Die Insel des zweiten Gesichts [<<]

Splitter aus Albert Vigoleis Thelens Buch


Pflichtversessen

Plötzlich erinnerte sich Beatrice, daß in unserer Wohnung noch zwei Bücher lägen aus der Leihbibliothek. Man könne doch nicht weggehen, ohne sie zurückgebracht zu haben, gerade Bücher! Sie wagte nochmals den Gang in die gefährlichste Gegend der Stadt, holte die Bücher und brachte sie Mulet. Dieser konnte, ihrer ansichtig werdend, zuerst kein Wort hevorbringen. Dann sagte er: "Wollt ihr denn durchaus erschossen werden"" Nein, meinte Beatrice, aber Bücher seien Bücher, die gehörten zurückgegeben, selbst im Kriege. (S. 774)


Durchsichtig und lauter

Beatrice sah mir sofort an, daß wir wieder einmal arm geworden waren. Ich kann mich, bei allen Gesichtern, die mir der Himmel verliehen hat, nicht verstellen. Man sieht mir sofort an, wenn ich die Wahrheit sage, wo eine Lüge einzig am Platz wäre. Ich werde dann rot. Ich gehöre eben, mit Augustin zu sprechen, zu den Dummen, die niemals eines ihrer Worte zu widerrufen brauchen. (S. 758)


Die Ruhe gestört

Graf Keßler hatte den Züchter aufgesucht und ihm sein Anliegen vorgebracht: wer er sei, weshalb er einen Wächter brauche, auf den Mann dressiert, denn Hitler ... Hitler? Wer das sei? - "Bedenken Sie das einen Augenblick, ich bitte Sie: so ein Mann lebt seit Jahrzehnten auf der Insel und züchtet Hunde. Was in der Welt vor sich geht, weiß er nicht. Den Namen Hitler muß er aus meinem Munde vernehmen. Nun habe ich seine Ruhe gestört, um meine eigene zu sichern. Ich mache mir die größten Vorwürfe, ich hätte eine hiesige Rasse kaufen sollen." Ich tröstete ihn und verwies auf die Feigheit der balearischen Spielarten; damit wäre er auch nicht viel weiter gekommen. Natürlich, als ehemaligen Präsidenten der Deutschen Friedensgesellschaft und somit als einen in den Fragen des Wunschtraumlebens der Menschen bewanderten Diplomat müsse ihn der Besuch des Zwingers aufgerüttelt haben. Doch den Schwarzen im Urwald gehe es nicht anders. Sie wissen nichts von Christus, fressen sich gegenseitig, wenn's ihnen schmeckt, und dann kommen ein paar Missionare und rauben ihnen den Frieden, und die Wilden müssen nun sehen, wie sie sich den Vegetarianismus umstellen. (S. 730)


Prädestiniert oder nicht

Ich kann mich auch nicht mehr an vieles erinnern, aber meine Schulbänke haben sich mir eingebläut. Darin unterscheide ich mich von Keßler, der vom Tage seiner Geburt an für seine Laufbahn vorbestimmt war, an deren Ende man seine Erinnerungen schriftlich niederlegt. Ich bin nur für eine Laufbahn vorbestimmt, an deren Ende ich höchstens selber niedergelegt werde; und darum habe ich auch nie Aufzeichnungen gemacht, nie Tagebuch geführt, nie Zettel vollgeschrieben. (S. 731)


Zigeuner in der Stadt

Zigeunerinnen: das waren doch schmutzige Weiber mit staubaufwirbelnden Röcken, schweren goldenen Ohrgehängen, barfüßig weit ausschreitend, einen saugenden Säugling im bunten Tuch vor die Brust gebunden, um die Hände zum Stehlen immer frei zu haben. So hatte ich sie in meinen Kinderjahren kennengelernt, die dunklen Völkchen, die sich von gestohlenen Pferden in gestohlenen Wagen von Ort zu Ort ziehen ließen und sich ernährten von Gestohlenem. Deren Kinder weder zur Schule, noch, um was ich sie hauptsächlich beneidete, in die Kirche zu gehen brauchten; die zum Diebstahl erzogen wurden; blutrünstige Hochzeiten feierten in ihren Lagern am Waldrande mit Tanzbären, Messerstecherei, Lagerfeuern, Schellentrommeln und großem Palaver. Wenn die Zigeuner durch mein Städtchen zogen, bettelnd und wahrsagend von Tür zu Tür, dann wetzten die bärbeißigen Hüter der Ordnung auf der Rathaustreppe ihre schleppenden Plauten, fegten mit geübten Daumen die Blutrinne sauber und warteten nur, bis auf Zimmer 1 der Ausweisebefehl aufgesetzt, geschrieben, gezeichnet, gesiegelt, gegengeschrieben, gegengezeichnet und gegengesiegelt war, und dann: hebda, Diebsgesindel, ab in die nächste Gemeinde. Meine Mutter zählte die Häupter der Lieben, und dann zählten wir gemeinsam die Hühner, während unser Nachbar, dessen Lieben Pferde waren, seine Pferde zählte. (S. 726)


