Dostoevskij-Splitter [<<]

Rund um den Meister aus Petersburg


Zitate & Textstreusel
Die allerbetrunkensten Menschen
Das Ende der Absonderung
Periode menschlicher Vereinzelung
Dostoevskij im Internet
Ziele erreichen
Einen Weg bahnen
Irrational und Undankbar ^


Das Ende der Absonderung

Allenthalben beginnt heutzutage der Verstand der Menschen nicht mehr einzusehen, daß die wahre Sicherstellung der Person nicht in ihrer einsamen persönlichen Anstrengung besteht, sondern im allgemeinen Zusammenspiel der Menschen als ein Ganzes. Aber es wird doch unbedingt so geschehen, daß auch für diese schreckliche Vereinsamung die Frist ablaufen wird, und alle werden dann auf einmal begreifen, wie unnatürlich es war, sich von einander abzusondern. (Fedor M. Dostoevskij: Die Brüder Karamasow)


Die allerbetrunkensten Menschen

Am nächsten Tag betrank ich mich vor Leid, weiß nicht mehr viel von diesem Tage, bin ein sündiger Mensch. Mütterchen hatte auch gefangen zu weinen - Mütterchen habe ich sehr lieb - nun, und so hatte ich mich denn berauscht. Sie, Verehrtester, verachten Sie mich nicht: in Rußland sind die Trinker die besten Menschen. Die allerbesten Menschen sind bei uns die allerbetrunkensten. (Fedor M. Dostoevskij: Die Brüder Karamasow)


Periode menschlicher Vereinzelung

"Um die Welt zu ändern, sie neu zu gestalten, müssen zuvor die Menschen sich selbst psychisch umstellen und eine andere Richtung einschlagen. Bevor man nicht innerlich zum Bruder eines jeden geworden ist, kann kein Brudertum zur Herrschaft gelangen. Niemals werden die Menschen mit Hilfe einer Wissenschaft oder um eines Vorteils willen durch äußere Hilfsmittel es fertigbringen, ihr Eigentum und ihre Rechte so untereinander zu verteilen, daß niemand zu kurz komme und sich nicht gekränkt fühle. Immer wird es jedem zu wenig scheinen und immer wird man einander vernichten. Sie fragen, wann sich das verwirklichen wird? Es wird sich verwirklichen, aber zuerst muß sich die Periode der menschlichen Vereinzelung vollenden." - "Was für einer Vereinzelung, die jetzt überall herrscht, und namentlich in unserem Jahrhundert, die aber noch nicht ganz abgeschlossen ist, deren Frist noch nicht abgelaufen ist. Denn jetzt strebt doch ein jeder nur danach, seine Person möglichst abszusondern, ein jeder möchte in sich selber die ganze Fülle des Lebens erfahren, dabei aber ist das Ergebnis all seiner Anstrengungen, statt der Fülle des Lebens, nur vollständiger Selbstmord, denn statt die volle Entfaltung des eigenen Wesens zu erlangen, verfallen sie nur vollkommener Vereinzelung. (Fedor M. Dostoevskij: Die Brüder Karamasow)


Herabwürdigung

Für die Gesellschaft tauge ich nicht. Es gibt Ideen, hohe Ideen, von denen ich nicht zu reden anfangen darf. Ich besitze kein schickliches Benehmen, und meine Gefühle sind maßlos; meine Worte entsprechen meinen Gedanken nicht, sondern kommen anders heraus; darin aber liegt eine Herabwürdigung dieser Gedanken. (Der Idiot, S. 529)


Ziele erreichen

Wenn Arbeiter eine Arbeit beendet haben, so erhalten sie doch wenigstens Geld, für das sie in die Schenke gehen und sich betrinken können, um danach auf die Polizeiwache zu geraten, - und damit wäre dann eine Woche ausgefüllt. Wohin aber soll der Mensch gehen? Wenigstens kann man an ihm, wenn er irgendwo ein Ziel erreicht hat, immer eine gewisse Verlegenheit wahrnehmen. Das Streben nach der Erreichung des Zieles liebt er, das Erreichen selbst aber - nicht mehr so ganz; und das ist natürlich furchtbar komisch. (Fedor M. Dostoevskij: Aufzeichnungen aus dem Untergrund)


Einen Weg bahnen

Der Mensch ist ein vornehmlich schöpferisches Tier, das verurteilt ist, bewußt zu einem Ziel zu streben, und sich mit der Ingenieurkunst zu befassen, das heißt sich ewig und ununterbrochen einen Weg zu bahnen, wenn auch einerlei wohin. Nun aber will er sich vielleicht gerade deswegen zuweilen aus dem Staube machen oder sich seitwärts in die Büsche schlagen, weil er dazu verurteilt ist, sich diesen Weg zu bahnen, und meinetwegen auch noch aus dem anderen Grunde, weil ihm, wie dumm der unmittelbare und tätige Mensch im allgemeinen auch sein mag, zuweilen doch der Gedanke kommt, daß dieser Weg, wie es sich erweist, fast immer einerlei wohin führt, und daß die Hauptsache durchaus nicht ist, wohin er führt, sondern, daß er überhaupt nur führt, auf daß sich das artige Kind nicht, die Ingenieurarbeit verschmähend, dem verderblichen Müßiggang ergebe, der, wie allgemein bekannt, der Vater aller Laster ist. Der Mensch liebt es, sich als Schöpfer zu erweisen und Wege zu bahnen, das ist unbestreitbar. Warum aber liebt er bis zur Leidenschaft ebenso Zerstörung und Chaos? (Fedor M. Dostoevskij: Aufzeichnungen aus dem Untergrund)


Irrational und Undankbar

Bekanntlich sind sich nun viele dieser Menschenfreunde früher oder später oder vielleicht auch erst an ihrem späten Lebensabend nicht treu geblieben und haben irgend so ein gewisses Geschichtchen inszeniert, zuweilen sogar eines, das zu den allerunandständigsten gehört. Jetzt frage ich Sie: was kann man nun von einem Menschen, als einem Wesen, das mit solchen sonderbaren Eigenschaften bedacht ist, erwarten? Überschütten Sie ihn mit allen Erdengütern, versenken Sie ihn in Glück bis über die Ohren, bis über den Kopf, so daß an die Oberfläche des Glücks wie zum Wasserspiegel nur noch Bläschen aufsteigen, geben Sie ihm ein pekuniäres Auskommen, daß ihm nichts anderes zu tun übrig bleibt, als zu schlafen, Lebkuchen zu vertilgen und für den Fortbestand der Menschheit zu sorgen, - so wird er doch, dieser selbe Mensch, Ihnen auf der Stelle aus purer Undankbarkeit, einzig aus Schmähsucht einen Streich spielen. Er wird sogar die Lebkuchen aufs Spiel setzen und sich vielleicht den verderblichsten Unsinn wünschen, den allerunökonomischsten Blödsinn, einzig um in diese ganze positive Vernünftigkeit sein eigenes unheilbringendes phantastisches Element beizumischen. Gerade seine phantastischen Einfälle, seine banale Dummheit wird er behalten wollen, und zwar ausschließlich zu dem Zweck, um sich selbst zu bestätigen. (Fedor M. Dostoevskij: Aufzeichnungen aus dem Untergrund)


