Über den Freitod (2) [<<]

Fundstücke aus Büchern und Zeugnissen [^^] [^]


Themenstreusel: Suizid
Weltschmerz
Versuchsanordnungen und Internetforen
Selbstmordklinik
Unbeholfenheit
Verbot in der Bibel? (3)
Verbot in der Bibel? (2)
Verbot in der Bibel? (1)
Um die Familie zu ärgern
Selbstmordmechanismus
Fatale Kumpanei
Sich erhängen
Verrückt oder gesund?
Das Leben, ein Geschenk
Margits Mutter
Zu feig, zu unbeholfen
Stereotype
Ein natürlicher Teil
Das Lager der Büffel
Vom Suizid abgehalten
Problem leiser gedreht
Eine Art von Tapferkeit
Ein lebender Selbstmörder
Schutz vor Selbstvernichtung
Ein wirklicher Protest
Vorbereitet sein (2)
Vorbereitet sein (1)
Großer Respekt
Ein geachteter Selbstmordforscher
Wenn jemand jung stirbt
Vom Leben gesättigt
Anschuldigungen an Hesse
Suizidassistenz
Es ist alles gleich
Alles gut gemacht
Die kennt sich aus!
Ein Gedicht
Die erzählerische Spannung
Freitod-Cartoons
Selbstmord schiefgegangen
Gelebt muß ja werden
Logische Idee des Selbstmordes
Wirksamer Schutz
Der Sprung auf die Gleise
Psychiater und Gaukler
Vielleicht 10 Jahre noch
In der Provinz
Bernhard: Vom Selbstmord reden
Leb du weiter!
Homer Simpson
Gloomy Sunday
Arturo Gatti
Suizid als Tautologie
Unabhängig
Suizidale Anwandlungen
Präventiv
Drang aus Melancholie


Weltschmerz

Der Weltschmerz nahm von mir Besitz. Ich dachte an die Pistole von Connys Vater. Mit einem kleinen Loch in der Schläfe vor der Linde sitzen. Dann würden all die Arschlöcher das Heulen kriegen und sich fragen, was sie mir angetan hatten. Abgesehen von Hartmann und dem Offizier. Die Gesichter auf der Beerdigung hätte ich mir gerne angeguckt. Würde Conny kommen, mit dem Baby im Bauch? Und Sprenzel? Er würde es nicht verstehen. Um ihn tat es mir leid, und um meine Mutter. Sie könnte auch gar nicht so lange stehen auf dem Friedhof mit ihren Beinen. Trotzdem gefiel mir die Vorstellung des Freitods. Alles wäre plötzlich einfach. Mangels Pistole gab es ja noch eine andere Möglichkeit, bei der nicht so viel von mir übrig blieb. Ich fuhr die Kirchhausener Bahnstrecke entlang. Den Weg, den ich früher nach Bad Berta radelte, als noch alles schön war. Auf einmal hatte ich Maybes Duft in der Nase. Was machte sie wohl gerade? Dachte sie an mich? Ich hatte mal irgendwo gelesen, dass in dem Augenblick, in dem ein Selbstmörder zur Tat schreitet, alle an ihn denken. Ob das auch für Himmler galt? (Alexander Kühne: Düsterbusch City Lights)  ^


Versuchsanordnungen und Internetforen

Es geht natürlich um einen Selbstmordversuch, einen läppischen, der aber beinahe gelang. "Gelang", "von Erfolg gekrönt war", "zum gewünschten Ergebnis führte" - eigentlich verbieten sich solche positiv besetzten Vokabeln in dieser Sache. Da "gelingt" nichts mehr, "Erfolg" hat in solchen Beschreibungen nichts zu suchen, und ob der Exitus wirklich dem "Wunsch" des Suizidenten entspricht, ist mehr als fragwürdig, selbst wenn man, wie ich, ein Befürworter des Rechts auf einen möglichst unkomplizierten und schmerzlosen Freitod ist. Zudem unterstellt man im Subtext den hierin "Erfolglosen" Schwäche und Unfähigkeit: Nicht einmal ordentlich abtreten können die. Ich hatte Angst. Ich wollte mich vor keine Bahn werfen. Ich wollte auch nirgendwo hinunterspringen, um als Blutmatsch zu enden. Diese Möglichkeiten kamen mir zu martialisch und drastisch vor, zu rücksichtslos auch. Zudem würde mir wohl der Mut zum letzten Schritt in den Abgrund fehlen. Und die Bedenken, die ich hatte, die wohl jeder hat, der sich mit solchen Ideen plagt, die Rollstuhlbilder im Kopf, Beinstümpfe und Querschnittslähmung - bitte nicht. Aber weg sein wollte ich sehr. Jedenfalls war die Sehnsucht groß, auch wenn ich immer wieder störrisch ausharrte, die Qual aussaß, ohne sie loszuwerden. Und vielleicht würde es doch noch einmal wiederkommen - das Leben, das Gefühl davon? Selbstmordforen sind für den restlos Verzweifelten - man verzeihe mir diese Sichtweise, sie soll nicht zynisch wirken, im Gegenteil - ein Ort der Zerstreuung. Es ist fast wie Fernsehen, man zappt träge durch und vergisst sich. Eigentlich, wie alle dort Versammelten, auf der Suche nach der Exit-Strategie, ist man nach dem Besuch solcher Seiten schlichtweg zehnmal ratloser als vorher - was fürs Überleben ja zunächst einmal nicht der schlechteste Effekt ist. Und fühlt sich sogar auf perverse Weise unterhalten und verstanden. Bizarre Freitodarten werden minutiös erörtert, Ersticken durch Grillen im abgedichteten Badezimmer etwa, man will es kaum glauben, Gasmasken und Wasserüberdosis, all das, weitere Details erspare ich Ihnen. Dann sind einige Stunden vergangen, und der Schmerz ist vorübergehend zerstreut durch die Frage: Ja, wie denn jetzt? (Thomas Melle: Die Welt im Rücken)  ^


Selbstmordklinik

Die Schauspieler improvisierten täglich und boten Figurenaspekte und Plotfragmente an, die ich sofort aufnahm und nächtens umsetzte. Als Szenario hatte ich gegen manchen Widerstand eine Selbstmordklinik durchgesetzt, das "Haus zur Sonne", eine Institution, die sowohl staatliche Menschenabschaffungsanlage als auch utopische Wunscherfüllungsmaschine in sich vereinte. Jeder der "Klienten", denen das Privileg zuteil wurde, dort seine letzten Wochen oder Monate zu verbringen, sah etwas anderes in dieser als Klinik oder Reha-Maßnahme getarnten Selbstmordfabrik: eine Beautyfarm, ein Mekka der plastischen Chirurgie die eine, ein allumfassendes Strategiespiel der andere, ein großes, letztes Dating-Portal die dritte. Was jedoch allen Figuren klar war: Der Staat hatte die Kosten hochgerechnet, die die Menschen, welche aus eigener Kraft nichts mehr leisten konnten, in Zukunft noch anhäufen würden, und war zu dem Schluss gekommen, dass es humaner wie auch ökonomischer sei, eine Option anzubieten, die es ermöglichte, bei maximaler Wunscherfüllung freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Simulationen waren dabei meist das Mittel der Wahl. Eine große Fiktionsmaschine war dieser Entwurf, eine morbide, launige Sci-Fi-Dystopie voller Hedonismus und Nihilismus. (Thomas Melle: Die Welt im Rücken)  ^


