und Obst holte. Er hatte den frommen Mann nach seinem Tagesablauf befragt, und der hatte bereitwillig erzählt, was ein aus Deutschland stammender Novize übersetzte: vom Aufstehen mit der Sonne, dem Beten, wenn er die Stundentrommel aus dem fernen Kloster hörte, vom Fegen der Höhle mit einem Reisigbesen, vom Essen des Brots, des Käses, der Oliven, dem Trinken des Wassers und vom abermaligen Beten. Es war der Zeitplan eines Beamten, man konnte es so sehen: ein Mann, der das Heilige hienieden verwaltete. (Uwe Timm: Vogelweide) ^


Entmoosungsfragen

Man sagt, das Japanische habe Wörter für die Verwandlung, die den Dingen durch die reine Dauer ihres Daseins widerfährt. Eine wundervolle Sprache muss das sein. Im Deutschen gibt es dafür ja nur abwertende Ausdrücke. Der Stein der Zeit, der alles zermahlt. Die Verwitterung, die am Putz nagt. Der Rost, der sich durch die Unterböden frisst. Kein Gespür für das Rascheln der Zeit, das aus Meeresböden Berge und Gebirgen Sandstrand macht. Ich weiß nicht, ob es im Japanischen ein Wort für Vermoosung gibt, aber bestimmt klänge es sehr poetisch. Auf Deutsch klingt es wie ein Putzbefehl. Darum denken die Franzosen auch, "kärchern" sei ein deutsches Wort. Dabei ist es seiner Natur nach nicht deutsch, sondern bundesrepublikanisch. In der DDR stellten sich Entmoosungsfragen nicht. Ob nun gewollt oder nicht, die Dinge kamen und gingen hier im Rhythmus von Wetter und Jahreszeiten, mal plump wie ein Gewitterhagel, mal ausdauernd und leise wie ein Morgenregen im April. Niemand kümmerte sich um ihr Aussehen, und genau darum war ihr Anblick schön. Wenn eine Farbe überhaupt aus dem Farbtopf kam, dann war sie nicht sehr beständig. Kaum aufgetragen, begann sie schon - als wäre sie ein Stück Natur -, ihrer Nachfolgerin Platz zu machen. So wie auf der Außenseite der Gebäude und Fahrzeuge allmählich ein Gesicht entstand und in ihrem Innern ein Geruch. Die Dinge wuchsen und schrumpften, sie korrodierten und verkrusteten, bröckelten und brachen. Sie durften altern, ohne sterben zu müssen. (Per Leo: Flut und Boden)  ^


Carpe diem

"Mein Herz", erwiderte er, "der gute Horaz (wenn ich nicht irre) sagt unter andern seiner weisen Lehren einmal sehr kurz und bündig: 'Carpe diem!' genieße den Tag, den du gerade vor dir hast, gib dich ihm ganz hin, bemächtige dich seiner, als eines, der niemals wiederkehrt: das kannst du aber gar nicht vollständig, wenn du auch nur an ein mögliches Morgen denkst; geschieht dies gar mit Sorgen und Zweifeln, so ist dir ja der gegenwärtige Tag, diese Stunde, der du dich erfreust, schon verloren, indem du sie durch ängstliche Fragen dir verkümmerst. Wir kommen nur zum Bewußtsein der Gegenwart, wir können nur leben und glücklich sein, wenn wir uns ganz in diese stürzen. Sieh! so viel liegt in den zwei Worten dieser lateinischen Sprache, die darum wohl mit Recht eine bündige und energische genannt wird, weil sie mit so kleinen Lauten so vielerlei ausdrücken kann. (Ludwig Tieck: Des Lebens Überfluß)


Regime der Zeit

Aktuelle Kulturdiagnosen beobachten, wie die Vergangenheit - etwa in Form einer regelrechten Erinnerungsindustrie - auf vielfältige Art um sich greift. Zugleich versumpfen wir in einer 'breiten Gegenwart' (Hans Ulrich Gumbrecht) von historischen Datenmassen, die uns die Ära der Digitalisierung ungeordnet und gleichförmig ins Bewußtsein schaufelt. Und die Zukunft wird mittlerweile so mit Problemen überhäuft, daß man ihr die Lösung dieser gigantischen Aufgaben gar nicht mehr zutraut. Sie schrumpft zunehmend auf ein endzeitliches Format zusammen. (Steffen Martus: Regime der Zeit)


Anästhesie

"Es ist vollbracht, aufwachen, wir sind fertig!" Wie Menschen aus den Tiefen des künstlichen Schlafs emporklettern, ist jedes Mal wieder ein Wunder. (...) Die Patientin (...) sieht Suzan an. "Ist es schon vorbei?", fragt sie verwundert. Zeitgefühl, denkt Suzan, darüber sollte mal jemand einen Artikel schreiben. Wenn man schläft, und sei es noch so tief oder betrunken, hat man immer eine Ahnung davon, dass Zeit vergeht. Bei manchen ist das Zeitgefühl so präzise, dass sie keinen Wecker brauchen, bei anderen ist es vager, aber vorhanden ist es immer. Irgendwie bleibt man im Schlaf mit der Welt in Kontakt, auch wenn man sich dessen vorübergehend nicht bewusst ist. Man kann die Dimension von Raum und Zeit nie ganz loslassen. Beim künstlichen Schlaf ist das anders. Patienten erwachen aus der Narkose und haben keine Ahnung, dass fünf Stunden vergangen sind, sie glauben es nicht, sie müssen sich neu auf die Uhrzeit einstellen. Ihnen fehlt etwas. Das stiftet fast immer Verwirrung. Die einen nehmen es hin und vertrauen den Pflegekräften, die sie auf der Station versorgen, so wie sich ein Kind dem Tagesrhythmus unterwirft, den die Eltern vorgeben. Andere macht es wütend, dass sie die Kontrolle über die Zeit verloren haben. Sie fühlen sich in ihrer Autonomie verletzt, die Ärzte haben ihnen ihre Stunden geraubt. Wo sind sie? Verflogen, restlos. (Anna Enquist: Die Betäubung)