Für gewöhnlich

Zu Hause las ich gewöhnlich. Wollte ich doch durch äußere Eindrücke unterdrücken, was unaufhörlich in mir aufwallte. Von äußeren Eindrücken konnte ich mir nur Lektüre leisten. Das Lesen half natürlich viel, - es regte auf, berauschte und quälte. Mitunter aber wurde es doch entsetzlich langweilig. Man wollte sich auch einmal bewegen! (Fedor M. Dostoevskij: Aufzeichnungen aus dem Untergrund)


Schichten und Geheimnisse

In den Erinnerungen eines jeden Menschen gibt es Dinge, die er nicht allen mitteilt, sondern höchstens seinen Freunden. Aber es gibt auch Dinge, die er nicht einmal den Freunden aufdeckt, sondern nur sich selbst, und auch das nur unter dem Siegel der Verschwiegenheit. Schließlich aber gibt es auch noch Dinge, die der Mensch sogar sich selber zu sagen fürchtet, und solcher Dinge sammelt sich bei jedem anständigen Menschen eine ganz beträchtliche Menge an. (Fedor M. Dostoevskij: Aufzeichnungen aus dem Untergrund)


Geschichte

Versuchen Sie es doch, werfen Sie einen Blick auf die Geschichte der Menschheit: nun, was? Großartig - wie? Meinetwegen auch großartig; allein schon der Koloß von Rhodos, was der wert ist! Nicht umsonst sagten die einen von ihm, er sei ein Werk von Menschenhand, die anderen aber, er sei von der Natur selbst hervorgebracht. - Oder finden Sie sie bunt? Nun, meinetwegen auch bunt: wollte man bloß die Paradeuniformen der Militärs und Staatsbeamten nach den Jahrhunderten und den Nationen sortieren - welch eine Heidenarbeit wäre schon das allein, und mit den Mänteln noch dazu, wäre es vollends zum Beinebrechen. Kein Historiker käme damit zu Rande. - Oder einförmig? Nun, meinetwegen auch einförmig: sie raufen sich, und raufen sich, und haben sich schon früher gerauft und werden sich auch hinfort noch raufen, - Sie müssen doch zugeben, daß das schon gar zu einförmig ist. Mit einem Wort, man kann alles über die Weltgeschichte sagen, alles, was der hirnverbranntesten Einbildungskraft nur einfällt. Nur eines kann man nicht sagen, nämlich: daß sie vernünftig sei. Sie würden beim ersten Wort stecken bleiben und das Hüsteln kriegen. (Fedor M. Dostoevskij: Aufzeichnungen aus dem Untergrund)


Aufzeichnungen aus dem Untergrund

Die Aufzeichnungen aus dem Untergrund von Fedor M. Dostoevskij, die ich vorgestern Nacht beendete, waren Buch Nummer 2099. Im ersten Abschnitt dieser zweigeteilten Erzählung räsoniert der Icherzähler über den freien Willen des Menschen. Er bastelt an Theorien über seine eigene Verfaßtheit und die des Menschen schlechthin. Und zwar schreibt er von ganz unten - aus dem Untergrund eben. So tief stehend er sich erlebt und einstuft, so fies versucht er auch zu sein, kann aber als moderner Mensch nicht mithalten. Ihm fehlt jedes Durchsetzungsvermögen, jede Eloquenz. Er ist zutiefst vereinsamt. Im zweiten Teil beschreibt er das mißlungene Abschiedsdiner bei ehemaligen Schulfreunden, in deren Mitte er Außenseiter bleibt. Auch eine Prostituierte, bei der er letztlich Trost und Nähe sucht, schafft es nicht, ihn zu knacken. Nachdem er sich kurfristig geöffnet hat, überwiegt die Scham, der Panzer schließt sich, die Beziehung endet in der Katastrophe. Dieser Mensch des Mittelmaßes, dieser exemplarische Mensch bleibt zurück, wie er bereits 40 Jahre lang verlebt hat: ohne gelebt zu haben, ohne etwas erlebt zu haben. Ganz außen, ganz unten. Mein Dostoevskij- Lektüre gestaltet sich übrigens so, daß ich im November 1998 die Erstlektüre des Gesamtwerkes abgeschlossen hatte und Mai 1999 die zweite Runde mit dem "Spieler" eingeläutet wurde.


Charakterstudie

Für schwache und leere Charaktere, die an ewige Unterwerfung gewöhnt sind, gibt es, wenn sie sich einmal entschließen, sich aufzulehnen und zu protestieren, mit einem Wort, fest und entschlossen zu sein, - für diese Charaktere gibt es immer eine gewisse nahe Grenze, die das Ende ihrer kurzen Festigkeit und Entschlossenheit ist. Ihr Protest pflegt zu Anfang überaus energisch zu sein. Ihre Energie geht zuweilen sogar bis zur Raserei. Sie werfen sich gleichsam mit zugekniffenen Augen auf die Hindernisse und laden sich fast stets eine für ihre Kräfte zu große Last auf die Schultern. Hat aber dieser rasende Mensch jene nahe Grenze erreicht, so bleibt er plötzlich, gleichsam erschrocken über sich selbst, wie betäubt vor der furchtbaren Frage stehen: "Was habe ich da angerichtet?" - worauf er alsbald seinen ganzen Heroismus verliert, womöglich sogar weint, sich erklären will, auf die Knie fällt, um Verzeihung bittet, fleht, es wieder beim alten sein zu lassen. (Fedor M. Dostoevskij: Onkelchens Traum)


In der unteren Klasse

Ich liebe es sogar, wenn man so vor lauter Eifer lügt! So ein Lügen ist das einzige menschliche Privilegium vor allen anderen Organismen. Wenn du so lügst, wirst du dich schon zur Wahrheit durchkrabbeln. Ich bin ja darum Mensch, weil ich lüge, das heißt phantasiere! Keine einzige Wahrheit ist erreicht worden, ohne daß man vorher vierzigmal, vielleicht auch hundertvierzigmal gelogen hat, und das ist in seiner Art höchst ehrenvoll. Wir aber verstehen nicht einmal, aus eigener Phantasie zu lügen! Lüge mir vor, soviel du willst, aber lüge in deiner Weise, und ich gebe dir dafür einen Kuß! In seiner eigenen Weise zu lügen, ist doch fast besser noch als Wahrheit nur aus fremder Quelle nachschwätzen; im ersten Falle bist du ein Mensch, im letzteren bist du bloß ein Papagei! Die Wahrheit wird nicht fortlaufen, mit fremder Wahrheit aber kann man dabei nur das eigene Leben ersticken, wie mit Brettern zunageln; wir haben Beispiele dafür. Nun, was sind wir jetzt? Wir alle, alle ohne Ausnahme, sitzen in bezug auf Wissenschaft, Entwicklung, Denken, Erfindung, Ideale, Wünsche, Liberalismus, Vernunft, Erfahrung und alles, alles, alles, alles, alles noch in der alleruntersten Klasse des Gymnasiums! Uns hat es bisher vollkommen genügt, mit fremder Weisheit auszukommen - wir haben Geschmack daran gefunden! (Fedor M. Dostoevskij: Schuld und Sühne, S. 270f.)