Unbeholfenheit

Mama sah genau, daß ich litt. (...) Sie ahnte nicht im entferntesten, daß sie nie zuvor dem so nahe gwesen war, was für sie den Gipfelpunkt alles Unglücks bedeutet hätte; daß sie ihm nie so nahe gewesen ist wie zwischen den Augenblicken der Linderung, des Aufatmens, die mir immer noch vergönnt sind. Was ich hier schreibe, schreibe ich nur für dich, nicht einmal Donzac wird es lesen, denn es gibt nichts Schmählicheres, nichts Verächtlicheres, als zu behaupten, sterben zu wollen, und nicht zu sterben. Ein fehlgeschlagener Selbstmordversuch ist schon suspekt; aber nicht einmal imstande zu sein, es bis zu einem Fehlschlag zu bringen...! Besser, man verschafft den anderen nicht das Vergnügen, darüber spotten zu können. Während dieser gemeinsam mit Mama verlebten Wochen, in denen sie, selbst heiter und friedlich, mir alles zu erleichtern suchte und sich rührend bemühte, mich wenigstens bei Pilzen und Krebsen zum Essen zu bewegen, gelangte ich zu der Überzeugung, daß mich nur meine Unbeholfenheit vor dem Tod bewahrt hatte. "Du weißt mit deinen Händen nichts anzufangen", hat Mama mir oft vorgeworfen, "du würdest nicht einmal zum Gepäckträger taugen!" Nein, und nicht einmal dazu, mich zu töten. Die Lagune von la Techoueyre ist heute nicht mehr tief genug. Und was Gift anlangt... was kann man in einer Apotheke schon ohne Rezept kaufen? Zu feig, den Tod Anna Kareninas unter einem Eisenbahnzug zu suchen, zu feig, mich in einen Abgrund zu stürzen, zu feig, auf einen Abzug zu drücken... Das sonderbarste ist, daß das einzig Notwendige für mich, der Glaube an das ewige Leben, kaum ins Gewicht fiel. Wenn ich an die Definitionen des Kleinen Katechismus, an die Interdikte der Kasuisten denke, scheint es mir, als vernähme ich ein Gelächter, das sich darüber mokiert: Diese Dummköpfe stellen das freiwillige Verlassen der Welt einem Mord gleich... Erstens ist es nicht freiwillig, da uns dieser Drang eingepflanzt ist wie alles, was uns von der Gebut bis zum Tod nach und nach tötet. (Francois Mauriac: Der Jüngling Alain) ^


Verbot in der Bibel? (3)

Es ging die Bürger von Jerichow gar nichts an, wie Lisbeth Cresspahl gestorben war. Der Selbstmord sei nicht vor Menschen oder aus moralischen Gründen verwerflich. Es sei eine Sache zwischen Lisbeth und ihrem Gott, daß sie von ihm mehr erwartet habe, als er habe geben wollen. Sie sei zum Sterben so frei gewesen wie zum Leben, und wenn sie auch besser das Sterben ihm überlassen hätte, so habe sie doch ein Opfer angeboten für ein anderes Leben, den Mord an sich selbst für den Mord an einem Kind. Ob das ein Irrtum gewesen sei, werde sich nicht in Jerichow herausstellen. (...) Hingegen ging es die Bürger von Jerichow sehr wohl an, daß Lisbeth Cresspahl gestorben war. Sie hatten mitgewirkt an dem Leben, das sie nicht ertragen konnte. (Uwe Johnson: Jahrestage 2) ^


Verbot in der Bibel? (2)

Gewiß verbietet die Bibel den Selbstmord nicht ausdrücklich. Aber es ist an die Stelle des Verbots der Gnadenruf an den Verzweifelten gesetzt. Es war nun einmal so, daß der Selbstmord die Reue unmöglich machte, und damit die Vergebung. (...) Er suchte nach dem Beweis dafür, daß Gott sich das Recht über das Ende des Lebens selbst vorbehalten habe, weil ihm allein bekannt sei, zu welchem Ende er dies Leben führen werde. (...) Wenn Gott den Selbstmord nicht verbietet, führt er nicht dem Verzweifelten die Hand, wenn er ein solches Ende zuläßt? Wenn Gott das Recht des Lebens selbst wahrnimmt, ist nicht auch dessen Ende Auftrag Gottes? (...) (Uwe Johnson: Jahrestage 2) ^


Verbot in der Bibel? (1)

Kein Verbot des Selbstmords in der Bibel. Er wollte wohl glauben, daß diese Lisbeth Cresspahl beide Bücher der Heiligen Schrift ausgelesen hatte. Aber war es nicht lächerlich, eine Bürgerstochter, die Frau von Cresspahl bei theologischen Kniffeleien zu sehen. Gewiß hatte Samson den Tempel nicht nur über den vornehmen Philistern eingerissen, sondern auch über sich. Abimelech hatte seinen eigenen Tod besorgt, damit er der Schande entging, von einer Frau getötet worden zu sein. Ahithophel und Judas hatten sich erhängt. Siehe auch Apostelgeschichte 16,27; Offenbarung 9,6. Simri hatte sich verbrannt, und es war als eine Folge seiner Sünden gegen Gott erklärt. Es waren schließlich neun Stellen, die Brüshaver auf seinem Zettel notierte, statt die Predigt für den 24. April weiterzuschreiben. Er schlief darüber ein, und als Aggie ihn nach Mitternacht ins Bett holte, hatte er vergessen, was er im Seminar gelernt hatte: der Selbstmord sei nicht vor Menschen oder aus moralischen Gründen verwerflich; Selbstmord sei Abfall von Gott. (Uwe Johnson: Jahrestage 2) ^


Um die Familie zu ärgern

Am Abend war mein Vater in sehr großer Aufregung, weil ein Freund von ihm sich das Leben genommen hat. Der war aber gar kein Emigrant, sondern ein französischer Schuster und dick und lustig, er konnte nur seine Töchter und seine Frau nicht leiden, weil die ihn immer ausschimpften und auslachten und dauernd Geld wollten und ihm verboten, Pernod zu trinken. Pernod sieht aus wie grüne Milch und schmeckt wie ein flüssiges Anisplätchen und ist trotzdem kein Getränk für Kinder. Der Schuster hat erst mit meinem Vater Pernod getrunken, dann hatte er Ärger mit seiner Familie und, um sie zu ärgern, hat er sich ganz schnell die Hände kaputt geschnitten und die Frau war wütend, weil er sich dazu auf das beste Sofa gesetzt und es ruiniert hat. Mein Vater war verzweifelt. Ich möchte am liebsten, daß Menschen gar nicht mehr erst geboren werden. (Irmgard Keun: Kind aller Länder)


Selbstmordmechanismus

Denn tatsächlich hatte ich in jener Periode, bevor ich meinen Freund kennengelernt habe, schon jahrelang mit einer krankhaften Melancholie, wenn nicht gar Depression zu kämpfen gehabt und mich in Wahrheit damals selbst für verloren gehalten, jahrlang nichts Wesentliches mehr gearbeitet und die meiste Zeit die Tage nur mit einem völligen Desinteresse an ihnen angefangen und aufgehört. Und ich war damals sehr oft nahe daran gewesen, meinem Leben überhaupt einen eigenhändigen Schluß zu machen. Jahrelang war ich in nichts anderes als in eine fürchterliche geisttötende Selbstmordspekulation hineingeflüchtet gewesen, die mir alles unerträglich gemacht hat, mich selbst am unerträglichsten, gegen die tagtägliche Sinnlosigkeit, die mich umgeben hat und in welche ich selbst mich wahrscheinlich aus meiner Allgemeinschwäche heraus, vor allem aber aus meiner Charkterschwäche heraus, gestürzt hatte. Ich hatte mir ja schon lange Zeit nicht mehr vorstellen wollen, weiterleben zu können, nicht einmal weiterexistieren zu können, ich hatte keinen Lebenszweck mehr in mich aufnehmen und mich dadurch nicht mehr beherrschen können und war, wenn ich in der Frühe aufwachte, unweigerlich diesem Selbstmorddenkmechanismus unterworfen gewesen, aus welchem ich den ganzen Tag nicht mehr herausgekommen bin. Ich war damals auch von allen verlassen gewesen, weil ich sie alle verlassen hatte. (Thomas Bernhard: Wittgensteins Neffe)


