Familienbande (1)

Segen und Fluch der Verwandtschaft [^^] [^]


Themenstreusel: Familienbande
Ellenbogenkinder
Muttertiere
Was bleibt
Mutterkümmerer
Das Thema Babys
Sie werden ihm nicht fehlen
Pfälzischer Vater
Tracht Prügel
Die Mutter und ihr erstes Kind
Emotionale Distanz zur Mutter
Spöttische Distanz
Erziehungsmethoden
Dankbarkeit?
Angst vor Wiedergängern
Kinder sind konservativ
Datenbank der Blödheiten
Vorwürfe
Physisches
Briefe
Abnabelung
Brief an den Vater
Mutterliebe
Relativ autark
Mütter
Pfaffe mit 14 Kindern
Perfekte Verschränkung
Ballett und Fechten
Der Vater als aktive Figur
Kinder & Dämonen
Erziehung
Kinder und keine Kinder
Fortpflanzungsekel
Abnabelung
Zäsuren
So vergehen die Jahre
Vor den Kindern sterben
Vater & Sohn
Zeugungsgrößenwahn
Pädagogische Ambitionen
Präparieren für den Lebenskampf
Die Wehrlosigkeit der Kinder
Das Riesenspielzeug ihrer Kinder
Elterngerümpel
Erwachsene Kinder
Kinder liebe er nicht
Das Abschleifen der Zwiste
Am Grab
Gefühle liebender Europäer
Erwachsen werden = Distanz
Ablagerungen des Intimsten
Hausfrauen- und Mutterrolle
Elementare menschliche Institution
Großfamilie
Aufklärung
Kinderfragen
Angesichts des Todes
Vateranklagen
Phlegmatischer Mangel
Keine so schlechte Kindheit
Strafe und Treibsand
Einzige Söhne
Mehr Zeit für Kinder
Babygebrüll
Altern vor den Eltern
Tragödie der Elternschaft
Kurze Zündschnur
Mutter und Köchin
Die Mamasorgen von Das Nuf
Mental beschlagnahmt
3 Schwestern


Ellenbogenkinder

Kluge Eltern glauben, wenn sie ihre Kinder zur Bescheidenheit, zum Maulhalten erziehen, unter fortgesetztem Voraugenstellen der Fähigkeiten und Qualitäten anderer Kinder im Gegensatz zur eigenen Minderwertigkeit, krampfhaft bestrebt sind, jede bei ihrem Sprößling hervortretende persönliche Note schleunigst mit allen Mitteln zu unterdrücken, sie so für das Leben in der richtigen Weise vorbereitet zu haben. Diese armen Würmer haben später ihre liebe Last, sich draußen in der Welt der Ellenbogen, die allenthalben auf sie eindringen, zu erwehren. (Hermann Harry Schmitz: Grotesken)  ^


Muttertiere

Sie war keine von den Müttern, für die der Ödipuskomplex erfunden worden ist, keines von den Muttertieren, die ihre Kinder, vor allem ihre Söhne, und vor allem den ersten und einzigen, so an sich binden, daß die armen Jungs keine Chance mehr haben, als kleine und große Machos zu werden, die Frauen hassen und verachten, alle Frauen, mit Ausnahme natürlich der eifersüchtigen Muttertiere. Über ihre Söhne wollen sie die Macht über die Welt erhalten, die ihnen durch die Väter verwehrt ist. Und die armen Söhne müssen nicht nur die Väter in Schach halten, sondern sie dürfen auch keiner anderen Frau Platz in ihrem Leben einräumen, außer vielleicht, mit gewissen Einschränkungen, der nächsten Mama. Deine Mutter und die Mutter deiner Kinder. Sonst niemandem. (Günther Ohnemus: Die unglaubliche Reise des Harry Willemer) ^


Was bleibt

Rehmütter verzweifeln nicht so wie die Menschenmütter, wenn der Nachwuchs geht. Was ist es, das die Menschenmütter zusammen mit den Menschenkitzen verlässt? Die Jugend ist schon längst gegangen, die Jugend kann es also nicht sein. Wichtiger ist, was bleibt, nicht was geht, und was bleibt, sind leere Betten, leere Häuser, das meist schon fremdgewordene Männchen, das diese Jungen gezeugt hat. Das ist, was bleibt. (Szczepan Twardoch: Drach) ^


Mutterkümmerer

Mich hat allenfalls die Mutter gewürgt, aber weniger in Liebe als in Sorge. (...) Ihren Verdruß über das männliche Geschlecht ließ sie an mir aus. (...) Ich sollte kein Mann werden, sondern ein handzahmer Mutterkümmerer und Stubenhocker, der sich abends die Schürze an- und die Gummihandschuhe überzieht, um den Abwasch zu erledigen. Als Stärke rechne ich mir an, daß es mir halbwegs gelungen ist, der mütterlichen Kastration zu entkommen. (Sibylle Lewitscharoff: Das Pfingstwunder) ^


Das Thema Babys

Eines Abends kamen wir, ich weiß nicht mehr, wie – aber wer außer einem Schlaflosen kann die Assoziationskette seiner eigenen Gedanken, geschweige denn den Verlauf einer schweifenden Unterhaltung rekonstruieren? –, auf das Thema Kinder. Es war keins, für das ich mich schnell erwärmte. Ich war als Einzelkind in einer Gegend aufgewachsen, in der es als unhöflich galt, mehr als zwei Kinder zu haben. Ich hatte nie mit geschwisterlicher Liebe oder Eifersucht zu tun gehabt, war nicht durch eine neue Genkombination von der Mutterbrust verdrängt worden, hatte nie in halbfertige Gesichter gegurrt und Sekrete abgewischt. Über Kinder wusste ich weniger als über Hunde, Katzen oder Goldfische, und die Erfahrungen mit letzteren waren ausschließlich negativ gewesen. Kinder – Babys – waren mir eigentlich zuwider, nichts als unkontrollierte Körperöffnungen und tropfende Körperflüssigkeiten – sie waren wie eine Schlinge um den Hals, das Ende der Jugend, eine nie endende Verantwortung, ein Graus. Doch an diesem sonst herrlichen, goldenen, von Duft erfüllten Abend lautete das Thema: Babys. (T.C. Boyle: Grün ist die Hoffnung) ^


Sie werden ihm nicht fehlen

Wenn er ehrlich war, glaubte er nicht, daß sie ihm fehlen würden. Er hatte nichts gegen seine Kinder, aber sechs Monate würde er zweifellos recht gut ohne sie auskommen. Und Hilary vermochte er nach so vielen Jahren nur mit großer Mühe ontologisch getrennt von ihrer Nachkommenschaft zu betrachten. Aus seiner Sicht existierte sie vornehmlich als Überbringerin von Mitteilungen, Mahnungen, Bitten und Aufgabenstellungen, die sich auf Amanda, Robert und Matthew bezogen. Ja, wenn sie nach Amerika gegangen wäre, und er hätte zu Hause bleiben und die Kinder hüten müssen, dann hätte sie ihm schon gefehlt. Und wie! (David Lodge: Ortswechsel)  ^


Pfälzischer Vater

Ich glaube, er hatte für einen Mann ungewöhnlich viel Gefühl, aber die Äußerungen davon berührten mich meist kitschig und peinlich, er schien mir oft schrecklich sentimental, so in der Art rührseliger Volkslieder. Das war etwas, wogegen ich mich innerlich immer wehrte. "Das verlassene Mägdlein" von Mörike war sein Lieblingsgedicht, das wollte er immer von mir illustriert haben, wozu ich gar keine Lust hatte. Mir schien diese Rührseligkeit kraß abzustechen von seiner ungeduldigen, wüschten Art bei jeder Kleinigkeit aus der Haut zu fahren. Obwohl er doch technisch begabt war, hatten wir immer Angst, ihn etwas reparieren zu lassen, weil er gleich beim kleinsten Hindernis anfing, auf pfälzisch zu fluchen. Kein Heiliger Abend ohne vorheriges Gewüte weil die elektrische Kerzenanlage nicht funktionierte. Aus allem machte er ein Drama u. dann waren alle schuld, nur er nicht. Vor allem meine Mutter bekam dann zu hören: warum hast du dies nicht u. warum hast du das nicht. Deshalb wollte sie ja auch eine Grabschrift: "sie war an allem schuld". (Stephan Wackwitz: Die Bilder meiner Mutter) ^


