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Index & Inhalte
Allgemeine Fundstücke
Bibliomane Fundstücke
Allgemeine Fundstücke (FAB)
Absterbende Gemütlichkeit
Ballmanns Leiden [1]
Ballmanns Leiden [2]
Ballmanns Leiden [3]
Ball bei Thod [1]
Ball bei Thod [2]
Ball bei Thod [3]
Ball bei Thod [4]
Ball bei Thod [5]
Ball bei Thod [6]
Eichkatzelried [1]
Eichkatzelried [2]
Eichkatzelried [3]
Eichkatzelried [4]
Eichkatzelried [5]
Das Messingherz [1]
Das Messingherz [2]
Das Messingherz [3]
Das Messingherz [4]
Das Messingherz [5]
Das Messingherz [6]
Vier Jahreszeiten im Yrwental [1]
Vier Jahreszeiten im Yrwental [2]
Vier Jahreszeiten im Yrwental [3]
Vier Jahreszeiten im Yrwental [4]
Die Schönschreibübungen... [1]
Die Schönschreibübungen... [2]
Die Schönschreibübungen... [3]
Die Schönschreibübungen... [4]
Die Kellnerin Anni [1]
Die Kellnerin Anni [2]
Die Kellnerin Anni [3]
Die Kellnerin Anni [4]
Die Erfindung des SommerWinters [1]
Die Erfindung des SommerWinters [2]
Die Erfindung des SommerWinters [3]
Die Erfindung des SommerWinters [4]
Die Erfindung des SommerWinters [5]
Die Erfindung des SommerWinters [6]
Der China-Schmitt
Der Meister [1]
Die Donnerstage des Oberstaatsanwalts [1]
Die Donnerstage des Oberstaatsanwalts [2]
Bibliomane Fundstücke
Großes Solo für Anton
Absterbende Gemütlichkeit
Volksschriftsteller
Wortklauber
Lexika
Das leichte Schreiben
Der Spiegel
Neue Zürcher Zeitung
Leihbücherei
Vor- und Nachwörter
Kulturzentralismus
Keine affirmative Kunst
Juristen unter den Autoren
Dichterlesung
Lektüre von Werkverzeichnissen
Agatha Christie
Buchinvalide
"Es ist schon merkwürdig", sinnierte der Alex, "schau
her, Horsti, da ist meine Frau, nicht wahr, die
Gundula. Gut. Im Grund genommen ist es ihr eher lästig,
wenn ich sie ... et cetera. Also die ehelichen
Pflichten, du verstehst. Das heißt: für mich keine
Pflichten, ehrlich nicht, auch wenn wir schon zwölf
Jahre verheiratet sind, immer noch ein Vergnügen,
ehrlich, weil sie ist ja, wie soll ich sagen, also der
Busen noch erstklassig et cetera. Sowie der Hintern.
Also ich, will sagen: was mich anbetrifft, ich fahr' da
noch voll auf sie ab. Voll. Ehrlich. Aber für sie sind
es nur noch eheliche Pflichten. Je seltener, desto
lieber ist es ihr. Und Migräne, du verstehst, und dann
tut es ihr da unten weh, wenn ich zu weit, und im
entscheidenden Moment, wenn di weißt, was ich meine,
klemmt's die Füß' z'samm und druckt mich hinaus - also
man möchte meinen, daß sie ... du verstehst, daß sie
froh ist, wenn ich nicht - das heißt, sie ist froh, um
jedes Mal, wo nicht - aber - ahaber - wenn ich mit
einer anderen ... dann gibt es das große Geschrei.
Verstehst du das? Ich nicht. Ich will mich ja gar nicht
scheiden lassen. Überhaupt nicht. Erstens die Kinder,
und dann das Finanzielle, und außerdem, wie gesagt, ich
fahr' noch voll auf sie ab - als ob ihr was weggenommen
würde, wenn ich mit einer anderen - das, was sie eh
nicht machen will. Verstehtst du die Weiber? Ich
nicht." (Herbert Rosendorfer: Absterbende Gemütlichkeit.
Zwölf Geschichten aus der Mitte der Welt, S. 230)
Vor Jahren schon hatte Dr. Ballmann verschiedene
Anläufe genommen, für sich und seine Frau getrennte
Schlafzimmer einzurichten. Immer, wenn Ballmann so
einen Vorschlag machte, war seine Frau gekränkt, in
einer frommen Art gekränkt, niedergeschlagen, hatte die
Handarbeit in den Schoß sinken lassen und Ballmann mit
feuchten Augen angeschaut, daß Ballmann nicht weiter
hart sein konnte, obwohl nicht einzusehen war, warum
Ballmann und seine Frau in einem Zimmer schlafen
sollten. Irgendwelchen körperlichen Vorstöße hatte
Ballmann schon seit Jahren nicht mehr unternommen, was
Babette offenbar in der Ordnung fand. Sicher: Ballmann
wußte, daß er auch nicht so aussah wie einer, dem die
Frauen magisch angezogen an den Hals fliegen. Auch er,
Ballmann, hatte in den Jahren des dämonischen
Justizdienstes Gewicht angesetzt und Haare verloren, in
letzter Zeit plagte ihn außerdem ein Stechen links
hinten über dem Gesäß (Ischias?), aber so dick geworden
wie Babette war er nicht. Außerdem trug Babette nicht
nur Flanellnachthemden, sondern immer auch noch eine
Unterhose drunter, wenn sie ins Bett ging. Ballmann
hatte einmal zu analysieren versucht, warum ihn gerade
das, diese Unterhose unter dem Nachthemd, so stört. Er
war mit der Analyse nicht weit gekommen. Einmal hatte
er es Babette sogar gesagt. Babette hatte freundlich
geantwortet: Wenn es ihn störe, ziehe sie keine mehr an
in der Nacht. Nein, hatte Ballmann gesagt, ich möchte
eigentlich nur wissen, warum du sie anziehst? Babette
hatte ihn groß angeschaut und geantwortet: ich weiß
nicht, ich fühle mich wohler so. Soll ich mich nicht
wohl fühlen? Doch hatte Ballmann geantwortet, doch. An
diesem Abend - im übrigen ohne weitere Konsequenzen -
hatte Babette zwar automatisch nach einer Unterhose
gegriffen, hatte sie aber dann nicht angezogen, sondern
war ohne Unterhose, aber natürlich mit
Flanellnachthemd, ins Bett gegangen. Am nächsten Tag
erzählte sie freundlich, daß sie sehr schlecht
geschlafen habe, warum, wisse sie auch nicht. (Herbert
Rosendorfer: Ballmanns Leiden, S. 8f.)
Thomas Ballmann war achtzehn Jahr alt, ein Angehöriger
der Schweißfußgeneration: Er weigerte sich, eine andere
Fußbekleidung als Turnschuhe anzuziehen. Daß man
Thomas' Zimmer ohne Gefahr, in Ohnmacht zu fallen,
betreten konnte, verdankte die Familie dem Umstand, daß
Thomas es ablehnte, mehr als jeweils ein Paar
Turnschuhe zu benutzen, das heißt: Er hatte das eine in
Benutzung befindliche Paar praktische immer an,
wahrscheinlich auch nachts. Der Geruch schwelte also in
den Turnschuhen und drang nicht nach außen. Wenn das
Paar alte Turnschuhe restlos zerfallen war, wurde ein
neues Paar angeschafft. Dieser Moment des Wechsels war
natürlich der kritische Punkt. Hier hätte der Geruch
freigesetzt werden und katastrophale Wirkungen zeitigen
können. Aber bisher waren alle Paare außerhalb des
Hauses - kein Zufall: Thomas hielt sich selten daheim
auf, nur zum Essen, Schlafen und gelegentlich zum
Fernsehen - zerfallen, die Bombe also woanders
explodiert. (Herbert Rosendorfer: Ballmanns Leiden, S.
25)
Die Menschenkenntnis des Juristen ist zwangsläufig
negativ, denn er sieht ja nur Leute, die in
verzweifelten und ausweglosen Situationen sind, denen
man etwas wegnehmen oder etwas, was ihrer Meinung nach
ihnen gehört, nicht geben will, die man einsperrt oder
denen man sonst etwas antut. Da entlarven die Seelen
schamlos ihr Abgründe. Was ein Hautarzt dagegen an
Unappetitlichkeiten sieht, ist nicht der Rede wert. Im
Laufe seines Lebens kommt der Jurist, namentlich, wenn
er Richter oder Anwalt ist, zu der Auffassung: Die
Leute sind alle und immer so, sie zeigen es sonst nur
nicht. (Herbert Rosendorfer: Ballmanns Leiden, S. 30.f)
Ein Angeklagter hat wohl meist das Gefühl, daß der
Richter "gegen ihn" ist, obwohl der Richter
unparteiisch sein soll. Tatsächlich sind unsere
Richter, meine Kollegen, weit unparteiischer als die
Masse der Menschen, aus denen sich ja die
bedauersnwerte Sonderklasse der Angeklagten rekrutiert,
und vor allem als die Kreise gewisser Journalisten es
wahrhaben wollen. Aber dennoch verkörpert der Richter
mehr oder weniger die Obrigkeit, die Staatsgewalt und
so fort, und derlei anonyme und sogar mysteriöse
Instanzen empfindet wohl jeder als "gegen sich"
gerichtet oder eingenommen. Gipfel dieser
voreingenommenen Instanzen ist selbstverständlich
das Finanzamt; aber das ist eine Abschweifung.
(Herbert Rosendorfer: Ball bei Thod, S. 202)
"Wissen S', Herr Rat", sagte Tibo bei einem unserer
Gespräche, "wo ich hinlang, bei mir bleibt der Dreck an
die Finger picken. Lernt ein anderer ein Mädchen
kennen, gut, kriegt sie ein Kind. Bei mir - Zwillinge.