Fatale Kumpanei

Gertrud zog den Ärmel über ihr Handgelenk, sie schwieg, und nach einer Weile sah sie hoch mit einem listigen Lächeln, Mitwisserlächeln, das Franziska in den Kreis fataler Kumpanei zog, sie beugte sich über den Tisch und berührte Franziskas Hand und die weiße Narbe über dem Gelenk. "Das ist gar nicht so leicht, wie manche denken... wer sich nicht auskennt, der schneidet bloß die Sehnen durch. Am bsten soll es mit 'ner Ahle gehen, ja, eine richige Schusterahle, wissen Sie", sagte sie, und ihr vertraulicher Ton, ihr Komplizenlächeln drehte Fraziska den Magen um, sie fühlte Übelkeit und Scham wie bei manchen Filmszenen, den klebrigen Intimitäten zwischen Bettlaken; sie haßte die brutale Exaktheit, mit der eine Kamera Lieben oder Sterben aufzeichnete: Beischlaf und Selbstmord, dachte sie, das sind nur zwei Seiten derselben Medaille und die schmutzigste Art von Selbstbetrug. (Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand)


Sich erhängen

Eine Selbstmörderin war auf dem Speicher ihres Hauses gefunden worden. (...) Wenn jemand die Seele baumeln lassen will, gibt es mehr Möglichkeiten, als der Durchschnittsbürger weiß. Die Falltür- auf-und-tot-Methode kennt jeder, der schon mal einen Western gesehen hat. Das ist nicht nur schwungvoll und dynamisch, sondern auch ziemlich erfolgreich, weil das Genick ein lautes Knacksen von sich gibt - und Schluss. Keine Zweifel, kein langes Leiden, eine schöne, runde Sache. Die unangenehmste Version ist das Erhängen an der Heizung oder am Abflussrohr des Waschbeckens. Ja, das geht. Allerdings stirbt der Selbstmordwillige bei diesen, sagen wir mal, erdnahen Selbsttötungen meist ziemlich langsam. Wichtig ist dabei, dass der Zug auf der Schlinge erhalten bleibt, der Typ sich also nicht, sobald es eng wird, wieder aufrappelt. Das ist nur etwas für besonders Willensstarke. (Jutta Profijt: Knast oder Kühlfach)


Verrückt oder gesund?

In den Augen des Gesetzes war man per definitionem geisteskrank, wenn man sich umbrachte, zumindest zu dem Zeitpunkt, an dem man die Tat beging. Das Gesetz, die Gesellschaft und die Religion behaupteten übereinstimmend, es sei unmöglich, sich bei geistiger und körperlicher Gesundheit umzubringen. Vielleicht fürchteten diese maßgeblichen Instanzen, die Argumente des Selbstmörders könnten Wesen und Wert des Lebens infrage stellen, wie es eben der Staat organisierte, von dem der Ermittlungsbeamte bezahlt wurde? Und da man für zeitweise geisteskrank erklärt worden war, galten auch die Gründe, aus denen man sich umbrachte, als die eines kranken Geistes. Darum wurden Adrians Argumente samt den Verweisen auf Philosophen des Altertums und der Neuzeit bezüglich der Überlegenheit eingreifenden Handelns über das unwürdig- passive Geschehenlassen des Lebens wohl von niemandem groß beachtet. (Julian Barnes: Vom Ende einer Geschichte)


Das Leben, ein Geschenk

Es schien uns philosophisch evident, dass jeder freie Mensch ein Recht auf Selbstmord hatte: ein logischer Akt bei unheilbarer Krankheit oder Senilität; ein heroischer Akt bei Folter oder dem vermeidbaren Tod anderer; ein glorreicher Akt im Furor enttäuschter Liebe (siehe: große Literatur). (...) Und auch Adrian ließ sich so nicht einordnen. In dem Brief, den er für die ermittelnden Beamten hinterlassen hatte, hatte er seine Argumente erläutert: Das Leben sei ein Geschenk, um das niemand gebeten habe; der denkende Mensch habe eine philosophische Pflicht, das Wesen des Lebens wie auch die damit einhergehenden Bedingungen zu erforschen; und wenn dieser Mensch sich entscheide, dieses Geschenk, um das niemand gebeten habe, zurückzuweisen, sei es seine moralische und menschliche Pflicht, den Konsequenzen dieser Entscheidung gemäß zu handeln. Am Ende stand praktisch ein Quod Erat Demonstrandum. Adrian hatte den Ermittlungsbeamten gebeten, seine Argumentation bekannt zu machen, und dieser hatte der Bitte entsprochen. (Julian Barnes: Vom Ende einer Geschichte)


Margits Mutter

Mir fällt die Geschichte von Margits Mutter ein, Margit erzählte sie mir bald, wir kannten uns kaum länger als eine halbe Stunde. Ihre Mutter hatte ihren Vater eines Nachmittags so gegen halb sechs zum Einkaufen geschickt, er sollte nur rasch Brot und Aufschnitt besorgen, Margit selbst wohnte da schon seit Jahren nicht mehr in Wien bei ihren Eltern. Als ihr Vater mit den Lebensmitteln zurückkam, lag die Mutter tot auf dem Bürgersteig, sie war aus dem Fenster im vierten Stock gesprungen. Margit sagte, ihre Mutter habe ihren Vater nur deshalb zum Einkaufen geschickt, damit er nach ihrem Selbstmord etwas zu essen im Hause habe. So fürsorglich sei sie gewesen, über ihren Tod hinaus. (David Wagner: Leben)


Zu feig, zu unbeholfen

Es gibt nichts Schmählicheres, nichts Verächtlicheres, als zu behaupten, sterben zu wollen, und nicht zu sterben. Ein fehlgeschlagener Selbstmordversuch ist schon suspekt; aber nicht einmal imstande zu sein, es bis zu einem Fehlschlag zu bringen...! Besser, man verschafft den anderen nicht das Vergnügen, darüber spotten zu können. (...) Während dieser gemeinsam mit Mama verlebten Wochen, in denen sie, selbst heiter und friedlich, mir alles zu erleichtern suchte und sich rührend bemühte, mich wenigstens bei Pilzen und Krebsen zum Essen zu bewegen, gelangte ich zu der Überzeugung, daß mich nur meine Unbeholfenheit vor dem Tod bewahrt hatte. "Du weißt mit deinen Händen nichts anzufangen", hat Mama mir oft vorgeworfen, "du würdest nicht einmal zum Gepäckträger taugen!" Nein, und nicht dazu, mich zu töten. Die Lagune von la Techoueyre ist heute nicht mehr tief genug. Und was Gift anlangt.. was kann man in einer Apotheke schon ohne Rezept kaufen? Zu feig, den Tod Anna Kareninas unter einem Eisenbahnzug zu suchen, zu feig, mich in einen Abgrund zu stürzen, zu feig, auf einen Abzug zu drücken... Das sonderbarste ist, daß das einzig Notwendige für mich, der Glaube an das ewige Leben, kaum ins Gewicht fiel. Wenn ich an die Definitionen des Kleinen Katechismus, an die Interdikte der Kasuisten denke, scheint es mir, als vernähme ich ein Gelächter, das sich darüber mokiert: Diese Dummköpfe stellen das freiwillige Verlassen der Welt einem Mord gleich... Erstens ist es nicht freiwillig, da uns dieser Drang eingepflanzt ist wie alles, was uns von der Geburt bis zum Tod nach und nach tötet. (Francois Mauriac: Der Jüngling Alain, S. 151f.)