Warten

Wer diese Weise, eine Zeitung, ein Buch oder sonst einen beliebigen Gegenstand in Angst, Herzensweh und - Langerweile, ja Langerweile, hin und her zu wenden durch die kriechenden Stunden, nicht kennt, der preise das Geschick, das ihm solchen Zeitvertreib ersparte, und bitte, daß es ihn auch fernhin davor bewahre, sich daran halten, im vollsten Sinne des Wortes sich daran halten zu müssen, bis das schlimme, öde, tödliche Warten sein Ende gefunden hat, einerlei welches. (Wilhelm Raabe: Alte Nester)


Kurz vor Tagesanbruch

Während ich Ihnen schreibe, ist es kurz vor Tagesanbruch, und der letzte Rest von Dunkelheit schwankt am Himmel wie ein großes Gebäude, kurz bevor es einstürzt. Vollkommene Stille umgibt dieses Haus, in dem noch alle schlafen. Im Garten regt sich kein einziges Blatt. Das ist der Augenblick, in dem das Leben denen, die alle Hoffnung aufgegeben haben, am traurigsten vorkommt, es ist die Stunde der Leere. Jetzt hört der Kranke, den man den ganzen Tag angelogen hat, eine Stimme, die ihm zuflüstert_ "Du wirst nie wieder gesund." Und der Mann, der eben noch gehofft hat, daß ihn Freunde vor dem Ruin bewahren werden, sagt laut: "Du bist verloren." (Julien Green: Der Übeltäter, S. 109)


Unter der Oberfläche

In ihrem Roman 'Die Wellen', der entsprechend wasserreich ist, erklärt eine Figur zur äußerlichen Erfahrung der Uhr-Zeit: "Diese extreme Präzision, dieser geordnete, militärische Fortschritt ist ein Fehler; eine Bequemlichkeit, eine Lüge. Selbst wenn wir pünktlich zur angeordneten Zeit eintreffen mit unseren weißen Westen und höflichen Umgangsformen, ist tief darunter immer ein reißender Strom aus zerbrochenen Träumen, Kinderreimen, Straßengeschrei, halbfertigen Sätzen und Bildern - von Ulmen, Weiden, fegenden Gärtnern und schreibenden Frauen - die aufsteigen und versinken..." (Jay Griffiths: Slow Motion. Lob der Langsamkeit)


Die gegenwärtige Ewigkeit

Erwachsene haben im allgemeinen die Uhrzeit gelernt. Kinder - die nicht unsere Zeitgenossen sind - leben im Herzen des Ozeans der Zeit selbst, in einem Jetzt, das eine Ewigkeit ist. Der Schriftsteller R.K.Narayan beschreibt die Kindheit mit diesen Worten: Man "läßt den Tag vergehen, ohne die Stunden zu zählen. Man existiert in der Ewigkeit." Bei einem Kind hat jede Sekunde diese Macht. Die gegenwärtige Ewigkeit eines Kindes ist eine in Gedanken vertiefte, spontane, elastische Gegenwart. Kinder haben eine wunderbar hartnäckige Verachtung für Pünktlichkeit und die herrschende Uhrzeit ist völlig schnurz. (Jay Griffiths: Slow Motion. Lob der Langsamkeit)


Trügerische Zeitgewinne

Die Wünsche, ab und zu hinter sich blicken zu können, einmal aufzuatmen, um den Dauergalopp zu den rasch und rascher wechselnden Zielen zu unterbrechen, nehmen zu. Auszusteigen aus der unbefriedigenden Hetze der zirkulären Alltagsrationalität, die zu immer mehr Oberflächlichkeit führt, welche dann wiederum Beschleunigung zur Folge hat, wird immer hörbarer als Forderung und Hoffnung artikuliert. Die Frage: "Was bleibt von den Zeitgewinnen übrig?" wird inzwischen nicht mehr nur leise gestellt. Die Suche nach der gewonnenen Zeit wird häufiger aufgenommen. Die Vermutung, daß die Zeitgewinne zum Teil trügerisch sind und nicht unbedingt das erwartete und versprochene Mehr an Lebensqualität bringen, wird stärker und hörbarer. (Karlheinz Geißler: Zeit - verweile doch. Lebensformen gegen die Hast, S. 155)


Zähe Zeit

Ein Tag in Luxemburg ist lang. Einstein muß die Idee zur Relativitätstheorie in Luxemburg gehabt haben. Daß die Zeit sich gleichsam zurücklappen kann. Ein Phänomen, das unverständlich ist, sich aber doch empirisch immer wieder bestätigt. In den Weiten des Alls und eben in Luxemburg. Ich hatte alles erledigt, weswegen ich nach Luxemburg gekommen war, aber ich mußte noch warten. Mein Rückflug nach Wien ging erst am nächsten Tag. Warten. Warten. Ich kann zwar Fliegen etwas zuleide tun - wenn ich sie erwische, aber ich kann Zeit nicht totschlagen. Schon gar nicht die Luxemburger Zeit. Was immer ich versuchte - sie taumelte, sie röchelte, sie sank langsam nieder. Aber jedes Mal erhob sie sich aufs neue, frisch und zäh, begann - als wäre sie noch kein bißchen vergangen. (Robert Menasse: Ich kann jeder sagen, S. 92)


Pausenwohlstand

Wir könnten das Nichtstun, die Pausen, achten und lieben lernen, denn dort, wo das Nichtstun verachtet und verhindert wird, wird das Tun zu zerstörerischer Gewalt. (...) Pausen sind mehr als nur eine zu nutzende Werbechance. Unser Ziel sollte es sein, einen Pausenwohlstand anzustreben. (...) Überstunden (...) sind jene Stunden, die zu weit gehen. (...) Zeitwohlstand ist immer aus Pausenwohlstand, und dies haben wir dann, wenn wir verfügbare Zeit haben, über die wir 'nicht' verfügen. Wir wärs mit dem Menschenrecht aufs persönliche Tempo. (Karlheinz Geißler: Zeit - verweile doch. Lebensformen gegen die Hast, S. 31)


