Lebensstufen (2) [<<]

Von der Wiege bis an die Bahre [^^] [^]


Themenstreusel: Lebensstufen
Themen-FAB: Das Alter
Die Ewigkeit der Kindheit
Mit 50
Vorstellung einer geglückten Kindheit
Wie geht die Sache vor sich? (2)
Wie geht die Sache vor sich? (1)
Generationen neu sortieren
Schnapsgeburt
"Reizbar" in der Pubertät
Jugend von heute
In der Schwebe
Den Abstieg vergolden
Das Lächeln der Jugend
Pubertät & Kleidung


Die Ewigkeit der Kindheit

Wenn ein reifer Mensch von seiner Kindheit spreche, so husche ihm die entlegene Vergangenheit schattenhaft vorbei, tückisch verkürzt, möchte er fast sagen; aber während man es lebe, sei es über unendlich viele Tage und Nächte ausgedehnt; überhaupt, so finde er, sei das Kindheitsalter das längste, das verweilendste und in der Entfaltung quälendste von allen menschlichen Altern, und wo der Dreißigjährige einen Augenblick der Finsternis, der Verstörung, des verbrecherischen Antriebes habe, da sei der Knabe in eine Ewigkeit verdammt und die Stunde habe ein ganz anderes Gewicht und einen unvergleichlich wichtigeren Verlauf. (Jakob Wassermann: Faber oder die verlorenen Jahre) ^


Mit 50

"Ich mag Männer Ihres Alters", gestand ihm Hildegarde. "Die jungen Burschen sind ja so furchtbar dumm. Die erzählen immer bloß, wie viel Champagner sie auf dem College trinken und wie viel Geld sie beim Kartenspiel verlieren. Aber ein Mann in Ihrem Alter, der versteht was von Frauen." Es fehlte nicht viel, und Benjamin hätte ihr einen Heiratsantrag gemacht, doch er gab sich einen Ruck und erstickte den Impuls. "Erst in Ihrem Alter hat der Mann wahrhaft Sinn für Romantik", fuhr sie fort - "mit fünfzig. Fünfundzwanzig ist zu weltgewandt; dreißig neigt zu Blässe durch Überarbeitung; vierzig ist das Alter der langen Geschichten, die eine ganze Zigarrenlänge brauchen, bis sie fertig sind; und sechzig - oje, sechzig ist zu nah an siebzig; aber fünfzig, das sind die reifen Jahre. Ich liebe fünfzig." (F. Scott Fitzgerald: Der seltsame Fall des Benjamin Button) ^


Vorstellung einer geglückten Kindheit

Was Kraft so plagt, ist, dass er sie theoretisch nicht zu fassen bekommt, die Tapete. Daraus, so ist er überzeugt, müsste sich doch etwas machen lassen. Überhaupt, die ganze Einrichtung, angefangen bei ebenjener eierschalenfarbenen Tapete, auf der Rotkehlchen mit aufgerissenen Schnäbeln zart hingetupften Walderdbeeren in enervierend regelmäßigem Muster Gesellschaft leisten, bis hin zu den sorgfältig aufgereihten Sporttrophäen im weißen Rattanregal, dem keuschen, schmalen Bett unter der Dachschräge, an dessen weiß lackierten, gusseisernen Stäben sich Kraft nächtens seine überhitzten Füße kühlt, und dem ebenso weißen, gedrechselten Kinderschreibtisch, der gegenüber einer aufgearbeiteten antiken Kommode steht. Da steckt so offensichtlich eine Idee dahinter. Die Vorstellung einer geglückten Kindheit, eines idealen Familienlebens und der feste Glaube, dass sich das Glück und die Erinnerung daran auf alle Zeiten in diesem Mädchenzimmer konservieren ließen. (...) Kraft hat den Eindruck, das sei eine sehr amerikanische Idee, so eine glückliche Kindheit. Mit einer solchen lässt sich doch, denkt Kraft, in Europa oder zumindest in Deutschland und bestimmt in Österreich niemand beeindrucken. Ganz im Gegenteil, scheint ihm doch ein Übermaß an Unbeschwertheit in jungen Jahren beinahe ein Garant für eine spätere Leichtfüßigkeit, die ihm frivol vorkommt und dem scharfen Nachdenken über die Welt mit Sicherheit nicht förderlich ist. (Jonas Lüscher: Kraft) ^