Stereotype

es geht mir schlecht, deswegen keine post von mir: eine frau, die ich sehr geliebt habe, die seit sieben jahren zentrum meines lebens, meiner arbeit, meiner moralischen und intellektuellen energien war, die ich seit jahren von anstalt zu anstalt, von klinik zu klinik schleppte, um eine schließlich doch unheilbare schizophrenie heilen zu lassen - diese frau hat sich vor einigen wochen das leben genommen. das schreibt sich 'leicht' hin, kurz auch; das lebt sich schwer. ich funktioniere zwar weiter, preuße der ich bin - aber innen ist es kalt; so sitze ich jeden abend und betrinke mich, begreife garnichts, bin noch unerwachsener als ohnehin. bei jedem selbstmord stehen ja die stereotype der umwelt zur verfügung. "du kannst nichts dafür, du hast alles getan, es ist nicht deine schuld" - was alles stimmt, was alles nicht stimmt. (Fritz J. Raddatz an Uwe Johnson, September/Oktober 1967)


Ein natürlicher Teil

Nebenbei gesagt finde ich interessant, daß es über jemanden, der an Krebs stirbt, so wie der zweite Ludwig an Prostatakrebs gestorben ist, heißt, er sei eines natürlichen Todes gestorben, während man von jemandem, der sich eine Kugel in den Kopf schießt, sagt, er sei eines unnatürlichen Todes gestorben, als sei die Entscheidung, dem eigenen Leben ein Ende zu setzen, nicht die natürliche Folge einer bewußten Überlegung, die ein natürlicher Teil des menschlichen Wesens ist. (David Albahari: Ludwig, S. 115)


Das Lager der Büffel

Friedmann sah er vor sich, den Jugendfreund, er sah, wie Friedmann, eine Schuhschachtel unter dem Arm, stadtauswärts wanderte, pfeifend vielleicht, sah, wie er die Wiesen erreichte, den Wald, den geeigneten Baum, wie er die Schuhschachtel öffnete... Wenn ich siebzig bin, wird er noch immer vierundzwanzig sein, wird seine neapelgelben Hosen tragen und den Weltlauf anfechten. Alles stört mich, wird er sagen, sogar Rauhreif. (...) Das Frühstück ist meine Zuversichtsmahlzeit, sagt er, aber dann kommt die Straße, dann kommen die Männer, die alle einmal süß gezappelt haben, bevor sie auf rätselhaft mechanische Weise dem Krawattentum entgegenwuchsen; dann kommen die Frauen, frisch geduscht und frisch geschminkt und trotzdem tierisch fremd, nein, Moritz, wird Friedmann sagen, das alles ist nichts für mich. (...) Wenn Friedmann ihn jetzt rufen würde, ihn fragen würde, ob er, Friedmann, etwas verpaßt habe in den vergangenen Jahren? Ich habe keine Ahnung, müßte Wank sagen, viel Heiteres ist nicht geschehen, rasch haben die Stiernackigen sich vermehrt und für Zuwachs an Unheil gesorgt. Alles, was dich bedrängte, ist noch da, und doch hättest du bleiben müssen, ja, du hast vieles verpaßt, du fehlst uns, und jeder Freitod stärkt das Lager der Büffel. (Markus Werner: Die kalte Schulter)


Vom Suizid abgehalten

Nie hat er richtig an Selbstmord denken können. Trüffelpralinen, zum Beispiel, haben den (süßen) Gedanken, diese Welt zu verlassen, gar nicht erst aufkommen lassen. Wie oft hatte mir die Ausflucht, selbst Schluß machen zu können, wenn ich am Ersticken war, das Leben gerettet! Der Gedanke ans Schlußmachen hat mir immer wieder über alles hinweggeholfen. Doch Henry blieb nicht einmal dieser Trost. Allein die Appetitdrüse schien nun noch zu funktionieren. Abwechselnd die Angst vor dem Tod und der Appetit, sonst nichts. Henry war dieser lebenserleichternde, lebensermöglichende, lebensrettende Gedanke, Schluß zu machen, versagt, weil immer der Hunger dazwischenkam, weil es immer gleich etwas zu essen gab. Andere im Haus und auf der Welt brachten sich um, er fraß sich durch: es war ja nur noch ein Fressen. (Arnold Stadler: Der Tod und ich, wie zwei, S. 161)


Problem leiser gedreht

Als er jung war, hatten ihn Selbstmorde von Stars aus Musik und Film vor Rätsel gestellt. Wieso tötete sich jemand, der alles hatte? Wieso brachten sich Menschen um, die Millionen zur Bank trugen, die mit anderen Berühmtheiten Coctailpartys feierten, die mit den bekanntesten und begehrtesten Menschen des Planeten ins Bett gingen? Weil sie einsam waren, lauetet die Antwort, einsam und unglücklich. Wie dumm, hatte er gedacht, deswegen brachte man sich nicht um. (…) Erst später hatte er begriffen, warum sich diese Menschen töteten. Nämlich aus demselben Grund wie die Unberühmten und Armen. Sie konnten sich an sich selbst nicht festhalten. Sie ertrugen es nicht, mit sich allein zu sein, und hatten erkannt, daß das Zusammensein mit anderen das Problem nur leiser drehte, in den Hintergrund rückte, nicht aber löste. Vierungzwanzig Stunden am Tag man selbst zu sein, nie ein anderer, das war in machen Fällen eine Gnade, in anderen ein Urteil. (Thomas Glavinic: Die Arbeit der Nacht)


Eine Art von Tapferkeit

Meinetwegen auch noch einen Satz zu Deiner Andeutung von den gewissen Schränkchen der Ärzte und Chemiker: Du wirst sie nicht brauchen, Brigitte, glaub man. Das Daran-Denken ist mir, wiederum aus anderen Gründen, nicht ganz fremd. Ich werd in anderhalb Monaten vierzig. Mir kommt beinahe vor, als ob man es dann, für die erste Runde, hinter sich hätte. Und bei der zweiten spielt man halt doch wieder mit, denn wer sagt dir, daß es die letzte wäre? Zu leben, und möglichst nicht gar zu sehr gegen den eigenen Strich zu leben, das heißt zu arbeiten und ein paar Leute daran teilhaben zu lassen, ist die einzige Art von Tapferkeit, die ich heute sehe. Mir gefällt sehr, wie Du sie aufbringst. (Christa Wolf, in: Reimann/Wolf: Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen. 1964-1973)