Schmeichelei

Schließlich machte ich von dem stärksten und unfehlbarsten Mittel, Frauenherzen zu erobern, Gebrauch, von dem Mittel, das nie und nimmer versagt und das entschieden auf alle, ohne jede Ausnahme, wirkt. Es ist ein bekanntes Mittel: die Schmeichelei. Es gibt nichts Schwereres in der Welt als offenen Freimut und nichts Leichteres als Schmeichelei. Wenn im Freimut bloß ein hundertster Teil des Tones falsch ist, so tritt sofort eine Dissonanz ein, und danach gibt es einen Skandal. Wenn aber in der Schmeichelei alles, selbst der geringste Bruchteil eines Tones, falsch ist, so ist sie auch dann noch angenehm und wird nicht ohne Vergnügen angehört; wenn auch nicht mit grobem Vergnügen, so doch immerhin mit Vergnügen. (Fedor M. Dostoevskij: Schuld und Sühne, S. 641)


Alles relativ

"Tja, sehen Sie, diese Zigaretten!" begann schließlich Porphyrij Petrowitsch zu reden, nachdem er die Zigarette angesteckt, den ersten Zug getan und den Rauch ausgeatmet hatte. "Sie sind doch nichts als schädlich, aber ich kann das Rauchen nicht lassen! Ich huste, im Hals beginnt es zu kratzen, und ich leide an Atemnot. Ich bin, wissen Sie, eigentlich ängstlich, und vor ein paar Tagen war ich beim Arzt, Dr. B-n. Der untersucht jeden Kranken minimum eine halbe Stunde: er grinste, als er mich sah, dann beklopfte er mich, hat mich abgehorcht, und darauf meinte er, unter anderem, daß ich das Rauchen aufgeben sollte; meine Lungen seien erweitert. Aber wie soll ich denn das Rauchen aufgeben? Womit es ersetzen? Ich trinke ja nicht, das ist das ganze Unglück, hehehe, eben daß ich nicht trinke, ist ein Unglück! Es ist doch alle relativ, Rodion Romanowitsch, alles relativ." (Fedor M. Dostoevskij: Schuld und Sühne, S. 602)


Ein trivialer Mensch

Aus Liebhaberei hatte er sich den Progressisten und "unserer jungen Generation" zugesellt. Er war bloß einer aus der bunt zusammengesetzten, unübersehbaren Legion trivialer Menschen, kränklicher Frühgeburten und dünkelhafter Halbgebildeten, die nichts ordentlich gelernt haben, sich aber sofort an die unbedingt allermodernste gangbare Idee anhängen, um sie im Handumdrehen zu verflachen und alles im Nu zur Karikatur zu machen, auch wenn sie selbst manchmal in der aufrichtigsten Weise der Sache dienen wollen. (Fedor M. Dostoevskij: Schuld und Sühne, S. 490)


Drei Wege vor sich

"Sie hat drei Wege vor sich", dachte er: "entweder sich in den Kanal zu stürzen, ins Irrenhaus zu kommen, oder... oder, zu guter Letzt, sich der Ausschweifung zu ergeben, die den Verstand betäubt und das Herz versteinert." Der letzte Gedanke war ihm der widerlichste; aber er war schon Skeptiker, er war jung, dachte abstrakt und somit grausam, und darum konnte er auch nicht umhin zu glauben, daß der letzte Ausweg, das heißt, das Laster, am wahrscheinlichsten sei. (Fedor M. Dostoevskij: Schuld und Sühne, S. 433)


Die Ewigkeit

"Uns erscheint die Ewigkeit immer als eine Idee, die man nicht fassen kann, als etwas ungeheuer Großes, Endloses! Aber warum soll sie denn unbedingt ungeheuer groß sein? Und plötzlich wird es dort statt dessen, stellen Sie sich das vor, nur ein kleines Zimmer geben, ähnlich einer Badestube auf dem Lande, verräuchert, in allen Ecken Spinnen, und das ist dann die ganze Ewigkeit. Mir, wissen Sie, schwant manchmal etwas von dieser Art." "Können Sie sich denn wirklich, wirklich nichts Tröstlicheres und Gerechteres vorstellen als so etwas!" rief Raskolnikoff mit schmerzhaftem Gefühl aus. "Gerechteres? Wer weiß, vielleicht ist dies gerecht; und wissen Sie, ich würde es unbedingt absichtlich so einrichten!" antwortete Sswidrigailoff mit unbestimmtem Lächeln. (Fedor M. Dostoevskij: Schuld und Sühne, S. 389)


Schon 43

Obgleich Pulcheria Alexandra schon dreiundvierzig Jahre alt war, verriet ihr Gesicht immer noch die frühere Schönheit, und außerdem erschien sie bedeutend jünger, als sie war, was so oft der Fall ist bei Frauen, die die Klarheit des Geistes, die frische Empfänglichkeit für alle Eindrücke und das ehrliche, reine Feuer des Herzens bis ins Alter bewahren. Wir wollen in Klammern hinzufügen, daß dies zu bewahren das einzige Mittel ist, auch noch im Alter schön zu bleiben. (Fedor M. Dostoevskij: Schuld und Sühne, S. 275)


Vorlieben

Ich spreche nicht einmal davon, daß es bei Frauen Fälle gibt, wo es ihnen sehr, sehr angenehm ist, beleidigt worden zu sein, trotz der zur Schau getragenen Entrüstung! Solche Fälle kommen bei allen vor. Der Mensch liebt es im allgemeinen sehr, wirklich sehr, beleidigt zu sein; haben Sie das noch nicht bemerkt? Bei Frauen aber ist dies noch ganz besonders der Fall. Man kann sogar so weit gehen zu sagen, daß sie sich damit gern die Zeit vertreiben. (Schuld und Sühne, S. 379)


Korrespondenz - wie furchtbar!

