Ich und die Menschen [<<]Fundstücke aus Matt Haigs RomanIntroductionMatt Haig beschreibt in seinem Roman "Ich und die Menschen", wie ein Außerirdischer (Vonnadorianer) die Erde besucht, um in die Figur eines Mathematikers zu schlüpfen. Am Anfang ist ihm natürlich alles fremd. Er mokiert sich über die "bestenfalls mittelmäßige" Intelligenz der menschlichen Spezies, wundert sich, wie furchtbar langsam sie lesen. "Kein Wunder, dass die Menschen eine primitive Spezies waren. Kaum hatten sie annähernd genug Bücher gelesen, um mit dem erworbenen Wissen irgendetwas anfangen zu können, waren sie schon tot." Als er, immer noch nackt, zu seinem Bestimmungsort läuft und logischerweise alle Blicke auf sich zieht, sinniert er, als er einem Penner begegnet, über das menschliche Sosein - mit einem verblüffenden Fazit, das mich als Bibliomanen, klar, aufprusten läßt: "Er erinnerte mich daran, dass die Erde ein Ort des Todes war. Hier zerfielen Dinge, lösten sich auf, starben. Das Leben eines Menschen war auf allen Seiten von Dunkelheit umgeben. Wie um alles in der Welt ertrugen sie das? Idiotie, verursacht vom langsamen Lesen. Das war die einzige Erklärung." Spirale des UnglücklichseinsAuf der Erde befinden sich die Medien noch im Vor-Kapsel-Stadium, und der Großteil der Informationen muss mit Hilfe von elektronischen Geräten oder eines sogenannten Printmediums gelesen werden, hergestellt aus einer aus Bäumen gewonnenen, dünn ausgewalzten, chemisch bearbeiteten Masse, die man Papier nennt. Zeitschriften sind sehr beliebt, obwohl sich kein Mensch nach dem Lesen besser fühlt. Im Gegenteil, ihr Hauptzweck ist, den Lesern Gefühle von Minderwertigkeit einzuflößen, die sie dazu bewegen, etwas zu kaufen. Haben sie das getan, fühlen sie sich trotzdem nicht weniger minderwertig und kaufen sich noch eine Zeitschrift, um zu erfahren, was sie als Nächstes kaufen sollen. Es ist eine ewige Spirale des Unglücklichseins, die man Kapitalismus nennt. Sehr populär. Ständig im KreisIch wusste, dass die Erde eine reale Gegebenheit war, in einem monotonen, weit entfernten Sonnensystem, wo nicht viel passierte und die Reisemöglichkeiten der Einwohner extrem beschränkt waren. Ich hatte außerdem gehört, dass die Menschen eine Lebensform von bestenfalls mittelmäßiger Intelligenz waren, die zu Gewalttätigkeit, sexueller Schamhaftigkeit und schlechter Lyrik neigten und die Angewohnheit hatten, sich ständig im Kreis zu bewegen. (Keine) Zeit zu lesenIn einem solchen Geschäft sah ich im Schaufenster eine Menge Bücher. Wie ich jetzt weiß, müssen die Menschen Bücher lesen. Sie müssen sich buchstäblich hinsetzen und ein Wort nach dem anderen lesen. Das kostet Zeit. Viel Zeit. Ein Mensch kann sich nicht mehrere Bände auf einmal zuführen oder in wenigen Sekunden fast unendliches Wissen einverleiben. Er kann sich nicht einfach eine Wortkapsel mit einem neu erschienenen Buch in den Mund schieben wie wir. Man stelle sich das vor! Nicht nur sterblich zu sein, sondern auch noch gezwungen, einen Teil der wertvollen begrenzten Zeit auf Erden mit Lesen zu verbringen. Kein Wunder, dass die Menschen eine primitive Spezies waren. Kaum hatten sie annähernd genug Bücher gelesen, um mit dem erworbenen Wissen irgendetwas anfangen zu können, waren sie schon tot. Corpus ChristiIch kam an ein großes Gebäude mit einem hohen Tor und einem Schild daneben. Auf dem Schild stand "College des Corpus Christi und der Jungfrau Maria". Nach der Lektüre von Cosmopolitan wusste ich, was eine Jungfrau war, doch die anderen Wörter stellten mich vor ein Rätsel. Corpus und Christi schienen zu einem Raum zu gehören, der irgendwie außerhalb der Sprache lag. Corpus hatte etwas mit Körper zu tun, also war Corpus Christi vielleicht ein tantrischer Ganzkörperorgasmus. MisanthropieHaig kann durch den Alien der Misanthropie freien Lauf lassen, weil dieser Blick von außen auf uns zunächst einmal eine unangreifbare Position darstellt: "Die Frau hieß Priti, ausgesprochen wie "pretty", was hübsch hieß. Eine unglückliche Namenswahl angesichts der Tatsache, dass sie ein Mensch war und daher naturgemäß übelkeiterregend." VerrückteDie Menschen mögen Verrückte in der Regel nicht, es sei denn, sie können gut malen, und auch dann erst, wenn sie tot