Die Zwillinge, zwei Mädchen, waren damals fünf oder
sechs Jahre alt. Tibo hätte die Mutter schon
geheiratet, wenn die Beschaffung von Papieren nicht auf
unüberwindliche Schwierigkeiten gestoßen wäre. Die
junge Mutter war eine eher dralle Dame, die ihre sehr
stark ausgeprägten Oberschenkel nicht daran hinderten,
dem ehemaligen Modediktat "Hot pants" zu folgen. Das
waren ganz, ganz kurze, gesäßintensive Hosen für Damen.
"Zie nicht imer Deine Hotpent an wenn du auf Besuchstag
kommst", schrieb Tibo einmal, "daß regd mich so auf."
Es gibt unter den gar nicht so wenigen ungeklärten
Entführungen den Fall des Bankiers Baron von Speckh.
Der Fall ist unter anderem deswegen ungeklärt, weil der
entführte und gegen ein Lösegeld ein unbekannter Höhe
wieder freigelassener Bankier jede, auch nur die
geringste Mitwirkung bei der Fahndung ablehnte. Baron
von Speckh war (und ist) ein nicht stadt-, sondern
überregional bekannter Geizhals. Er ist derjenige, der
sich vierzig Kilometer weit mit dem Auto fahren läßt,
um sich bei einem Dorffriseur die Haare schneiden
zu lassen, weil der Dorffriseur um dreißig Pfennig
billiger ist als Friseure in der Stadt. Baron von
Speckh ist derjenige, der bei der Beerdigung seiner
Frau eine in der weichen Friedhofserde
steckengebliebene linke Galosche fand und nach der
Beerdigung mit seinem Chauffeur über zwei Stunden lang
den ganzen Friedhof absuchte, in der Hoffnung, die
passende rechte zu finden, obwohl die linke Galosche
viel zu groß war. Man könne sie aber, sagte er zum
Chauffeur, mit Zeitungspapier vorn ausstopfen, dann
passen sie. Bankier von Speckh verlangte von der
Polizei für seine Mitwirkung bei der Aufklärung seines
Entführungsfalles zunächst den Ersatz der Geldsumme,
die er den Entführern bezahlt hatte. Das konnte die
Polizei natürlich nicht zahlen. Daraufhin verbuchte der
Bankier das Geld als verlorene Investition, setzte es
irgendwie von der Steuer ab und verbat sich jede
weitere Belästigung in der Sache. (Herbert Rosendorfer:
Ball bei Thod, S. 208)
Sehr gerne hätte es meine Großmutter gesehen, wenn ich
Geistlicher geworden wäre, da sich schon keiner ihrer
fünf Söhne zu dieser Laufbahn entschließen hatte
können. Um mich auf den geistlichen Beruf vorzubereiten,
hatte sie mir - ich war vier oder fünf Jahre alt - eine
klerikale Ausrüstung geschenkt, so wie man anderen
Kindern eine Ritterüstung schenkt oder eine rote
Fahrdienstleitermütze mit Signalkelle und Pfeife. Ich
bekam eine kleine Montranz, einen kleinen Kelch und
sogar, eigens angefertigt, ein kleines Meßgewand. Ich
hätte, erzählte sie später, mit vier, fünf Jahren ganz
reizend in kindlicher Weise das Lesen der Messe
nachgeahmt, sie wäre sicher gewesen, daß ich dereints
Geistlicher würde. (Herbert Rosendorfer; Ball bei Thod,
S. 253)
2. Herr van B., ein ehemaliger Fabrikant mit einer
Knieverletzung aus dem Burenkrieg. Die Knieverletzung
wirkte sich so aus, daß sein rechtes Bein bei jeder
Bewegung scharf nach außen ausschlug. Er wurde deshalb
stets links neben 3. Herrn de C., gesetzt, der infolge
eines Sturzes aus einer Hollywood-Schaukel ein
krankhaft erhöhtes Schlafbedürfnis hatte. Außer in
stehender Haltung schlief Herr de C., er konnte machen,
was er wollte, stets sofort ein. Er mußte deshalb im
Stehen essen und hatte vom Papst die Dispens, die
Kommunion im Stehen zu empfangen, im Knien wäre er ja
unverzüglich eingeschlafen. Bei Sitzungen schlief er
natürlich auch. Dadurch, daß Herr van B. links neben
ihm saß, konnte er dennoch an Abstimmungen teilnehmen,
denn jedesmal, wenn Herr van B. die Hand hob, schlug
sein Bein nach rechts aus und weckte für kurze Zeit
Herrn de C., der auch die Hand hob und dann gleich
wieder einschlief. (Herbert Rosendorfer; Ball bei Thod,
S. 258)
Späth glaubte sich nicht zu täuschen, als er das
nächste Mal, das er in den Laden kam, Irmgard und die
andere Verkäuferin hinter seinem Rücken kichern hörte.
Ein Mann von einundfünzig Jahren, auch wenn er nur
Buchhalter, klein, glatzköpfig und kurzsichtig ist,
kann verliebt sein wie ein Zwanzigjähriger. Aber wehe,
wenn er es zeigt. Die Zwanzigjährigen balzen auf der
Straße herum, und alles lächelt. "San halt so, die
jungen Leut." Bei einem Einundfünzigjährigen heißt es
nur: "Der verliebte alte Trottel." Jahrhunderte der
Commedia dell'arte haben davon gelebt, sich über einen
alten Mann lustig zu machen, dessen einziges Verbrechen
darin bestand, auch verliebt zu sein. Warum? Es
scheint, als sei Jungsein ein Verdienst. "Die
Menschheit ist ein primitives Volk", dachte sich
Raimund Späth. Es war einer seiner Lieblingssprüche:
"'Die Menschheit ist ein primitives Volk'. Vielleicht
werde ich mir das auf den Grabstein meißeln lassen".
(Herbert Rosendorfer; Ball bei Thod, S. 369)
Ebenfalls nach dem Essen erschien der letzte Gast des
Abends: Herr Tscherer. Er war nicht geladen - kam aber -
ohne eigentlich ein Freund des Hauses zu sein - ungebeten
zwei- bis dreimal in der Woche, ohne daß er je seinerseits
meine Großeltern eingeladen hätte. Er war - wie wir auch -
aus Südtirol nach Eichkatzelried gekommen. Er war Friseur,
ein Mann mit einem großen, fleischigen Gesicht, war kahl
und hatte stets düstere Prognosen für die Weltlage. Er
vermochte - während er Malzkaffee trank, auf dem, so
liebte er es, viel Milchhaut schwamm - seine politischen
Kassandra-Ansichten so überzeugend dazustellen, daß
meine Großmutter nach jedem Besuch des Herrn Tscherer
bis zu Tränen deprimiert war. Mein Großvater jedoch
erklärte meiner Großmutter regelmäßig, daß Tscherer ein
Schwachkopf sei wie alle Friseure, weil die ständige
Beschäftigung mit Haaren erfahrungsgemäß den Geist
verwirre. (Herbert Rosendorfer: Eichkatzelried, S. 11)
In der "Pension Erika" waren junge Lümmel einquartiert: ein
Teil einer Oberschule aus Essen, die en bloc, mit Lehrer und
allem beweglichen Unterrichtsmaterial, nach Eichkatzelried
evakuiert worden war. Mit diesen preußischen Knaben lagen
wir, angeführt von Donnabauer Helmut, sofort in Fehde.
Zwar patriotisch, wie es nur ein Kind, dem es so eingeimpft
worden war, sein kann, hatte ich anfangs Zweifel, ob in
Anbetracht des Krieges draußen, den wir als hoch und heilig
dargestellt erhielten, solche Zwistigkeiten hier im Inneren
nicht die Kampfkraft des ganzen Volkes lähmen könnten,
und in Anbetracht der HJ-Uniform, die sie, die Lümmel,
stets, wir auch gelegentlich, trugen... aber auch beim
Patriotismus ist einem das Hemd näher als der Rock, und
ich stritt endlich wacker als patriotischer Eichkatzelrieder
gegen die preußischen Eindringlinge. (Herbert Rosendorfer:
Eichkatzelried, S. 46)
Tip war ein sehr braves, wenngleich lautes Tier, das jeden
mit einer meilenweit aufwirbelnden Glocke von Gebell
empfing, aber niemandem etwas zuleide tat... außer
Hühnern. Auf Hühner war Tip furchtbar scharf. Wenn er ein
Huhn sah, war er nicht mehr zu halten, er jagte es mit
ungeheurem Aufwand von Gebell und erlegte jedes, das ihm
einmal vor die Augen kam. Wenn Herr Schachner mit Tip
spazierenging, mußte er immer vierzig Schilling abgezählt
mitnehmen. Das war der damalige Preis für ein Huhn.
Abgezählt mitnehmen mußte er es deswegen, weil die
wütend mit Knüppel auf Tip und dem Huhn im Maul und auf
Herrn Schachner einstürmenden Bauern selten gewillt
waren, auf größeres Geld herauszugeben. (Herbert
Rosendorfer: Eichkatzelried, S. 73)
Eine damals ungeheuerliche Extravaganz Fräulein Dolls muß
noch nachgetragen werden: sie rauchte. Sie rauchte
Zigaretten. Die später Hitler zugeschriebene Äußerung, daß
die deutsche Frau nicht rauche, war in Tirol ein längst und
uneingeschränkt gültiger Grundsatz von eherner Strenge.
Nicht einmal die Stenografielehrerin Bromberger, die sich die
Fußnägel lackierte, nicht einmal die Inhaberin des sündigen
Pedikürsalons Ehrenbreit hat geraucht. Aber Fräulein Doll,
und das in aller Offenheit und noch dazu - sofern sie
Zigaretten hatte - ununterbrochen. Sie rauchte wie ein
Mann. Vielleicht ist die Erklärung dafür, daß sie dennoch nicht
nur nicht aus der Gesellschaft ausgeschlossen, sondern
sogar allseits geachtet wurde, darin zu sehen, daß ihr auf
Grund ihres Aussehens ein schon nicht mehr weiblicher,
sondern schon nahezu männlicher, zumindest
ungeschlechtlicher Status konzediert wurde. (Herbert
Rosendorfer: Eichkatzelried, S. 121f.)