Wie geht die Sache vor sich? (2)

Aber wie geht die Sache vor sich? Erst steckt so ein Kind hinter den Fettschichten im Bauch einer Frau, und dann tut es weh und etwas zerreißt und eine rosa Wurst, in Windeln gewickelt, liegt in den Armen der Jungfrau Maria, und dieses Etwas streckt das Händchen nach Marias Strahlenkranz aus. Und was genau zerreißt? Die triefende, mehrlippige Öffnung, die man bei Kühen sieht (...)? Und wo wird so ein Kind überhaupt gemacht? Dondeyne meint, im Bett (...), in einem Bett schmusen sie, die Erwachsenen, reiben sich aneinander, weil sie das toll finden, aber wenn ein Papa seinen Pinkelstrahl auf die Öffnung einer Mama richtet und sie damit bespritzt, dann tun sie das doch niemals im Bett, sondern in einem Badezimmer, und wer kein Badezimmer hat, macht es in der Küche, wo eine Mama es ohne Mühe wieder aufwischen kann. Der Bruder, der geboren werden würde, beschwor viele Zweifel herauf, die Möglichkeiten waren mannigfach, doch vage und verschwommen. Gottes Ebenbild. Aber wie? (...) Im Grunde war ich nicht unzufrieden mit der stumpfsinnigen Erklärung eines aus Kot gekneteten Zwerges. Es hat mich nie gestört, ich fand es sehr einleuchtend, übersichtlich, konkret. Die neue Erklärung wird sich später vielleicht als ebenso falsch herausstellen. Ein Kind flutscht unter viel Gekreische der Frauen aus dieser Spalte, na gut, dann erscheinen die Engel bei der Taufe, der Engel für die Knochen, der Engel für die Muskeln, der Engel für die Nerven und dazu noch eine kunterbunte Schar namenloser Engel, und alle zwängen sich, unsichtbar wie Miesel, durch die Haut und die Eingeweide des Kindes und bilden im Innern einen faserigen Klumpen, der unkörperlich bleibt und Seele genannt wird. (Hugo Claus: Der Kummer von Belgien) ^


Wie geht die Sache vor sich? (1)

Vor nicht allzu langer Zeit hatte er geglaubt (...), Mütter bekämen Bauchschmerzen, die sogenannten Wehen, schleppten sich dann schnell zur Toilette, hockten sich hin und kackten, der Haufen würde sofort, bevor er sich auflösen konnte, von Nachbarinnen aus dem Wasser gefischt und auf das Wachstuch des Küchentischs gelegt, wo ihn zärtlich miteinander plaudernde Eltern zu einem Kind formten, worauf dann, durch innige Gebete aufgerufen, ein Windhauch durchs Fenster oder durch den Schornstein wehen und über den braunen Lehm dahinstreichen würde, Gottes Odem, der der Kacke Leben einbliese, so dass sie eine andere Farbe annehmen und sich, als sei sie aus Gummi, entfalten und ausdehnen und dann nach ihrer Mama brüllen würde, weil sie das erste Nuckelfläschchen haben wollte. (Hugo Claus: Der Kummer von Belgien) ^


Generationen neu sortieren

Unfassbar, wie man sich beim Älterwerden in sich selber irrt und es doch zugleich besser weiß. Jedes Alter als unverrückbar erleben, auch wenn der Sprung ins nächste Lebensalter (es ist ein Sprung, wir altern schubweise) schon mehrere Male hinter uns liegt; immer wieder den Blick auf sich selbst behutsam auffrischen, im guten Glauben, nun sei ein haltbarer Zustand erreicht, nun könnten wir immer dreißig bleiben, immer um die vierzig, immer auf die fünfzig zugehend, während sich um mich herum die Generationen neu sortieren wie die Ziffern auf den Anzeigetafeln der Flughäfen, die klackernd einige Sekunden durcheinanderwirbeln, bis sie sich verlässlich zu einem neuen Ablauf geordnet haben. Die Uralten sind keine Greise mehr, die Alten jetzt die älteren Mittleren, die Jungen jünger als Zimmi... (Annette Pehnt: Briefe an Charley) ^