Ein lebender Selbstmörder

"Die Drehtür muß offen bleiben. Der Ausgang muß jederzeit parat sein. Sterben muß man können, wann es einem paßt. Wann man selber will." "Wer will denn sterben? Niemand", sagte Gaigern schnell und voll Überzeugung. "Na-", sagte Otternschlag und schluckte etwas hinunter. Kringelein in seinem Hotelbett murmelte unverständliche Worte unter seinem erschlafften Schnurrbart. "Na - zum Beispiel, sehen Sie mich an", sagte Otternschlag. "Sehense mich genau an. Ich bin ein Selbstmörder, verstehense. Gewöhnlich sieht man Selbstmörder erst nachher, wenn se schon am Gasschlauch genuckelt oder losgeknallt haben. Ich, wie ich hier sitze, bin also ein Selbstmörder vorher, mit einem Wort. Ich bin ein lebender Selbstmörder, eine Rarität, werden Sie zugeben. Eines Tages nehme ich aus dieser Schachtel zehn Ampullen, rein damit in die Vene - und dann bin ich ein toter Selbstmörder. Ich spaziere raus aus der Drehtür, bildlich gesprochen, und Sie können drin sitzen bleiben in der Halle und warten." (Vicki Baum: Menschen im Hotel, S. 253)


Schutz vor Selbstvernichtung

Der dritte Mann trat auf uns zu. Es war ein kleiner stämmiger Rotkopf mit blinzelnden Äuglein. Man sah ihm den Priester nur am schwarzen Rock an, zu dem er kurze Touristenhosen mit Wadenstrümpfen trug. Das Skapulier hatte man ihm bei Aufnahme abgenommen, wie uns andern Hemdkragen, Krawatte und Schuhbänder. Das ist in allen Gefängnissen der Brauch, um den Eingekerkerten jedes Werkezug des Selbstmordes zu entziehen. Die menschliche Gesellschaft, die nichts tut, das Leben der Freigehenden zu gewährleisten, setzt in Zucht- und Irrenhäusern alles daran, das Leben der Verlorenen vor Selbstvernichtung zu bewahren. Das ist einer ihrer kopflosen Widersprüche. (Franz Werfel: Cella oder Die Überwinder, S. 141)


Ein wirklicher Protest

Jedes Geschichtsbuch war die Geschichte von Mord, Folterung und Ungerechtigkeit, jede Zeitung war in Blut und Schande getränkt. Die beiden pessimistischsten Philosophen, die ich gelesen hatte, Schopenhauer und von Hartmann, verurteilten beide den Selbstmord, aber in jenem Augenblick fühlte ich, daß es nur einen wirklichen Protest gegen die Schrecken des Lebens gäbe, und das wäre, dieses Geschenk Gottes an Ihn zurückzuschleudern. Es war durchaus denkbar, daß ich mich damals umgebracht hätte, wäre ich im Besitz von Gift oder einer Pistole gewesen. (Isaac Bashevis Singer: Verloren in Amerika, S. 57)


Vorbereitet sein (2)

In Amerika hat jeder das Recht, Schußwaffen zu besitzen. Ich nehme ein Taxi nach Hause, der Fahrer erkundigt sich, was ich gekauft habe, und hört zufrieden: einen Revolver. "Immer gut, einen zu haben", sagt er. Zum erstenmal seit Monaten empfinde ich etwas wie Beruhigung. Ich habe keine Selbstmordpläne, aber wenn es so weitergeht mit dem Altern, dem Verfall und der Hilflosigkeit, möchte man doch wissen, daß man jeden Augenblick diesem demütigenden Niedergang ein Ende setzen kann und nicht befürchten muß, auf eine der institutionellen Müllkippen zu geraten, ins Krankenhaus oder Altersheim. Aber auch dazu braucht man Glück, ein Schlaganfall kann die Flucht verhindern. (Sandor Marai: Tagebücher 1984-1989, S. 101)


Vorbereitet sein (1)

Ich bin dermaßen müde und schwach, daß ich nur noch selten auf die Straße gehe, bei jedem Schritt muß ich befürchten hinzufallen. Aber noch gehe ich. Lang hinschlagen, damit ich den diplomierten Abdeckern, den Ärzten, in die Hände falle, das verschiebe ich noch. Es ist nicht sicher, daß ich handlungsfähig bin, wenn der Augenblick kommt, da ich handeln muß. Wenn sich meine Augen so verschlechtern, werde ich dann noch die Pistole im Nachttisch finden? (...) Auf der Straße ein paar Schritte, und mir schwindelt. Wenn ich stürze und ins Krankenhaus komme, kann ich die Pistole nicht benutzen. Ein ernsthaftes Problem. (Sandor Marai: Tagebücher 1984-1989)


Großer Respekt

Burgin: Da wir gerade von Tod und Entscheidungsfreiheit sprechen, würde es mich interessieren, wie Sie über den Selbstmord denken. Halten Sie Selbstmord a priori für etwas Schlechtes, oder gibt es Umstände, unter denen er zu rechtfertigen ist? Singer: Nein, ich glaube, daß der Selbstmord oft etwas Heroisches ist. Burgin: Das überrascht mich. Singer: Natürlich nicht bei einem Mann, der erst andere Menschen umbringt und dann Selbstmord begeht. Aber ein Mensch, der davon überzeugt ist, daß das Leben für ihn nicht mehr lebenswert ist, und der das Geschenk Gottes zurückgeben möchte - ich glaube, daß ein solcher Mensch viel Mut hat, und dieser Mut kommt in seinem Aufbegehren gegen die Übel des Lebens zum Ausdruck. Die meisten Selbstmörder sind nach meiner Überzeugung Menschen mit Charakter und Willensstärke, und ich bewundere sie. Wenn allerdings jemand aus dem vierzigsten Stockwerk springt, weil die Aktienkurse fallen, wie das 1929 passiert ist, dann bewundere ich ihn natürlich nicht, denn so ein Selbstmord ist kein Aufbegehren... Burgin: Er beruht nicht auf einer Entscheidung des Verstandes. Singer: Er beruht nicht auf einer Entscheidung des Herzens. Es ist einfach so, daß er Mann, der gestern noch zwei Millionen Dollar wert war, heute nur noch zweitausend Dollar wert ist. Er leidet zwar, aber er nötigt einem keinen großen Respekt ab. Ich meine aber, daß Selbstmord die äußerste Form sein kann, in der ein Mensch dem Allmächtigen mitteilt: "Ich bin nicht damit einverstanden, wie du diese Welt lenkst. Nimm deshalb Dein großes Geschenk zurück. Ich will es nicht mehr haben." Burgin: Würden Sie zustimmen, daß der Selbstmord in gewissem Sinne zu den größten Möglichkeiten des Geistes gehört, sich gegenüber dem Willen durchzusetzen, da es uns doch angeboren ist, trotz allem weiterleben zu wollen? Singer: Wer sich das Leben nimmt, sagt damit gleichsam: "Ich habe mir diese Angelegenheit genau betrachtet und bin zu dem Schluß gekommen, daß sie sinnlos ist. Mein Vater und meine Mutter haben miteinander geschlafen, und weil sie diesen Augenblick des Glücks wollten, muß ich mein Leben lang leiden. Das will ich nicht." (Isaac Bashevis Singer: Ich bin ein Leser)


Ein geachteter Selbstmordforscher

Clarens und er liefen vom Rektorat die Akademiestraße vor. Clarens sprach über Selbstmord. Er war ein international geachteter Selbstmordforscher und sagte manchmal, daß er das Glück gehabt habe, seiner Passion in diesem Land nachgehen zu dürfen, denn nur Österreich-Ungarn biete reichlicher Material. "Ach, ein Wiener Psychiater zu sein!" seufzte Clarens. Die k.u.k. Fälle zeichneten sich durch größeren Einfallstreichtum, eine Neigung zum Skurrilen und Entlegenen aus, während die Deutschen gewissermaßen quantitativ "Schluß machten", wobei Clarens hinter seinem Hals in die Luft griff und röchelnd die Zunge herausstreckte. Natürlich, auch Gastote mit ihrem friedlichen Gesicht und den kirschzarten Wangen; Spitzen im Mai und zu Weihnachten; natürlich Schlafmittel, vor allem bei Frauen, die Männern bevorzugten in der Regel härtere Methoden. Den Bohrhammer zum Beispiel, mitten ins Herz hinein. (Uwe Tellkamp: Der Turm, S. 704)