Ich erwähnte nämlich den aus Kitzbühel stammenden
Dichter Raimund Berger (der damals schon einige Jahre tot
war) und fügte die ketzerische Floskel hinzu: "- der gilt in
Kitzbühel nichts, weil er kein Skilehrer war." Der
Bürgermeister sagte darauf in tiefer Sattheit: "Ja! der
Raimund Berger. Freilich kennen wir den. Das war der Sohn
vom Notar Berger. Das war ein großer Dichter, der Berger
Raimund, und eins kann ich Ihnen sagen", wandte er sich an
mich: "wenn der nicht Kinderlähmung gehabt hätte, wäre er
auch Skilehrer geworden."In Kitzbühel gilt also die
literarische Begabung als verwerflich und ist nur
entschuldbar, wenn einen ein körperliches Gebrechen daran
hindert, Skilehrer zu werden. (Herbert Rosendorfer:
Eichkatzelried, S. 139)
Es sollte also ein Picknick geben. "Ein Picknick", hatte
Wermut Graef einmal gesagt, der ja oft über
verblüffend prägnante Lebenswahrheiten verfügte,
wenn er sich die Mühe machte, konzentriert
nachzudenken, "ein Picknick ist in Gegenden, wo die
Gasthäuser nicht weiter als zehn Kilometer
auseinander liegen, nicht zu rechtfertigen; es sei
denn, man ist Ameise." Graef vertrat die Meinung -
dies zur Erklärung des zweiten Teils der Sentenz -,
daß die Ameisen ihre Existenz ausschließlich den in
den Wäldern zurückgelassenen Picknickresten, aber
auch Picknickern selber verdankten, dies insofern, als
ja bekanntlich häufig unvorsichtige Picknicker
einschlafen und von Ameisen bis aufs Skelett
abgenagt werden. (Herbert Rosendorfer: Messingherz
oder die kurzen Beine der Wahrheit, S. 140)
Jakob Schwalbe war einer der dürrsten Menschen, die
Albin Kessel je gekannt hatte. Er war einer der
häßlichsten. Albin Kessel hatte einmal ein Lexikon
aus den Jahren um die Jahrhundertwende besessen,
einen alten "Meyer". Kessels Lieblingsbild war eine
Darstellung bei dem Artikel "Pferde: Fehler und
Gebrechen des Pferdes". Das Bild zeigte einen Gaul,
in dem der Zeichner die gängigsten
Pferdekrankheiten vereinigt hatte, 41, erinnerte sich
Kessel, waren es insgesamt: Thränenfluß,
Genickbeule, Kniegallen, Streichnarbe, Mauke,
Stelzfuß, Dampfrinne, Mastdarmvorfall, Hasenhacke,
Blutspat, Piephacke, Hornkluft und Hungerlinie, um
nur die eindrücklichsten zu nennen. Das dargestellte
Pferd - unrealistisch, weil schon bei der Hälfte aller
Gebrechen ein Gaul nicht auf den Beinen hätte stehen
können - war ein hundshäutener Haufen von so
entsetzlicher Häßlichkeit, daß man beim Anblick des
Bildes nicht wußte, ob man weinen oder lachen sollte.
Hätte der sadistische Zeichner des alten Meyer die 41
Häßlichkeiten, die für einen Mann in Frage kämen, an
einem einzigen Exemplar als Beispiele dargestellt,
hätte die Zeichnung ungefähr ein Porträt Jakob
Schwalbes ergeben. (Herbert Rosendorfer: Das
Messingherz, S. 34)
Das Festspiel-Bayreuth und die Stadt Bayreuth
stehen sich sozusagen ohne Berührungspunkte
gegenüber. Außer der gemeinsamen geographischen
Länge und Breite haben sie nichts miteinander zu
tun. Der Wagnerianer empfindet die Stadt Bayreuth,
wenn er sie überhaupt bewußt wahrnimmt, als
Fremdkörper. Dennoch muß der Wahrheit die Ehre
gegeben werden: ohne die Festspiele wäre Bayreuth
zwar nicht nichts, höchstens aber eine von drei
Dutzend deutschen Residenzen oder Reichsstädten,
die heute bedeutungslos am Rande der
Verkehrsverbindungen liegen und aus ihrer Glanzzeit
einige hochinteressante Baudenkmäler aufzuweisen
haben - mehr nicht. Die Bayreuther sind deswegen
natürlich stolz darauf, daß sie, wie es etwas
übertrieben heißt, für fünf oder sechs Wochen im Jahr
Weltstadt sind. Wagnerianer sind die wenigsten
Bayreuther, vermutlich so wie im Vatikan echte
Katholiken rar sins. Der Ruf 'Die Festspielgäste
kommen!', hat einmal ein scharfer Beobachter
festgestellt, ertönt in Bayreut etwa mit dem Unterton
wie bei den Lachsfischern der Ruf: 'Die Lachse
kommen!' (Herbert Rosendorfer: Das Messingherz, S.
180f.)
Albin Kessel habe viele schlechte Eigenschaften, aber
unter den guten eine einzigartige: er sei in der Lage,
sich von Anstrengungen auszuruhen, die er gar nicht
durchgemacht habe. Nichts lag Kessel ferner, als so
eine Behauptung zu bestreiten, und zwar nicht nur an
'aufrichtigen Dienstagen'. Bergsteigern oder anderen
Sportlern gegenüber, die die Köstlichkeit der Rast
nach ehrlich vergossenem Schweiß preisen, pflegte
Kessel zu argumentieren, daß er infolge seiner
einzigartigen Konstitution in der Lage sei, in einem
Berggasthof sein kühles Bier mit eben der Freude zu
genießen, als wäre er nicht mit der Bergbahn
hinaufgefahren, sondern hinaufgestiegen: ja, der
Anblick der mühsam heraufkeuchenden Alpinisten
vermöge es sogar, ihm den Durst noch zu verfeinern.
Oder wenn Skifahrer sagen: wie schön die arme Stube
sei, wenn man draußen in der Kälte sich gerackert
habe - da erwiderte Kessel: er könne durch bloßen
Ausblick auf den Schnee oder durch zugefrorende
Fenster ideal derart frieren, daß das vollauf genüge,
um ihn die Qualität eines geheizten Zimmers fühlen
zu lassen. (Herbert Rosendorfer: Das Messingherz, S.
194)
Krank ist, wer krank sein will. Ich spreche natürlich
nicht von Simulanten oder von Hypochondern, ich
spreche von wirklich physisch Kranken. Sie haben alle
irgendeinen Grund, krank zu sein. Auch die Heilung ist
Einbildung, selbstverständlich. So viele eingebildete
Kranke es gibt, so viele eingebildete Doktoren gibt
es, in dem Sinn: daß sie sich die Heilung einbilden.
Nicht sie haben den Patienten geheilt, der Patient
wollte nur wieder gesund werden. Sehen Sie doch: es
schwirrt doch überall vor Viren und Bakterien und wie
das Zeug alles heißt, und wie unsauber sind die
Menschen. Wie oft geben Sie einem die Hand, der
vorher auf dem Klo war und hat sich nicht gewaschen.
Und was essen Sie alles, ist doch alles vergiftet, die
Kleidung, die wir tragen, und das Klima... wir müßten
dauernd krank sein, wir schwimmen doch in einem
Meer von Krankheitserregern, von
Krankheitsmöglichkeiten, tragen doch die ganzen
Keime dazu ständig in uns, wir müßten dauernd krank
sein, wenn die Krankheiten physische Ursachen
hätten. Nein: wenn einer wirklich nicht krank sein
will, ist er nicht krank. (Herbert Rosendorfer: Das
Messingherz, S. 336f.)
Kessel gehörte zu den Leuten, die es nicht leiden
können, wenn sie schmutzige Hände haben. Nicht nur
das: es war ihm völlig unerträglich, er wurde nervös,
unfreundlich und streitsüchtig, bis er sich nicht in so
einem Fall die Hände gewaschen hatte. Dabei waren
Finger - Fingerkuppen - nicht so schlimm. Schlimmer
war es, wenn die Handflächen innen schmutzig waren.
Ich könnte, hatte Albin Kessel zu seinem Bruder
Leonhard immer gesagt, der eine Zeitlang ein
begeisterter Bergsteiger war und auch Albin dazu
animieren wollte, einmal mitzuklettern, ich könnte
keine Freunde am Bergsteigen haben. Man muß doch
da zwangsläufig ständig den Berg anfassen. Nichts
gegen Berge, aber sauber sind sie nicht. Und auf
Berggipfeln gibt es keine Wasserhähne. Es wäre mir
unerträglich, sagte Kessel, ich hätte kein Vergnügen
daran. Es könnte die schönste Aussicht sein, man
könnte über neblig verhangene Fichtenwälder
schauen, in grünkristallne Seen, man könnte mir
Ausblicke über Felsberge und Täler bieten, flammende
Sonnenauf- oder - untergänge in Farbspielen, die ein
Sterblicher, der nie auf Gipfeln war, nicht ahnt - es ist
mir verwehrt, sagte Albin. Ich würde nur an meine
Hände denken und dem nächsten Wasserhahn
entgegenfiebern, der nach dem Abstieg drunten zu
erreichen ist. Ich wäre zu keiner Empfindung fähig,
weil mein Hirn ausschließlich auf den Staub und
Schmutz an den Händen und namentlich an den
Innenflächen der Hand gerichtet wäre, starr,
unbeweglich darauf gerichtet wäre. (Herbert
Rosendorfer: Das Messingherz, S. 406)
Außer am 27. November - dem Tag des heiligen Virgil
- kam nur selten ein Mensch in dieses hintere Ende
des Tales. (...) Diese jährliche Wallfahrt nach St.