"Selbstredend fand ich es für nötig, sofort meine ganze Macht zu gebrauchen, die du damals Tyrannei nanntest. Denk doch nur: ein unreifer Jüngling, der Sohn eines Popen, der ein Monatsgehalt von nur zwölf Rubeln hat, der Verfasser erbärmlicher Verse, die nur aus Mitleid in der "Bibliothek der Aufklärung' abgedruckt werden und der von nichts anderem als nur von diesem verwünschten Shakespeare zu sprechen weii - dieser Jüngling dein Mann, der Mann Sinaida Moskaleffs! Das ist doch ein Ding der Unmöglichkeit! Verzeih, Sina, aber schon die Erinnerung daran bringt mich um den Verstand! Ich wies ihn also ab. Aber keine Macht der Welt vermag dich aufzuhalten. (...) Du aber bist von deinem Jüngling nicht abzubringen, du kommst sogar heimlich mit ihm zusammen und, was am furchtbarsten ist, du entschließt dich, mit ihm zu korrespondieren. (Onkelchens Traum, S. 56)


Die Ursuppe

Dostoevskijs große Romane müssen so dick sein, man würde sich sonst niemals so wunderbar meschugge machen lassen von dem Wahngemenge aus Schuld, Liebe, Gott und Mord und Leid und Rußland, aus dem er, wie aus der Ursuppe, seine Figuren kocht. Er wäre auch viel unerträglicher als er schon ist, wenn er daneben nicht so sehr viel witziger wäre, als seine Bewunderer meistens vermuten lassen. (Rolf Vollmann: Der Roman-Navigator, S. 182)


Auf dem Friedhof

Muß mich zerstreuen. Ging aus, um mich zu zerstreuen, geriet auf eine Beerdigung. (...) Es wird wohl schon so an die fünfundzwanzig Jahre her sein, daß ein Friedhof mich zuletzt gesehen hat. Das ist auch so ein Ort! Erstens schon der Geruch. An Leichen waren ganze fünfzehn zusammengekommen. Särge in verschiedenen Preislagen; sogar zwei Katafalke waren dabei: einer für einen General und einer für eine vornehme Dame. Viele traurige Gesichter, auch viel geheuchelte Trauer, aber auch viel unverhohlene Fröhlichkeit. Die Geistlichkeit darf sich nicht beklagen: die Einkünfte sind nicht übel. Aber der Geruch, der Geruch! Würde hier nicht Geistlicher sein wollen! (...) Während der Dauer des Gottesdienstes schlenderte ich noch ein wenig hinaus vors Friedhofstor. Dort ist gleich ein Spital und etwas weiter auch ein Restaurant. Und gar kein übles: Imbiß und auch alles andere. Es war gesteckt voll von Menschen, die einem Toten das Geleit gegeben hatten. Bemerkte viel Munterkeit und echte Lebenslust. ich aß einen Bissen und trank etwas dazu. (Bobok)


Bücher binden lassen

Schatow biß sich auf die Lippe. "Hören Sie, ich habe die Absicht, hier in der Stadt eine Buchbinderei aufzumachen, natürlich auf den vernünftigen Grundlagen der Teilhaberschaft. Da Sie hier wohnen: Was halten Sie davon? Wird es sich rentieren oder nicht?" "Ach Marie, bei uns werden keine Bücher gelesen, ja, es gibt gar keine. Wie soll er sich da Bücher binden lasssen?" "Wer denn: 'er'?" "Der hiesige Leser, der hiesige Einwohner im allgemeinen, Marie." "So sagen Sie das doch klarer! Da sagen Sie nun 'er', wer er aber ist, ist unbekannt. Von Grammatik haben Sie keine Ahnung." "Das liegt doch im Geist der Sprache, Marie", murmelte Schatow. "Ach hören Sie auf mit Ihrem Geist, das hängt mir zum Hals heraus! Warum soll denn der hiesige Leser und Einwohner seine Bücher nicht einbinden lassen?" "Weil ein Buch zu lesen und ein Buch einbinden zu lassen zwei verschiedene Stufen in der Entwicklung bedeuten, und zwar zwei gewaltige. Zuerst hat der Mensch nach und nach lesen gelernt, durch Jahrhunderte natürlich, aber er hat die Bücher zerrissen und herumgeworfen, da er sie eben noch nicht ernst genommen hat. Das Einbinden aber bekundet schon eine Achtung vor dem Buch, es zeigt, daß man nicht nur gern liest, sondern das Buch als einen Besitzgegenstand anerkennt. Bis zu dieser Stufe ist aber ganz Rußland noch nicht gelangt. In Europa läßt man schon lange binden." "Das ist zwar etwas pedantisch, aber durchaus nicht dumm gesagt und erinnert mich an die Zeit vor drei Jahren. Sie waren mitunter ziemlich witzig vor drei Jahren." (Die Dämonen, S. 849f.)


Festhalten an Illusionen

Der "gescheite" gewöhnliche Mensch hat, selbst wenn er sich vorübergehend (oder meinetwegen auch sein ganzes Leben lang) für den genialsten und originellsten Menschen hält, nichtsdestoweniger in seinem Herzen einen Wurm des Zweifels sitzen, der ihn mitunter zur größten Verzweiflung bringt. Übrigens haben wir hier ein wenig übertrieben, denn gewöhnlich sind diese "gescheiterten" Leute längst nicht so tragisch zu nehmen, sie werden zum Schluß höchstens leberleidend - mehr oder weniger, je nachdem - und das ist alles. Aber immerhin sind sie von einer ungeheuren Zähigkeit im Festhalten an ihren Illusionen: oft beginnen sie damit schon in der ersten Jugend und lassen selbst im höchsten Alter nicht um Haaresbreite von ihren Illusionen ab, so stark ist ihr Verlangen, originell zu sein. (Der Idiot, S. 709)


Einbildungen

Einem beschränkten "gewöhnlichen" Menschen fällt z.B. nichts leichter, als sich für einen ungewöhnlichen, originellen Menschen zu halten und sich durch diesen Glauben das Leben ruhigen Gewissens zu versüßen. Genügte es doch gar mancher Dame, sich das Haar abzuschneiden, eine blaue Brille auf die Nase zu setzen und sich "Nihilistin" zu nennen, um sogleich davon überzeugt zu sein, daß sie nun auch eigene "Überzeugungen" habe. Es braucht so manch einer nur ein etwas menschenfreundlicheres Gefühl in seinem Herzen zu hegen, und es ist ohne weiteres überzeugt, daß er der fortgeschrittenste und feinfühligste Mensch sei. Und wie vielen genügte es, in irgendeiner Broschüre einen beliebigen Abschnitt mitten heraus zu lesen, um sich einzubilden, die gelesenen Gedanken seien im eignene Gehirn entstanden. (Der Idiot, S. 708)


Eine Dame von 45

Sie war eine Dame von ungefähr fünfundvierzig Jahren (also noch eine sehr junge Frau für ein so altes Männchen wie ihr Gatte), war eine ehemalige Schönheit, die es auch jetzt noch liebte, sich schon allzu prächtig zu kleiden, der Manie zufolge, die viele fünfundvierzigjährige Damen befällt; ihr Verstand war nicht groß und ihre Kenntnis der Literatur sehr zweifelhaft. Allein, das Protegieren der Schriftsteller war bei ihr die gleiche Art Manie wie ihre Sucht, sich prächtig zu kleiden. (Der Idiot, S. 818)