Wenn jemand jung stirbt

Wenn einer jung stirbt - die Worte tauchten ganz plötzlich auf und gefroren in den Stromschnellen meiner Gedanken zu Kristallen -, wenn einer jung stirbt, dann ist daran jemand schuld. Das weißt du genau, sagte ich mir. Es war, als sei das Bild des flackernden Neonlichts auf meiner Netzhaut erstarrt. Immer. Besonders dann, wenn jemand sich in jungen Jahren umbringt. Meine Stimmung war mit der Launenhaftigkeit eines Wackelkontakts von Gelöstheit in Verzweiflung umgeschlagen, und das an einem so scheußlichen Ort wie der Herrentoilette in Heathrow. Ich brach in Tränen aus. (Tim Parks: Schicksal, S. 9)


Vom Leben gesättigt

Ich bin nicht mehr sehr neugierig auf das, was mir das Leben noch bieten könnte. Ich habe das, was ich meinte, sagen zu müssen, mehr oder minder gut gesagt und fürchte mich zu wiederholen. Untätigkeit aber ist mir eine Last. Was mich immerhin davon abhielte, mich zu töten (obgleich ich Selbstmord nicht für tadelnswert halte), wäre der Umstand, daß gewisse Leute versuchen würden, in einer solchen Handlung eine Art Eingeständnis meines Bankrotts, das zwangsläufige Ende meines Irrens zu sehen. Andere würden denken, ich entzöge mich der "Gnade". Es wäre schwierig, klarzumachen, daß ich einfach vom Leben gesättigt bin und nicht mehr recht weiß, wie ich die kurze Zeit, die mir noch zu leben bleibt, anwenden soll. Anorexie. Grauenhaft, ausdrucksloses Anlitz des Überdrusses. Meine Anorexie kommt auch und vor allem von einem Rückgang der Säfte... (Andre Gide, in: Ida Cermak: Ich klage nicht. Begegnungen mit der Krankheit in Selbstzeugnissen schöpferischer Menschen, S. 131)


Anschuldigungen an Hesse

Um noch einmal auf das für die Jugend so anziehende Thema des Selbstmordes zu kommen: Mehrmals habe ich Briefe von Lesern bekommen mit dem Bericht, sie seien gerade im Begriff gewesen, sich das Leben zu nehmen, da sei ihnen dies Buch in die Hände gefallen, habe sie befreit und aufgeklärt, und es gehe nun wieder aufwärts. Über das gleiche Buch aber, das so heilend wirken konnte, schrieb mir mit schwerer Anklage der Vater eines Selbstmörders: mein dreimal verfluchtes Buch habe zu denen gehört, die sein armer Sohn in seiner letzten Zeit noch auf dem Nachttisch habe liegen gehabt, und es allein sei verantwortlich zu machen für das Geschehene. Ich konnte zwar diesem empörten Vater erwidern, daß er sich die Verantwortlichkeit für seinen Sohn doch allzu leicht mache, wenn er sie auf das Buch abschiebe, aber es dauerte doch eine gute Weile, bis ich jenen Vaterbrief "vergessen" konnte, und man sieht ja, was für ein Vergessen es war. (Hermann Hesse: Sämtliche Werke, Bd. 14: Betrachtungen und Berichte. 1927-1961, S. 227)


Suizidassistenz

Neben dem Auftrag des Arztes, Krankheiten zu heilen (curare), ist ein zweiter nennenswert: Leiden zu lindern, etwas, das die Palliativmedizin leistet. "Neben all ihren Errungenschaften hat die Medizin im Laufe der letzten fünfzig Jahre beängstigende und grausame Schicksale hervorgebracht, in die Menschen ohne sie nie geraten wären, weil sie zuvor eines natürlichen Todes gestorben wären." Ein gedankenreicher, diskussionswürdiger Artikel zur Suizidassistent in Deutschland. "Palliativmedizin und ärztlich assistierter Suizid verhalten sich eben nicht antagonistisch, sondern komplementär zueinander. Ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, dass auch der ärztlich assistierte Suizid zu einer äußersten Maßnahme palliativer Medizin werden kann." Der Autor des ZEIT-Artikels, Michael de Ridder, selbst Palliativmediziner und Chefarzt einer Rettungsstelle in Berlin, hat unter dem Titel Wie wollen wir sterben? Ein ärztliches Plädoyer für eine neue Sterbekultur in Zeiten der Hochleistungsmedizin ein Buch zu diesem Thema geschrieben.


Es ist alles gleich

"Die Leute erhängen sich so selten!" sagte er. "Der Geistliche jagt ihnen einen Schrecken ein. Sie kommen nicht in den Himmel. Woher weiß es der Pfaffe? Man ist im Leben eingesperrt und muß warten, bis Gott den Kerker aufschließt und man in die Freiheit kommt. Wenn aber jemand sich erhängt, auf einem schönen Fichtenbaum, im Sommer, wenn die Vögel zwitschern, der Himmel blau ist und die Fliegen summen, so jagen die Teufel die arme Seele in die Hölle. Wahrscheinlich aber ist das alles gar nicht wahr! Die Leute kommen in die Hölle, ob sie auf den Tod warten oder ob sie sich ihn holen! Es ist alle ganz gleich. (Joseph Roth: Erdbeeren)


Alles gut gemacht

Es gibt viele Leute, die sich aus den verschiedensten Gründen umbringen. Viele Leute, die sich umbringen, weil sie nichts geleistet haben oder nie das erreichen können, was sie als einen annehmbaren Lebensstandard betrachten. Ich fürchte, Riccardo Cittadini gehört zum Clan derer, die sich erschießen, weil sie alles zu gut gemacht haben. Eine jener hohlen, geschickt manipulierten Persönlichkeiten, die programmiert sind, immer ja zu sagen. Ja zu einer absurden Heirat mit einer adeligen Vermögensjägerin. Ja zu zwei Kindern, die ihn endgültig festgenagelt haben. Ja, selbst zu dem Vorschlag, unter der autoritären Kontrolle des Vaters zu arbeiten und dadurch seine Neigung zur Architektur zu frustrieren. ("Willst du rein technische Arbeiten machen? Willst du für andere arbeiten? Willst du Angestellter werden? Willst du das? Wenn das dein höchstes Streben ist, dann bitte", sagte Nanni geringschätzig zu ihm.) War es dann vielleicht nicht natürlich, daß Ricky ohne Vorankündigung, ohne bedeutsame Zeichen zu geben, ohne seine gute Laune zu verlieren, auf der Woge eines frenetischen Freiheitsdranges in Riesenlettern ein endgültiges NEIN schrieb, indem er sich an irgendeinem Tag in der Woche in den Mund schoß? (Alessandro Piperno: Mit bösen Absichten, S. 165)


Die kennt sich aus!