Zeitlos

"Sprechen Sie zu einem Zehnjährigen im Hochsommer von Weihnachten. Ebensogut könnten Sie mit einem Halbwüchsigen über seine Pläne fürs Alter, seine Pensionierung reden. Kindheit ist für Kinder zeitlos. Sie ist immer die Gegenwart. Alles findet in der Gegenwart statt. Natürlich haben sie Erinnerungen. Natürlich vergeht auch für sie ein wenig die Zeit, und dann ist es Weihnachten. Aber sie 'fühlen' es nicht. Das Heute ist es, was sie fühlen, und wenn sie sagen. 'Wenn ich mal groß bin...!, schwingt da immer ein wenig Ungläubigkeit mit - wie könnten sie je etwas anderes sein, als das was sie jetzt sind?" (Ian McEwan: Ein Kind zur Zeit, S. 46)


Zeitiges Aufstehen

Vielleicht liegt es auch am Alter und kommt nur bei älteren Leuten vor. Ich kann mich nicht erinnern, als junger Bursch morgens um halb fünf hellwach auf dem Rücken gelegen zu haben. Um mich zu solcher Zeit aus dem Bette zu bringen, wäre Brachialgewalt erforderlich gewesen; späterhin wurde es dann durch die üblen Methoden bewirkt, welche das Militär in seiner Torheit ersonnen hat, statt den Pferden das Frühstücken zu nachtschlafener Zeit nach und nach abzugewöhnen. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Unpünktlichkeit

Es gibt Menschen, die, gesetzt den Fall, sie wären, trotz vielfältigster Angelegenheiten, einmal ohne jede Verhinderung pünktlich zu sein, sogleich irgendeine Ablenkung davon zu finden wissen, welche sich dann zur Abhaltung, ja zum unübersteiglichen Hindernis auswächst. Es scheint, daß die notorische Unpünktlichkeit eine echte Geisteskrankheit ist; eine unüberwindliche Scheu - ein 'Phobie', wie man auch sagt - vor der Pünktlichkeit: ein Verharren; eine Unfähigkeit, sich noch rechtzeitig loszureißen. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Gleichzeitigkeitsartisten

Wohin man blickt, sieht man Gleichzeitigkeitsartisten: Gabel rechts, Handy links, und flüsternd noch ein paar Anweisungen an eine stumme Anwesende geben; beim Walking oder Autofahren Business-Gespräche führen; in der Pfanne rühren, telefonieren und Radiomusik hören; die Freundin streicheln, simultan durch den Äther die Mutter beschimpfen und im Hintergrund fernsehen. Das funktioniert nur dank einer gestreuten (zerstreuten) Aufmerksamkeit, die ihr Objekt schwebend, surfend berührt und tendenziell temporeich auf der Flucht ist. (Ilma Rakusa: Langsamer! Gegen Atemlosigkeit, Akzeleration und andere Zumutungen)


Geschichtliche Blickrichtungen

... wenn irgend eine Zeit mit ihren Gestalten oder Erscheinungen und Formen begriffen werden soll, so muß man sich weit über diese Zeit hinaus in die Vergangenheit zurückziehen und die betreffende Periode von vorne anvisieren, nicht nur von rückwärts her sie betrachten. Eine wirklich intime Kenntnis dessen, was jeweils für eine Generation das 'Altmodische' war, eine Kenntnis, die aber aus diesem eben jeweils altmodisch werdenden heraus nach vorne schaut und nicht in die Vergangenheit hinein wie in einen Antiquitätenladen - eine solche Kenntnis macht es dann leicht, sich in die danach heraufkommende neue Zeit 'einzuarbeiten': der Gegenstand kommt schon ganz vertraut entgegen. Geschichte ist keineswegs die Kenntnis vom Vergangenen, sondern in Wahrheit: die Wissenschaft von der Zukunft; von dem nämlich, was jeweils in dem betrachteten Abschnitte Zukunft war, oder es werden wollte. Denn hier liegt das wirkliche Geschehen, die Strom-Mitte, die Rinne der stärksten Strömung." (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Jahreswechsel

Auf Facebook; "Der Jubel über den Jahreswechsel ist auch ziemlich banal - schließlich kommt ein neues Jahr jedes Jahr wieder. Jahre sind eine ziemlich solide Ware. Sie werden pünktlich geliefert, und jedes hält, was es verspricht: Genau ein Jahr, keine Sekunde mehr, aber auch keine Sekunde weniger. Wie in alten handwerklich- frühkapitalistischen Zeiten." (Laub) - Kommentator 1: "Alle sagen, das alte Jahr ist zu Ende, das neue Jahr kommt - na und? Hätte man zufällig keinen Kalender, würde man nichts merken. Natürlich kann man sich freuen, daß ein Jahr vorbei ist und wir noch immer leben, trotz der Friedenspolitik aller Groß- und Kleinmächte, trotz Erdbeben, UNO, Umweltverschmutzung, Steuerreformen, Abrüstungsverhandlungen und so weiter. Gäbe es aber keine Jahre, könnte man sich darüber jeden Tag, ja jede Minute freuen." Darauf ICH: "Trotzdem braucht und liebt der Mensch Zäsuren. Der Jahreswechsel ist eine so traditonelle, daß sie zum Innehalten einlädt. Ich empfinde es stark; für mich ist Silvester/Neujahr gleichsam ein hoher Feiertag, vermutlich weil ich immer noch die illusorische Hoffnung habe, daß sich etwas an/bei mir ändern kann." - Nochmals ich: "Das christliche Jahresende - das Ende des Kirchenjahres zu Christkönig - spielt keine Rolle mehr. Der Avent ist heutzutage de facto der Beginn von Weihnachten und nicht mehr, wie einst intendiert, die Zäsur zu einem Neubeginn, zu einem Kurswechsel."