Virgil im Walde gehörte zum Brauchtum des Tales.
Die Jöchlsteiner hatten sie zur Pestzeit des
Dreißigjähriges Krieges gelobt. Inzwischen ist sie,
höre ich, eingegangen. Offenbar hat man in Jöchlstein
und in Sandgrub und in Yrwent heute keine Angst
mehr vor der Pest. St. Virgil, der adelige Ire, (...)
steht nun einsam in seiner Wallfahrtskapelle im
Wald. Ob es einem Heiligen etwas ausmacht, wenn er
nicht mehr um Fürbitte angerufen wird? Erträgt er es
in Demut, wie er auf Erden die Leiden, die ihm den
Heiligenschein eingebracht haben, in Demut ertragen
hat, wenn er sieht, wie neben ihm ein anderer
Heiliger kaum nachkommt, die ganzen Gebete, die
unten an ihn gerichtet werden, nach oben
weiterzugeben? Oder wird er zornig? Er steht da,
dreht Daumen, hat vom Yrwental seinerzeit die Pest
abgehalten - oder genauer gesagt: sein heißes Gebet
beim Herrn hat bewirkt, daß der Schwarze Tod um das
Tal, das sich unter seinen, St. Virgils Schutz gestellt,
einen Bogen gemacht hat - und jetzt vergessen ihn
die da unten, wo es ihnen so gut geht wie nie in den
zwei- oder dreitausend Jahren, in denen sie dort
siedeln... (Herbert Rosendorfer: Vier Jahreszeiten im
Yrwental, S 273 f.)
Angeblich ist Holland das Land der Windmühlen.
Wenn man sie auf das Fehlen von Windmühlen
anspricht, reden sich die Holländer auf die
Zerstörungen im Krieg heraus. ich halte das für
eine Lüge. Wahrscheinlich hat es in Holland nie
Windmühlen gegeben sowenig wie in Griechenland
Tempel. Die Griechen reden sich dabei darauf
hinaus, daß entweder die Türken die Tempel in
die Luft gesprengt oder irgendwelche englischen
Lords sie ins British Museum verschleppt hätten.
Alles Lügen. Wenn man in Athen, zum Beispiel,
ein echt griechisches Gebäude sieht, mit Säulen,
Karyatiden usw. so kann man Gift darauf nehmen,
daß es 1840 von Klenze gebaut wurde.
Griechenland besteht heute außer solchen
Klenzebauten praktisch nur aus
Autoreparaturenwerkstätten und Buden, in
denen gebratenes, fettes Hammelhackfleisch mit
toten Fliegen verkauft wird (letzteres nennen sie
Gyros). (Herbert Rosendorfer: Vier Jahreszeiten im
Yrwental, S. 10f.)
Aber die Natur, so grausam sie ist, gleicht auch aus.
Klumpfuß gegen Intelligenz. Zwar gilt Intelligenz bei
den Leuten in Tauerngau als fast noch schlimmer als
ein Klumpfuß, aber der einzige Vorteil des
Gebrechens Intelligenz ist, daß es nicht so
offensichtlich ist wie ein Klumpfuß. Dem Toni gab die
Intelligenz, die er an den Tag legte (oder vielmehr:
sozusagen verborgen hielt) die Möglichkeit zu
überlegen. Er las. Heimlich lieh er sich beim Pfarrer
Bücher aus. Er hörte Radio. Wenn niemand in der
Nähe war, hörte er zu, wenn im Radio Gedichte
vorgetragen wurden oder ein Symphonieorchester
spielte. (Herbert Rosendorfer: Vier Jahreszeiten im
Yrwental, S. 151)
Die Niederbrunnhoferin saß während des Gewitters
laut betend in der Küche. Sie hatte ihre Brille
abgelegt, denn man soll während des Gewitters kein
Metall anfassen oder am Leib haben. Einen Fuß - den
linken, versteht sich - hatte sie in einem Schaff mit
Weihwasser, mit der rechten Hand hielt sie sich den
Flügel einer Krähe an die Stirn. So übersteht ein
bäuerliches Anwesen jedes Unwetter. Die
Niederbrunnhoferin konnte sehr schnell beten.
Während eines durchschnittlichen Gewitters brachte
sie es ohne weiteres auf zwei, drei 'Schmerzhafte
Rosenkränze', und das unter der erschwerten
Bedingung, daß sie dabei ständig den Krähenflügel
ans Hirn hielt. Sie galt überhaupt als eine der
flottesten Beterinnen im Tal, und bei der alljährlichen
Wallfahrt nach St. Virgil im Walde betete sie spielend
alle anderen Talbewohner in Grund und Boden.
(Herbert Rosendorfer: Vier Jahreszeiten im Yrwental,
S. 190)
Die Natur, die wie der Mensch in erster Linie zur
Faulheit neigt, profitiert davon, daß das Einfache
meist auch schön ist. (...) Auch noch in einem völlig
verwilderten Park sind die Spuren eines ordnenden
Geistes zu spüren, vielleicht gerade in ihm. Ein Park
ist die gezähmte Natur, so wie ein Bild gezähmte
Farbe, ein Gedicht gezähmte Sprache ist. Dabei
kommt es auf unmerkliches Unterschiede an:
gezähmt ist nicht dressiert. Ein Gedicht darf die
Sprache nicht soweit zähmen, daß sie ihre Substanz
verliert, sie darf nur soweit gezähmt werden, daß sie
den Willen des Geistes, der sie gezähmt hat,
weiterträgt. Sie darf nur soweit gezähmt werden, daß
sie immer noch das Vorteilhafte ihres gezähmten
Zustandes einzusehen vermag. Ein Schritt weiter: und
der Sprache ist der Wille gebrochen, sie ist tot. Das
Wesen der Kunst ist nicht das Extreme, sondern die
Mitte. Über die Grenzen hinauszubrechen, ist einfach.
Die Mitte zu treffen ist schwer. (Herbert Rosendorfer:
Die Schönschreibübungen des Gilbert Hasdrubal Koch,
S. 99f)
Noch in der Romantik, selbst in der späteren, die mit
Floskeln wie Naturalismus oder Realismus
geschmückt wird, ist Österreich - wie alle
deutschsprachigen katholischen Länder - mit wenig
literarischer Prominenz gesegnet. Warum das so ist,
ob das irgendwie mit der Fruchtbarkeit
protestantischer Pfarrhäuser zusammenhängt oder
doch damit, daß die katholische Kirche den
Analphabetismus neben Keuschheit und Fasten zu
den Perlenkränzen des Glaubens zählt, soll hier nicht
untersucht werden. Festgestellt sei nur die Tatsache.
Während die Protestanten mit den lutherischen
Goethe, Schiller, Lessing und E.T.A. Hoffmann
herumwerfen, muß sich Österreich mit Anastasius
Grün und Lenau begnügen. Abgesehen vom Sonderfall
Nestroy, dem wahren östrreichischen Shakespeare,
dessen Genie trotz allem immer noch nicht ernst
genug genommen wird, und der sozusagen das
Gußnegativ des Österreich ist, reißt einzig der
romantische Hofrat Dr. Grillparzer die Ehre
Österreichs aus der distelbestandenen Steppe
kleingedruckter Anhänge in den Literaturgeschichten
heraus. Romantikern traut man keine irdische
Verflechtung zu. Novalis, meint man, lebte vom
Nippen am Frühtau, Schubert ernährte sich vom
Anblick des Abendrotes, und Caspar David Friedrich
beschäftigte sich, außer wenn er malte, mit Seufzen.
Außerdem war man als Romantiker entweder
syphilitisch oder wahnsinnig, am besten beides. Daß
zumindest zwei literarische Romantiker - beide
Österreicher - knochenharte bürgerliche Berufe
ausübten und ihre Schreiberei quasi hinter ihrem
eigenen Rücken betrieben, ist wenig bekannt:
Grillparzer und der Baron von Eichendorff. (Herbert
Rosendorfer: Die Schönschreibübungen des Gilbert
Hasdrubal Koch, S. 128f.)
Des k.k. Archivdirektors Dr. Grillparzers dienstlichem
und außerdienstlichem Verhalten wird im schönen
alten 'Brockhaus' von 1902 das für jeden Beamten
ehrende Zeugnis ausgestellt: 'G.s im granzen
geräuschloeses (!) Leben wurde nur durch einige
größere Reisen... unterbrochen." Ein Familienleben
fand nicht statt. Auch hier findet der 'Brockhaus'
ergreifende Zeilen: 'Den Unverheirateten verband mit
seiner Jugendgeliebten Katahrina Fröhlich (gest.
1879) eine treue Neigung, die ihn bis zum Tode
beglückte. (Herbert Rosendorfer: Die
Schönschreibübungen des Gilbert Hasdrubal Koch, S.
132)
Vorauszuschicken wäre anfangs vielleicht gewesen,
daß sich bei Gotthilf Griebele schon in seiner Jugend
in Backnang der Hang zur Esoterik abgezeichnet
hatte. Er hatte sich noch im Alter von zwanzig Jahren
vor Gewittern gefürchtet, hatte viele Jahre lang nur
bordeaux-rote Kleidung getragen, Rauchtee
getrunken, mit Räuberstäbchen die elterliche Wohnung
verpestet und war noch während seines beruflichen
Werdegangs zum Postfacharbeiter Vegetarier geworden.