"Liane d'Exelmans hat Selbstmord begangen!" Die Kleine stieß ein überraschtes, langgezogenes 'Ooooh' aus: "Ist sie tot?" "Ach, Quatsch! Die kennt sich aus!" "Wie hat sie's gemacht, Großmutter? Mit einem Revolver?" Frau Alvarez sah ihre Enkelin mitleidsvoll an: "Woher denn? Opium, wie gewöhnlich. 'Obzwar die Ärzte, Dr. Moreze und Dr. Pelledoux, die das Krankenlager keinen Augenblick verlassen, noch keine Gewähr übernehmen können, daß die schöne Lebensmüde dem Dasein erhalten bleibt, haben sie eine beruhigendes Prognose gestellt...' Nun, meine Diagnose ist, daß Frau d'Exelmans, wenn sie es so weiter treibt, sich schließlich den Magen verderben wird." (Colette: Gigi; Erwachende Herzen, S. 38)


Ein Gedicht

Am Montag hab ich mich verliebt,
Am Dienstag war ich ganz betrübt,
Am Mittwoch hab ich ihrs gesagt,
Am Donnerstag sie dann gefragt,
Am Freitag kam sie: Abgewiesen!
Am Samstag wollt ich mich erschießen.
Am Sonntag dacht ich mir: ach nein!
Und drum ließ ichs lieber sein."
(Lew Tolstoj: Sämtliche Erzählungen, Bd 2., S. 309)


Die erzählerische Spannung

Während das Telefon klingelte, fragte er sich wieder einmal, was ihn eigentlich vom Selbstmord abhielt. Etwas so Verachtenswertes wie Sentimentalität oder Hoffnung oder Narzissmus? Nein. Es war wirklich nur der Wunsch zu erfahren, was als Nächstes passieren würde, trotz seiner Überzeugung, daß es zwangsläufig fürchterlich wäre; es ging um die erzählerische Spannung des Ganzen. (Edward St. Aubyn: Schlechte Neuigkeiten, S. 85)


Selbstmord schiefgegangen

Von Zeit zu Zeit versuchte er sich umzubringen, war aber von so robuster Gesundheit, daß Schlaftabletten oder Barbiturate keine letale Wirkung zeigten. Außerdem hatte er Pech: Ging er nachts an einem Schienstrang entlang, näherte sich aus dem Dunkel garantiert ein Bahnbeamter und sagte: "Hier wird sich nicht umgebracht." Mischte er sich einen Coctail unter Zusatz von Fliegenpilzen, lag er zwar zwei Tage lang gliedersteif und röchelnd flach. Der Tod trat trotzdem nicht an sein Bett. Zum Äußersten entschlossen, hatte er sich eines Nachts sogar in der Garage seines Vaters verbarrikadiert. Dort legte er einen Schlauch vom Auspuff seines Mofas direkt in einen großen blauen Plastiksack, startete das voll getankte Mofa und setzte sich selbst wartend in den Sack. Stunden später, der Tank war inzwischen leer, kroch er völlig unversehrt wieder hervor. Sein Vater erhängte eine Woche Stubenarrest. (Roger Willemsen: Deutschlandreise, S. 93)


Gelebt muß ja werden

Jeder ist so erstaunlich individuell, wurde uns in jungen Jahren erzählt, um uns vom Selbstmord abzuhalten. Auch so eine Unsitte. Menschen ihrer letzten Freiheit berauben. Selbstmordversuch und ab in die geschlossene Abteilung, gefesselt und überwacht, egal wie alt man ist, ohne Rücksichtnahme, ob einer seine evolutionäre Pflicht schon erfüllt hat oder nicht. Gelebt muß werden, da könnte ja sonst jeder kommen. Die Steuern, die Armee, der Nachwuchs, die Evolution. Dieses kollektive Zusammenzucken, wenn vom freiwlligen Abschied die Rede war, hätte man nicht das Gespräch suchen können, therapieren können, den Unglücklichen abhalten, ihn zwingen, die achtzig Jahre abzusitzen? (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 33)


Wirksamer Schutz

Täglich präsentierte er mir solche Kuriositäten, und einmal erzählte er mir, früher in seiner Küche lauter Todesanzeigen an der Wand hängen gehabt zu haben, aus denen herauszulesen gewesen sei, daß es sich um Selbstmörder handeln mußte. Die Abwesenheit von Bibelsprüchen und winzige Nebensächlichkeiten deuteten darauf hin, etwa die Formulierung: "Wir können es immer noch nicht fassen." Meist seien die Abschiedsworte besonders liebevoll formuliert, als ließen sich aus ihnen die Schuldgefühle der Hinterbliebenen herauslesen. Jahrelang habe er solche Anzeigen ausgeschnitten, um sich bereits beim Frühstück des Gefühls zu vergewissern, überlebt zu haben. Meine Bemerkung, schon in Straßburg habe er seine Freitodphantasien erwähnt, quittierte er mit dem Satz: "Sie sind der beste Schutz davor, daß es wirklich soweit kommt. Wenn man sich ihnen täglich überläßt, kann einem nichts mehr passieren." (Karl-Heinz Ott: Endlich Stille, S. 119)


Der Sprung auf die Gleise

Nicht, daß er ernsthaft an Selbstmord dachte. Aber groß war die Verführung schon. Allerdings nicht minder groß der Aufwand, den das Befeuern einer Pistolenkugel bedeutete, die Einnahme ausreichend vieler Tabletten oder etwa das Steuern des Wagens gegen ein wirklich robustes Objekt der Natur. Dies alles bedingte Vorbereitungen und Anlaufzeiten, die dazu angetan waren, von der Lebensmüdigkeit in eine Suizidmüdigkeit zu verfallen und zu erkennen, daß es wahrscheinlich leichter war, weiterzuleben als sich umzubringen. Der Sprung auf die Gleise jedoch war - zumindest für die Person, die sprang - herrlich unkompliziert. Nicht gerade sauber, aber einfach und sicher. Und die ganze Schweinerei, die dabei entstand und die ja irgend jemand wegzuschaffen hatte, nur für jenen potentiellen Selbstmörder ein Problem, der sowohl in sozialen als auch in postumen Kategorien dachte. Mortensens Wehmut war rasch verflogen. Stattdessen erfüllte ihn nun Ärger: So ein Selbstmord stelle ja im Grunde eine Frechheit dar. Was wäre gewesen, hätten es sich alle, die des Lebens überdrüssig waren, so einfach gemacht? Hätte ein jeder dem Bedürfnis nachgegeben, mit einem einzigen Schritt einen Fluß zu überqueren, in dem die anderen erbärmlich absoffen? Nein, es störte ihn keineswegs, wenn jemand Hand an sich legte, vorausgesetzt, daß der Betreffende sich dabei auch wirklich der eigenen Hand bediente. Aber jemand, der vor die Bahn sprang und damit eine ganze Strecke der Stuttgarter Stadtbahn lahmlegte, kam Mortensen wie einer von diesen Fettsäcken vor, die nicht mittels quälenden Sports oder quälender Diäten abzunehmen versuchten, sondern sich das Fett absaugen ließen. Ja, das war der Vergleich, den er für passend hielt. (Heinrich Steinfest: Ein sturer Hund, S. 22)


Psychiater und Gaukler

Das Leben geht immer schlecht aus. Als Psychiater bin ich in Wahrheit mit nichts anderem beschäftigt als damit, den Menschen vorzumachen, daß es nicht so ist. Ich bin ein Gaukler, dachte er. Daß das Leben immer schlecht ausgeht, ist Grund genug, verrückt zu werden oder sich aufzuschneiden oder sich Heroin in die Venen zu hauen, aber das darfst du nicht laut sagen. (Paulus Hochgatterer: Die Süße des Lebens)  ^