Nahe Lebenszeiten

Wenn Sie durch Ihre eigenen Jahre zurückblicken, so gibt es da sicher Zeiten, die Ihnen heute ganz fremd und gleichgültig sind, während irgend eine andere Zeit, die vielleicht noch viel weiter zurückliegt, in hohem Grade Ihr Interesse erweckt. In einem Jahre etwa oder früher oder später hat sich das vielleicht wieder verändert, und Sie haben wieder zu einem anderen Teile Ihrer eigenen Vergangenheit eine lebendigere Beziehung gewonnen, und andere Teile sind jetzt wieder gleichgültig geworden. Es gibt sicher Zeiten, die wir sehr nahe an unserer Kindheit verbringen oder auch an irgend einem anderen gewesenen Abschnitte unseres Lebens, dessen innere Haltung wir jetzt ganz ähnlich wieder einnehmen, an dessen Worte, Bilder, Gerüche und andere Eindrücke wir auf Schritt und Trott von innen her erinnert werden; ja, in manchen Augenblicken ist es uns, als trennte uns nur eine ganz dünne Wand mehr vom Gewesenen, eine Wand, die wir leicht durchbrechen könnten. Und wir fühlen etwa so, als seien 'Zeit' und 'Vergangenheit' nur eine Art Einbildung, der wir unterliegen... (Heimito von Doderer: Die Dämonen)


Zeitvielfalt ist bekömmlicher

Der bereits mehrfach erwähnte Sachverhalt, daß wir heute am Ende der Beschleunigungsmöglichkeiten angekommen sind, wäre ein guter und aktueller Grund - auch aus ökonomischer Sicht -, über sinnvolle und "profitable" Alternativen zur Monokultur der Beschleunigung nachzudenken. Eine solche bestünde in einer Kultur der Zeitvielfalt, in deren Entwicklung und deren Pflege. Immer noch sind einflußreiche Personen, in der Mehrzahl Manager und Politiker, der Meinung, die wirtschaftliche und die zivilisatorische Zukunft unseres Landes sei nur durch eine einzige Zeitform erreichbar, die der Schnelligkeit bzw. die der Beschleunigung. Die nicht mehr zu übersehenden kostenrelevanten Effekte blenden sie dabei jedoch aus. "Die Schnellen", so ihre furchtmachenden Parolen, "fressen die Langsamen". Niemand jedoch nimmt sich dabei mehr die Zeit zu prüfen, ob wolcher Fraß eigentlich bekömmlich ist. (Karlheinz A. Geißler: Vom Tempo der Welt. Am Ende der Uhrzeit, S. 194)


Zeitwohlstand (2)

Auf wieviel Lebensstandard müssen wir verzichten, um unsere Lebensqualität zu erhöhen? Eine Frage, die uns dann, wenn wir gewillt sind, sie uns zu stellen und sie zu beantworten, notwendigerweise zum Thema des Zeitwohlstandes führt. Wenn wir schließlich bereit wären, diesbezüglich wirklich Ernst zu machen, erst dann hätten wir allen Grund, Adalbert Stifters Realitätsbeschreibung zu widersprechen: "Wir Menschen plagen uns ab, um die Mittel zum Leben zu erwerben, nur das Leben lassen wir dann bleiben.". (Karlheinz A. Geißler: Vom Tempo der Welt. Am Ende der Uhrzeit, S. 191)


Zeitwohlstand (1)

Reisch (1998) und Scherhorn (1995) sehen im Zeitwohlstand ein wichtiges Element und einen zentralen Indikator für die Lebensqualität. Zeitwohlstand wird bei ihnen als ein "Wohlbefinden in der Zeit" verstanden. Das, was wir "Wohlstand" nennen, ergänzen sie um das immaterielle Kriterium des "Wohlbehagens". Eine Gesellschaft ist unter dieser Perspektive wohlhabend, wenn sie nicht nur viele Waren und Güter produziert und besitzt, sondern auch viele Zeitformen zuläßt und realisiert. Wenn sie ihren Mitgliedern beispielsweise vielfältige Möglichkeiten eröffnet, Eigenzeiten zu leben, elastisch mit Zeitvorgaben umzugehen, das erwünschte Tempo im Alltag selber zu beeinflussen, sich und ihre Umfeld rhythmisch zu organisieren und ihre Zeitsouveränität im Arbeitsprozeß zu erhöhen. Das Zeitwohlstandskonzept macht mit der von Nietzsche geäußerten Ermahnung Ernst, im Menschen mehr als nur ein geldverdienendes Wesen zu sehen. Es ist auch eine Absage an die protestantische Arbeitsethik. (Karlheinz A. Geißler: Vom Tempo der Welt. Am Ende der Uhrzeit, S. 191)


Pessoa: Zeit

Ich weiß nicht, was die Zeit ist. Ich weiß nicht, welches ihr wahres Maß ist, falls sie überhaupt eines hat. Ich weiß, daß die Uhrzeit falsch ist: sie unterteilt nicht die Zeit, sondern unsere Empfindung von der Zeit. Die Zeit der Träume ist gleichfalls falsch; in ihnen streifen wir das eine Mal eine verlängerte, das andere Mal eine verkürzte Zeit, und was wir erleben, ist übereilig oder langsam infolge irgendeines Vorgangs beim Verfließen der Zeit, dessen Natur ich nicht kenne. (Fernando Pessoa: Das Buch der Unruhe)


Verliert nicht Zeit

Verliert nicht Zeit und eilt euch, was ihr könnt,
Da Tag und Nacht die Zeit von dannen rennt,
Teils, wenn wir schlafen, heimlich sich entzieht,
Teils, wenn wir wach, uns ungenützt entflieht,
So wie der Strom talabwärts sich ergießt,
Doch nie zurück zu dem Gebirge fließt.
Auch Seneca und andre Weise sagen,
Daß schwerer Zeit- als Geldverlust zu tragen;
Verlorenes Geld sei wieder zu erringen,
Verlorene Zeit sei nicht mehr zu erbringen.
Ganz zweifellos wird nie zurückgeschafft
Die Zeit, sowenig wie die Jungfernschaft.
(Geoffrey Chaucer: Canterbury-Erzählungen, S. 175)