37 Absagen

Gezählte 37 Verleger lehnten die Herausgabe meines Pascoaes ab, bis Rascher in Zürich sich entschloß, das Abenteuer des Geistes zu wagen. Ich hatte somit den Bumerangrekord der Literatur gebrochen, der bis dahin von Remqarque mit 33 Absagen für sein Buch "Im Westen nichts Neues" gehalten wurde. Ich schrieb es dem Dichter. In einer Epoche, wo auf tausend Menschen, die Bücher schreiben könnten, einer komme, der auch imstande sei, eines zu lesen, sei es gewiß eine Spitzenleistung, daß ich bereits 37 deutschsprachige Leser für sein Buch gefunden hätte: so lautete die Antwort. (S. 726)


Richtig erben

Zwingli liebte seine Patin sehr, und darum pflegte er sie auch um Geld anzugehen in Zeiten, wo er es gar nicht nötig hatte. Das war eine psychologisch vollkommen richtige Handlungsweise. Wer eine Millionärin zur Gotte hat und er zapft sie nicht an, gerät in den Verdacht der Scheinheiligkeit und Erbschleicherei. Die meisten Enterbungen sind auf einen falschen Umgang mit den Erblassern zurückzuführen. Zu große Bescheidenheit erweckt Verdacht. (S. 662)


Antiklerikal

Wie jeder aufrechte spanische Mann haßte Don Dario die Curas, die Priester, Quelle allen Übels in Iberien. Er bat mich, einen Galgen zu erfinden, woran man das schwarte Gelichter in einem Zuge aufknüpfen könne. Ich verwies ihn an meine Landsleute im Dritten Reich, die für Massenabschlachtungen zuständig seien, Postkarte an den Führer genüge. Ich möge sie auch nicht, die düsteren Brödlingen des Herrn: von der Pike auf zum Fanatismus erzogen, und wehe dir, wenn du nicht ihres Glaubens bist! (S. 659)


Einfache Gleichung

Meine Einfaltsgleichung: Heil Hitler = Juda verrecke, Juda verrecke = Verbrechen, also ist, wer Heil Hitler sagt, ein Verbrecher, löste bei dem alten Diplomaten und Friedensutopist einen Ruf der Bewunderung aus, und er meinte, wenn alle Deutschen es so einfach sähen, säße Hitler längst im Irrenhaus. (S. 626)


Von der Dummheit

Beatrice ist vom vielen Lesen nicht dümmer geworden, pardon, nicht dumm geworden, und auch das ist eine Merkwürdigkeit, die mir zu denken gibt. Hoffentlich währt dieser Zustand noch einige Zeit, damit das Gleichgewicht unseres ehelichen Bundes, der auf dem Prinzip der Gegensätze aufgebaut ist, nicht gestört wird. Was derartige Verdummungserscheinungen betrifft, halte ich angebildete Dummheit für schlimmer als angeborene, die im Grunde harmlos ist, solange sie sich nicht mit der des Nachbarn in einer Kettenreaktion zusammenrottet. Dann werden gefährliche Reiche gestiftet. Ich habe das Phänomen der geistigen Plattwalzung bei künstlich hochgezüchteten Alleslesern aus nächster Nähe beobachten können, ohne daß ich die damit verbundene Gefahr in ihrer Größe erkannt hätte. Ich meine den Typus des deutschen Gelehrten, der auf jeden Kaiser, jeden Weichkäsepropheten, jeden Scharlatan hereinfällt, wenn diese sich nur mit der nötigen Unverfrorenheit und Rastelbinderphilosophie auf den Markt stellen. (S. 565)


Amnesie in litteris

Mein Gedächtnis ist mangelhaft. Gedrucktes bleibt nicht lange darin haften. Ein Gedicht, das mich trifft, einen Roman, der mich anspricht, kann ich nach einem Monat wieder lesen, und ich erlebe alles aufs neue. (S. 632)