Wer, so heißt ein altes Sprichwort, Vegetarier wird,
sinkt auch bald zum Antialkoholiker herab. (Herbert
Rosendorfer: Die Schönschreibübungen des Gilbert
Hasdrubal Koch, S. 167)
Aber sonst ist so ein Campingurlaub naturgemäß von
vornherein als Katastrophe programmiert. Sie geben's
nur nicht zu, die Camper, wenn's heimkommen, oder sie
haben's vergessen. Der Spirituskocher, sag' ich Ihnen,
ist der schärfste Feind des Campers. Und der Camper ist
von Haus aus knickrig, sonst würd' er ja ins Hotel
gehen in Urlaub. Also kauft er das billigste Öl. Somit
ein Gestank. Und das fette Fleisch - wenn Sie noch nie
auf einem Campingplatz waren, können Sie sich nicht
vorstellen, was für Rauchschwaden sich da über die
ohnedies ständig schweißelnden Camper wälzen - und du
kannst ja keine Tür zumachen und kein Fenster in einem
Zelt. Und die nachfolgenden Feuerbrünste. Wie gesagt: der
Spirituskocher. Sengt an. Plötzlich steht das Zelt in
Flammen. Eine Familie, die war aus Bottrop, kann ich
mich erinnern, hat alles verloren bis auf ihre
bläulichen Badeschuh' und seinen Sombrero - den hat er
gerettet, weil Andenken an einen Campingaufenthalt in
Mexiko. Danach ist er, dick wie ein Faß, auf dem Felsen
gesessen, nackert mit dem riesigen Sombrero auf und hat
tragisch ins Wasser g'stiert. Ein Bild! sag' ich Ihnen,
ein Bild! Und seine Alte, in die bläulichen Badeschuh',
hat an ihn hingekeift: "Warum hast du nicht statt
deinem blöden Sombrero die Pässe gerettet?!" (Herbert
Rosendorfer: Die Kellnerin Anni, S. 73)
... daß die Nonnen um halb elfe zugesperrt haben, und
die Restknacker, die Pilger da, die haben sich eh um
neune spätestens verkrochen. Zu viert haben wir in einem
Zimmer geschlafen. Wie ich das erfahren habe, habe ich
gedacht, mich vögelt ein Zebra, wenn Sie kurz den
Ausdruck erlauben, aber es war dann an sich nicht so
schlimm, denn das Zimmer was eher ein Saal - aber!
h'aaber! die eine, wie die sich ausgezogen hat,
beziehungsweise entkleidet - die hat ein Korsett
angehabt wie ein Baugerüst, und wie sie's abgelegt hat,
ist die auseinandergegangen - sagen Sie, müssen die
alten Leute alle so dick sein? (Herbert Rosendorfer:
Die Kellnerin Anni, S. 84)
Der Durchblicker, der Oberidiot. Muß der mit dem
Pfarrer zu streiten anfangen über den Papst. Als ob
einen Menschen mit Verstand dieser Papst heute noch
interessieren möchte. Über die Überbevölkerung und die
Geburtenkontrolle und Verhütung und die Pille -
überhaupt, hat der Durchblicker gemeint, hält er es für
vorbildlich, was ein gewisser Stamm in Afrika macht.
Den Namen des Stammes hab' ich vergessen. Irgendwelche
Tutzi-Wutzi halt. Also - ich weiß es nicht, ob das
wahr ist, was der Durchblicker da von sich gegeben hat.
Jedenfalls hat er irgendwo gelesen, vielleicht im
'Spiegel', weil er ja seit zweiundvierzig Jahr'
'Spiegel'-Abonnent ist, daß jener gewisse Negerstamm
seine Bevölkerungsstruktur... wie soll ich sagen...
also bekämpft, das heißt nicht die Struktur, sondern...
also auf deutsch gesagt, wie sie das anstellen, daß es
nicht zu viele Alte gibt, die nur dumm herumsitzen und
den Jungen das Essen wegfressen. Da werden also bei dem
gewissen Stamm, erzählt unglücklicherweise dieser
trachtenanzügliche 'Spiegel'-Abonnent und Durchblicker,
alle, die über sechzig Jahre alt sind, an einem
bestimmten Tag im Jahr auf die Bäume hinaufgetrieben
oder gehoben et cetera, und dann schütteln die anderen
die Bäume, und die, welche herunterfallen, werden
etrschlagen, sofern nicht schon vom Fall erledigt, und
die, welche noch kräftig genug sind, daß sie sich
festhalten und also folglich sozusagen noch
volkswirtschaftliche wertvoll, dürfen noch ein Jahr
weiterleben bis zum nächsten Schütteln. (Herbert
Rosendorfer: Die Kellnerin Anni, S. 93)
Ich glaub' nicht, daß irgend jemand eine Freud' an
diesem komischen Sport hat... ich glaube, daß das
alles, dieser ganze komische Wintersport nur auf die
Reklame von die Sportgeschäfte zurückgeht und! Und,
natürlich, weil es die anderen auch machen. Das scheint
mit der springende Punkt zu sein. An sich - denk' ich
mir - wenn man den Menschen zwingen würde, also
gesetzlich oder so, daß er bei Schnee und Eis, wo dem
empfindlichen Menschen naturgemäß ohnedies widerstrebt,
auf so merkwürdige Bretter hoffnungslos festgeschnallt,
bei Kälte unter diesen Skianzügen schwitzend, unter
Lebensgefahr mit schneeverpickten Augen steile Wiesen
herunterzufahren, ständig gewärtig mit einem Baum oder
einem anderen solchen Skitropf zusammenzustoßen - und
dafür noch Geld auszugeben! Ich glaube, das würde eine
Revolution geben. Sie verstehen: wenn das Skifahren
respektive Wintersport sozusagen der vorher
nichtsahnenden Bevölkerung gesetzlich verordnet würde,
mit einem Schlag: eine Revolution. (Herbert
Rosendorfer: Die Kellnerin Anni, S. 109)
Der sogenannte Schnee ist eine speziell nordeuropäische
Schlechtwetterabsonderung, die bei gesund empfindenden
Menschen Unlust hervorruft, kalt ist und die Schuhe
ruiniert. Schnee ist, kurz gesagt, weißer Dreck.
Der sogenannte Schnee wird von den durch die sie
ständig umgebenden sogenannten Gebirge in ihrer
Geisteshaltung erheblich behinderten, nicht anders als
mit dem Schimpfwort Alpenbewohner zu umreißenden Gnomen
und Mißgeburten zu kommerziellen Zwecken mißbraucht.
Nirgendwo in der Welt gibt es so viele Sechszeher,
Dreibeiner, Kropträger, Wasserköpfe, Stotterer,
Teerschnüffler, Einhoder, Sulzknier und Bettnässer wie
in Oberbayern, dem Allgäu, Tirol und der Ostschweiz.
Der Typhus des sogenannten Gebirglers läßt sich so
charakterisieren: er riecht nach Salpeter, hat
blutunterlaufene Augen, einen Blähals, sechs Finger an
jeder Hand, ist Analphabet, katholisch und spricht eine
unverständliche Privatsprache; erheißt Luis oder Sepp,
meist auch Trenker und bedient einen Sessellift.
(Herbert Rosendorfer: Die Erfindung des SommerWinters,
S. 14)
Bekanntlich ist Tyrol das katholischste Land der Welt.
Genauer gesagt: Tyrol ist das einzige katholische Land
der Welt. Es ist zwar oft die Rede von Polen, wo die
Leute so katholisch sind oder dem Vernehmen nach sein
sollen, daß Polnisch seit 1978 für Päpste Vorschrift
ist, oder aber es ist die Rede von Spanien, wo im
letzten Monat schon wieder eine Fabrik zur Eloxierung
von Heiligenscheinen eröffnet wurde, aber das ist alles
nichts gegen die tief verwurzelte Katholizität der
Tyroler. Meine Urgroßmutter stammte aus jenem Teil
Tyrols, nämlich aus dem Oberen Vinschau, wo die
Katholizität sich stellenweise so verdichtet, daß
Schneepflüge eingesetzt werden müssen, um die wenigen
asphaltierten Straßen auch für die lutherischen
Touristen freizuhalten. Von den katholischen allein
könnte der Fremdenverkehr nicht leben. (Herbert
Rosendorfer: Die Erfindung des SommerWinters, S. 84)
Der hl. Trenker, der aus dem Pustertal stammte, war ein
berühmter um nicht zu sagen berüchtigter Missionar im
lutherischen Land. Furchtlos begab sich der hl.
Trenker, nur mit einem von ihm erfundenen Spezialhut
ausgerüstet, ins Heidnische und bekehrte die
Ungläubigen, wo er ging und stand. Seine Methode war
nicht anders als kernig, ja markig zu nennen. Er
packte die Lutherischen und Heidnischen an der Gurgel
und schrie: "Wirsch katholisch oder net?" Zeigte sich
weitere Harnäckigkeit, teilte er solche gottesfürchtige
Ohrfeigen aus, daß selbst lutherische Pfarrer nur noch
winselnd flehten, auf ungekochten Erbsen zum Papst
wallfahrten zu dürfen. Einem sog. Freigeist gab der hl.