Gewöhnliche und Außergewöhnliche

Es gibt Menschen, von denen sich nur schwer etwas sagen läßt, was sie einem in ihrer typischen, charakteristischen Art sogleich handgreiflich-deutlich vor Augen stellen könnte. Es sind das jene Leute, die man gewöhnlich "Dutzendmenschen" oder kurzweg "die Mehrzahl" nennt, und die auch tatsächlich die ungeheure Mehrzahl in jeder Gesellschaft ausmachen. In der Regel schildern die Schriftsteller in ihren Romanen und Novellen nur solche Typen der Gesellschaft, die es in Wirklichkeit nur äußerst selten in so vollkommenen Exemplaren gibt, wie die Künstler sie darstellen, die aber als Typen nichtsdestoweniger fast noch wirklicher als die Wirklichkeit selbst sind. (...) Jedenfalls bleibt eine recht schwierige Frage bestehen, und die lautet: was soll ein Romanschriftsteller mit den Durchschnittserscheinungen, mit den absolut "gewöhnlichen Menschen" beginnen, wie soll er sie darstellen, um sie seinem Leser wenigstens einigermaßen interessant erscheinen zu lassen? Ganz übergehen kann man sie in keinem Roman, denn gerade die gewöhnlichen Menschen sind die unentbehrlichsten Bindeglieder in der Kette der Ereignisse des Lebens; wollte man sie dennoch umgehen, so würde man nicht wirklichkeitsgetreu schreiben. Ein Roman, der nur "Typen" enthält, nur Sonderlinge und Ausnahmemenschen, würde nicht Wiedergabe der Wirklichkeit und vielleicht sogar nicht einmal interessant sein. Unserer Ansicht nach muß der Schriftsteller sich bemühen, selbst in den gewöhnlichen Menschen interessante Züge zu entdecken und lehrreich hervorzuheben. (Der Idiot, S. 706)


Medioker

In der Tat, es gibt nichts Ärgerlicheres, als z.B. reich, aus anständiger Familie, von gefälligem Äußeren, nicht ungebildet, nicht dumm, sogar ein sogenannter guter Mensch zu sein und dabei gleichzeitig doch kein einziges Talent zu besitzen, keine einzige besonderes Eigenschaft, nicht einmal besondere Schrullen und auch keine einzige eigene Idee zu haben, kurzum: "genau so wie alle anderen auch! zu sein. (Der Idiot, S. 707)


Eins in allem

Der beste, scharfsinnigste Schachspieler kann nur einige kleine Züge voraussehen; von einem französischen Schachspieler, der zehn Schachzüge vorausberechnen konnte, berichtete man wie von einem Weltwunder. Wieviele Schachzüge des Lebens aber sind uns denn bekannt? Und wieviel ist unbekannt! Indem Sie Ihr Samenkorn oder Ihr Almosen ausstreuen, Ihre Tat vollbringen, geben Sie, in welcher Form es auch sei, einen Teil Ihrer Persönlichkeit hin und nehmen einen Teil der anderen Persönlichkeit in sich auf; in dieser Wechselbeziehung stehen Sie beide zueinander. Schenken Sie dieser Tatsache nur ein wenig Aufmerksamkeit und sie werden durch die unerwartetsten Entdeckungen belohnt werden. (Der Idiot, S. 620)


Unser ausgelaugtes Zeitalter

Zeigen Sie mir einen die jetzige Menschheit verbindenden Gedanken von meinethalben nur halb so großer Kraft wie in jenen Jahrhunderten. Und wagen Sie nun noch zu sagen, daß die 'Quellen des Lebens' unter diesem 'Stern', unter diesem Netz, das die Menschen umstrickt hat, nicht geschwächt, nicht trübe geworden seien. Und versucht nicht, mich einzuschüchtern mit eurem Wohlstand, euren Reichtümern, der Seltenheit der Hungersnöte und der Schnelligkeit der Verkehrsmittel! Reichtum gibt es jetzt zwar mehr, innere Kraft aber weniger; der verbindende Gedanke fehlt; alles ist aufgeweicht, alles ist ausgelaugt und alle Menschen sind wie ausgekocht. (Der Idiot, S. 584)


Der russsische Liberale

"Erlauben Sie", widersprach Jewgenij Pawlowitsch eifrig, "ich habe gegen den Liberalismus nichts einzuwenden. Liberalismus ist keine Sünde; er ist ein notwendiger Bestandteil des Ganzen, das ohne ihn zerfallen oder erstarren, das heißt absterben würde; der Liberalismus hat dieselbe Existenzberechtigung wie der wohlgesittete Konervatismus; ich greife ja auch nur den russischen Liberalismus an, und, ich wiederhole, greife ihn nur deshalb an, weil der russische Liberale nicht ein russischer Liberaler, sondern eben ein nichtrussischer Liberaler ist. Zeigen Sie mir einen wirklich russischen Liberalen und ich werde ihn in Ihrer aller Gegenwart sogleich abküssen." "Vorausgesetzt, daß er sich von Ihnen küssen läßt", versetzte Alexandra Iwanowna, die ungewöhnlich angeregt zu sein schien. Sogar ihre Wangen hatten sich gerötet. "Seht doch mal!" dachte Lisaweta Prokofjewna bei sich, "sonst versteht sie nur zu schlafen und zu essen und ist nicht aufzurütteln, aber einmal im Jahr fährt auch in sie Leben hinein, und dann gleich so, daß man sich nur wundern kann!" (Der Idiot, S. 514)


Zu spät für Bücher

"Aber es ist doch zu spät, jetzt ist es doch viel zu spät, noch nach der Stadt zu schicken, um den Puschkin zu kaufen!" bemühte sich Kolja, die Generalin, mit der er sich wieder stritt, von ihrem Vorhaben abzubringen. "Zum dreitausendstenmal sage ich Ihnen: es ist heute viel zu spät dazu!" "Ja, heute ist es allerdings zu spät, noch nach der Stadt zu schicken", pflichtete ihm Jewgenij Pawlowitsch, der sich von Aglaja möglichst schnell abwandte, bei. "Auch dürften die Läden in Petersburg schon geschlossen sein, die Uhr geht ja bereits auf neun", sagte er, seine Uhr hervorziehend. "Wenn wir so lange nicht darauf verfallen sind, die Bücher zu kaufen, dann werden wir wohl bis morgen noch warten können", meinte Adelaida. "Und in der vornehmen Welt ist es doch auch gar nicht Mode, sich allzu lebhaft für Literatur zu interessieren! Fragen Sie mal Jewgenij Pawlowitsch. Das Fashionabelste ist heutzutage, in einem gelben Char-à-bancs mit roten Rädern spazieren zu fahren. (Der Idiot, S. 393)


Außerhalb aller Atheismen

Das Wesen des religiösen Gefühls ist durch keinerlei vernunftmäßige Überlegungen zu erfassen, wird von keinem Vergehen, von keinem Verbrechen berührt und steht außerhalb aller Atheismen; es handelt sich da um etwas gans Anderes, um etwas Andersartiges und wird in alle Ewigkeit andersartig sein; es ist hierbei etwas, woran die Atheisten ewig abgeleitet werden und ewig werden sie nicht davon, sondern daran vorbei reden. (Der Idiot, S. 340)