Lesefähigkeiten

Ihre Augen sind nicht allein lesegeübt, sie verfügen auch über die merkwürdige Gabe, eine nicht zu breit gesetzte Zeile mit einem einzigen Blick zu fassen und das graphische Bild in Verstandenes umzuformen. Sie liest die Zeilen so, wie sie aus dem Gießkasten einer Setzmschine herausfallen. Das Diagramm ihrer Pupillenvergenz ist darum keine Zickzacklinie, sondern der gleichmäßig sich absetzende gerade Strich. Ein erstaunliches Lesetempo wird bei einem solchen Zeilengreifen erzielt. Der Verstand hält zudem Schritt mit der optischen Schnellmäherei, Strich um Strich fällt das Geschriebene. Ich lese sehr langsam, Wort für Wort, und nur solche Bücher, wo zwischen den Zeilen noch das Meinige steht, das jeden Satzspiegel sprengt und mich zwingt, in den leeren Raum zu stieren. Da ist es begreiflich, daß wir uns nie die schöne Sitte von literarisch gleichgesinnten Eheleuten haben angewöhnen können, auf der Pilariere liegend aus einem Buche zu lesen. Bei uns hat jeder sein eigene Buch. (S. 565)


Steuern

Jedes Land hat seine eigene Steuermoral, aus der eigentümliche Steuergesetze hervorgehen, die zur offenen und geheimen Steuerhinterziehung führen. Gleich wie in den Ministerien mit den Gesetzesvorlagen gewildert wird, stellt der Untertan dem Fiskus seine Fallen. Diesen Kleinkrieg kennt jedes einigermaßen zivilisierte Land. (S. 533)


Allein der Glaube

Die Zeugenschaft eines Ungläubigen gilt ja viel, wenn es um Glaubenswunder geht. Daß Mamu gesund wurde, daran ist nicht zu rütteln. Hatten sich die Ärzte in der Diagnose geirrt? Hatte Mamus Umgebung sich blenden lassen? Mamu sagte, sie habe geglaubt, und da habe der Heilung durch den Geist nichts mehr im Wege gestanden; erklären könne man das nicht. Ja, ein Gedicht kann man auch nicht erklären, man glaubt daran, falls es nicht allzu schlecht ist. (S. 442)


Finanzspritze

Glauben ganz ohne Geld ist schwierig; der Vatikan wäre auch längst in Trümmer gesunken, wenn in den Fels, auf dem Petri Kirche steht, nicht das lautere Gold eingesprengt wäre, das auch durch das Scheidewasser des Scheinglaubens nicht angetastet wird. (S. 437)


Der Doktor und der Tod

Don Jose hatte mehr Patienten, als seinen Liebhabereien zuträglich war, und soweit ihn sein Maultier tragen konnte: im Talkessel, jenseits der Berge, in Soller, in Deya, sogar in Palma. Überall hatte sein Name denselben guten Klang. Dennoch, er sah nicht gerne Blut und Tote mochte er gar nicht, da hörte der Spaß bei ihm auf. Sterben, meinte er, müsse der Mensch allein, das sei seine ganz persönliche Angelegenheit, man solle kein Aufhebens davon machen, Tiere täten es auch nicht. Er war ein großer Menschenfreund, und mußte es auch wohl sein, um so sprechen und handeln zu können. Rief man ihn an das Lager eines Kranken, dessen Stunden gezählt waren, und nur der allmächtige Gott noch helfen konnte, und der Todeskampf setzte ein, dann fiel unser Doktor in Ohnmacht. Die Bauern oder Fischersleute hatten dann ihre liebe Not mit dem schweren Mann und vergaßen darüber des eigenen Kranken; man weiß ja, wie das dumpfe Volk am Doktor, am Pastor, am Schulzen hängt, zumal in Ländern, wo nur solche lesen und schreiben können, ob auch nicht immer. Sie atmeten auf, wenn Don Jose unter Anwendung ihrer uralten Haus- und Zaubermittel wieder zu sich kam, und, gestärkt mit einem Schluck aus dem Porron, auf die Mula gehoben werden konnte: das sei noch mal gut abgelaufen! Denk einer an, wenn der Doktor einem so unter der Nase weggestorben wäre! Das hatte inzwischen der Patient an des Arztes Stelle in aller Selbstlosigkeit besorgt und zugleich den Willen des Allwerhöchsten erfüllt, der sich von keinem noch so tüchtigen Medizinmann ins Handwerk fuschen läßt. (S. 517)