Tracht Prügel

Nach seiner und der allgemeinen Ansicht gehörte eine ordentl. Tracht Prügel durchaus zu den förderlichen Erziehungsmitteln, er war ja nichts anderes gewohnt und Luthers entsetzliches Wort, daß er lieber einen toten als einen ungehorsamen Sohn haben wolle, konnte noch durchaus die Zustimmung eines ehrenwerten deutschen Familienvaters finden. Ihr macht Euch gar keine Vorstellung, wie umwälzend sich die Meinungen über fast alle Dinge im Laufe unseres Lebens gewandelt haben. "Antiautoritär" wäre damals fast gleichbedeutend mit blasphemisch gewesen. (Stephan Wackwitz: Die Bilder meiner Mutter)  ^


Die Mutter und ihr erstes Kind

...die autoritäre Erziehung. Deren Theoretikerin hieß noch in den fünfziger Jahren Johanna Haarer. Ihr Ratgeber Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind war seit 1934 das Standardwerk nationalsozialistischer Früherziehung. In einer um die offen faschistischen Passagen bereinigten Fassung (das Buch hieß jetzt "Die Mutter und ihr erstes Kind") hat auch meine Mutter zu Beginn der fünfziger Jahre diesen Klassiker schwarzer Pädagogik gekauft und gelesen. "Auch wenn das Kind auf die Maßnahme der Mutter mit eigensinnigem Geschrei antwortet, ja gerade dann lässt sie sich nicht irre machen. Mit ruhiger Bestimmtheit setzt sie ihren Willen weiter durch, vermeidet aber alle Heftigkeit und erlaubt sich unter keinen Umständen einen Zornesausbruch. Auch das schreiende und widerstrebende Kind muss tun, was die Mutter für nötig hält, und wird, falls es sich weiterhin ungezogen aufführt, gewissermaßen 'kaltgestellt', in einen Raum verbracht, wo es allein sein kann und so lange nicht beachtet, bis es sein Verhalten ändert. Man glaubt gar nicht, wie früh und rasch ein Kind solches Vorgehen begreift." In Wirklichkeit begriffen die alleingelassenen Säuglinge der dreißiger, vierziger und fünfziger Jahre gar nichts. Sie begriffen, wie man inzwischen durch Experimente herausgefunden hat, nicht einmal die grundlegende Welttatsache, dass es ihre Mütter während deren Abwesenheit überhaupt noch gab. Im Seelenleben von Säuglingen hat sich noch nicht entwickelt, was der Kindheitsforscher Jean Piaget "Permanenz" nennt. Sie hatten, während sie hungrig und allein in ihren Kinderzimmern weinten, vermutlich das Gefühl, sterben zu müssen. Und in allen Verlassenheitserlebnissen ihres späteren Lebens würde sich der Abgrund frühkindlicher Todesangst noch einmal auftun. (Stephan Wackwitz: Die Bilder meiner Mutter) ^


Emotionale Distanz zur Mutter

Wie soll ein Sohn je zu einer umfassenden Wahrnehmung seiner Mutter gelangen? Nie kann er sie als etwas anderes verstehen als eben die Mutter, nicht mehr, nicht weniger als das, und sie ihn bloß als ihren Sohn. Wie soll er ausgewogen urteilen? Was immer geschieht, die Beziehung zwischen Mutter und Sohn bleibt von einer emotionalen Distanz bestimmt, ihr gesamtes Leben ein beidseitiger Abnabelungsprozess, der nie vollzogen wird. Die Liebe zur Mutter ist so natürlich, dass der Sohn sie gar nicht erkennt. Zuerst ist er ihr zu nah, um klar sehen zu können. Später versucht er beständig, sich von ihr zu entfernen und sie auszublenden. (Hans Platzgumer: Am Rand) ^


Spöttische Distanz

Die Mutter aber sieht ihren Sohn an: ein wenig verliebt, ein wenig besorgt und nicht ohne Spott. Viktor kennt diesen Blick und weiß ihn zu deuten. Nur Verliebt- und Besorgtheit sind echt; das Spöttische ist darübergelegt, um Distanz zu bekunden. Eine moderne Frau, wie sie sie versteht, hat zwar Gefühle, darf sie auch zeigen, muß aber deutlich machen, daß sie beherrschbar sind. Tränen werden also von einem Witzwort begleitet, Depressionen fachmännisch erklärt, und wenn sie ihrem äußeren Jugendlichkeit zu geben versucht, fehlt nie der Hinweis auf die Eitelkeit alter Frauen. (Günter de Bruyn: Neue Herrlichkeit)  ^


Erziehungsmethoden

So ist das seit Irenas Kindheit: während sich die Mutter zärtlich um ihren Sohn wie um ein kleines Mädchen kümmerte, war sie ihrer Tochter gegenüber männlich spartanisch. Soll das heißen, daß sie sie nicht liebte? Vielleicht wegen Irenas Vater, ihrem ersten Mann, den sie verachtet hatte? Hüten wir uns vor einer solchen Küchenpsychologie. Ihrem Verhalten lag die beste Absicht zugrunde: von Kraft und Gesundheit strotzend, machte sie sich Sorgen wegen der mangelnden Vitalität ihrer Tochter; mit ihrer rüden Art wollte sie ihr ihre Hypersensibilität austreiben, ungefähr so wie ein sportlicher Vater, der sein ängstliches Kind ins Schwimmbecken wirft und überzeugt ist, die beste Art und Weise gefunden zu haben, ihm das Schwimmen beizubringen. (Milan Kundera: Die Unwissenheit) ^


Dankbarkeit?

Wofür müssen Kinder ihren Eltern eigentlich dankbar sein? Nicht das Kind ist verantwortlich für sein Dasein. Kann es dafür, daß ein Mann und eine Frau den Beischlaf vollziehen, bei dem sie, meist wenigstens, nichts denken und nur ihre Lust haben? Dafür Dankbarkeit fordern? Oder dafür, daß diese Eltern dann das Gezeugte und Geborene ernähren? Das ist ihre Pflicht, staatlich geregelt. Mir ist es nie in den Sinn gekommen, von meinen Kindern Dankbarkeit zu verlangen. Wofür auch. Vielleicht hätte ich sie um Verzeihung bitten müssen, daß ich sie einer bösen Zeit ausgesetzt habe. (Luise Rinser: Den Wolf umarmen) ^


Angst vor Wiedergängern

Ich will nicht behaupten, daß ich leidlos Tochter war, aber seit Hinrich Schmidts Tod war ich davon überzeugt, daß es zwar beschämend und lächerlich sein konnte, zur Gestalt der eigenen Mutter heranwachsen zu müssen, daß aber den Söhnen im Bild der Väter eine ungleich größere Gefahr drohte. Die Angst, die er im Kindesalter erduldet hat, eines Tages als Vater selbst verbreiten zu müssen, zwingt jeden Mann, entweder das Kind in sich zum Schweigen zu bringen oder auf Vaterschaft zu verzichten. (Monika Maron: Animal triste) ^


Kinder sind konservativ

Meine Eltern sind schon ein Fall für sich. Hätten die mich großgezogen, wäre ich jetzt Alkoholiker oder Junkie oder Skinhead - aus Trotz. Ich glaube, diese Generation ist einfach nicht dazu gemacht, Nachwuchs zu haben. Kinder sind nämlich verdammt konservativ, die wollen klare Verhältnisse, eindeutige Zustände, einen richtig intakten Familienstaat, den sie immer mal wieder aufmischen können. Und keinen, der schon ein Trümmerfeld ist. (Ralf Rothmann: Flieh, mein Freund!) ^