sind. (...) Die wichtigsten Regeln, wenn man auf der Erde normal erscheinen will, sind: Man muss die richtige Kleidung tragen, die richtigen Worte sagen und darf nur die richtige Sorte Gras betreten. (Matt Haig: Ich und die Menschen) Der Sinn des LebensUm mich wie ein Mensch zu verhalten, musste ich die Menschen verstehen, also stellte ich ihr die weitreichendste Frage, die mir einfiel. "Was, denken Sie, ist der Sinn des Lebens? Haben Sie ihn gefunden?" "Ha! Der Sinn des Lebens. Der Sinn des Lebens. Es gibt keinen. Die Menschen suchen nach allgemeinen Werten und Sinn in einer Welt, die so etwas nicht nur nicht bietet, sondern die dem Menschen gegenüber auch vollkommen gleichgültig ist. Das ist jetzt nicht wirklich Schopenhauer. Das ist eher Kierkegaard via Camus. Meine Linie. Das Problem ist, wenn man Philosophie studiert und aufhört, an einen Sinn zu glauben, fängt man an, Medikamente zu brauchen." PubertätEr schlug die Tür hinter sich zu und stieß dabei eine Art Knurren aus. Er war fünfzehn. Das hieß, er gehörte zu einer Untergruppe der Menschen, die "Teenager" genannt wurden. Zu ihren Haupteigenschaften gehörten eine geschwächte Widerstandsfähigkeit gegen die Schwerkraft, eine Sprache, die vornehmlich aus Grunzen bestand, ein Mangel an räumlichem Bewusstsein, eine Vorliebe für Masturbation und ein unstillbarer Appetit auf Frühstücksflocken. (Matt Haig: Ich und die Menschen) Menschliche Erfindungen... war die Geschichte der Menschen voll von deprimierenden Phänomenen wie Kolonisation, Krankheit, Rassismus, Sexismus, Homophobie, Snobismus, Umweltzerstörung, Sklaverei, Totalitarismus, Militärdiktaturen, Erfindungen, die die Menschen anschließend nicht mehr in den Griff bekamen (die Atombombe, das Internet, das Semikolon), ... (Matt Haig: Ich und die Menschen) PrimzahlenPrimzahlen trieben die Leute buchstäblich in den Wahnsinn, vor allem, weil hier so viele Rätsel ungelöst waren. Sie wussten, dass eine Primzahl eine ganze Zahl war, die nur durch eins und sich selbst teilbar war, doch danach fingen die Probleme an. So wussten sie zum Beispiel auch, dass die Menge aller Primzahlen genauso groß war wie die Menge aller Zahlen, nämlich unendlich. Diese Tatsache war für den Menschen höchst konsternierend, denn es schien ja viel mehr Zahlen als Primzahlen zu geben. So unverdaulich war der Widerspruch, dass es schon vorgekommen war, dass sich Menschen beim Nachdenken darüber eine Pistole in den Mund gesteckt, abgedrückt und sich das Hirn weggeschossen hatten. (Matt Haig: Ich und die Menschen) Was für uns sprichtWir gingen mit Newton in den Park. Parks waren das gängigste Ziel von Spaziergängen mit Hunden. Ein Stück Natur - Gras, Blumen, Bäume -, das nicht ganz Natur sein durfte. Parks waren verhinderte Wälder, so wie Hunde verhinderte Wölfe waren. Die Menschen liebten beides, vielleicht weil die Menschen auch irgendwie verhindert waren. Die Blumen waren wunderschön. Blumen waren, nach der Liebe, die beste Werbung für die Erde, die man sich vorstellen konnte. Inkonsequenz der MenschenDie Menschen taten ja ständig Sachen, die ihnen nicht gefielen. Meiner Schätzung nach waren zu jedem beliebigen Zeitpunkt nur null Komma drei Prozent der Menschen aktiv mit etwas beschäftigt, das ihnen gefiel, und selbst dann hatten sie ein schlechtes Gewissen dabei und schworen sich hoch und heilig, so bald wie möglich wieder etwas schrecklich Unangenehmes zu tun. (Matt Haig: Ich und die Menschen) Fehlende Logik"Es gibt auch das Gute im Menschen. Viel Gutes." "Nein. Das sehe ich nicht so. Die Menschen können dasitzen und tote Menschen auf Fernsehbildschirmen anschauen und nichts dabei fühlen." "Das dachte ich auch erst, aber ..." "Sie können jeden Tag fünfzig Kilometer mit dem Auto fahren und trotzdem ein gutes Gewissen haben, weil sie ein paar Marmeladengläser recyceln. Sie reden davon, dass der Frieden das Wichtigste auf der Welt ist, und verherrlichen gleichzeitig den Krieg. Sie verachten den Mann, der im Affekt seine Frau tötet, aber verehren den gleichgültigen Soldaten, der mit einer Bombe hundert Kinder tötet." "Ja, mit der Logik hapert es manchmal..." (Matt Haig: Ich und die Menschen) Zitate & Streusel
© Matt Haig: Ich und die Menschen, München 2014. ISBN 978-3-423-26014-5 |