Schnapsgeburt

Über die Einzelheiten meines sogenannten posttraumatischen Lebens zu plaudern ist mir zu heikel. Das hieße, davon zu sprechen, dass ich schon bei meiner Geburt nur knapp dem Tod entging. Nabelschnurvorfall. Die Nabelschnur hatte sich siebenmal um meinen Hals gewickelt. Stranguliert im Mutterleib. Winter 1947 war das. Hausgeburt in einer kaum heizbaren Wohnlaube im Berliner Norden. Und kein Arzt weit und breit. Ohne Kaiserschnitt: entweder sie oder ich. Das Leben der Mutter geht vor. Nur bei den Katholiken soll es anders herum sein. Angeblich wegen der Unschuld des Ungeborenen, hat meine Mutter gesagt. Die Hebamme hatte sich zu meinem Exitus bereits Mut angetrunken. Mit selbstgebranntem Schnaps aus der braunen Medizinflasche mit dem Etikett 96 % med. Alkohol. Sie gab mir noch eine allerletzte Chance. Wenn nicht, dann … Den geschickten Fingern dieser Frau, die mir die strangulierende Nabelschnur schließlich siebenmal über den Kopf ziehen konnte, verdanke ich mein Leben. Dabei kenne ich noch nicht einmal ihren Namen! Mit einem blauen, deformierten Kopf bin ich "dem Tod von der Schippe gesprungen", erzählte meine Mutter später immer triumphierend. Dass sie in Folge jedoch annahm, dass ich nur zu einer Idiotin taugen würde, ließ sie unerwähnt. "Und die Welt begrüßte mich als Erstes mit einer Schnapsfahne!", ergänzte ich dann immer munter das Heldenepos meiner dramatischen Geburt. Denn wir verachten den Tod. Wir lachen ihm ins Gesicht. Schon aus Prinzip! Wir glauben den Tränen nicht. (Marcia Zuckermann: Mischpoke!) ^


"Reizbar" in der Pubertät

Nach dem Tee, bei dem ich wie immer hoffnungsvoll lauerte, ob Arthurs allzulang gestippter Ingwerkeks sich nicht über seine Strickjacke ergießen wollte, kam ich zum geruhsam-erektilen Schmökern in der Garage. Damals träumte man nicht nur fast ständig von Sex, man kriegte auch bei der kleinesten Provokation einen Steifen. Wenn ich zur Schule fuhr, mußte ich oft den Ranzen auf die Oberschenkel ziehen und mir hektisch selbst etwas vorkonjugieren, damit der Tumor bis Baker Street abgeschwollen war. Kleinanzeigen für Schlüpfer aus Beständen des Women's Royal Army Corps, pseudohistorische Zirkusszenen aus dem alten Rom, sogar die 'Demoiselles d'Avignon' himmelherrgottnochmal: alles wirkte, alles ließ mich in den Hosentaschen graben, um Anpassungen vorzunehmen. (Julian Barnes: Metroland) ^