Wirkungen von Literatur

Will es jemand in der Literatur zu etwas bringen, sagt Don Quijote, so kostet es ihn Zeit, durchwachte Nächte, Hunger und Nacktheit; kostet ihn Schwindel im Kopf und Verrenkungen des Magens und andere Dinge mehr, die mit den genannten Symptomen zusammenhängen. Als Sancho Panza möge es mir erlaubt sein, die Erkenntnis des Ritters dahin zu ergänzen, daß auch das, was auf solche Weise zustande gekommen ist, gleiche Auswirkungen auf den Leser haben kann. (Albert Vigoleis Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts, S. 435)


Vor dem letzten Gang

Um die Verlöschende bemüht war außer einer alten, langgedienten deutschen Kinderfrau, einer mallorquinischen Magd und Auma, Mamus finnischer Sonne und beautiful little darling, auch eine Tochter, ein imposantes Frauenmöbel mit einem Busen, wie er sich gerne hinter Zirkuskassen breit macht. Sie war telegraphisch aus Paris herbeigerufen worden und schaltete nun mit der Sicherheit eines Menschen, der gerne befiehlt und dem alles nach seiner Flöte tanzen muß. Eine andere Tochter, die in Budapest verheiratet war, wurde täglich erwartet, desgleichen der einzige Sohn, der in den Vereinigten Staaten lebte. Mamu wollte Kinder, Kindeskinder, Freunde und reizende Leute um sich versammelt haben und von der Welt scheiden auf jene klassische Art, die in Romanen viel geschildert wird; biblisch, mit Handauflegen und letztem Segen. Nachher mögen sich die Hinterbliebenen wegen der Erbschaft in die Haare fliegen. Das ist häßlich; darum soll, wer es eben kann, sich bemühen, schön zu sterben. (S. 439)


Reifungen

Eine Seite sagt nichts über ein Buch. Zwölf Seiten sagen wenig über ein Buch (...) Bücher reifen nicht wie Wein oder Frauen. Was in ihren Seiten beschlossen liegt, kann eine Wandlung nur noch in uns erfahren. In sich sind sie tot. Ich hielt eine Leiche im Arm. (S. 435)


Süßes Nichtstun

Eine Tertulia ist ein Kreis von Menschen, der sich zwanglos schließt und wieder öffnet, eine Loge der leeren Geschwätzigkeit, ein Kränzchen, in dem einem gemeinsamen Laster des Spaniers ausgiebig gefrönt wird: der verbalen Nichtsuerei. In dieser höheren Zwecklosigkeit, diesem Totschlagen der an sich schon toten Stunden besteht sein besonderer Reiz, dem sich nicht entziehen kann, wer dem Nichts auch nur den kleinsten Geschmack abgewinnt. Mir, der mir das Nichts Selbstzweck ist, Stubenhocker und menschenscheu, mir griff die Tertulia so ans Herz, daß ich ihr verfiel. (S. 375)


Verzehrende Leidenschaft

Beatricens Umsatz an Lektüre war so groß, daß auch ein reicher Mann nicht leicht imstande wäre, die Lesekrippe immer nachzufüllen. Sie hat einen literarischen Bandwurm, um den ich sie zuweilen beneide. (S. 374)


Der Führer

Das Wort Führer hatte damals schon einen üblen Beigeschmack, aber nur ganz leicht, wie bei einem Kotelett um den Knochen herum, wo es immer zuerst zu riechen anfängt. Führer, das rief etwas Lächerliches auf, man sah die Wichsbürste des Schnauzes und die Haarlocke eines Homosexuellen, den Blick eines Irrsinnigen, und das alles in Uniform, um die Komik zu erhöhen und ins Tragisch-Deutsche zu heben. Den internationalen Witzblättern bot das einen billigen Stoff, wo sich eigentlich die Kriminalpsychologen und der Irrenanstalt meiner Vaterstadt berühmter Dr. Orthmann mit dem Manne hätten beschäftigen müssen, in dessen Namen schon Tausende von Morden begangen worden waren. Aber in sogenannten beroischen Zeiten muß das Blut ja erst in Strömen fließen, ehe man merkt, daß man es mit Blut zu tun hat. Deutschland mußte erst selbst zu einem Irrenhaus werden, um das Wort wahr zu machen: der Kerl endet noch in der Gummizelle. (S. 344)


Eigenheiten

Wenn ein Deutscher sich an einer historischen Stätte niederläßt, schöpft er tief Atem, krempelt die Hemdärmel hoch, falls er nicht schon hemdärmelig die Stätte betreten hat, zückt seine Bleifeder und schreibt eine Ansichtskarte. (Albert Vigoleis Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts, S. 363)