Trenker einen vom Heiligen Geist inspirierten Fußtritt
von einer Gewalt, daß der Freigeist noch bevor er
wieder die Erde berührte, nicht nur alle Sünden
bereute, alle Irrlehren widerrief, sondern auch die
Erste Kommunion und sogar die Firmung seitens eines
zufällig vorbeifliegenden Bischofs empfing. Oft genügte
es, daß der hl. Trenker seinen furchteinflößenden Hut
vorzeigte, und ganze Scharen von Protestanten traten
nicht nur der katholischen Kirche, sondern auch gleich
noch dem Opus Dei bei. (Herbert Rosendorfer: Die
Erfindung des SommerWinters, S. 87)
Diese sogenannten Gebirge sind jene unschönen,
störenden Bodenerhebungen, die den Süden Bayerns
verunstalten. Seit etwa hundert Jahren treiben
entmenschte Individuen mit topographischen
Niveauunterschieden gefährlichen Mißbrauch. Es vergeht
kaum ein Jahr, in dem nicht eine Zusammenballung der
Alpinistenausdünstungen zu gräßlichen Unwettern,
Alpenglühen, Jodelabenden, Trachtenumzügen und Erdbeben
führen. (Herbert Rosendorfer: Die Erfindung des
SommerWinters, S. 13)
Die Freie Republik Neuhausen, die (seit nunmehr 25
Jahren) unter der straffen wie liebevollen Leitung
meines alten Freundes Fritz Betzwieser steht, ist nicht
nur atomwaffenfreie, sondern auch und vor allem
tierversuchsfreie Zone. Die Entfernung aller
zweibeinigen Pfarrkinder und deren Ersatz durch
vierbeinige (nämlich Katzen), unbeinige (nämlich
Goldfische) und gefiederte Geschöpfe Gottes scheiterte
vorerst an technischen Gegebenheiten. Es ist im Ernst
auch nicht mehr daran gedacht, denn inzwischen haben
sich die Pfarrkinder durch den rastlosen Einsatz
Pfarrer Betzwiesers zu so engagierten Tierfreunden
entwickelt, daß hier weiter niemand mehr wagt, einen
Kanarienvogel auch nur schief anzuschauen. Wie aber
nicht anders zu erwarten, ist die Tierfreundschaft
Betzwiesers nicht sektiererisch eng, was sich darin
zeigt, daß er Liebe auch zu Tieren zeigt wie Kühe,
Schweine, Hammel oder Forellen, sofern sie ordentlich
gebraten und mit Petersil garniert sind. (Herbert
Rosendorfer: Die Erfindung des SommerWinters, S. 101)
Das Haus Goethe am Großen Hirschgraben muß außerdem ein
Museum von Vater Goethes italienischen Andenken und
Erinnerungen gewesen sein, zum Teil finden sich die
Kupferstiche und Gipsabdrücke noch heute dort. Wenn auf
Italien die Rede kam, wurde das Auge des sonst
pedantisch und eher trocken geschilderten Mannes
feurig. Johann Wolfgangs Jugend muß unter dem - von
Goethes Psyche offenbar positiv verarbeiteten -
Eindruck gestanden haben, daß nur derjenige, der
Italien und speziell Rom kennt, wenigstens einmal
kennengelernt hat, ein Leben geführt hat, das wert ist,
menschlich genannt zu werden. (Herbert Rosendorfer: Die
Erfindung des SommerWinters, S. 118)
Die Leidenschaft Fräulein Derks aber galt dem
Spiritismus. Daß Fräulein Derk unter den Einwohnern,
namentlich den alteingesessenen solchen, als Hexe galt,
hatte eigentlich keinen wirklich faßbaren Grund. (...)
In Tirol, sollte man meinen, schreckt ein Aussehen wie
das von Fräulein Derk wenig. In Tirol, sollte man
meinen, ist man anderes gewohnt. In Tirol und nur in
Tirol gibt es jene knorrehigen Bäuerinnen, jene
kürbiskröpfigen Sennerinnen, jene kaminwurzteufelischen
Austrägerinnen, jene selbst in ihrer Jugend
ruchranzigen Stutzdämoninnen, jene weiblichen
Grantechsen, schmeißfliegenfarbigen Furzheuschrecken,
die jeden, der nicht Tiroler ist, sofort in die Flucht
schlagen, deren Anblick sofortigen Knieschwamm und
lebenslange Traumata verursacht, von denen selbst
inbrünstige Lourdes-Wallfahrten nicht befreien. Nichts
davon eignete Fräulein Derk. Gut, sie war häßlich,
alterslos faltig - aber gegen die drachischen Tiroler
Ursaueierinnen... (Herbert Rosendorfer: Der China-Schmitt.
Neue Geschichten, S. 44)
Der Meister [1]
Er sei dabei, rückte er dann heraus, ein Buch über Jean Sibelius
zu schreiben. Der Meister zuckte zusammen. Adorno lebte damals
noch. Das sagt wohl alles. Sibelius wurde in der
Musikwissenschaft so wenig erwähnt wie der Teufel im Credo. (...)
Sibelius und Adorno. Damals war Adorno so etwas wie die
alleinseligmachende Weltsicht. "Papst der Geisteswissenschaften"
wäre keine ausreichende Bezeichnung gewesen. Demiurg der Ewigen
Wahrheit. Das war Adorno. Wer nicht in seinen Arbeiten Adorno
zitierte, war weg vom Fenster. Wer etwas gegen Adorno zu sagen
wagte, galt als wissenschaftlicher Underdog. Nicht nur
wissenschaftlich, auch gesellschaftlich. "Darf ich Sie zu einem
Drink einladen?" "Bitte lassen Sie mich in Frieden. Ich habe
gehört, Sie mäkeln an der Frankfurter Schule herum." Oder: "Wenn
du noch ein Wort gegen Adorno sagst, fliegst du aus meinem Bett."
So war das damals. (Herbert Rosendorfer: Der Meister)
Die Donnerstage des Oberstaatsanwalts [1]
Schon T.S. Eliot hat in dem Buch, ich schwanke, ob ich es bewundern
oder als Verrat betrachten soll, 'Old Possum Book Of Practical Cats'
dargelegt - verraten? -, daß wir Katzen immer drei Namen haben:
einen für den wie erwähnt menschlich-öffentlichen Bereich, in meinem
Fall Mimmi, dann einen Namen, den wir im Verkehr zwischen Katze und
Katze gebrauchen, dieser mein Name ist Wetterleuchte, und dann habe
ich noch einen ganz geheimen Namen, den nur ich selbst kenne und an
den ich denke - so Mr. Eliot -, wenn ich schnurre.
Selbstverständlich nenne ich diesen Namen nicht. Es ist damit
außerdem so wie mit dem Geheimnamen, den jeder Jude hat, und nur bei
diesem Geheimnamen könnte man ihn wirksam verfluchen. (Herbert
Rosendorfer: Die Donnerstage des Oberstaatsanwalts)
Die Donnerstage des Oberstaatsanwalts [2]
Er hatte an dem Nachmittag ein Zerwürfnis ernsterer Art mit seiner,
wie er es nannte, derzeitigen 'Favoritin', hatte sich geärgert und
beschlossen, den Lebensgroll in Lebensfreude zu verwandeln. Er
öffnete - er vertrat damals einen persischen Halbmafioso in
Rechtssachen und hatte so Zugang zu persischem Kaviar imperialer
Qualität zu Minimalpreisen - eine Zweihundert-Gramm-Dose Kaviar,
löffelte sie aus und trank dazu zwei Flaschen 'Joannes-Liote'; der
Lebensgroll war weitgehend niedergeknüppelt. (Herbert Rosendorfer:
Die Donnerstage des Oberstaatsanwalts)
Es ist schwer genug, mit der Lektüre eines Buches anzufangen. Ein ungelesenes Buch
sträubt sich mitunter gegen das Gelesenwerden. Der ungelesene Inhalt stemmt sich
über die erste Seite hinaus dem Leser entgegen. Man muß den Widerstand brechen
(es gibt auch andere, sozusagen feile und geile Bücher, die den Leser ansaugen;
ob das die besseren sind, ist noch die Frage), man muß eine Bresche schlagen, das
Vertrauen der ersten Seiten gewinnen, die dann, wenn sie einmal beruhigt und mit
ihrem Schicksal, gelesen zu werden, zufrieden hinter einem liegen und einem
den Rücken stärken, den Leser den weiter hinten liegenden Seiten als harmlos
und ungefählich weiterempfehlen. Und wenn man einmal die Mitte eines Buches
überschritten hat, fühlt man sogar einen leisen Druck in den Rücken. Die letzten
Kapitel, die letzten Seiten weichen zurück, zur Seite, das Buch will den Leser
nach hinten loswerden, verdaut haben oder absondern, so daß es sich wieder
schließen und seine Wunde vernarben kann. In einem anderen Exemplar des gleichen
Buches, das man angefangen hat, weiterzulesen, ist fast unmöglich. Da sträuben
sich die schon gelesenen, aber eben in diesem Exemplar nicht gelesenen Seiten
von vorn und zwingen den Leser mit dieser nahezu allmächtigen Zange förmlich
aus dem Buch hinaus.
Kühne hatte das Buch gelesen und war angetan gewesen.
Sergio Kreisler, der erfolglose Dramatiker, sah es bei
ihm liegen und blätterte darin. "Es könnte", sagte
Kühne, "eine wirkliche Lebenshilfe sein. Gar nicht so
schlecht." "Das Buch ist ein Blödsinnn", sagte
Kreisler. "Aber in Amerika ein Bestseller!" sagte
Kühne. "Was ist nicht in Amerika alles ein
beststeller", sagte Kreisler. "Deine Werke jedenfalls
nicht", sagte Kühne. Kreisler überging das, griff
wieder nach dem Buch. "Wenn einer darauf angewiesen
wäre, mit dem Buch auf dem Land zu überleben und gar
einen Bauernhof zu bewirtschaften, dann ginge er
baden." Kreisler schlug das Stichwort "fence" auf:
Wie man einen Zaun zieht, las er laut vor und
lachte. "Der das geschrieben hat, hat noch nie weinen
Zaun gezogen. Ich möchte mir das nicht antun, das
Stichwort Melken zu lesen." "Und wie kommt es,
daß es doch ein Bestseller ist?" "Das kommt daher, daß
es Leute kaufen, die vorhaben,. aufs Land zu ziehen,
und es doch nicht tun. Die meisten Leute tun nie das,
was sie vorhaben. Höchstens: sie kaufen ein Buch
darüber. Wenn sie das Buch gelesen haben, haben sie das
Gefühl, sie hätten getan, was sie vorgehabt haben. Gilt
bvor allem für Gesundheits-Ratgeber." Kühne erwähnte
diese Gedanken Rommerskirchen gegenüber, ohne die
Quelle anzugeben, aber, dachte Kühne, wahrscheinlich
kennt der Lektor Sergio Kreisler ohnedies nicht. "Das
macht gar nichts", sagte Rommerskirchen, "die sollen
auch gar nicht aufs Land ziehen. Wäre kaum
wünschenswert. Wir rechnen mit einer Auflage von
100.000. Wenn die alle aufs Land zögen, gäbe es
100.000, die keine Bücher mehr kaufen. (Herbert
Rosendorfer: Absterbende Gemütlichkeit. Zwölf
Geschichten aus der Mitte der Welt, S. 202f.)