Glaubwürdigkeit der Vergangenheit

Oft habe ich daran gedacht, den Unterricht mit einer Warnung vor der verführerischen Glaubwürdigkeit der Vergangenheit zu beginnen. "Mißtraut der augenscheinlichen Vernünftigkeit der Geschichte", würde ich sagen, "sie nimmt einem nachts wie ein Dieb, was sie einem bei Tag geschenkt hat, sie ist ein Luder, das Gefallen daran findet, einen irrezuführen und in dem Bad, in dem wir am liebsten plantschen, dem Bad der Vernunft, ertrinken zu lassen. Sie lädt dazu ein, Gestalten als wahr anzunehmen, die nicht mehr als Luftspiegelungen sind, und wenn man mit erhitztem Kopf entdeckt hat, daß man an eine Fata Morgana geglaubt hat, und ins erfrischende Bad der Vernunft springt, hockt sie einem plötzlich auf dem Rücken und füllt einem die Lungen mit giftigem Wasser. (Leon de Winter: Place de la Bastille, S. 32)


Klumpen und Historiker

Ich kann es nicht lassen, auch mein eigenes Leben in Perioden einzuteilen. Natürlich ist die Zeit mit jener unteilbaren Geradlinigkeit verstrichen, welche jeden Verlauf glättet und so etwas wie "Perioden" nicht kennt. Doch um sie in den Griff zu bekommen, muß ich stückeln, Trennstriche ziehen, abstecken, damit ich die Hände in die amorphe Masser meines Lebens tauchen und die Klumpen, die ich zu fassen bekomme, "Perioden" nennen kann. In der künstlichen und zufälligen Ordnung, die jeder Klumpen in meiner Hand darstellt, scheint eine bestimmte Struktur vorhanden zu sein; der Klumpen hat eine Form, natürlich, und diese Form ist benennbar. Ich kann den Klumpen rund oder eckig oder ausgestülpt oder eiförmig nennen. Auf diesem Gebiet ist der Historiker versiert. Er taucht die Hände in die Jauche und betrachtet strahlend seinen Fund, dem er einen Namen gibt, zum Beispiel "Zigarre" (obwohl wir längst gesehen haben, daß es Kot ist, was ihm an den Finger klebt), und hält dann einen Vortrag über die Notwendigkeit von Salatgurken. Einerseits versteht sich der Historiker wie kein anderer auf das Einrennen sperrangelweit geöffneter Türen, andererseits meint er Türen zu sehen, wo nichts als Spiegelungen die blinden Mauern zieren. Ich bin Historiker. (Leon de Winter: Place de la Bastille, S. 22)


Kollektive Extasetechniken

"Von unseren Dance-Kollegen, den Indianern und Eingeborenen, kennt man die bewährte Formel: Rhythmus + Wiederholung = Trance", beschrieb das Techno-Magazin 'Groove' die bewährten Ekstasetechniken der Raving Society. Und über die moderne Inkarnation des Schamanen, den Discjockey, kurz DJ genannt, schrieb der Autor Rainald Goetz: "Sein Auftrag hieß: Musik und Tanz, Ekstase, Abfahrt, Rausch. Er kannte Dämonen und beherrschte sein Handwerk. Er war im Bund mit Feen, Faunen und Teufeln." Ob explizit oder implizit, bewußt oder unbewußt, erfolgreich oder erfolglos, die Ein- und Ausübung kollektiver Ekstasetechniken ist somit stets auch eine Form des Widerstands gegen die säkularisierten, entrhythmisierten und funktionalisierten Zeitnormen einer Gesellschaft, deren Hauptritual nur noch darin besteht, jeden Morgen um die gleiche Zeit aufzustehen und zur Arbeitnzu fahren - und in der selbst dieses für immer mehr Menschen ersatzlos entfällt. (Michael Baeriswyl: Chillout. Wege in eine neue Zeitkultur, S. 218)


Ein Halt im Strom der Zeit

Seit Homo sapiens denken kann, dachte er deshalb nicht nur daran, wie er Halt im Strom der Zeit finden könne, sondern beinahe ebenso oft dachte er daran, die Wachthunde des Bewußtseins - und damit auch des Zeitbewußtseins - zu überlisten, via Musik, Tanz und Drogen über die Reling des Realitätsschiffchens hinauszuspringen und in die brausenden Wogen des unendlichen Universums einzutauchen. Nicht nur Dionysos' Bocksgesänge, Rumis tanzende Derwische, das gegorene Blut Christi, Brahamanengeheul, der Kawa-Kult auf den Atollen der Südsee oder die drei legendären Tage von Woodstock, sondern auch die Techno-Tanzorgien in den Katakombem verwaister Industrieanlagen sind somit nichts anderes als Anläufe, einen Ausweg zu finden aus der Welt, der Zeit, dem Körper und aus sich selbst. (Michael Baeriswyl: Chillout. Wege in eine neue Zeitkultur, S. 217)


Zunehmende Musealisierung

Parallel zur wachsenden Rate der Neuerungen steigt auch die Rate der veraltenden Dinge. Ein Indiz dafür ist der Vorgang der "progressiven Musealisierung". Die Zahl der Museen steigt, ebenso die Besucherzahlen und die Sachgebiete. Selbst ganze Kulturlandschaften fallen mittlerweile der Musealisierung anheim. Auch die Zeitspanne, bis etwas als museumswürdig gilt, verringert sich stetig. Bloß noch eine Frage der Zeit, bis auch die Gegenwart unter Denkmalschutz gestellt wird. (Michael Baeriswyl: Chillout. Wege in eine neue Zeitkultur, S. 141)