Datenbank der Blödheiten

Leute wie meine alte Dame, die immer mit einem Auge darauf achten, daß deine Wunde nicht zuheilt, verbringen ihre Tage tatsächlich damit, Scheiße zu einem gigantischen Netz zu knüpfen. Wirklich wahr. Sie nehmen sich jedes beschissene Wort im Universum und verwenden es dazu, in deiner Wunde zu wühlen. Völlig egal, was du sagst, du kriegst es mit der Klinge zu spüren. Nur mal als Beispiel: "Wow, guck mal, das Auto dort!" "Ja, genau, das ist dasselbe Blau wie von der Hose, auf die du dich bei der Weihnachtsaufführung übergeben hast, weißt du noch?" Mir ist klargeworden, wie Eltern das hinkriegen, daß sie immer gewinnen: Sie verwalten die Datenbank deiner Blödheiten, inklusive des ganzen Schleims, den du angesammelt hast. Immer kampfbereit. Im Bruchteil einer Sekunde bist du erledigt, ganz im Ernst - das geht schneller, als du die Artillerie benutzen könntest, von der du die ganze Zeit träumst. Und wenn ihr mich fragt: In langweiligen Momenten, wenn beim Nachwuchs so langsam der erste Lack abblättert, machen sie es aus reinem Spaß an der Sache. (DBC Pierre: Jesus, von Texas) ^


Vorwürfe

Alfred konnte ihr erklären, daß es ein Elternirrtum sei zu meinen, Kinder hätten dankbar zu sein dafür, daß sie geboren worden sind. Genausogut könnten Kinder aus diesem Geborenwordensein den Eltern einen lebenslangen Vorwurf machen. Wahrscheinlich sei es aber dem sogenannten Leben völlig egal, was Eltern und Kinder einander vorwürfen, es braucht Darsteller. (Martin Walser: Die Verteidigung der Kindheit)  ^


Physisches

Über den knochigen Hundeleib stolpernd, gelang es mir, an meine Mutter heranzukommen. Ich nahm mir vor, während der Umarmung kein Wort zu sagen, die Lippen fest aufeinander zu lassen, um ihr meinen schalen Alkoholatem zu ersparen. Ich faßte sie an die Schultern und küßte sie. Wie üblich wehrte sie mich mit den Ellbogen, die sie schützend vor den Busen hielt, so halb und halb ab. Ich spürte den Widerstand in ihren Schultern. Seit sie mich nicht mehr eigenhändig in die Badewanne steckte und ich meine eigenen körperlichen Geheimnisse hatte, hatte sich eine merkwürdige physische Abneigung in ihre Liebe gemischt. (A.Th.F. van der Heijden: Fallende Eltern) ^


Briefe

Briefe, die einem die Eltern schreiben, sind Botschaften von einem Festland, von dem man sich entfernt hat; ja, ein solcher Brief bestätigt einen in der Entwurzelung, indem er an den Hafen erinnert, aus dem man unter so redlichen, mit großen Opfern erkauften Bedinungen ausgefahren ist; ja, sagt ein solcher Brief, der Hafen ist noch immer da, er überdauert, geborgen und schön, in seiner Altertümlichkeit, aber der Weg dorthin, der Weg ist verloren! (Milan Kundera: Der Scherz) ^


Abnabelung

Es ist immer ein wenig unangenehm, wenn eine Frau um die Vierzig sich hemmungslos ihren Trieben überläßt, obwohl andererseits die Nichtbefriedigung menschlicher Grundbedürfnisse, männlicher, weiblicher Grundbedürfnisse ein zentrales Thema wäre; Sylvie hätte schon Lust, sich langsam darum zu kümmern, zumal: die Tochter ist endlich groß und aus dem Haus. Unklar ist, warum die heutigen Kinder so lange an ihren Müttern kleben, Sylvie hat halbwegs Gewalt anwenden müssen, um ihre Tochter loszuwerden; wenn es nach der Kleinen gegangen wäre, hätte sie noch in fünf Jahren an ihr geklebt und sich mit ihrem Nagellack die Fingernägel lackiert, ihre Pullover ungefragt angezogen und anschließend nicht gewaschen; immer wenn Sylvie einen Pullover aus dem Schrank nehmen wollte, war er entweder nicht drin, oder er war drin, aber ungewaschen hineingestopft, verqualmt und mit Flecken, den grauen Seide-Angora-Pullover hat sie wegschmeißen können, weil ein Loch reingebrannt war, und als Sylvie ihr den Pullover vorhielt, hat die bloß die schwarz gemalten Augenbrauen über den schwarz umrandeten Kajal-Augen hochgezogen und war für den restlichen Tag beleidigt, eingeschnappt (den Stift hat sie aus dem Spiegelschrank links im Bad, wo er hingehört, aber nie mehr wiedergefunden wurde, weil schließlich Frauen zwischen Dreißig und Vierzig gegen Vierzig vor allem, sowieso kein Schwarz um die Augen malen sollten, das betont nur die Krähenfüße, findet die Tochter). Am Abend ist sie abgerauscht mit Sylvies Wagen und hat diesen Typ aufgetan, diesen Barbagelata, den ihre Pampigkeit amüsiert hat. Trotzdem wäre sie bei der Mutter wohnen geblieben, aus reiner Bequemlichkeit, wenn Sylvie nicht auf Herausgabe ihres Kajal-Stifts sowie der Autoschlüssel und - papiere und verschiedener anderer Wertsachen bestanden und zudem zum ungezählten Mal von der Tochter ultimativ das Erlernen eines Berufes verlangt hätte, irgendeines Berufs eben, welche zudringliche Forderung die Tochter endgültig davon überzeugt hat, daß ihre Mutter die Wechseljahre ereilt haben, was sie ihr unverzüglich ins Gesicht sagt: übergeschnappt. (Birgit Vanderbeke: Ich will meinen Mord) ^


Brief an den Vater

Es ist auffallend, daß jeder den "Brief" als Sohn liest, keiner als Vater. Kafka hatte den Brief seinem Vater nie gegeben, Hermann Kafka ihn nie gelesen, und vielleicht ist das die eigentliche Tragik dieses Briefes, daß ihn Millionen von Männern als Söhne gelesen haben und nie einer als Vater. Vielleicht ist das aber gar nicht möglich, wer weiß. Ich jedenfalls wünsche mir, daß sich endlich einmal jemand als Adressat dieses "Briefes" begreift. (Georg M. Oswald: Im Himmel) ^


Mutterliebe

Die Mutterliebe ist das einzige Gefühl, das, weil es heilig und edel ist, das übermaß verträgt; das einzige, das durch Raserei nicht entartet. Dennoch tritt ein seltsames Phänomen auf, das man im Leben immer wieder antrifft: Wenn sich nämlich diese übersteigerte Mutterliebe nicht mit absoluter Herzensreinheit und vollkommener Rechtschaffenheit paart, dann verirrt sie sich meist und schlägt in einen beklagenswerten Wahnsinn um, der wie jede andere Leidenschaft ohne Maß und Ziel große Verfehlungen und Katastrophen bewirkt. (Benito Perez Galdos: Dona Perfecta) ^


Relativ autark

Aber Eltern kann man nicht feuern. Weil Kinder nämlich keine Gewerkschaft haben. Und warum haben Kinder keine Gewerkschaft? Weil man für Gewerkschaften Beiträge bezahlen muß. Und dafür bekommen Kinder zu wenig Taschengeld. Und von wem bekommen Kinder zu wenig Taschengeld? Weil sie sonst sofort eine Gewerkschaft gründen, Beiträge zahlen und ihre Eltern feuern würden. (Jens Oliver Haas: 101 Gründe ohne Frauen zu leben) ^


Mütter

Mütter spielen in der sexuellen Entwicklung eines Jungen aber dennoch eine bedeutende Rolle: Sie sind der größte Bremsklotz, den wir auf dem Weg zu einer unverkrampften Sexualität überwinden müssen. Eine Mutter ist so ziemlich das Lauteste, was es innerhalb eines Haushaltes gibt. Ihre Stimme durchdringt Mauerwerk wie ein Trennschleifer, und wenn sie morgens den Kaffee aufsetzt, weckt ihr Klappern und Rumoren auf drei umliegenden Friedhöfen die Toten. Natürlich auch uns, die wir ausnahmsweise hätten ausschlafen können. Wenn man aber gerade im Begriff ist, sich selbst in die - von Schulkameraden in den höchsten Tönen gepriesenen - Freuden der Onanie einzuführen, verwandelt sich eine Mutter in ein Phantom. In einen flirrenden Schemen aus Licht, der sich durch vier geschlossene Türen hindruch so plötzlich neben dir materialsieren kann, daß sich deine keimende Pubertät schlagartig auf das nächste Jahr verlegt. (Jens Oliver Haas: 101 Gründe ohne Frauen zu leben) ^