Votum für die Normalen

Bestünde die Welt aus lauter berühmten Leuten, dann wäre sie längst wie Spülicht in einem Schüttstein abgegurgelt und es gäbe sie nur noch in den Dränagen des Jüngsten Gerichts. Zu ewig unerforschlichen Zwecken geschaffen, hat der liebe Gott dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen und die Übermenschen nicht so ins Kraut schießen, daß sie das Menschengewürm unter dem Stechschritt zermalmen, mit dem sie ins Jenseits einmarschieren. Die Geschichte lehrt, daß die Menschheit stärker ist als ihre bejahenden und verneinenden Genies, Heiligen und Helden. (S.325)


Versuchungen

Wenn so ein nacktes Weib einem Säulensteher, der nach der letzten Heuschrecke eben eingenickt war, im Traum erschien, dann brauchen wir keinen religionshistorischen Zweifel daran aufkommen zu lassen, daß 99% der Heiligen im verdrängten Wollustrausch von der Säule gepurzelt sind. (S. 292)


Entthront

Es macht das Wesen der Aristokraten aus, daß der Pöbel ihn nicht anficht, hat dieser ihn auch längst aus dem Sattel gehoben. (S. 237)


Keine Dispens erhältlich

Der Kirchgang war ein doppelter Zwang, Elternhaus und Schule bestanden darauf, und von der Schule aus wurde sogar Buch geführt über den Kirchenbesuch. Dieses zwischengeschaltete Aufpassertum konnte ich Knirps natürlich nicht in Einklang bringen mit der Allwissenheit des lieben Gottes, und viel Kopfzerbrechen bereitete mir auch die Tatsache, daß ein Mitschüler von der Beteiligung an sämtlichen Gottendiensten befreit war, auf Grund eines regelrechten ärztlichen Attestes. Dieser Wilhelm war kerngesund, aber sein Vater war er höchste Steuerzahler der Gemeinde, ein Millionär, der sich ein solches Konkordat mit der Kirche leisten konnte. Obschon wir denselben alten, streng katholischen Hausarzt hatten, wäre es vermessen gewesen, auch nur in meinen Träumen eine gleiche Dispens anzustreben. Mein Vater stand nicht in einer Gehaltsklasse, welche die nötige Basis zu Verhandlungen mit den Vertretern Gotts geschaffen hätte. Als er sich emporgearbeitet hatte und Gott auch hätte bestechen können, hatte ich mich selber schon von der Lüge befreit. (S. 225)


Vorkehrungen

Wenn der Mensch im Glauben an die Hoffnung lebt, täte er gut daran, eine Auslese vorzunehmen und gewisse fragwürdige Sicherheiten von vornherein auszuschalten. (S. 234)


Wenn das jeder täte...

Ich mißbillige den Selbstmord, den uns die Schöpfung schließlich in einprägsamen Beispielen vorgelebt hat, nicht. Seine Vorstellung ist mir sogar erhabener als der Tod, der einen Menschen fertigmacht durch einen Blumentopf, der aus der fünften Etage auf seinen Schädel fällt mit demselben Vorwissen Gottes, der auch den fallenden Spatz in den Allplan einbezieht. Jeder Mensch hat das Recht, mit seinem Leben anzufangen, was ihm beliebt; macht er Schluß damit, so ist das seine Sache. Eine andere ist es indessen, ob das seinen Mitmenschen behagt. Die meisten erblicken darin einen Eingriff in die Natur, und wenn das jeder täte - da liegt der Haken. Aus Egoismus will der Mensch, daß auch der andere am Leben bleibe, oder von des Nächsten Hand falle, wenn er zuviel wird. (S. 84)


Melancholie

Als Kind habe ich sehr unter dem Zustande gelitten, den einmal jemand die Sonntagsmelancholie genannt hat. Später dehnte er sich auf die übrigen Wochentage aus. (S. 225)


Selbstmordgedanken

Wir waren verschämte Arme. Vielleicht würden wir uns aufhängen, sofern ein letztes, dringendes Telegramm an die Filmleute ohne Erfolg bliebe. Vielleicht? Schnell bei der Hand mit kurzen Prozessen, hatte ich diese Lösung vorgeschlagen. Beatrice fand Selbstmord aber lächerlich und feige, und Aufhängen zudem noch unästhetisch, das überlasse sie gern dem Fuhrmann Henschel aus Hauptmanns Drama und ähnlichen Proletariern der Literatur. Wenn sie je Hand an sich legen würde, dann nur im Stile der Sappho, die sich, die Leier schlagend, vom Leukadischen Felsen ins Meer gestürzt. (S. 161)