Graf ist deshalb kein Volksschriftsteller, weil es
überhaupt keine Volksschriftsteller gibt. Das Volk
liest nicht, und wenn, dann allenfalls Groschenromane.
Selbst die Bücher Karl Mays und die der Courth-Mahler
sind Vergnügungen nostalgischer Intellektueller
geworden. (...) Volksschriftsteller? Man kann nicht
pessimistisch genug sein. Es sei denn, man bezeichnet
einen Schriftsteller als Volksschriftsteller, wenn man
wünscht, daß das Volk ihn läse. Dann
wäre Graf ein Volkschriftsteller geworden.
(Nachwort zu "Die Ehe des Herrn Bolwieser von Oskar
Maria Graf)
Der Jurist ist darauf angewiesen, bis auf das Komma
genau das Wort zu betrachten. Ein falsch gesetztes
Komma oder ein falsch verwendetes Wort - ich habe das
oft genug erlebt - kann ein Gesetz, einen Vertrag oder
ein Urteil mißverständlich machen. Beim Schriftsteller
versteht es sich von selbst, daß er ein Wortklauber
sein und auf das Wort sehen muß. Ein einziges falsches
Wort kann ein ganzes Gedicht zunichte machen, und
dreißig falsche Wörter können einen Roman verfaulen
lassen. Das ist der äußere Grund: Man ist im besten
Sinne Wortklauber. (in einem Fernsehinterview)
Als der Pertelin Eugen einmal zu Weihnachten oder zum
Geburtstag ein vierbändiges Lexikon geschenkt bekam (ich
selber besaß ein ganz schmales einbändiges, dennoch ein
Evangelium für mich), besuchte ich ihn, um dieses
Wunderlexikon zu besichtigen. Ich glaube, wenn man mir
damals den großen, alten, einundzwanzigbändigen Meyer
geschenkt hätte - ich hätte vor Freude nicht mehr geglaubt,
ich selber zu sein. Aber das habe ich nie bekommen. So ist
das Leben. Man bekommt nie das, was man wirklich will,
oder jedenfalls nicht zur rechten Zeit. Jetzt, heute, habe ich
nicht nur den alten Meyer, den alten Brockhaus, den neuen
Brockhaus, einen mittleren Brockhaus, den neuen Meyer,
die Paulysche Realenzyklopädie klassischer
Alterumswissenschaften, das Lexikion des Mittelalters, den
Riemann, die MGG, das Philosophisch-historische
Reallexikon... das ist alles schön und gut, nur: damals,
damals wäre ich glücklich darüber gewesen. Man soll
Kindern alles schenken, was sie glücklich macht. Nur
Kindern können wirklich glücklich sein. (Herbert
Rosendorfer: Eichkatzelried, S. 78f.)
Schriftsteller werden wollte ich nie. Ich habe das Schreiben,
das jeder in der Schule lernt, nie als etwas Besonderes
betrachtet und glaube auch heute noch, daß man - und
besonders die Schriftsteller - zu viel Aufhebens davon
macht. Die Gesetze der deutschen Sprache kann man
lernen, sich einen Stil anzueignen ist nicht Sache eines
Talents, und Einfälle zu haben, das weiß ich nun wirklich aus
eigener Erfahrung, kann man sich anerziehen. Ich glaube
nicht an das poetische Talent. Aber - pflege ich dem
hinzuzufügen, wenn ich derlei Äußerungen von mir gebe, die
in der Regel als Koketterie gewertet werden, und bei denen
mir meist niemand glaubt, daß es mir ernst ist - aber: ich
bin natürlich froh darüber, daß so wenige wissen, wie leicht
das Schreiben ist. (Herbert Rosendorfer: Eichkatzelried, S.
136)
Die Deutschen meinen zwar, der Spiegel sei das
unfehlbare Blatt, aber das stimmt nicht. Das redet
der Spiegel seinen Lesern nur ein. Das wäre nicht
schlimm. Schlimm ist: die Leute vom Spiegel haben
das mit ihrer Unfehlbarkeit ihren Lesern so lang
eingeredet, daß sie - die Redakteure es inzwischen
selber glauben. Kann sein: in der Bild-Zeitung wird
der meiste Blödsinn geschrieben, mag sein, aber
gleich danach kommt der Spiegel. Die Gartenlaube
des ambitionierten Kleinbürgers." (Herbert
Rosendorfer: Das Messingherz, S. 34)
Dr. Jacobi bot Kessel einen Platz auf dem Sofa an,
auf dem er selber damals gelegen hatte, und räumte
den Stapel Zeitungen beiseite. "Lesen Sie sie von A
bis Z?" fragte Kessel. "Nein", sagte Dr. Jacobi, "das
nicht. Von der Wirtschaft und von den
Börsennachrichten verstehe ich zuwendig, die
Todesanzeigen und den Zürcher Lokalteil lese ich nur
ab und zu, dann aber laut in Schwyzerdütsch, zu
meiner Erheiterung." "Können Sie Schwyzerdütsch?"
"Ich war während des Krieges in Einsiedeln", sagte
Dr. Jacobi, aber so knapp und in einem so anderen
Ton, daß Kessel merkte, der alte Mann wollte nicht
über die näheren Umstände gefragt werden. "Ja -
aber das Übrige lese ich. Das Feuilleton, um mich in
höhere geistige Welten zu erheben oder auch, um zu
staunen, wie wenig ich weiß und wieviel die anderen.
Nein: das ist eigentlich nicht richtig. Das Feuilleton
ist nie herablassend, vielleicht ist das das Geheimnis
dieser Zeitung. Wenn Sie die Feuilletons der
Süddeutschen oder der Frankfurter oder der Zeit
lesen, haben Sie immer das Gefühl, ein Experte streut
Ihnen aus schwindelnder Höhe ein paar Brosamen auf
den Kopf. Dabei dürfen Sie nicht hinter die Kulissen
sehen. Das sind nämlich gar keine Experten. Das
Gegenteil von Experten. Wissen Sie, was das
Gegenteil von einem Experten ist? Der Journalist.
Beim Feuilleton der Neuen Zürcher hat man zwar auch
das Gefühl, man weiß gar nichts, aber gleichzeitig hat
man das Gefühl, man sitzt mit Leuten, die wirklich
etwas von dem verstehen, was sie schreiben, an
einem Tisch. Gepflegte Allgemeinverständlichkeit. Die
deutschen Feuilletonisten glauben offenbar immer,
sie vergeben sich etwas, wenn man sie versteht."
(Herbert Rosendorfer: Das Messingherz, S. 376)
Er las
Bücher aus der 'Leihbücherei' des Herrn Kießguth in
Yrwent. Zweimal in der Woche humpelte er dorthin.
Für die Stunde Fußmarsch brauchte er das doppelte.
Manchmal nahm ihn ein Fuhrwerk mit. Er las
zunächst, was ihm der Inhaber der Leihbücherei
empfahl, ein ausgemergeltes Männchen, das einen
Staubmantel in exakt der sandgelben Farbe trug, wie
die Bücher eingebunden waren: 'Die Borgia-Trilogie,
Irene von Trapezunt, Das herrliche Leben', aber dann
auch 'Vom Winde verweht' und 'Menschen im Hotel'.
Als das alles gelesen war, schnaubte Herr Kießguth,
rümpfte die Nase, schaute über seine Brille die
Regale entlang und sagte: - hm, hm, was lesen wir
jetzt, was lesen wir jetzt...? Toni bekam Band für
Band die Werke Peter Roseggers. Toni mußte sich an
den veränderten Ton erst gewöhnen, aber dann gefiel
er ihm. Als er Rosegger ausgelesen hatte, schnaubte
Herr Kießguth wieder und holte nun ganz oben einen
Band herunter, fast wie neu, selten ausgeliehen. -
Ganz schwere Kost, sagte Herr Kießguth, 'Schuld und
Sühne'. Toni las es zweimal (mußte extra nach
Yrwent, um verlängern zu lassen), verlangte mehr von
diesem Autor, las alles. Einmal, ein einziges Mal
meinte er, erklären zu müssen, warum er das so gern
las und sagte zu Herrn Kießguth: "- es kommt mir
vor, der schreibt über mich." "Ha?" sagte Herr
Kießguth, der nicht nur schmalbrüstig, sondern auch
schwerhörig war. "Nix, nix", sagte der Toni. (Herbert
Rosendorfer: Vier Jahreszeiten im Yrwental, S. 153)
Vor- und Nachwörter sind etwas ganz anderes: sie
sind eine Art Rahmen, eine Höflichkeit gegenüber
dem Leser. Man will nicht mit der Tür ins Haus fallen,
man will aber auch nicht dem Autor das letzte Wort
lassen. Wenn schon kein Nachwort folgt, dann
kommen wenigstens noch Verlagsanzeigen über
andere Bücher Bücher des Autors im selben Verlag,
oder Bücher anderer Autoren - da sich Leser ja immer
nur zögernd der Lektüre eines Buches nähern und
jede Gelegenheit ergreifen, zunächst auf andere
Unterhaltungen auszuweichen, lesen Leser zuallererst
diese meist ansprechender als der Text gehaltenen
Verlagshinweise, in denen in süffiger Art auf die
Vorzüge eines weiteren Buches hingewiesen wird, und
nicht selten schlägt sich der Leser (der ja noch gar
nicht Leser war, jedenfalls nicht dieses Buches) an
den Kopf und den Buchdeckel zu und kauft das andere
Buch und liest dort die Verlagsanzeigen - dem Verlag
ist es ohnehin wichtiger, daß Bücher gekauft, als daß
sie gelesen werden. (Herbert Rosendorfer: Die
Schönschreibübungen des Gilbert Hasdrubal Koch, S.