Pfaffe mit 14 Kindern

Allenthalben zeigten sich Kinderköpfe und aufgerissene Augen, die mich einen Moment anstarrten, ehe die Tür wieder zuknallte. "Wieviel Kinder hat Mrs. Finch gegenwärtig?" fragte ich erschüttert. Die ältere Frau blieb einen Moment stehen und überlegte. "Vierzehn, glaube ich, Madame, das kleineste eingerechnet... und zweimal waren es Zwillinge... Und dazu das zweitjüngste, das leider schwachsinnig ist... Ja, vierzehn im ganzen." Diese Mitteilung bewirkte, daß ich mich in gewiser Weise für den Reverend Finch zu interessieren begann, obgleich ich sonst alle Pfaffen, Könige und Kapitalisten grundsätzlich als Feinde der Menschheit ablehnte. Dieser Pfaffe mußte ungewöhnliche Nerven haben. Ob er sich noch nie gewünscht hatte, ein Diener der römisch-katholischen Kirche zu sein und der Gnade teilhaftig zu werden, überhaupt keine Familie haben zu dürfen? (Wilkie Collins: Lucilla) ^


Perfekte Verschränkung

... warf sie ihm einen besorgten, leicht vorwurfsvollen Blick zu, wie man das mit Jungen tut, die mit aufgeschundenen Knien vom Fußball heimkommen. Genau der Blick, auf den Männern so total abfahren, weil sie das eben an eine gute Mutter oder auch nur an die Vorstellung einer guten Mutter erinnert. Ein Ausdruck, in welchem die Strenge und die Güte sich perfekt verschränken, so daß man gerne das eine für das andere hält und über kurz oder lang danach süchtig wird. (Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell) ^


Ballett und Fechten

Ja, es war Rubinsteins aufmüpfige, obergescheite Tochter, die auf Zehenspitzen daherschritt. Wobei die perfekte Lautlosigkeit, mit der das Mädchen in den Raum geschlüpft war, ihre Ausbildung zur Balletttänzerin verriet. Daher stammte ja auch ihre makellose Arroganz. Will man ein arrogantes Kind, muß man es zum Ballett schicken. Oder zum Fechten. Ballett und Fechten sind die pädagogischen Kraftstoffe des Dünkels gegen die reale Welt. (Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell) ^


Der Vater als aktive Figur

Wahrscheinlich war sie der Meinung, daß Väter nicht wirklich existieren, daß ihre Bedeutung für Kinder eine bloß theoretische war, ein Gerücht, dessen Unsinnigkeit weitgehend unerkannt blieb, weil ungeprüft. Väter bestanden vor allem in Bildern, Bildern etwa der Werbung und des Films, Bilder, die dann in der Wirklichkeit nachgestellt wurden, selten freilich mit Liebe zum Detail, so daß Männer, die kurzfristig Väter spielten, den Eindruck einer miserablen Aufführung hinterließen. Selbst noch die allerengagiertesten mit ihren Tragetüchern und Stoffwindelkenntnissen erinnerten an jene Maxime Adornos, daß es kein richtiges Leben im falschen gebe. Der Vater als aktive Figur war eine Erfindung der Moderne, die auf wackeligen Beinen stand. Eine Erfindung, die vor allem von den Männern selbst in keiner Sekunde wirklich ernst genommen wurde. (Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell)


Kinder & Dämonen

Er habe sich oft über die Wiege des Säuglings gebeugt und laut darüber geklagt, wie häßlich, wie entstellt, ja monströs dieses Kind sei, sein Antlitz eine Fratze, seine Hände Klauen. Dabei war er immer überzeugt gewesen, daß es in Huay Xai kein schöneres Kind geben konnte als seinen Sohn. Aber in Laos versuche man eben mit solchen Klagen die Dämonen in die Irre zu führen und sie durch Schmähungen selbst der eigenen Kinder von jenem Haß und jener Eifersucht abzubringen, die ein Dämon gegenüber jedem geliebten und liebenden Wesen empfand. Wer würde denn schließlich ein Scheusal um seine Schönheit beneiden? Wer einem Monster, das ohnedies mit seiner Widerlichkeit geschlagen war, aus Eifersucht schaden wollen? (Christoph Ransmayr: Atlas eines ängstlichen Mannes)


Erziehung

Weil wenn du es nicht gewöhnt bist, macht dich im Grunde schon allein die Nähe eines Kindes nervös. Bei den Früchtchen hat schon noch einmal ein anderer Wind geweht als damals in der Polizeischule. Da waren Eltern am Werk, wo die Phantasie der Kinder wichtiger war als vielleicht die Frage, ob zwei und zwei immer ganz genau vier sein muss. Und die Kinder haben bestimmt keine Besinnungsminute bekommen, wenn sie mit dem Geburtstagsessen ein bisschen die Wände verziert haben. Eher noch eine Besinnungsminute, wenn sie die Buchstabensuppe einfach hinuntergegessen haben, statt wenigstens ein kleines Gedicht am Tellerrand, muss keine große Dichtung sein, der Wille zählt, Essen ist zum Spielen da, und einfach hinunterfressen, das können auch die Tiere. (Wolf Haas: Wie die Tiere)


Kinder und keine Kinder

Es ist immer auffällig, wenn Leute sich dermaßen echauffieren. Wie eine allergische Reaktion. Meistens echauffieren sich die Leute beim Kinderthema, Kinder haben, keine Kinder haben, warum Kinder, warum keine Kinder, keine Kinder kriegen können, Kinder haben wollen, wenn sich die Leute nicht über das eine echauffieren, echauffieren sie sich über das andere, die einen haben eine Frau und wollen keine Kinder, die anderen wollen Kinder und haben keine Frau, wieder andere haben beides und wollen nichts davon. (Verena Roßbacher: Schwätzen und Schlachten)


Fortpflanzungsekel

Mein Dad war ebenfalls extrem empfindlich gewesen, wenn es um schwangere Frauen ging (...). Weit entfernt von »Vor-Glück- zerflossen«-Weisheiten hatte er kleine Kinder und Babys nie leiden können und die ganze schwärmerische Eltern-Szene noch viel weniger, dämlich lächelnde Frauen, die ihren eigenen Bauch abtasteten, und Männer mit vor die Brust geschnallten Säuglingen, sondern ging, wenn er gezwungen wurde, an irgendeiner Schulveranstaltung oder Kinderparty teilzunehmen, immer zum Rauchen nach draußen oder lungerte düster am Rand herum wie ein Dealer. Ich hatte es offenbar von ihm geerbt, und wer weiß, er vielleicht von Grandpa Decker, diesen heftigen Fortpflanzungsekel, der vernehmlich in meinem Blut summte: Es fühlte sich an wie angeboren, einprogrammiert, genetisch. (Donna Tartt: Der Distelfink)


Abnabelung

Seine ganze Jugend über hat er sich bemüht, keine Fehler zu machen. Wie von Dämonen verfolgt und ohne die geringste Aussicht auf Erfolg. Als Erwachsener dreht er den Spieß um. Er tut einfach nur noch Dinge, die aus Sicht des Vaters falsch sind. Das hat zwei Vorteile. Erstens erleichtert es die Orientierung. Was dem Vater missfällt, lässt sich nämlich viel leichter sagen als das Gegenteil. Außerdem machen die meisten Dinge, die dem Vater missfallen, Spaß. In der Summe kommt dabei ein Lebensprogramm heraus, das sich - anders als das väterliche - durchaus auf Regeln bringen lässt. Du darfst Fehler machen. Probier' Dinge aus, du lernst immer was dabei. Halt die Klappe, wenn du keine Ahnung hast. Geh auf Menschen zu, vermute bis zum Beweis des Gegenteils nur Gutes von ihnen. Bereise ferne Länder, solange du bei Kräften bist, Deutschland kannst du dir auch als Greis noch ansehen. In einer Welt, in der Arschlöcher Disziplin, Enthaltsamkeit und frugale Ernährung predigen, kann Willensschwäche keine Sünde sein. Und wenn was schiefgeht? Scheiß drauf und fang wieder von vorne an. (Per Leo: Flut und Boden)