Vielleicht 10 Jahre noch

Wie sollte ich meine Wohnung kündigen? Und wie sollte ich eine neue Wohnung anmieten? Nein, das ging nicht. Mir wurde schon schlecht, wenn ich nur daran dachte. Am besten, ich brachte mich um. Das war das Unkomplizierteste. Andererseits: vielleicht entwickelte ich mich ja irgendwann doch noch zu einem normalen Menschen. Das gab es, daß Leute plötzlich einen großen Entwicklungssprung machten. Ich wurde ja immer älter und älter, und eines Tages war ich vielleicht sogar in der Lage, ganz allein eine Wohnung anzumieten. Vielleicht zehn Jahre noch. So schnell wollte ich die Flinte nicht ins Korn werfen. (Karen Duve: Taxi) ^


In der Provinz

Sie hieß Nikolina, klebte jede freie Minute an seinem Hals, weinte öfter, als sie sprach, fragte zweimal pro Tag, ob er imstande sei, sich ihretwegen umzubringen, und ebensooft drohte sie ihm mit Selbstmord. Er nahm ihr das nicht übel. Die Stadt war sehr klein. Es geschah hier sonst nichts, außer ab und zu ein Selbstmord. Gewöhnlich waren es Militäroffiziere, die keine Arbeit mehr hatten und keine Tomaten auf dem Markt verkaufen wollten. Die meisten erschossen sich, oder sie erschossen ihre untreuen Gattinnen oder die Liebhaber ihrer Gattinnen. Auf jeden Fall knallte es. (Dimitré Dinev: Ein Licht über dem Kopf) ^


Leb du weiter!

"Wermut und Gift! Beständig denkt meine Seele daran und ist tief gebeugt." Gott! Armanda richtete ihren Blick auf den Pfarrer, der da oben auf seiner Kanzel einen alles andere als unscheinbaren Eindruck machte. Wie meinen Sie das? Beängstigend weit vorgelehnt, war hier jemand im Begriff, Jeremias Klagelied zu wiederholen, zu bearbeiten und fachmännisch auf den speziellen Fall des heutigen Tages zuzuschneiden. Was ich meine, ist, es wird allmählich Zeit, daß du damit aufhörst. Armanda darauf noch, gewitzt: Womit? Weißt du genau. Wermut und Gift, all diese elenden Gedanken, die eine Seele, auch deine, wirklich nicht großmütiger machen! Denk außerdem an die Kleine, die heute mittag daheim geblieben ist! Nadja? Ja, genau. Soll sie etwa in einer derart miesepetrigen Umgebung aufwachsen? Gott hat uns deine Schwester genommen, und damit verfolgt er eine Absicht. Stop. Paß auf. Die Grausamkeit Gottes ist ein großes Tabu. Laß also deine Schmalspurempörung und bedenke, daß du seine Beweggründe nicht verstehst. Die Summe aller Unzurechnungsfähigkeit ist Gott. Der dir heute also einen simplen Befehl erteilt. Laß sie gehen, leb du weiter. (Margriet de Moor: Sturmflut) ^


Homer Simpsons

Homer: "Es ist wohl am besten, wenn ich mich in der Scheune erhänge."
Marge: "Homer, nicht!"
Bart: Laß ihn nur, Mom."
Lisa: "Dad, du brauchst keinen Selbstmord zu begehen!"
Homer: "Gibts dafür einen Grund?"
(Die Simpsons, Season 11, Duell bei Sonnenaufgang)  ^


Arturo Gatti

Der Tod des ehemaligen Profiboxers Arturo Gatti am 11. Juli 2009 wurde zunächt seiner Ehefrau angelastet. Der Mordverdacht wurde fallen gelassen; nun geht man offiziell von Selbstmord aus. Berühmt ist Gatti für die martialischen Schlachten (Boxtrilogie!) mit seinem Konkurrenten Micky Ward. Spektakulär war u.v.a. die so genannte Runde des Jahrhunderts.  ^


Unabhängig

Erzsi sagt, in dieser Zeit habe sie meine Großmutter zum ersten Mal von Selbstmord sprechen hören. Sie habe zu ihr gesagt, wenn Pista nicht zurückkäme, werde sie sich das Leben nehmen. Trotz Kind? Mit Kind? Wie ernst hat sie es damals gemeint? Ich erinnere mich an ein Nietzsche-Zitat, das ich in der Schule mal im Religions- oder Ethikunterricht gehört und später nirgendwo gefunden habe. Es könnte auch von Sartre gewesen sein. Sinngemäß sagte es, daß es immer im Leben, zu jedem Zeitpunkt, genau drei Möglichkeiten gibt: Man kann etwas tun, man kann es bleiben lassen oder man kann sich umbringen. Ist dies ein Gedanke, der Kraft geben kann? Weil er alles, auch schlechte Zeiten, als freiwillige Wahl erscheinen läßt? Hat der Gedanke an ein selbstbestimmtes Ende meiner Großmutter gute Laune gemacht? Ihr die Gewißheit gegeben, nie wieder ausgeliefert zu sein? Sie unabhängig gemacht vor großen Ängsten - man muß schließlich nichts ertragen, was man nicht ertragen will, nicht Krankheit, Altern, Gebrechlichkeit. (Johanna Adorjan: Eine exklusive Liebe) ^


Gloomy Sunday

Das Lied Szomorú Vasárnap (Gloomy Sunday oder auch "Das Lied vom traurigen Sonntag"), das der Ungarn Rezsö Seress 1932 komponierte, löste eine Selbstmordwelle aus. Es spielt in dem deutschen Film Ein Lied von Liebe und Tod eine tragende Rolle. Geschichte und Hintergrund von Gloomy Sunday finden sich hier. Eindrucksvoll ist es fast in jeder der vielen Interpretationen. Hier eine historische Aufnahme. Gesungen auch von Billie Holiday, Bjork, Diamanda Galas.  ^


Drang aus Melancholie

Gastgeber: Was haben Sie? - Ordinow: Eine Absonderlichkeit. Ich leide unter einem Zustand, wie soll ich ihn beschreiben? Es ist etwas wie Melancholie. Ich kann keine Pistole an der Wand hängen sehen, schon spüre ich die Versuchung, mich zu erschießen. (Hartmut Lange: Tagebuch eines Melancholikers) ^


Suizid als Tautologie

Ordinow: Mein Herr, beantworten Sie mir, ich bitte Sie, folgende Frage: Sollte man sich, wenn einem danach zumute ist, eine Kugel durch den Kopf schießen? - Gastgeber: Das würde ich nicht tun. - Ordinow: Warum nicht? - Gastgeber: Es ist tautologisch, werter Herr, sich das Leben zu nehmen, wenn man sowieso sterben muß. (Hartmut Lange: Tagebuch eines Melancholikers) ^


Suizidale Anwandlungen

Maxims Bekannter Pjotr (ausführlicher zu ihm weiter unten) hegte seit seiner Kindheit einen unbezwingbaren Drang, sich umzubringen. Wenn er über eine Brücke ging, konnte er oftmals der Versuchung nicht widerstehen, mit dem Leben abzurechnen - und stürzte sich in die Tiefe... Den Rest des Weges bewältigte der zur Vernunft gekommene Pjotr schwimmenderweise. Diese suizidale Anwandlungen, von denen der empfindsame junge Mann immer wieder befallen wurde, verhalfen ihm zu einer ausgezeichneten Abhärtung und den Werten eines Leistungssportlers. (Wladimir Schinkarjow: Maxim und Fjodor) ^


Präventiv

Als Arthur sah, daß ich ein womöglich noch mutloseres Gesicht machte als gewöhnlich, kam er herein und tat bis drei Uhr morgens sein Bestes, mich von den wahnsinnigeren Lösungen abzuhalten, die einem kreuzunglücklichen Ehemann, der nicht die Kurve kriegt, nach Hause zu gehen, in den Sinn kommen können. (Philip Roth: Professor der Begierde) ^


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