232)
Die Kulturzentren der Renaissance in Italien waren oft
lächerliche Kleinstädte: Ferrara, Modena, Urbino -
selbst Mailand war damals ein Nest für heutige
Begriffe, Rom hatte 100.000 Einwohner. Die deutsche
Literatur in ihrer großen Zeit, auch die Philosophie,
entstand in Provinzstädten: Goethe lebte in Weimar,
Schiller in Jena, beide kleiner als heute Kitzbühel,
Kant lebte in Königsberg, die Brüder Grimm in
Göttingen, Lessing in Wolfenbüttel, Stifter in Linz.
Erst mit dem explosionsartigen Anwachsen der
Hauptstädte im Industriezeitalter bildete sich der
Kulturzentralismus aus. (Herbert Rosendorfer: Die
Erfindung des SommerWinters, S. 91f.)
Das sogenannte Positive in der Literatur gibt es
nämlich nicht, oder: es gibt das Positive schon, aber
das Positive der Literatur ist das Negative, insofern,
als man unter 'Kritik' etwas kategorisch Negatives
sieht. Sogenannte Positive Literatur gibt es nicht,
weil Literatur wie alle Kunst moralisch und daher
kritisch ist: kritisch dem von Natur aus unmoralischen
Menschen gegenüber, vor allem aber den auch von Natur
aus (ihrem ungebremsten Willen nach) amoralischen
Gesellschaftssystemen gegenüber. Daher gibt es keine
wirklich affirmative Kunst oder deutlicher gesagt:
keine wirkliche Kunst, die affirmativ ist. Das bedauern
alle Kirchen und staatstragenden Systeme und so fort,
aber dem wird nie abzuhelfen sein. Alles, was an
affirmativer Kunst je entstanden ist: die panegyrische
Hofkunst der Barocke, die religiöse Andachtskunst, die
bürgerschmeichelnde Beruhigungskunst des XIX.
Jahrhunderts, die faschistische Staatskunst, der
Sozialistische Realismus, alles erweist sich entweder
bei gehörigem Zeitabstand oder bei genauerem Besehen
als Schrott. (Herbert Rosendorfer: Die Erfindung des
SommerWinters, S. 201)
Ich habe immer nur Prosa geschrieben, seit dem
'Ruinenbaumeister' von 1969 insgesamt 23 Bände mit
Erzählungen und Romanen, auch eine beinharte
historische Biographie ist darunter. Die Zahl weiß ich,
nicht weil ich eine Strichliste führe, sondern weil ich
sie unlängst im Zug einer juristischen
Auseinandersetzung mit meinem Ex-Verleger gezählt habe.
Ich vermute, daß die große Zahl der Juristen unter den
Schriftstellern (allein unter den deutschsprachigen
habe ich einmal nahezu 100 eruiert) darauf
zurückzuführen ist, daß für die Auseinandersetzung mit
Verlegern die juristische Ausbildung dienlicher ist als
literarische Qualität. "Man kann gegen Napoleon sagen,
was man will", hat Roda Rioda gesagt, "immerhin hat er
einen deutschen Verleger erschießen lassen." (Herbert
Rosendorfer: Die Erfindung des SommerWinters, S. 207)
Der Dichter - ich habe seinen Namen bisher nicht
etwa verschwiegen, er ist mir vielmehr, wenn ich
ihn überhaupt je gekannt habe, entfallen -
zog danach aus der Aktentasche eine dicke Papiermappe
(ich weiß es wie heute) mit vielen verknitterten,
gelblichen Blättern, die - häufig mit
Tintenkorrekturen versehen - eng bis an alle
Ränder mit Schreibmaschine vollgetippt waren.
Er blätterte hin und her und las dann aus dieser
und jener Seite etwas vor: eine Stunde lang. Dann
wurde mein kleiner Vetter, der als einziger hellwach
geblieben war, ins Bett gebracht. Danach las der
Dichter weitere zwei Stunden. Ich will die sehr
summarische Kritik meines Großvaters vorwegnehmen.
Sie lautete: "Das war kein Humorist." Mein
Großvater war der strengen, vielleicht nicht
unhaltbaren Auffassung, daß Literatur nur dann
kein Firlefanz sei, wenn sie ihn - freiwillig oder
unfreiwillig - zum Lachen reizen konnte. (Herbert
Rosendorfer: Eichkatzelried, S. 12)
Auf die Frage nach der lateinischen Messe von Brahms antwortete
der Meister ohne eine Sekunde des Nachdenkens, daß - erstens -
Herr Professor Goblitz das hätte wissen müssen (wußte es aber
nicht) und daß man bloß im Brahms-Werke-Verzeichnis von McCorkle
nachzuschauen brauche. Er erinnere sich sogar, habe der Meister
damals gesagt, auf so etwas gestoßen zu sein - bei seiner Lektüre
des Werkverzeichnisses... Gibt es so etwas, daß einer das Brahms-
Werkverzeichnis liest? Als Lektüre? Wie einen Roman? Schmieder -
BWV (Bach-Werke-Verzeichnis)? Köchelverzeichnis (Mozart)?
Deutsch-Verzeichnis (Schubert)? Kinsky-Halm (Beethoven)? Ja, gibt
es, zumindest einen: den Meister. Er gestand mir einmal, daß er
gern vor dem Einschlafen noch im Bett ein Werkverzeichnis zur
Hand nehme, sich an ein paar Seiten vergnüge - zum Beispiel Jähns
Verzeichnis der Werke Carl Maria von Webers. Selbstverständlich
konnte es sich der Meister nicht leisten, die teuren Werke zu
kaufen. Er lieh sie sich aus der chaotischen Institutsbibliothek
aus, die selteneren aus der Staatsbibliothek. (Herbert
Rosendorfer: Der Meister)
Ich bin, im Gegensatz zu meiner Frau, kein Leser von
Kriminalromanen. Meine Frau schon, wie Sie vielleicht ohnedies
wissen. Vielleicht hängt das damit zusammen, daß sie Anglistin ist.
Sie liest die Kriminalromane in der Sprache, in der sie gelesen
gehören: auf Englisch. Dort und in dieser Sprache liegen
Kriminalromane literarisch gesprochen, sagt meine Frau, auf der
Leiste ganz oben, gleich unterhalb von Shakespeare. Wohlgemerkt
englische Kriminalromane, nicht amerikanische. Die sind nur mit der
Faust geschrieben, während die englischen sozusagen ins karierte
Plaid gewickelt am Kaminfeuer beim Tee verfaßt werden. Die Dantessa
Alighieressa des Kriminalromans ist, so jedenfalls die, wie ich mir
durchaus vorstellen kann, begründete Meinung meiner Frau, ist Agatha
Christie. (Herbert Rosendorfer: Die Donnerstage des
Oberstaatsanwalts)
"... hatte ich genug Zeit, um die Kiste vor der Buchhandlung
gründlich zu durchwühlen. Den ersten Band von Du Moulin-Eckarts
Cosima-Wagner-Biographie fand ich nicht, wohl aber ein Buch, das
mich nicht interesierte, das mir vielmehr leid tat. Bücher sind für
mich Wesen. Ich versteige mich nicht dazu zu sagen: lebendige Wesen,
wohl aber: Wesen. Sie sind mehr als daß sie bloß seien. Sie wesen
eben. Ich hoffe, Sie verstehen. Das Buch, das ich dort im Wühlkasten
fand, war ein schwer verletztes, verwundetes Buch. Es war sicherlich
broschiert gewesen. Der Deckel fehlte, ebenso der hintere Deckel, es
fehlten alle Seiten, wie viele, war selbstverständlich nicht
festzustellen, es hörte, wenn ich mich recht erinnere, bei Seite 122
oder 124 auf, und auch von dieser letzten Seite war ein schräges
Stück herausgerissen, so als ob irgend jemand ganz rasch ein Papier
gebraucht hätte, um eine Notiz festzuhalten." (...)
"Das beschädigte, verwundete Buch kostete zwanzig Pfennig. Der
Buchhändler, offenbar von grünem Geiz geplagt, hatte sich die Mühe
gemacht, diesen Preis sogar auf dem Buch, auf dessen erster Seite,
die, wie gesagt, die dreizehnte war, mit Bleistift oben rechts zu
vermerken. Ein weniger oder überhaupt nicht geiziger Buchhändler
hätte diesen Buchinvaliden womöglich weggeworfen - herzlos, aber
vernünftig. Ich segne also den Geiz jenes Buchhändlers, denn ohne
diesen Geiz könnte ich Ihnen diese Geschichte nicht erzählen.
"Ein großer Verlag verramschte damals Tonnen von soziologisch-
philosophischem Schwachsinn linker Langeweile. In dem Wühlkasten
verstaubten nur Werke jenes Herrn Schlotterbein oder wie er heißt,
dessen Namen und gar wiederum dessen genaue Schreibweise mir zu
merken ich mich weigere. Ihn als Philosophen zu bezeichnen beleidigt
alle von Permenides bis Schopenhauer.
Ich kaufte also den Invaliden, ging zum Zug, fuhr ab und las. An
sich hatte ich, wie immer, ausreichend Lektüre dabei. Ich wüßte
nicht mehr zu sagen, was ich damals gerade las, doch das stellte ich
zurück, denn das bejammernswerte Buch... Sie kennen das ja, ich
wollte es nicht beleidigen, indem ich zugab, es nur aus Mitleid
gekauft zu haben. Ich heuchelte dem Buch gegenüber Interesse und
schlug es auf, das heißt: Ich brauchte es ja nicht aufzuschlagen,
denn die erste zu lesende Seite lag wie eine offene Wunde obenauf...
(Herbert Rosendorfer: Die Donnerstage des Oberstaatsanwalts)
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