Ein Kultbuch

"Ich habe ein Kultbuch, Der Idiot von Dostojewski. Ich lese Bücher selten ein zweites Mal, außer Der Idiot, den ich ein zweites Mal gelesen habe. Und das Gefühl, das ich dabei hatte, war genauso intensiv wie beim ersten Mal. Ich habe Dostojewskis Werk über Der Idiot entdeckt. Er ist ein außergewöhnlicher Schriftsteller, in seinen Beschreibungen steckt etwas Wahnsinniges, die Kunst der Psychologie, Verzweiflung und Erlösung. Man sagt, er schreibe nicht sehr gut “in echt”, auf Russisch. Der Stil fesselt mich, aber da ist es mir egal, ich lese es nicht auf Russisch. Es heißt, er habe einen vulgären Stil, aber ich kann das nicht glauben. Die Bücher, die mich wirklich geprägt haben, sind die Bücher, die ich als Jugendliche entdeckt habe, und ich hätte Bücher wie Sexus von Miller oder Rot und Schwarz als Kultbücher aufgezählt, aber Dostojewski begleitet mich auch heute noch, er ist ein sehr wichtiger Schriftsteller." (Mazarine Pingeot)


Der Teufel

Das Gesetz der Selbstzerstörung und das Gesetz der Selbsterhaltung sind in der Menschheit gleich stark! Der Teufel beherrscht in gleicher Weise die Menschheit bis zum Ende der Zeiten, deren Frist uns noch unbekannt ist. Sie lachen? Sie glauben nicht an den Teufel? Der Unglaube an den Teufel ist ein französischer Gedanke, ist ein leichfertiger Gedanke. Aber wißt ihr denn, wer der Teufel ist? Wißt ihr denn, wie sein Name lautet? Und ohne auch nur seinen Namen zu kennen, lacht ihr über seine Form, lacht ihr nach Voltaires Vorgang über seinen Huf, seinen Schwanz und seine Hörner, die ihr selbst erfunden habe; denn der unreine Geist ist ein großer und furchtbarer Geist, aber die von euch ihm angedichteten Hufe und Hörner, die hat er nicht. (Der Idiot, S. 577)


Selig die Kinder

"Einem Kinde kann man doch alles sagen, alles! Es hat mich oft stutzig gemacht, wie schlecht Erwachsene Kinder verstehen, selbst Väter und Mütter ihre eigenen Kinder. Kindern sollte man nichts verheimlichen, wie man es gewöhnlich unter dem Vorwand tut, daß sie zu jung seien, und es für sie noch zu früh sei, manches zu wissen. Was das doch für eine traurige und klägliche Auffassung ist! Und wie gut es die Kinder begreifen, daß die Eltern sie für zu klein und zu dumm zum Verstehen halten, während sie doch tatsächlich alles verstehen! Die Erwachsenen wissen nicht, daß ein Kind sogar in der schwierigsten Angelegenheit einen äußerst guten Rat zu geben vermag. Mein Gott, wenn so ein Kind einen mit seinen klaren Augen wie ein kleiner Vogel treuherzig und glücklich ansieht - da muß man sich doch schämem, es zu belügen!" (Der Idiot, S. 106)


Alter schützt vor Liebe nicht

Übrigens ist ja bekannt, daß ein Mensch, der sich gar zu sehr von seiner Leidenschaft hinreißen läßt, und namentlich noch, wenn er dabei schon ein - wie man zu sagen pflegt - gesetzeres Alter erreicht hat, alsbald vollkommen mit Blindheit geschlagen und dann fähig ist, Hoffnungen sogar dort zu sehen, wo gar keine sein können, ja, daß er dann sogar trotz einer Stirnhöhe von fünf Zoll wie ein dummes Kind handeln kann. (Der Idiot, S. 79)


Familien"ableiter"

"Lisaweta Prokofjewna wurde mit jedem Jahre launischer, ungeduldiger und unduldsamer, ja, sie konnte bisweilen sogar sehr sonderbar sein. Doch da sie immer einen ihr äußerst ergebenen und von ihr gut erzogenen Gatten zur Hand hatte, so ergoß sich der Ärger, wenn sich ein solcher in ihrem Herzen angesammelt hatte, gewöhnlich über sein Haupt, worauf dann die Harmonie in der Familie wieder hergestellt war und alles von neuem im alten Gleise seinen gewohnten Gang nahm." (S. 59) Und einige Seiten zuvor unterlegt Dostoevskij die Rolle der Gatten zueinander noch: "Er behandelte sie nie als übereilte Handlung der unüberlegten Jugend. Und seine Gemahlin achtete er so hoch und fürchtete sie bisweilen so sehr, daß er sie offenbar sogar liebte. (Der Idiot, S. 26)


Familientaktik

Die Töchter kamen alle drei zum Papa, um ihm den Morgenkuß zu geben; die hatten nun allerdings keinen Grund, ihm gram zu sein, aber auch aus ihren Mienen glaubte sein argwöhnisches Gewissen etwas Besonderes herauszulesen. Freilich war der General aus gewissen Gründen mehr als nötig mißtrauisch geworden, und da er bei alledem noch ein erfahrener und geschickter Gatte und Vater war, so traf er schleunigt seine Vorkehrungen. (Der Idiot, S. 60)


Verschiedenheit des Menschen

Und schließlich sind wir ja allem Anschein nach so verschieden geartete Menschen... aus verschiedenen Gründen -, daß es zwischen uns auch schwerlich viele Berührungspunkte geben wird. Das heißt, genau genommen bin ich selbst nicht der Meinung; es scheint nur zu oft, daß es keine Berührungspunkte gibt, und doch sind sogar sehr zahlreiche vorhanden. Das kommt nur von der Trägheit des Menschen, weil sie sich nur so nach dem äußeren Schein zusammenfinden, deshalb können sie auch nichts Gemeinsames entdecken. (Der Idiot, S. 43)


Gegen die Todesstrafe II

Nehmen Sie zum Beispiel die Folter: da gibt es Schmerzen und Wunden und körperliche Qual, die aber lenkt einen doch von den seelischen Qualen ab, so daß einen bis zum Augenblick des Todes nur die Wunden quälen. Den größten, den quälendsten Schmerz aber verursachen vielleicht doch nicht die Wunden, sondern das Bewußtsein, daß, wie man genau weiß, in einer Stunde, dann in nur zehn Minuten, dann in einer halben Minute, sogleich, noch in diesem Augenblick - die Seele den Körper verlassen wird, und daß du dann kein Mensch mehr sein wirst, und daß das doch unfehlbar geschehen wird. Das Entsetzlichste ist ja gerade diese "Unfehlbar". Gerade wenn man den Kopf unter das Messer beugt und dann hört, wie es von oben klirrend herabklischt - gerade diese Viertelsekunden müssen die furchtbarsten sein. (Der Idiot, S. 36)