Zäsuren

Als die Kinder größer wurden, lebte man als Eltern in ständiger Furcht vor Drogensucht. Die Medien taten damals so, als ob in allen Schulklassen die Heroinspritzen kreisten. Ein paar Jahre später war es Aids, das Helga und ihm Angst einjagte. Für die Kinder selbst war es eher der Atomkrieg, der Horror eines dritten Weltkriegs, der sich über ihre Jugend gelegt hatte wie Mehltau.Die Russen kommen, rief Xane, das haben wir dauernd im Scherz gesagt, weil wir es wirklich befürchtet haben. Das sind die wahren Zäsuren. Dieses Gefühl trennt uns für immer von unseren Kindern. (Eva Menasse: Quasikristalle)


So vergehen die Jahre

Und so vergehen die Jahre. Die Windelzeit ist zu Ende, bald muss man keine Sandburgen mehr bauen. Der Impfplan ist erfüllt. Die Milchzähne fallen aus. Die Schule beginnt. Und eines Tages steht man irgendwo, und der Blick verklinkt sich mit dem eines fremden Mannes. Es brennt so scharf wie Meerwasser, das einem beim Tauchen in die Stirnhöhle gedrungen ist. Man schnäuzt sich und wendet sich ab. Aber man wird misstrauisch, sich selbst gegenüber, und die Annahmen über das eigene Leben geraten ins Wanken. Irgendwann wird der Verdacht unabweisbar, dass es zwischen damals und heute, zwischen der taumelnden Ungebundenheit und dem vollkommen geerdeten Familienwesen, doch noch Verbindungen gibt. Dass in dem sprunghaften, schnell ver-und entliebten Mädchen von früher wohl schon die verlässliche Mutter, in der Mutter aber immer noch ein Teil jenes Mädchens steckt. (Eva Menasse: Quasikristalle)


Vor den Kindern sterben

"Menschen, die Kinder zeugen, Zwanet, wissen doch, daß diese Kinder genauso sterblich sind wie sie selbst, oder nicht? Nur die Greulichkeit dieser Feststellung verhindert, daß daraus je ein Klischee wird... Die Nachkommen, das bedeutet so etwas wie unser kollektives Unrecht. Daß sie es trotzdem wagen, hängt mit der stillschweigenden Übereinkunft zusammen, wonach sie, die Eltern, vor ihren Kindern sterben. Dahinter verbirgt sich eine schmudelige Art von Logik: Wenn unsere Kinder uns überleben, überleben sie auch den Tod... Jenseits des absoluten Horizonts der Eltern existiert der Tod nicht.... auch wenn sie selbst noch durch ihn hindurchmüssen... "Wenn zwei Menschen Nachkommen gezeugt haben, Zwanet, besteht ihre einzige relevante Aufgabe darin, vor ihren Kindern zu sterben. Alles andere ist nicht mehr von Belang. Ja, klar, dem Anschein nach haben sie alle Hände voll zu tun, die hungrigen Mäuler zu stopfen... die Kinder möglichst gut heranwachsen zu lassen... Doch in ihrem ganzen Sein behalten sie den Kalender aufmerksam im Auge: dafür sorgen, daß das Kroppzeug nicht vor uns hopsgeht. (A.F.Th. van der Heijden: Unterm Pflaster der Sumpf)


Vater & Sohn

Als ich mit achtzehn mein Elternhaus verlassen hatte, war ich davon ausgegangen, dass die große Vater-Sohn- Zeit für immer vorbei war. Ich war nicht davon ausgegangen, dass wir noch einmal so viel miteinander zu tun bekommen würden. Ein paar altersgerechte, würdige Spaziergänge vielleicht, ein paar Geburtstage mit kleinem Prosit, die Kaffeekränzchen. Nie hätte ich gedacht, dass das Alter meines Vaters so eine Verunstaltung mit sich bringen würde, mit lauter Heulen, Ächzen und Schreien. Ich hatte einen überheblichen Moment lang geglaubt, meinem Vater ein paar Tage den Arm zur Stütze anzubieten würde alles wieder ins Lot bringen. Aber so war es nicht. Es würde dahin kommen, dass ich vor Dreck und Einerlei und Erschöpfung um sein Ende bitten würde. Ich hatte vielleicht die Kraft, aber nicht die Selbstverleugnung, ihn über Jahre ins Bett zu bringen. Und mich derart selbst erkennen zu müssen widerte mich an. Vater und Sohn – das ging doch anders. (Stefan Schwarz: Das wird ein bisschen wehtun)


Zeugungsgrößenwahn

Wir sagen ja auch, wir lieben unsere Eltern und hassen sie in Wirklichkeit, denn wir können unsere Erzeuger nicht lieben, weil wir keine glücklichen Menschen sind, unser Unglück ist kein eingeredetes, wie unser Glück, das wir uns täglich einreden, damit wir überhaupt den Mut haben, aufzustehen und uns zu waschen, anzuziehen, den ersten Schluck zu machen, den ersten Bissen hinunterzubringen. Weil wir an jedem Morgen unweigerlich daran erinnert sind, daß uns unsere Eltern in entsetzlicher Selbstüberschätzung und tatsächlich in ihrem Zeugungsgrößenwahn gemacht und geworfen und in diese doch mehr scheußliche und widerwärtiges und tödliche als erfreuliche und nützliche Welt gestellt haben. Unsere Hilflosigkeit verdanken wir unseren Erzeugern, unsere Unbeholfenheit, alle unsere Schwierigkeiten, mit welchen wir zeitlebens nicht fertig werden. (Thomas Bernhard: Goethe schtirbt. Erzählungen, S. 40)


Pädagogische Ambitionen

Meine Schwestern bekamen Klavierunterricht. Ich, weil ich mich wenig musikalisch gezeigt hatte, mußte die Posaune erlernen, ein Instrument, welches mein Vater als "auch mit geringer Neigung bald beherrschbar" ansah. Wenigstens ein Instrument zu beherrschen, sei für jeden Kulturmenschen Bedingung. Ebenso legte er Wert auf alte Sprachen sowie eine fundierte theologische Ausbildung. Nicht, weil er sehr gläubig gewesen wäre, sondern weil er die Theologie für den Nährboden eines, so drückte er sich aus, höheren philosophischen Auseinandersetzungswillenes mit der Welt ansah, ähnlich heutigen Eltern, die ihre Kinder wieder zum Konfirmandenunterricht schicken, nur um sicherzustellen, daß aus ihnen später mal gute Atheisten werden. (Helmut Krausser: Eros, S. 17f.)


Präparieren für den Lebenskampf

"Wenn man nur für sich selbst kämpft, wird man defensiv und verbissen." "Sehr nützliche Eigenschaften", unterbrach ihn Julia. "Darum ist es ja auch so wichtig, Kinder nicht zu gut zu behandeln - sie werden sonst nicht imstande sein, sich in der Welt durchzusetzen. Wenn du willst, daß deine Kinder Fernsehproduzenten oder Vorstandsmitglieder werden, bringt es nichts, ihre kleinen Köpfe mit Vorstellungen von Vertrauen, Wahrheitsliebe und Verläßlichkeit zu füllen. Dann werden sie nämlich als Assistenten enden." (Edward St. Aubyn: Muttermilch, S. 42f.)


Die Wehrlosigkeit der Kinder

Über nichts muß man sich wundern. Wank machte Kaffee. Auf jeden Fall ist ein Volk, das Tag für Tag aus dem Tiefschlaf gerissen wird, zu allem fähig. Wank trank Kaffee und erwürgte Frau Egloff, die seit fünf Minuten ihrer Kinder anschrie. (...) Frau Egloff schrie immer noch, und Wank war minutenlang überzeugt, daß die Mütter einen Großteil des Weltunglücks verursachten und daß die These von der Friedfertigkeit der Frau eine der unverschämtesten Soziallügen war. Schließlich waren es auch die Mütter, die ihre Kinder jeden Morgen aus dem Bett zerrten und unter Androhung ernstlicher Nachteile zur Schule schickten, obwohl sie haargenau wußten, daß ihnen dort der Rest gegeben wurde. Die Mütter sorgten für die schlaftrunkene Wehrlosigkeit der Kinder, und die Lehrer konnten dann ungestört an den halbwegs Betäubten herumhämmern. (Markus Werner: Die kalte Schulter, S. 25f.)