Eine neue Nutzung der Zeit

Doch statt sich auf die Suche nach einer neuen Nutzung der Zeit "jenseits des Tunnels ökonomischer Notwendigkeiten" zu machen, wird über die Notwendigkeit einer Rückkehr zur Vollbeschäftigung diskutiert. Statt die historisch neue Perspektive eines Aufbaus einer "Zivilisation der freien Zeit" als Chance aufzufassen, wird die Befreiung vom Diktat der Zeitökonomie als drohender Wertezerfall verstanden. Statt die Verkürzung der Arbeitszeit aufgrund von Produktivitätsfortschritten als Notwendigkeit zu erkennen, wird sie als ökonomisch untragbar oder als Zwang begriffen. Und statt erwerbslose Menschen mit einem existenzsichernden Grundeinkommen zumindest ökonomisch über Wasser zu halten, werden sie von den Arbeitsämtern zur zeit- und nervenaufreibenden Stellensuche angetrieben, in einen sinnlosen Papierkrieg verwickelt, mit Weiterbildungskursen aufgerüstet und in ihrem zumeist vergeblichen Kampf um einen befriedigenden neuen Arbeitsplatz bei Laune gehalten. Dabei wären die stattlichen Arbeitslosigkeitsverwaltungen besser beraten, Kurse für einen neuen, selbstbestimmten Umgang mit Zeit jenseits des ökonomischen Zeitdiktats anzubieten. Doch davon sind sie zurzeit ebenso weit entfernt wie Homo habilis vor zwei Millionen Jahren vom Sprachvermögen. (Michael Baeriswyl: Chillout. Wege in eine neue Zeitkultur, S. 81)


Die Tretmühle des 24-Stunden-Taktes

Die "Kolonisierung der Nacht" war gleichsam die Geburtsstunde der "Nonstop-Gesellschaft". "Alles - zu jeder Zeit - überall und sofort" wurde zur Losung einer Rund-um-die-Uhr Gesellschaft, in der Raum und Zeit kaum noch zählen, letztendlich jedoch eine Menge kosten. Denn durch Automatisierung, Tag- und Nachtarbeit, Computer und schnelle, weltumspannende Verkehrs- und Kommunikationssysteme hat sich der Mensch in die Tretmühle eines 24-Stunden-Taktes begeben, die ihn überfordert. (Michael Baeriswyl: Chillout. Wege in eine neue Zeitkultur, S. 14)


Die Kontrolle der Zeit

Strategien der Verlangsamung gehören zudem längst zum Inventar der Moderne und werden in vielen Bereichen mit mehr oder weniger großem Aufwand mehr oder weniger erfolgreich praktiziert. Dabei ist der Kühlschrank wohl das auffälligste, aber längst nicht das einzige Verlangsamungsverfahren. In der Politik gehört die Verzögerungstaktik seit je zu einem probaten Mittel, um mit unliebsamen Forderungen fertig zu werden. Auch die Konservenindustrie oder die Erforschung des Rätsels vom Altern haben ihren Zweck einzig darin, Zerfallsprozesse zu verhindern oder zumindest zu verlangsamen. Und sind nicht auch die immensen Anstrengungen der Kosemtikindustrie und der Schönheitschirurgie ein einziger, vergeblicher Kampf gegen die Zeit? So wird mit immensem Aufwand geliftet, gestrafft und abgesaugt; gesalbt, gepudert uznd getönt; operiert, transplantiert und geklont; homogenisiert, pasteurisiert und sterilisiert; entrostet, poliert und versiegelt; geräuchert, gepökelt und dehydriert; vakuumisiert, gefriergetrocknetund tiefgekühlt - und dies alles, um die Zeichen der Zeit zu verhindern. Verlangsamung ist weniger ein Phänomen kompensatorischer Entschleunigung als vielmehr eine weitere Taste auf der Klaviatur der "Multioptionsgesellschaft", eine weitere Option im Meer der denk- und undenkbaren Möglichkeiten und Unmöglichkeiten und perpetuiert damit jene Mobilmachung, die sie entmobilisieren, jenen Fortschritt, den sie unterschreiten, jene Aufrüstung, die sie abrüsten, jene Anspannung, die sie entspannen, und jene Beschleunigung, die sie verlangsamen will. Kurzum: Verlangsamung ist bloß die leisere Stimme jenes gewaltigen Chors, dessen wahre Hymne die Kontrolle der Zeit ist: die willentliche und willkürliche Beschleunigung oder Verlangsamung von "Rhythmen und Eigenzeiten". (Michael Baeriswyl: Chillout. Wege in eine neue Zeitkultur, S. 16/17)


Religiöser Glanz

Da die Zeit jeder Handlung prinzipiell unterboten werden kann, wurde bis hinunter zu den ganz alltäglichen Gegenständen, der täglichen Besorgungen und der Küchengeräte alles schneller. Selbst die Dinge begannen die Sprache der Geschwindigkeit zu reden, wurden windschnittiger, aereodynamischer und stromlinienförmiger: Das Tempo ruschte förmlich in sie hinein. Geschwindigkeit wurde zu einem Gütekriterium, und alles, womit sich Zeit sparen ließ, bekam "religiösen Glanz". (Michael Baeriswyl: Chillout. Wege in eine neue Zeitkultur, S. 13)


Zeitkandare

Was aber fängt das System insgesamt mit den Unmassen Zeit an, die es der Verfügung der Individuen entzieht? Warum die Industrien und der Handel es auf unser Geld abgesehen haben, liegt in der von ihnen konkurrenlos beherrschten Welt auf der Hand: Es dient der Konsolidierung und dem Wachstum ihrer Macht. Doch was haben die Industrien davon, daß sie sich auf jeden Fleck brachliegender Zeit stürzen? Neuartige Form der Vergesellschaftung, die sich dadurch realisiert, daß sie alle an die Zeitkandare nimmt? Im Innern des ganzen Zeitregimes gähnt irgendwo ein schwarzes Loch. (Lothar Baier: Keine Zeit. 18 Versuche über die Beschleunigung, S. 105)