Gegen die Todesstrafe I

"Ich habe einmal in Frankreich eine Hinrichtung gesehen. In Lyon. Mein Arzt, Professor Schneider, hatte mich dorthin mitgenommen." "Wird dort gehängt?" "Nein, in Frankreich wird nur enthauptet." "Was, schreit der Mensch dabei sehr?" "Wo denken Sie hin! Es geschieht ja in einem Augenblick. Der Mensch wird hingelegt, und dann fällt plötzlich von oben ein breites Messer auf seinen Hals, mittels einer Maschine - die Guillotine wird sie genannt - schwer, scharf, in einer Sekunde... Der Kopf springt vom Rumpf ab, ehe man mit dem Auge einmal blinken kann." (...) "Für einen Mord getötet zu werden, ist eine unvergleichlich schwerere Strafe, als das begangene Verbrechen schwer ist. Laut Urteil getötet zu werden, ist unvergleichlich schrecklicher, als durch Räuberhand umzukommen. Wer von Räubern ermordet wird, nachts, im Walde oder sonstwo, hat zweifellos noch bis zum letzten Augenblick die Hoffnung auf Rettung." (Der Idiot, S. 34)


Lesende Töchter

Über die drei Töchter des Generals Jepantschins heißt es, nachdem sich hinreichend vorgestellt worden sind: "Mit einem Wort, es wurde sehr viel Lobenswertes von ihnen erzählt. Nichtsdestoweniger gab es auch solche, die ihnen nicht gerade wohlwollten. So sprach man z.B. mit wahrem Entsetzen davon, wieviel Bücher sie schon gelesen hätten." (Der Idiot) Heute würde man nicht von Entsetzen gepackt, sondern bräche wohl in Begeisertungsstürme aus, wenn die eigenen Kinder nur eben lesen würden. (Der Idiot, S. 27)


Ein treuer Unteran

Doch wieviel Lebenserfahrung er auch besaß - und sogar einige recht bemerkenswerte Fähigkeiten ließen sich ihm nicht absprechen -: er zog im allgemeinen durchaus vor, sich mehr als Vollstrecker fremder Ideen, denn als ein aus eigener Initiative Handelnder hinzustellen. Er war ein "treuer Untertan ohne zu kriechen" und - was erlebt man nicht alles in unserem Jahrhundert" - gab sich sogar als echter und herzlicher Russe. (Der Idiot, S. 25)


Ein Leben, zwei Welten

Der höherstehende, gebildete Mensch, der einen höheren Gedanken verfolgt, wird manchmal ganz von den Dingen des täglichen Lebens abgezogen, wird lächerlich, launisch, kalt und sogar dumm, und nicht nur im praktischen Leben, sondern schließlich sogar in seinen Theorien. Auf diese Weise würde die Pflicht, sich praktisch zu betätigen, in Wirklichkeit als ein Korrektiv und Auffrischungsmittel für den Wohltäter selbst dienen.


Obstinat

Es kommt oft vor, daß sich bei einer gewissen Art von Menschen, sogar sehr klugen Menschen, vollkommen paradoxe Begriffe entwickeln, von denen síe nicht abzubringen sind. Für diese Begriffe aber hat der Mensch so viel im Leben gelitten, er hat sie so teuer erkauft, daß es für ihn gar zu schmerzhaft wäre, wenn nicht unmöglich, sich von ihnen loszureißen. (Aufzeichnungen aus einem Totenhaus, S. 95)


Von der Macht

Es gibt Menschen, die wie Tiger blutdürstig sind. Wer einmal diese Macht, die unbegrenzte Herrschaft über einen menschlichen Körper, über das Fleisch und den Geist eines Menschen, wie man selbst einer ist, der geschaffen wie wir und nach der Lehre Christi ein Bruder von uns ist - wer einmal die Macht und die Freiheit hat, ein anderes Wesen, das gleichfalls ein Ebenbild Gottes ist, bis zur tiefsten Erniedrigung zu erniedrigen, - der wird unwillkürlich gleichsam machtlos in seinen eigenen Gefühlen. Tyrannei ist Angewohnheit, sie ist mit Entwicklungsfähigkeit begabt und schließlich artet s ie in Krankheit aus. Ich bin der Meinung, daß selbst der beste Mensch aus bloßer Gewohnhneit bis zum Tierischen verrohen und abstumpfen kann. Blut und Macht berauschen, sie machen den Menschen trunken: Roheit und Lüsternheit entwickeln sich; dem Gefühl wie auch dem Verstande wird sogar das Anormalste zugänglich und schließlich ein Genuß. (Aufzeichnungen aus einem Totenhaus, S. 291)