Sprachen lernen

Ich las viel spanisch, das Alte Testament vor allem, weil ich das Buch sehr liebe und man sich am besten in einem fremde Sprache einliest mit Hilfe eines bekannten Textes. (S. 158)


Malerei

Schwiegervater hatte die Helgen im Laufe eines langen Lebens als Sonn- und Werktagsmaler zusammengepinselt: Stilleben mit Säulen, darangeklebte Eidechsen, und im Schatten lagernd eine Ziege; Fruchtstücke; Sonnenuntergänge, die aber auch als -aufgänge ihre Wirkung nicht verfehlten; Sackgassen, wo alles sich in ein gnädiges Dunkel verlor; Bildnisse von Frauen, die so, wie sie da aus dem Rahmen auf den Betrachter blickten, von keinem Manne mehr begehrt werden konnten; Porträts von Männern, denen man im Finstern besser aus dem Wege ginge; Bildnisse von Kindern, von denen Beatrice sagte, sie würde sie in einem Eimer ersäufen, wenn es die ihren wären. Ich ergänzte ihre verbrecherische Ästhetik dahin, daß es auch Menschen geben würde, die selnbst die Bildnisse ins Jenseits befördern sich nicht genierten, wenn sie vis-a-vis mit ihnen leben müßten - wozu wir uns ja anschickten. (S. 137)


Ein einziges Mißverständnis

Alle Reibungen unter den Menschen sollen durch Mißverständnisse entstehen, eine Theorie, an die ich felsenfest glaube, da ich die Welt selbst für ein Mißverständnis halte. (S. 125)


Dienstleistende

Er war ein Grandseigneur seines Berufs ohne die Firlefanzerei, die Oberkellner meist so unausstehlich macht. Auf mich wirken sie wie Geheimagenten, die einen im Auge behalten. Es läßt sich natürlich einwenden, daß das Hochstaplerische, das jeder Kellner von Berufs wegen an sich hat, bei Antonio gemildert wurde durch seine Landesart, die er nicht verleugnete. Die Überlegenheit der südlichen Rassen über die nordischen, die sich gerne als Edelinge aufspielen, kommt besonders stark in den dienenden Klassen zum Ausdruck. (S. 96)


Glück & Gott

Glücklichsein ist eine Kunst. Die wenigsten Menschen beherrschen sie. Wirklich glückliche Menschen sind so selten wie Christen, die an Gott glauben. Man tut so als ob, und bringt es mit dieser Schutzfärbung weit. (S. 95)


Ankunft auf Mallorca

Das viele Gepäck, auf jeden von uns kamen etwa sechs nach Größe und Art verschiedene Kolli, schubste ich mühsam vorwärts, denn einen Träger hatte ich nicht erwischen können, obwohl ich mehrmals das Wörtchen "mozo" über das Geländer gerufen hatte. Vermutlich sah ich den Gäuchen nicht zahlungsfähig genug aus, die sich jetzt mit geübten Beinen über die Bordwand schwangen. Vielleicht hätte Beatrice mehr Erfolg gehabt. Sie trug wieder ihr hochmütig-abweisendes Gesicht als Einspruch gegen die proletarische Welt, die hier alle guten Umgangsformen außer acht ließ, um so rasch wie möglich an Land zu kommen. Wo gestoßen wird, soll man zurückstoßen: wir können es beide nicht, richtiger wollen es nicht, sie aus überwiegend ästhetischen, ich aus überwiegend fatalistischen Bestimmungsgründen. Auf diese Weise verpaßt man Züge und andere Anschlüsse des Lebens, und bei einer gewissen Ausschiffung geht man als Letzter über die Planke - was einer gewissen Vornehmheit freilich nicht entbehrt. (S. 20)


Ungewissheiten

Wir wissen ja heute auch noch nicht, wozu der Floh, das Zittergras oder der Mensch in der Schöpfung steht. Von der Stunde ab, wo wir es wüßten, verlöre alles seinen dichterischen oder religiösen Sinn. (S. 37)


Iberische Ohrfeigen

Wie in einer kleinstädtischen Randarena wurde mir da eine Szene aus dem spanischen Familienleben vorgeführt, ich brauchte nur meinen Stehplatz zu beziehen. Eines erkannte ich auf dem ersten Blick: das war alles ganz anders, als es in meinem elterlichen Hause gewesen war, dies Wohl und Wehe am offenen Herd, lauter, freier, aufgeschlossener in jeder Beziehung. So einen Vater hätte ich haben müssen, der mit zugeschnittener Eleganz uhd erstaunlicher Zielsicherheit im Kreise der Lieben herumohrfeigte, ohne auch nur bei einem einzigen Schlage so lächerlich zu wirken, wie es unsere Prügler im Norden immer sind. (S. 15f.)