Das Riesenspielzeug ihrer Kinder

Eltern und Großeltern sind ihren Kindern in vielen Fällen fast wehrlos und hilflos ausgeliefert. Vom einschmeichelndsten Ton bis zum rasenden Trotz sind die Kleinen dabei für jeden Fall gewappnet und gerüstet. Die Kinder sind klein und spielen mit den Großen, das ist oft der Sachverhalt. Die Eltern sind das "Riesenspielzeug" ihrer Kinder. Und haben die Kleinen auch nicht die Kraft, die physische Kraft nämlich, den dicken Vater von der Stelle zu bewegen, so haben sie doch die seelische Stärke, ihn bis ins innerste Mark zu rühren. (Alois Brandstetter: Die Burg)


Elterngerümpel

Ich fragte mich, ob Mutter, als sie jung gewesen war, eher sensibel war und erst unter dem Einfluß ihres Ehemannes ein wenig derb werden mußte, oder ob sie schon in ihrer Jugend unzart war und deswegen auch einen entsprechenden Mann geheiratet hatte. Aber dann rief ich mich zur Ordnung und sagte zu mir: Dieses ganze Elterngerümpel wird dich in der neuen Wohnung nicht mehr belästigen. (Wilhelm Genazino: Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman)


Erwachsene Kinder

Sie war über fünfzig, eine Tatsache, die ihr Vater kaum glauben konnte, denn deutlicher als bei seinen späteren Kindern erinnerte er sich an ihr neugeborenes Gewicht in seinen Armen, so gefährlich leicht, die winzige Person so unbestreitbar lebendig, daß seine Knie zu zittern begonnen hatten. Aus Angst, er könnte ohnmächtig werden und sie fallen lassen, hatte er sich auf Maureens festes schmales Bett setzen müssen. (John Updike: Die Tränen meines Vaters, S. 325)


Kinder liebe er nicht

In Wirklichkeit liebe sie Kinder gar nicht so sehr, habe sie nie wirklich geliebt, und er doch auch nicht, mal ganz ehrlich, er hasse doch ihren natürlichen, systematischen Egoismus, ihre angeborene Mißachtung der Gesetze und ihre fundamentale Unmoral, die einen zwingt, sie zu erziehen, was erschöpfend und fast immer fruchtlos ist. Nein, nein, Kinder, zumindest menschliche Kinder liebe er ganz besimmt nicht. (Michel Houellebecq: Karte und Gebiet, S. 288)


Das Abschleifen der Zwiste

Älterwerden, dann Alt-sein verkürzt und tilgt schließlich oftmals die Ab-Gründe Perspek-Tiefen für Zwiste, schleift das-was-ist zu einsichtsvollem Verständnis, weil die durch Eltern erlittenen Zerstörungen von Kindern nie so 1malig sein können, daß sie nicht auch bereits den Eltern geschehen wären. Denn Familien=Leben, das uns von-kleinauf als das-Höchste das-Schönste das ein Mensch erringen können, gepriesen ward - das hat unterm Schliff der Jahre auch Vieles von seiner Schärfe verloren ebenso wie meine Abscheu vor Kindern. (Reinhard Jirgl: Die Stille, S. 116)


Am Grab

Ich wußte schon damals, daß in einer schwarzen und unausweichlichen Zukunft, wenn meine Mutter tot war, die Erinnerungen an diese Tolpatschigkeiten, an diese unschuldigen Fauxpas mörderisch sein würden. Erst am Grab stellt sich heraus, daß wir unsere Eltern für ihr Unerfülltes liebten, für das, was uns gemeinsam mißlungen ist, ihre Fauxpas ragen am bitterlichsten aus den Gräbern hervor und lassen sich nicht hineinstopfen. Tja, am Grab stellt sich das heraus.


Gefühle liebender Europäer

... dabei herausgefunden hätten, daß im gesamten europäischen Kulturraum ein direkter und enger Zusammenhang bestünde zwischen der Liebe und der Unterwerfung in ihrer aktiven und passiven Form. Der europäische Säugling lerne die Liebe als einen Akt der Unterwerfung kennen; das erste von ihm geliebte Wesen sei zugleich die Verkörperung der Macht: die Mutter. Sie könne verbieten, bestrafen, sie dürfe sogar schlagen, sie könne das Kind verhungern lassen oder es lieben. Je deutlicher der europäische Säugling seine Unterwerfung, seinen Gehorsam beweise, um so sicherer könne er ihrer Liebe sein. Die Liebe der Mutter sei der Lohn für den Gehorsam und die Unterwerfung die Bedingung für ihre Liebe, von der wiederum das Leben des Kindes abhänge. Demzufolge seien die Gefühle liebender Europäer ein nicht entwirrbares Chaos aus Zuneigung, sadistischer Herrschsucht, masochistischer Unterwürfigkeit, und es läge nahe, daß die so Liebenden sich zudem oft erpresserischer Methoden bedienten. (Monika Maron: Die Überläuferin, S. 71)


Erwachsen werden = Distanz

Er sprach über das merkwürdige Verhältnis von Distanz und Nähe zwischen Eltern und Kindern. Daß Erwachsenwerden von den Eltern, aus deren Obhut, aus deren Fürsorge, aus deren Wohnung, aus deren finanzieler Unterstützung. Sich immer weiter entfernen, das ist Erwachsensein. (...) Ja, das mit der Distanz sei von der Natur so eingerichtet, sagte jetzt der Sohn fast verschwörerisch zu seinem Schwager, das sehe man auch an der Pubertät, dieses aggressive Davonlaufen. Er habe es doch gesagt: Erwachsen wirst du nur durch Distanz. Und der Schwager sagte, früher seien die Handwerksburschen auf Wanderschaft gegangen, auf die Walz, wegzugehen von zu Hause habe man geradezu für notwendig erachtet. Oder man denke an die Tradition der "Grand Tour" früherer Jahrhunderte: Junge Menschen sollten die Welt erfahren, sollten heraus aus der Enge des Elternhauses. Eine wahrhaft eigene, individuelle Existenz könne nur entstehen, wenn es zu Abstand zwischen Eltern und Kindern komme, örtlicher Abstand, mentaler Abstand. (Anonymus: Wohin mit Vater? Ein Sohn verzweifelt am Pflegesystem, S. 117)


Ablagerungen des Intimsten

Eltern und Kinder, dachte der Sohn, haben es nicht einfach, wenn sie älter werden. Selten, daß sie miteinander so gänzlich im Reinen sind. Dicke Packen schleppen sie mit sich, die Alten und die Jungen, angesammelt in Jahrzehnten, Schwergewichte aus Verletzungen und Hoffnungen und Eifersucht, aus Ängsten, Wut und zärtlichen Gefühlen, aus Dankbarkeit und aus Rachegefühlen. Unglaublich, was sich in den Tiefen und Abgründen von Familien verbirgt, in den Höhlen und Grotten des Familienlebens, in ihren heimlichen Schatzkammern und noch heimlicheren Folterkellern. Es sind die Ablagerungen des Persönlichsten und Intimsten und Geheimsten. Und es ist wie bei den Eisbergen, der größte Teil ist selbst den Mitgliedern der Familie verborgen. So ist das wahrscheinlich überall, dachte der Sohn, aber immer glauben alle, ihr spezielles Familiendrama sei etwas ganz besonderes, und dabei ist es etwas, das jeder kennt. (Anonymus: Wohin mit Vater? Ein Sohn verzweifel am Pflegesystem, S. 59)


Hausfrauen- und Mutterrolle

Mit ihren dreiunddreißig Jahren hatte sich Marie-Josee ostentativ im Lager der Hausfrauen verschanzt und sprach von ihren Kindern wie ein Säugetier. Sie gehörte zu jenen Frauen, die "ohne Rast und Ruh" von früh bis spät auf den Beinen sind, die ihr Haus schrubben und wienern, ihren Gemüsegarten pflegen, ständig in der Waschküche zu finden sind, und die ihre vom rollenförmigen Busen ausgebeulte Kittelschürze nur sonntags für den Kirchgang ausziehen. Ihre letzte Schwangerschaft hatte sie um zwei Schneidezähne ärmer und um zehn Jahre älter gemacht. Vorzeitig hatte sie sich unter die geschlechtslosen Muttertiere eingereiht. (Benoite Groult: Salz auf unserer Haut, S. 79)