Zitate & Textstreusel

  • Wer soll es denn sonst wissen, wenn nicht die Juristen, wo man durchschlüpfen kann? (Fedor M. Dostoevskij: Die Brüder Karamasow)
  • Denn das Bedürfnis nach der universalen Vereinigung ist die dritte und letzte Qual der Menschen. In der Gesamtheit hat die Menschheit immer danach gestrebt, sich unbedingt welteinheitlich einzurichten. (Fedor M. Dostoevskij: Die Brüder Karamasow)
  • Es gibt keine unaufhörlichere und quälendere Sorge für den freigebliebenen Menschen, als den zu finden, vor dem er sich beugen kann. (Fedor M. Dostoevskij: Die Brüder Karamasow)
  • Was dem Verstande als Schmach erscheint, erscheint dem Herzen gewöhnlich als Schönheit. (Fedor M. Dostoevskij: Die Brüder Karamasow)
  • Der Sozialismus ist nicht nur eine Arbeiterfrage oder eine Frage des sogenannten vierten Standes, sondern hauptsächlich eine atheistische Frage, die Frage der gegenwärtigen Inkarnation des Atheismus, die Frage des babylonischen Turmes, der ausdrücklich ohne Gott gebaut wird, nicht zur Erreichung des Himmels von der Erde aus, sondern zur Niederführung des Himmels auf die Erde). (Fedor M. Dostoevskij: Die Brüder Karamasow, S. 44)
  • Alle Menschen sind geistreich, nur ich allein bin es nicht. Als Schadensersatz habe ich dafür die Erlaubnis erhalten, die Wahrheit zu sagen, da doch bekanntlich nur jene die Wahrheit sagen, die nicht geistreich sind. (Der Idiot)
  • Bevor ihr den Menschen predigt, wie sie sein sollen, zeigt es ihnen an euch selbst.
  • Der höherstehende, gebildete Mensch, der einen höheren Gedanken verfolgt, wird manchmal ganz von den Dingen des täglichen Lebens abgezogen, wird lächerlich, launisch, kalt und sogar dumm, und nicht nur im praktischen Leben, sondern schließlich sogar in seinen Theorien. Auf diese Weise würde die Pflicht, sich praktisch zu betätigen, in Wirklichkeit als ein Korrektiv und Auffrischungsmittel für den Wohltäter selbst dienen.
  • Der Klügste ist meiner Ansicht nach derjenige, der wenigstens einmal im Monat sich selbst einen Dummkopf nennt - eine Fähigkeit, die heutzutage so gut wie unerhört ist!
  • Dadurch, daß man einen anderen ins Irrenhaus sperrt, beweist man noch nicht seinen eigenen Verstand.
  • Der General war, wie alle Trinker, sehr zartfühlend, und wie alle heruntergekommene Trinker verwand er es nur schwer, wenn man ihn an seine bessere Vergangenheit erinnerte. (Der Idiot)
  • Der größte und schärfste Charakterzug unseres Volkes ist das Gefühl für Gerechtigkeit und das unbedingte Verlangen danach.
  • Der Mensch liebt es, nur sei Leid anzurechnen, sein Glück aber nicht. Würde er aber alles richtig einschätzen, so würde er sehen, daß für jedes Los auch Glück vorgesehen ist.
  • Eine gewiße Stumpfheit des Geistes ist ja, wie es scheint, fast eine notwendige Eigenschaft, wenn auch nicht jedes Tatmenschen, so doch jedenfalls eines jeden, der sich ernstlich mit Gelderwerb befaßt.
  • Einem wirklich Gottlosen bin ich in meinem Leben noch nicht begegnet. Statt seiner fand ich den Ruhelosen - so muß man ihn richtiger nennen.
  • Ein freiwilliges, vollkommen bewußtes, durch niemand und nichts erzwungenes Opfer seiner selbst zugunsten aller - ist meiner Ansicht nach das Anzeichen der höchsten Entwicklung der Persönlichkeit, ihrer höchsten Macht, ihrer größten Selbstbeherrschung, ist das Anzeichen der größten Freiheit des persönlichen Willens.
  • Ein jedes Mißverständnis läßt sich durch Gradheit, Offenheit und Liebe beseitigen.
  • Es gibt Charaktere, die von Natur so schön, die von Gott so beschenkt sind, daß schon die bloße Vorstellung, der Betreffende könnte sich zum Schlechten verändern, einem ganz unmöglich erscheint. Wegen solcher Menschen braucht man sich keine Sorge zu machen.
  • Es ist doch erstaunlich, was ein einziger Sonnenstrahl mit der Seele des Menschen machen kann.
  • Es kommt oft vor, daß sich bei einer gewissen Art von Menschen, sogar sehr klugen Menschen, vollkommen paradoxe Begriffe entwickeln, von denen síe nicht abzubringen sind. Für diese Begriffe aber hat der Mensch so viel im Leben gelitten, er hat sie so teuer erkauft, daß es für ihn gar zu schmerzhaft wäre, wenn nicht unmöglich, sich von ihnen loszureißen.
  • Heuchelei ist der Tribut, den das Laster der Tugend zollen muß.
  • Ich habe einen Plan: verrückt zu werden.
  • "Ich habe mit ihm, meine Herren, schon des öfteren diskutiert und debattiert, immer über Themata ähnlicher Art; aber meist behauptet er dann solche Absurditäten, daß einem die Ohren vom Anhören welk werden! Nicht für einen Groschen Wahrscheinlichkeit!" (Der Idiot)
  • Ich verstehe nicht, wie man an einem Baum vorübergehen kann, ohne glücklich zu sein.
  • In der abstrakten Liebe zur Menschheit liebt man fast immer nur sich selbst.
  • Ist ein Mensch unzufrieden, fehlen ihm die Möglichkeiten, sich zu äußern und das zu zeigen, was an Gutem in ihm steckt.
  • Je leerer zum Beispiel der Kopf eines Menschen ist, um so weniger hat er das Verlangen, sich auszufüllen.
  • Kann denn ein erkennender Mensch sich überhaupt noch irgendwie achten?
  • Kinder machen die Seele gesund.
  • Lisaweta Prokofjewna war eine heißblütige Dame, die sich leicht hinreißen ließ, so daß sie manchmal ganz plötzlich und ganz unbedacht alle Anker lichtete und ins offene Meer hinausfuhr, ohne vorher nach dem Wetter zu fragen. (Der Idiot, S. 403)
  • Mancher Charakter ist lange nicht zu verstehen, aber da braucht der Mensch nur einmal aus ganzem Herzen zu lachen, und sein Charakter liegt offen vor einem wie auf der Handfläche.
  • Man sollte andere nicht belehren wollen, wenn man unfähig ist, seine eigenene Gedanken ordentlich auszudrücken.
  • Meiner Ansicht nach ist über nichts zu staunen weit dümmer als über alles zu staunen. Außerdem: über nichts zu staunen ist fast dasselbe wie nichts zu achten.
  • Nur das Schlechte zu sehen, ist schlechter als überhaupt nichts zu sehen.
  • Spucke nicht in den Brunnen, aus dem du trinken mußt.
  • Um einen fremden Menschen einzuschätzen, muß man sich ihm allmählich und vorsichtig nähern, damit man keinen Fehler begeht und keine Voreingenommenheiten faßt, die später sehr schwer zu berichtigen und zu beseitigen sind.
  • Um Vollkommenheit zu erreichen, muß man erst vieles nicht begriffen haben! Begreifen wir zu schnell, so begreifen wir wahrscheinlich nicht gründlich.
  • ... und wie Sie daraus sehen, kann man doch nicht so leben, daß man keinen Augenblick ungenützt vergeudet. Aus irgendeinem Grunde ist es eben unmöglich. (Der Idiot)
  • Verliert der Mensch Ziel und Hoffnung, so verwandelt er sich nicht selten vor lauter Langeweile in ein Ungeheuer.
  • Warum wird heutzutage, wenn man eine Wahrheit aussprechen will, es immer häufiger als Notwendigkeit empfunden, das auf humoristische, satirische oder ironische Weise zu tun, somit die Wahrheit zu versüßen, als wäre sie eine bittere Pille...
  • Warwara Ardalionowa war ein Märchen von dreiundzwanzig Jahren, mittelgroß, ziemlich mager und mit einem Gesicht, das nicht gerade schön war, dafür aber das Geheimnis in sich barg, ohne Schönheit zu gefallen und bis zur Leidenschaft anzuziehen. (Der Idiot)
  • Wehe uns, wenn unsere albernen Bitten in Erfüllung gingen.
  • Wenn Gott der Herr einen zu strafen beabsichtigt, so beraubt er ihn zuerst und vor allen Dingen der Vernunft.
  • Wenn jemand eine Warze auf der Stirn oder auf der Nase hat, so meint er ja unfehlbar, alle Menschen hätten auf der Welt nichts weiter zu tun, als dieses Warze anzusehen, über sie zu lachen und ihn ihretwegen zu verachten, selbst wenn er Amerika entdeckt hätte. (Der Idiot)
  • Wenn man nicht weiter ausschreiten kann, ist ein kleiner Schritt besser als gar nichts.
  • Wer den Wolf scheut, soll nicht in den Wald gehen.
  • Zu laut und zu industriell wird die Menschheit, zu wenig geistige Ruhe hat sie.

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