Frauen

Den Frauen in der Mehrzahl war er gewachsen, an einer einzigen ging er immer vor die Hunde. (S. 41)


Nach außen

Menschenscheu wie wenige und ein Stubenhocker mit einem selbst unter Brüdern beneidenswerten Sitzfleisch - das mich zum Langstreckenübersetzer vorbestimmte, der ich heute bin-, habe ich aus der Not eine Tugend zu machen verstanden: wenn ich mich unter Menschen begeben muß, kommt meist etwas Ersprießliches für mich dabei heraus. Nimmer natürlich so viel, daß es meine eingeborene Abneigung gegen die Berührung mit der Außenwelt vergölte, aber gerade genug, mich wie in einem Netz vom Sturz aus der Einsamkeit aufzufangen. (S. 15)


Schreibtische

Thomas Mann, dem ich im Sommer 1938 in Locarno zum ersten Male begegnete, klagte Stein und Bein über die leidige Frage der Schreibtische in Hotelzimmern. Nie fände er einen, der seinen Ansprüchen in allem entspräche, und je teurer die Unterkunft, je zweifelhafter sei es um das Möbel bestellt. (S. 66)


Frauenkenntnisse

Pilar begann unsere philologischen Morgenandachten zu hassen. Ihrer immer giftiger werdenden Süchteleien wegen hatten wir die Lesestunde auf den Vormittag verlegt. Ich hatte nie ergründen können, was sie an dem für uns beide mehr als langweiligen Geschäft so verdrießen konnte. Zwingli rückte mit einer Erklärung heraus, die mir indessen wenig stichhaltig zu sein schien. Aber seine Frauenkenntnis ging nie über die Haut hinaus, die er dafür um so gründlicher erforschte, und auch in der Benennung aller Reizzonen erwies er sich als glücklich und mit Phantasie begabt. Er zeichnete sie übrigens in seinen anatomischen Atlanten ein, den er später nicht wie van de Velde verwerten wollte, sondern rein künstlerisch in seiner zukünftigen Akademie für Aktmodelle, eine Idee, auf die nicht einmal Leonardo da Vinci gekommen ist, dem doch nichts entgangen war zwischen Haut und Knochen der menschlichen Liebesmaschine. (S. 74)


Das richtige Licht

"Vigo, was liest du da? Davon steht in deiner Übersetzung auch nicht eine Zeile. Du bist mit deinen Gedanken wieder nicht am angeführten Orte, wenn ich so sagen darf!" "Entschuldige, Beatrice, ich war abgerutscht, zehn Zeilen zu weit nach unten, das kommt durch die Eintönigkeit meiner eigenen Stimme, und wohl auch durch das Zwielicht. Literatur sollte immer nur bei künstlichem Lichte gelesen werden, demselben, das über ihrer Entstehung leuchtet." (S. 75)


Vortragskunst

Der Eindruck ihres Vortrages war überwältigend. Das besagt nun wieder nichts über den Hauswert des Stückes. Ein guter Vortragskünstler kann die kitschigsten Verse zu Perlen der Lyrik umsprechen und ewige Dichtung auf den Schindanger rezititeren. (S. 273)


Schulden

"Schulden?" Nein, meinte der Eintreiber, das sei ein zu großes Wort für die kleinen Ausstände, die es noch zu begleichen gelte, freilich, allmählich sei es wohl an der Zeit, daß dies aus der Welt geschafft würde, sonst, hm - Hm, dieses "Sonst" kennt man! Als "Wird's bald!" hatte es meine Kindheit überschattet, an eine Faust gebunden, die hier noch als flache Hand im Dienste des friedfertigen Vergleiches stand. In allen zivilisierten Ländern ist dieser Rückstand aus Höhle und Keulenzeit derselbe. Sobald wir ihn deutlicher umschreiben, lautet er: Zwangsvollstreckung, Gerichtsvollzieher, Offenbarungseid oder Schuldturm. Ich verstand fast nichts von dem, was der Mann an glatten Erklärungen abgab, aber dafür sprachen die Zettel ihre eigene, unmißverständliche Ziffernsprache. Tatsächlich, es war eine Kleinigkeit, ich meine mich zu erinnern, daß eine Hunderternote genügt hätte, den Eindringling in die Flucht zu schlagen. (S. 76)


Irren ist göttlich

Irren ist menschlich, sagt der heilige Hieronymus in einem seiner Briefe, welchen Ausspruch ich noch um einen Grad erhöhen möchte; es kann auch göttlich sein, betrachte ich unvoreingenommen, was der Schöpfer aus mir hat werden lassen.