Jugend von heute

Etwas gab es, worum er die Jugend von heute heftig beneidete - ihre Art zu tanzen, obgleich er das keiner Seele je verraten hätte. Angeblich den Kindern zuliebe und mit einer sorgsam einstudierten Miene amüsierter Abschätzigkeit sah er sich 'Top of the Pops' und ähnliche Fernsehsendungen an, wobei er ein schmerzliches Gemisch aus Vergnügen und Bedauern empfand. Wie hinreißend waren diese aufblitzenden Schenkel und zuckenden Pos, die wackelnden Köpfe und hüpfenden Busen. Wie herrlich trübselig erschienen dagegen im Rückblick die Tänze seiner Jugend, diese steifen, roboterartigen Foxtrotts und Quicksteps, bei denen er sich so ungeschickt angestellt hatte. Diese moderne Hopserei war offenbar ganz leicht, man brauchte keine Angst zu haben, der Partnerin auf die Zehen zu treten oder mit ihr wie ein Autoscooter in ein anderes Roboterpaar zu donnern. Bestimmt war es ganz leicht, er spürte es in allen Knochen, daß er es könne, aber natürlich war es dazu jetzt zu spät. Zu spät auch, um sich das Haar nach vorn zu kämmen oder Paisley- Hemden zu tragen oder Hilary zu Experimenten mit neuen Stellungen zu überreden. Kurzum, Philip Swallows Überlegung, er könne auf dem Gebiet der Sinnenfreuden möglicherweise etwas zu kurz gekommen sein, sind im strengen Wortsinn elegischer Art. (David Lodge: Ortswechsel) ^


In der Schwebe

Und es erinnerte ihn immer an die letzten Jahre seiner Jugendzeit, Jahre, in denen bei ihm Furcht und Misstrauen gegen die Welt gerade einer zögerlichen Liebe zum Leben weichen wollten, in denen das Leben in der Schwebe hing, bevor es unwiderruflich in die eine oder andere Richtung taumeln würde, in denen sich, wie ihm nun schien, eine letzte Chance bot, klar zu sehen, bevor man endgültig in die Notwendigkeit gestürzt wurde, inmitten von anderen man selbst zu sein, und alles viel zu schnell ging, um sich ein richtiges Urteil zu bilden. (Julian Barnes: Unbefugtes Betreten) ^


Den Abstieg vergolden

Ich bin einundfünzig. Das ist ein schlechtes Alter. Vor allem für Frauen, weil sie genau in diesem Alter anfangen, alt zu werden, es aber neuerdings nicht mehr dürfen. Mit fünzig, heißt es, wird man erst so richtig schön. Was für ein Quatsch! In Wirklichkeit geht es endgültig bergab. Aber man ist nun mal gezwungen, diesen Abstieg zu vergolden, ihn wie ein flottes Aufbäumen erscheinen zu lasen. Topfit zu sein, toplustig und topgebildet und topmodisch, und stets wie eine süße Rauchbombe duftend, wo man doch eigentlich ans Sterben denkt, und daran, wie lange das alles noch dauert. Am schlimmsten aber ist, daß man gezwungen ist, sich "sexualisiert" zu geben, leicht entzündbar, erotisch wie noch nie, langbeinig mit auch noch so kurzen, dicken Pflöcken, empfänglich für den großen Fick. (Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell)


Das Lächeln der Jugend

"Wenn man denn soviel Zeit hat", sagte Frau Straka, erhob sich und schenkte den beiden Männern ein Lächeln, wie es nur jene Menschen besitzen, die trotz ihres Gehetztsein mit größter Wahrscheinlichkeit noch weit mehr als die Hälfte des Lebens vor sich haben. Das Lächeln der Jugend besitzt gewissermaßen den Raum, sich zu erstrecken. Während das Lächeln der Älteren stets gegen eins von diesen heranrückenden Schleusentoren prallt. (Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell)


Pubertät & Kleidung

Carls Kleidung entsprach seiner Zeit und seinem Alter, entsprach jener Ästhetik des Amöbalen, der bis zu den Kniekehlen abgesackten Hosenböden, dieser ganzen textilen Expansion, hinter welcher der Körper - fett oder schlank oder verschwindend - etwas Geisterhaftes besaß. Daß diese Jungs zur Sexualität fähig waren, oder demnächst fähig sein würden, war nicht wirklich glaubwürdig. Ihr pubertierender Leib schien sich in diesem Outfit zu erschöpfen, diesen weiten Hosen und diesen flatterigen Gymnastikjacken und kopfschluckenden Wollmützen. Samt Accessoires, die als nahe und ferne Trabanten den vierzehbnjährigen Körper wie einen bloß theoretischen Planeten begleiteten. Einen Planeten ohne wirklichen Sex. (Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell)


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