Elementare menschliche Institution

Die Familie kann wohl mit Recht, so sollte man meinen, als elementare menschliche Institution gelten. Jeder würde einräumen, daß sie Kernzelle und zentrale Einheit fast aller bisherigen Gesellschaften war, ausgenommen natürlich Gesellschaften wie etwa Sparta, daß es nur auf 'Effizienz' abgesehen hatte und folglich unterging, ohne Spuren zu hinterlassen. Das Christentum hat trotz der enormen Umwälzung, die es mit sich brachte, an dieser uralten, primitiven und sakrosankten Institution nicht gerüttelt; es verkehrte lediglich die Rangfolge. Statt die Dreieinigkeit von Vater, Mutter und Kind als ganze in Frage zu stellen, betrachtete es sie vom Ende her, so daß sie nun Kind, Mutter und Vater lautete. Diese nennt man nun Familie, sondern Heilige Familie, denn vieles wird heilig einfach dadurch, daß man es auf den Kopf stellt. (Gilbert Keith Chesterton: Ketzer. Ein Plädoyer gegen die Gleichgültigkeit, S. 157)


Großfamilie

Es liegt mir fern, schlecht von meinen Erzeugern zu sprechen - sie können sich gegen die Vorwürfe nicht mehr wehren, und ich habe sie, auf meine Art, sehr geliebt -, doch kann ich nicht umhin, ihnen in Erziehungsfragen eine gewisse Unaufmerksamkeit zu attestieren. Mir fehlt der Vergleich, doch glaube ich, alle Großfamilien neigen zu solcher Laxheit. Sobald die Kinderzahl die Drei übersteigt, bauen die gestreßten Eltern auf Selbstregulierung der Kräfte, natürliche Auslese, das Gesetz der Stärke, die bunte Palette des Sozialdarwinismus. (Steffen Mensching: Lustigs Flucht, S. 133)


Aufklärung

Obwohl die Fortsetzung von Honoras zahlreichen Zuwendungen von der Zeugungskraft seiner Söhne abhing, nahm Leander die beiden nie beiseite, um sie über die Entstehung des Lebens aufzuklären. Sie brauchten ja nur kurz aus dem Fenster zu schauen, um zu sehen, wie es ging. Er fand, daß Liebe, Tod und Unzucht als Extrakt der reichhaltigen Gemüsesuppe des Lebens nicht mehr als Halbwahrheiten waren, und daher blieb er in seinen Unterweisungen allgemein. (John Cheever: Die Geschichte der Wapshots, S. 69)


Kinderfragen

Kinderfragen sind die schlimmsten, weil sie jene Lebensrätsel berühren, die einen ins Stottern geraten lassen. Die Kleinen fragen immer weiter und geben sich mit keiner Antwort zufrieden. Man mogelt sich mit Behauptungen durch und möchte ihnen nach einer Weile am liebsten das endlose Wissenwollen verbieten. Für alles, was wir eigenmächtig zuwegen bringen, lassen sich Rechtfertigungen und Gründe finden, doch Fragen nach dem Unabänderlichen bringen das sonst so gewitzte Gehirn durcheinander. (Karl-Heinz Ott: Ins Offene, S. 32)


Angesichts des Todes

Von jetzt an soll alles sich ändern. Das Telefongespräch mit dem Assistenzarzt muß als Auftakt zu einer neuen Zeitzählung gelten und angesichts ihres endgültigen Endes ein milderes Leben einkehren, das die ständigen Kämpfe und Krämpfe vergessen läßt. Das Bisherige darf nach ihrem Tod nicht meine gesamte Erinnerung überschatten. Gleichzeitig will das Kind in mir an die Diagnose der Ärzte nicht glauben. Eine Stimme, die gegen den Verstand anrennt, behauptet, die Prognose der Doktoren beruhe auf Mißverständnissen und fahrlässig ausgewerteten Daten. Ich male mir aus, daß sie im Auftrag eines wohlmeinenden Schicksals handelten, ohne von ihrer moralischen Mission zu wissen, daß sie von fremden Mächten beauftragt wären, mich in allerbestem Glauben falsch zu informieren, um mir die Augen zu öffnen und mich zu zwingen, mein Verhalten Mutter gegenüber von Grund auf zu überdenken. Seit langem kam mir die Situation von vor zwölf Jahren nicht mehr in den Sinn, als Mutter wegen eines Herzinfarkts in derselben Klinik lag. Damals faßten wir für alle Zukunft die besten Vorsätze, jeder für sich und beide gemeinsam, und kein einziger wurde, nachdem Mutter sich wieder als geheilt ansah, in die Tat umgesetzt. Wir wollten friedfertiger miteinander umgehen und uns ständig den Tod als jene Grenze vor Augen halten, in deren Angesicht es sich nicht lohnt, einander zu quälen. (Karl-Heinz Ott: Ins Offene, S. 10)


Vateranklagen

Schon wieder mengt sich der Vater ein, drückt die Fingerspitzen an den Mund, wie um sich zu bedenken. Sein Schwarzhaar so sauber und akkurat, als hätte ihn der Traum für uns gekämmt. Denkt mal in aller Ruhe nach, will er damit sagen. Nur nicht so vorlaut, meine Töchter. Kein Mensch nimmt euch ab, wenn ihr behauptet, ihr wüßtet Bescheid. Das ist natürlich leeres Gerede, wie üblich. Wir wissen wenig. Na und? Ist doch klar: auch wenn wir Bulgaristik, Schafskäserei und Indoeuropäisches Selbstmordkunde mit Schwerpunkt Psychopathologie männlicher Gynäkologen studiert hätten - für eine Richteramt in Sachen Vater kämen wir nicht in Frage. Nicht mal für ein schäbiges Familiengericht, das in einer Baracke tagt. (Sibylle Lewitscharoff: Apostoloff, S. 43)


Phlegmatischer Mangel

Muß ich erst gestehn, daß ich für meinen Vater immer eine rückhaltlose Bewunderung gehegt habe? Niemals hatte ich ihm gegenüber Auflehnung, Haß oder Rachsucht empfunden, wenn ich mit diesem phlegmatischen Mangel auch gegen die Regeln moderner Seelenwissenschaft verstoße. Immer habe ich gefühlt, daß ich ein Abstieg bin. Und mein Vater hat ebenso daran gelitten wie ich, denn er hielt mich, mochte er sich oft bemühen, sie zu durchbrechen, er hielt mich stets in einer freundlichen, aber enttäuschten Distanz. Wie war er auch nur zu einem Sohn gekommen, der jede leichte Gesellschaft mied, mit vierzehn Jahren schon Büchernarr war, sein Taschengeld für bibliophilen Unsinn verschwendete und weder Fähigkeit noch Sinn für Pferde, Glücksspiele und ähnliche elegante Sachen besaß! (...) Sonst schonte er mich; wenn die Unzufriedenheit auch manchmal aus seinen Augen sprach, so habe ich doch niemals ein unfreundliches Wort oder eine wirkliche Rüge von ihm vernommen, er war auch gegen mich Kavalier, sooft er mir die Hand reichte, mir auf der Straße oder im Hause begegnete. Meine Lesewut quittierte er mit gutmütiger Ironie, in die sich manchmal eine seufzende Nachsicht mischte, als wäre dieses Lesen ein Rückfall in unfeine und längst überwundene Sitten. Als ich einmal in der vierten Gymnasialklasse mit einem blamablen Zeugnis kreuz und quer durchgefallen nach Hause kam, empfing er mich wie einen Triumphator. Ich durfte mit ihm und einigen großen Herren, für die er immer Tafel hielt, zu Ehren dieses Durchfalles anstoßen. (Franz Werfel: Die tanzenden Derwische. Erzählungen, S. 88f.)