Zeitknappheit und Information

Die Schlußfolgerung drängt sich auf, daß der Eindruck der Zeitknappheit in dem Maß erzeugt wird, in dem Zahl und Ausmaße der angebotenen Zeitvernichtungsfelder zunehmen. Zeit erscheint dann besonders knapp, wenn man nicht genug davon auf einmal vernichten kann. Jedes neu hinzukommende Fernsehprogramm, jedes neue Magazin, jede neue Website vermehrt die Vernichtungsmöglichkeiten. Dafür aber, werden wir getröstet, nähmen auch die Informationsmöglichkeiten entsprechend zu. Schön wär's wenn es so wäre. Eine Information in vollem Wortsinn kommt erst dann zustande, wenn sie sich in der Ausdehnung von Zeit entfalten kann, denn Verstand, Erinnerung und Gefühl benötigen bei Rezeption und Nachbearbeitung der empfangenen Nachricht Zeit. (Lothar Baier: Keine Zeit. 18 Versuche über die Beschleunigung, S. 101f.)


Zeitvertreib

Montaigne war ebenfalls nicht dem unerbittlichen Gesetz mühseliger Arbeit unterworfen, doch die Not seiner Zeitgenossen mit dem Problem der Zeit, die nicht vergehen will, war ihm unbekannt. "Ich habe mein völlig eignes Vokabular: Ich vertreibe die Zeit, wenn sie schlecht und unerfreulich ist; wenn aber gut, will ich sie nicht vertreiben, sondern festhalten und auskosten. Die schlechte sollte man durcheilen, in der guten verweilen. Die üblichen Ausdrücke 'Zeitvertreib' und 'sich die Zeit vertreiben' sind charakteristisch für das Verhalten all der Neunmalklugen, die meinen, das meiste hätten sie vom Leben, wenn sie es dahingleiten und vorüberstreichen ließen, es nicht beachteten, im auswichen oder, soweit es in ihrer Macht steht, die Flucht davor ergriffen: als sei es eine verdrießliche und verächtliche Sache." (Lothar Baier: Keine Zeit. 18 Versuche über die Beschleunigung, S. 80)


Zusammenspiel der Giganten

Nicht nur über den Geldbeutel der Benutzer gelingt es der Computerindustrie, Macht auszuüben, sondern auch über deren Zeit. Das bißchen Zeitgewinn, den der schnellere Prozessor ermöglichte, war durch den vorausgegangenen Zeitverbrauch beim Installieren, Konfigurieren und Umgewöhnen längst aufgefressen worden. Möglich geworden war diese Form von Machtausübung durch das beschriebene ausgeklügelte Zusammenspiel der beiden Giganten der Industrie: Intel baut einen neuen Prozessor, und Microsoft bringt neue Software heraus, die die höhere Rechengeschwindigkeit gleich wieder konsumiert, so daß im Erwerb eines neuen Geräts bereits die Nachfrage nach dem nächsten mit eingebaut ist. (Lothar Baier: Keine Zeit. 18 Versuche über die Beschleunigung, S. 59)


Zeitgeiz

Ich lese Silvia Bovenschens Älter werden. Weil es ein Buch mit so klugen Gedanken ist, werde ich vermutlich noch mehrmals daran anknüpfen. Beim Thema "Zeitgeiz" von "angestrengter Sprungbereitschaft" gelesen. Die Autorin wundert sich über fehlende Gelassenheit bei manchen Menschen, die angesichts der Kürze unseres Lebens ein allzu ökonomisches Verhältnis zur Zeit haben. "Ich mag Geiz in keiner Form. Auch diesen nicht. Es ist ja zu keiner Zeit des Lebens gesagt, wieviel Zeit noch bleibt. Und ich habe keine Lust, meinen mentalen Haushalt der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu unterwerfen." (S. 22) - Die "angestrengte Sprungbereitschaft" attestiert Bovenschen einigen Akademikerinnen, die jede Minute ihrer Existenz etwas Wichtigem vorbehalten wollen.


Dazwischen

Jede Zeit, jede Kultur hat ihren Stil, hat ihre Schönheiten und Grausamkeiten, nimmt gewisse Übel geduldig hin. Zur Hölle wird das menschliche Leben nur da, wo zwei Zeiten einander überschneiden. Es gibt Zeiten, wo eine ganze Generation so zwischen zwei Zeiten, zwischen zwei Lebensstile hineingerät, dass ihr jede Selbstverständlichkeit, jede Sitte, jede Geborgenheit und Unschuld verlorengeht." (Hermann Hesse, Der Steppenwolf, S. 27f.)


Vorher, Nachher

Was sollte es heißen, daß für diejenigen, die im Himmel waren, die Freude niemals endete? Wie konnte das sein? Etwas ließ einen doch nur deshalb gut fühlen, weil es eine Zeit gegeben hatte, in der man nicht im Besitz dieses Etwas gewesen war, und wenn man es dann besaß, dann konnte man sich daran erinnern, daß das Leben ohne diese Sache viel unerfreulicher gewesen war. (Thomas Wharton: Salamander, S. 73)


Wirkungen der Musik

Wenn der Mensch Musik hört und sich in deren Sinn und Entfaltung vertieft, betritt er, dachte sich Robert Bork, eine überpersönliche Kategorie der Zeit, die Strömung der Unendlichkeit zieht ihn in sich hinein, läßt ihn die Ewigkeit berühren und verlängert sein Leben, womöglich um Jahrzehnte und Jahrhunderte. Natürlich keine lineare Verlängerung, sondern hin zu einer noch unerschlossenen Dimension, die dem Menschen höchstwahrscheinlich für immer verschlossen bliebe. (Tschingis Aitmatov: Das Kassandramal, S. 120)