Dichter und ihr Bild

Das Manuskript meiner Karnevalsübersetzung war druckreif abgeschlossen. Ich schickte es an den Verleger mit einem Lesezeichen: Nimm und lies. Dem Autor berichtete ich über den Stand seiner weltfremden Aktien. Zu einer Vertraulichkeit im Ton war es zwischen uns noch nicht gekommen. Dr. Menno ter Braak war ein sehr gelehrter und sehr schüchterner Mann, der verlegen wurde auf meiner Bude in Amsterdam, als ich ihm Beatrice vorstellte als das, was sie war. Ich glaube immer mehr, daß man nur aus der Antithese heraus leben kann, aus bösem Herzen gut ist und aus dem besten heraus haßt. Der Verfasser der scharfen Satire auf die bürgerliche Verkrampfung, wie wenig war er selbst ein Fastnachtsgänger! Es kommt mehr vor, daß freie Geister im alltäglichen Leben das Opfer der Hemmungen sind, die sie bekämpfen. Nietzsche, ter Braaks Idol und Lehrmeister, war ein stiller bürgerlicher Leisetreter, wenn er das Kettenhemd des Übermenschen ausgezogen hatte. Graf Harry Keßler, der ihm nahegestanden, hat ihn mit diesen Worten geschildert, so das Bild ergänzend, das man aus Nietzsches Briefen selbst gewinnen kann. (S. 84)


Architektonische Verfallskultur

Nun haben die Spanier im Laufe der Jahrhunderte eine wahre, faszinierende Meisterschaft entwickelt in ihrer architektonischen Verfallskultur, worin sie höchstens noch übertroffen werden von den iberischen Brüdern in Portugal. Zum Restaurieren taugen sie nicht, dafür sind sie zu impulsiv, zu wenig kleinmütig und immer noch zu reich in ihrer Armut. Denkmalpflege erfordert das Bewußtsein, nichts besseres an die Stelle des Untergehenden schaffen zu können. Sie Spanier sind sich ihrer Armut nicht bewußt, das ist ihre Größe. (S. 136)


Die Liebe

Liebe ist unberechenbar. Sie kann wie der Blitz aus heiterem Himmel herniederzucken, und dann hüllt sie alles in Licht. Ich meine natürlich die geistige Liebe, die seelische, die unsagbare, die allesdurchdringende, die das Tote beseelende; die im andern lebt wie in sich selbst, und von der Augustin, eine Autorität auf dem Gebiete der Liebe Himmels wie der Erden, meint, sie sei die "vita quaedam, duo aliqua copulans vel copulare appetens..." Über sie schweigen fast alle Begriffslexika, da sie doch nichts Gescheites zusammentragen könnten - wogegen sich die Dichter um so mehr mit diesem Wunderding beschäftigen. Die andere aber, die Liebe im Fleisch, ist einer Durchdringung weniger verschlossen. Sie bietet fast keine Geheimnisse, da jeder Mensch mit ihr Versuche anstellen kann und die meisten Menschen von dieser Möglichkeit auch ausgiebig Gebrauch machen. Kommt sie weniger zur Sprache als ihre mystische Stiefschwester, dann hängt das meiner Meinung nach zusammen mit dem schlechten Gewissen der Menschheit. Wir schämen uns einer Tat, ohne die wir uns nicht einmal schämen könnten. Er ist nicht ästhetisch, dieser Vorgang, den die einen Vergnügen, die anderen Sünde, und die Heimlifeisten überhaupt nicht nennen. Man muß also vorsichtig sein, wenn man Dinge behandelt, die sich um diese ausgeleierte Achse drehen. (S. 99)


Ressourcen zur "Insel"


© Albert Vigoleis Thelen: Die Insel des zweiten Gesichts. Aus den angewandten Erinnerungen des Vigoleis. München: dtv, 1999. 915 S. ISBN: 3-423-12649-3


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