Keine so schlechte Kindheit

Der Vater des Mannes war gestorben, vermutlich an einer durch Alkohol verunstalteten Leber. Er hatte, soweit der Mann sich erinnerte, von einer Invalidenrente gelebt, seine Frau, des Mannes Mutter, war in den Westen geflohen und hatte den Säufermann und das fünfjährige Kind zurückgelassen. Der Mann sagt: "Ich hatte keine so schlechte Kindheit." Er kniff die Augen ein wenig zusammen, und ich wußte, sehr viel schlechter kann eine Kindheit nur sein, wenn man sie nicht überlebt. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 217)


Strafe und Treibsand

Soll man Kinder bestrafen? Eigentlich fand ich es Strafe genug, Kind zu sein, als ich klein war. Das Schlimmste war eigentlich, daß man fast nie wußte, was man zu erwarten hatte. Meine Mutter, und genauso meine diversen Väter, wären völlig unberechenbar. Etwas, das man an dem einen Tag machte und wofür man getätschelt wurde, konnte am nächsten Tag mit einer schallenden Ohrfeige bestraft werden. Es war völlig verrückt. Als hätte man sich auf ein sonderbares Gelände verirrt, wo man in der einen Minute den Fuß auf den Biodewn stellt, und alles ist fest und sicher, und wenn man das nächste Mal auf dieselbe Stelle tritt, gibt es nur Treibsand. (Lars Gustafsson: Windy erzählt, S. 36)


Einzige Söhne

Calyste hat von mir alles so entgegengenommen, wie verwöhnte Kinder etwas annehmen; er ist ja einziger Sohn. Ganz unter uns: ich werde meine Tochter, sofern ich je Töchter bekommen sollte, nie einem einzigen Sohn geben. Es genügt schon, sich einem Tyrannen anzubefehlen; aber in einem einzigen Sohn stecken mehrere. (Honore de Balzac: Beatrix)


Mehr Zeit für Kinder

Seit Jahren hängen in U-Bahnstationen die gleichen, immer wieder erneuerten und mit ihrer Botschaft offenbar nicht veraltenden Plakate des Süßigkeitsherstellers Smarties, die nicht schlicht dazu aufrufen, Smarties zu lutschen, sondern als Slogan eine Ermahnung anbieten: "Mehr Zeit für Kinder." Was das heißen soll, zeigen dann Bilder: Ein netter Papa läßt sich vom Töchterchen als dummer August schminken, ein anderer, mit Motorradbrille gewappneter Papa bricht mit dem Söhnchen zur Raumfahrt auf. Die Plakate erwecken den Eindruck, als wollen sie dem Publikum eine Gebrauchsanweisung nachliefern, die der Hersteller des verbreiteten Produkts "Kinder" beizulegen unterlassen hatte. Bei der Anlieferung war offenbar nicht deutlich genug gesagt worden, daß zur sachgerechten Bedienung dieser niedlichen, wenn auch manchmal unberechenbaren zweibeinigen Geräte viel Zeit mitgebracht werden muß, und zwar Zeit, die nur dann von Nutzen ist, wenn sie beim Umgang mit den Kindern großzügig verloren und nicht zum Zweck späteren Gewinns gespart und irgendwo angelegt wird. Der Gedanke war den Erziehern bereits im 18. Jahrhundert von Jean-Jacques-Rosseau mit auf den Weg gegeben worden, ist in der Zwischenzeit aber weithin in Vergessenheit geraten. Nachdem sich Ende 1999 in Houston / Texas die Fälle ausgesetzter Babies besorgniserregend häuften, sah die Stadt sich veranlaßt, auf Schrifttafeln diesen öffentlichen Appell zu verbreiten: "Lassen Sie ihr Baby nicht irgendwo liegen!" (Lothar Baier: Keine Zeit. 18 Versuche über die Beschleunigung, S. 78)


Babygebrüll

Er war schon so weit, daß er jedesmal, wenn der Jungen den Mund nur zum Gähnen aufmachte, seine Ohren auf das Schlimmste vorbereitete. Wini behauptete, ein bißchen Schreien hätte noch keinem Kind geschadet. Das fand Ben auch. Es hatte noch keinem Kind geschadet, solange man dem brennenden Wunsch widerstehen konnte, es gegen die nächste Wand zu klatschen. (Meja Mwangi: Nairobi, River Road, S. 12)


Altern vor den Eltern

Am peinlichsten ist mir mein Alter vor meiner Mutter. Sie tut mir leid, weil sie nun so ein altes Kind haben muß. Aber irgendwie wohnt der Natur doch immer auch der Ausgleich inne. Meine Mutter sieht nicht mehr gut, was für sie natürlich sehr unangenehm ist, ihr hoffentlich aber den Anblick ihres alten Kindes gnädig verschönt. (Monika Maron: quer über die gleise. Essays, Artikel, Zwischenrufe, S. 159)


Tragödie der Elternschaft

Die Tragödie der Elternschaft besteht anscheinend darin, daß man ein Baby zur Welt bringt, und am Anfang liebt man es auch genauso uneingeschränkt, wie man selbst geliebt werden möchte. Dann aber wächst das Baby allmählich zu einem Wesen heran, das man nicht wiedererkennt: ein selbstständiger Mensch und zugleich ein Spiegelbild der eigenen schlimmsten Fehler. Die Tragödie, Kinder zu haben, liegt wahrscheinlich in der unmittelbaren Erkenntnis, daß in jeder Mutter und jedem Vater eine Blackbox kindsmörderischer Gedanken steckt. (Chloe Hooper: Märchen eines wahren Mordes, S. 199)


Kurze Zündschnur

"Ist mit Mum und Dad alles in Ordnung?" - "Na ja", sagte er leise, "die verstehen wirklich nicht, wie das ist. Man hat einen harmlosen Streit, weil schließlich keine Beziehung ohne Spannung abgeht, aber auf einmal heißt es: 'Das reicht! Geh in dein Zimmer! Ein Jahr lang kein Taschengeld! Kein Fernsehen!' Und dabei war es bloß ein kleiner Streit." Mit trauriger Miene schüttelte er den Kopf. "Ich verstehe nicht, wieso sie plötzlich total ausrasten, wenn sie in der letzten halben Stunde noch völlig normal waren." - "Das passiert Kindern doch genauso", wandte ich ein. Lucien seufzte. "Wir haben von Natur aus eine kurze Zündschnur", erklärte er, "aber sie müßten eine längere haben. Sie sind schon viel länger auf der Welt und habe mehr Beleidigungen und so was eingesteckt." (Chloe Hooper: Märchen eines wahren Mordes) ^


Mutter und Köchin

Nun fiel mir auf einmal ein, es war nur eine Erinnerung weit weg, daß es auf der ganzen Welt niemanden mehr gab, der für meine Leibspeisen zuständig war. Auch mußte ich mir eingestehen, daß niemand mehr da war auf der Welt, der mir meine Leibspeisen hätte machen können. Daß es aus war mit meinen Leibspeisen. Daß ich seit Jahrzehnten meine Leibspeise nicht mehr aufgetischt bekommen habe. - Kein lieber Mensch mehr, eine, die es wußte, was meine Leibspeise war. Die wußte, was unbedingt dazugehörte, und was unbedingt fehlen mußte. Stillschweigend hatte sich die Welt verändert, die ich nicht mehr meine nennen konnte. Und eine Selbstverständlichkeit war. (Arnold Stadler: Sehnsucht. Versuch über das erste Mal)  ^


Die Mamasorgen von Das Nuf

"Kaum ist das Kind auf der Welt, wird man Dauerbesucher beim Kinderarzt. Das Kind schnauft einmal anders als die Male zuvor und schon steht man sorgenvoll im Wartezimmer und hasst die anderen Frauen, die mit ihren rotztriefenden, röchelnden und fiebrigen Kindern die Gegend verpesten. Ist man dann endlich nach ca. drei Stunden Wartezeit an der Reihe, darf man auf keinen Fall blinzeln, denn sonst verpasst man die Untersuchung durch den Kinderarzt." (Weiter bei Mama Nuf)  ^


Mental beschlagnahmt

Wie ruhig, nein, wie still es hier ist! Im ganzen Zug scheint es kein einziges Kind zu geben. Ich bin diese Ruhe und Stille nicht mehr gewohnt, außerdem zucke ich dauernd leicht zusammen, als reagierte ich laufend auf Fragen oder kleinere Störungen. Wenn ich mit Lo und Lu zusammen bin, muß ich ununterbrochen reagieren, das eigene Denken kann sich keine Minute auf sich selbst besinnen, immerzu wird es durchquert und aufgerauht von dem, was die beiden mit einem vorhaben. (Hanns-Josef Ortheil: Lo und Lu)  ^


3 Schwestern

Er war mit drei Schwestern aufgewachsen, sein Respekt vor weiblichem Verstand war also gering. Er hatte bei seinen Schwestern erlebt, wie aus unbekümmert lärmenden, schlaksigen Tierchen tückische Kreaturen geworden waren, dazu verdammt, sich selbst zu behaupten, ohne offene Aggression anwenden zu dürfen; ihr Empfindungsvermögen war zwangsläufig gestört. (John Updike: Ehepaare)  ^


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