Distanz notwendig

"Endlich kommt die merkwürdige Tatsache zur Wirkung, daß die Menschen im allgemeinen ihre Gegenwart wie naiv erleben, ohne deren Inhalte würdigen zu können; sie müssen erst Distanz zu ihr gewinnen, d.h. die Gegenwart muß zur Vergangenheit geworden sein, wenn man aus ihr Anhaltspunkte zur Beurteilung des Zukünftigen gewinnen soll." (Sigmund Freud: Zukunft einer Illusion)


Verschiedene Geschwindigkeiten

Man ist ohnehin, wenn man soviel geht, allseits von den verschiedenartigsten Geschwindigkeiten umgeben. Alles und jedes hat sein strikt Eigenes an Zeit, der wippende Ast dauert anders als der fließende Kanal, der vorüberpolternde Bus anders als der tröpfelnde Brunnenmund, zu schweigen von den oberen Rasereien des Lichts, des Schalls, des... man befindet sich sozusagen in einem chaotischen Trommelfeuer von Zeitgeschossen und nur eine sehr zielgerichtete, eine sehr widerstandsfähige Natur wird immer unbeschadet davonkommen und, trotz allem Gehen, weiterhin fest in sich zu ruhen vermögen. (Botho Strauß: Rumor, S. 150f.)


Urbane Zeitverläufe

Wenn Geduld eine Tugend ist, dann ist Europa ein wahrhaft tugendhafter Ort. Ein New Yorker Freund erzählte mir, er habe einen Kulturschock erlitten, als er nach Washington gezogen sei. Die Dinge kämen dort nur so langsam voran, dass er das Gefühl hatte, die Leute würden "durch Wackelpudding waten." New York ist schnell, New York ist hektisch. Dort will man alles innerhalb einer "New Yorker Minute" erledigt haben, einer Zeiteinheit, die für uns Normalsterbliche ungefähr 17 Sekunden dauert. Und jetzt geht es mir ähnlich. Als ich von Washington nach Berlin zog, hatte ich auch das Gefühl, durch Wackelpudding zu laufen. Alles hier scheint sich schleppender zu bewegen. Geldautomaten brauchen länger, bevor sie die Scheine ausspucken. Telefone läuten länger, bevor jemand abhebt. Und im Kino dauert es länger, bis endlich der Hauptfilm beginnt. Wenn Sie im Café um die Ecke auf Ihren Cappuccino warten, bringen Sie besser den "Zauberberg" mit. (Jeffrey Gedmin) ^


Loslösung

Manchmal, wenn ich schreibe, bin ich einer Art Bewusstlosigkeit nahe. Dann ändert die Zeit ihren Charakter, und Minuten verflüchtigen sich ins Gewölk einer Zeit, die etwas Einheitliches ist, eine einzige Zeitspanne. Ich habe schon gedacht, wenn wir von unserem Uhrzeigerdenken loskommen könnten, dann gäbe es es vielleicht überhaupt keine Zeitspannen mehr. Dann wäre die Weltgeschichte und alles, was ihr vorausging, nur ein Aufblitzen wie ein zerplatzender Stern, ewig und zeitlos. (John Steinbeck: Tagebuch eines Romans) ^


Zeitfresser

Jeder kennt das Gefühl, täglich, ja stündlich Lebenszeit zu verschwenden. Die "verlorenen Jahre", die drei Generationen von zwei Kriegen geraubt worden waren, wandelten sich zu verlorenen Tagen und Stunden. Während die Gewerkschaften mehr Freizeit erstritten, wurde die seelische Zeit zur bedrohten Ressource. Fernseher und Computer gelten als Zeitfresser, noch heute strahlen sie schlechtes Gewissen ab, weil sie von Dingen abhalten, die über Jahrzehnte dazu dienten, Zeit zu füllen: Lernen, Lesen, Erziehen, Reden, Ruhen (Frank Schirrmacher: Das Methusalem-Komplott)  ^


Inkongruenz

... ist der schnelle Zerfall der Zeit schuld, die nicht durch unaufhörliche Wachsamkeit beaufsichtigt wird. Wir alle wissen, daß sich dieses undisziplinierte Element lediglich notgedrungen, dank unaufhörlicher Kultivierung, aufmerksamer Fürsorge, sorgfältiger Regulierung und Korrektur seiner Ausbrüche in gewissen Grenzen hält. Dieser Sorgfalt entledigt, neigt sie sofort zu Übertretungen, zu wilden Irrtümern, zu unberechenbaren Scherzen und formloser Narretei. Immer deutlicher zeichnet sich die Inkongruenz unserer individuellen Zeiten ab. (Bruno Schulz: Die Zimtläden und andere Erzählungen)  ^


Wie ein Fluß

Die Zeit fließt genauso dahin wie ein Fluß: anfangs schwermütig und unentschlossen, mit den Jahren dann in wilder Hast. Wie der Fluß verfängt sie sich in den zarten Algen und im Moos der Kindheit. Wie er stürzt sie sich durch die Schluchten und über die Schnellen, die den Beginn ihrer Beschleunigung kennzeichnen. Bis zum zwanzigsten oder dreißigsten Lebensjahr glaubt man, die Zeit sei ein endloser Fluß, eine geheimnisvolle Substanz, die aus sich selbst gespeist wird und sich nie aufbraucht. Doch dann kommt der Augenblick, in dem der Mensch den Verrat der Jahre aufdeckt. Es kommt immer der Augenblick (...), in dem die Jugend mit einem Schlag zu Ende geht und die Zeit abtaut wie ein Haufen Schnee, in den der Blitz gefahren ist. Von diesem Zeitpunkt an ist nichts mehr wie zuvor. Von diesem Zeitpunkt an werden die Tage und Jahre kürzer, und die Zeit verwandelt sich in einen flüchtigen Dunst - genau wie ihn auch schmelzender Schnee von sich gibt -, der nach und nach das Herz umhüllt und einschläfert. Und wenn wir es dann endlich merken, ist es schon zu spät, um sich noch dagegen aufzulehnen." (Julio Llamazares, Der gelbe Regen) ^


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