Sibylle-Berg-Splitter [<<]
Zitate & Streusel Vom ErtrinkenAus der Luft scheint das Meer, wie alle Dinge, die man von oben beschaut, klein und ungefährlich. Man kann sich kaum vorstellen, was für ein Ärger das wäre, schwömme man jetzt in der Brühe. Die Wellen ins Gesicht, Salzwasser in die Augen und das Land weit entfernt. Zu weit, als daß man es erschwimmen könnte, auf jeden Fall. Kalt wäre es vermutlich, und das Leben würde schwinden. Ersaufen kann kein schöner Tod sein. Vermutlich hält sich der Delinquent ungebührlich lange, macht immer schlapper werdende Schwimmstößchen, schluckt Wasser, bis ihm übel wird, und dann, nach Stunden vielleicht erst, geht er gnädig unter, füllen sich die Lungen mit Wasser. So wird er gefunden. Tage später, und wie Wasserleichen aussehen, weiß Raul aus dem Atlas der gerichtlichen Medizin. Nicht speziell gut sehen sie aus, die Menschen, wenn sie sich zu lange im Gewässer aufhalten, die Leibe aufgetrieben und eventuell noch von Schiffsschrauben zerstückelt wurden. (Sibylle Berg: Amerika, S. 177/78)) Die große LiebeDie große Liebe also. Das große Märchen. Die große Verarschung. Soviel Blödheit hinter drei Worten. All diese Weiber mit natürlich ergrautem Haar, Blümchenkleidern, das Scheitern an den verhornten Füßen, den Köpfen, und die halten sie schief, sagen mit sanfter Stimme: Das Wichtigste ist doch die Liebe. Ohne sie gäbe es kein Leben. Und da haben sie auch schon ein paar in der Fresse, von Gottes himmlischer Faust. (Sibylle Berg: Amerika) Pappeln, Kaviar und GedichteDas Leben. - Oh Mann, nerv nicht rum. Nichts will ich, nichts. Laßt mich in Ruhe. Sucht euch einen Gott, dafür sind sie entwickelt, fragt ihn, er wird euch antworten, wenn ihr fest genug an ihn glaubt. Aber verschont mich mit eurem Gezeter und Gejammer, seid froh, daß ich da bin, und haltet die Fresse. Ich hatte nicht mit dieser Renitenz gerechnet, als ich euch entwickelt habe. Ich war besoffen. O.k., ich war besoffen, ihr seid mir so rausgerutscht. Ein bißchen zuviel Hirn hat verheerende Folgen. Macht quengeln, macht jammern und denken, ihr seid mehr als das andere Zeug, das ich herausgebracht habe. Es ist ein Irrtum, hört ihr, ein Irrtum. Bitte seid einfach ruhig, schaut euch Pappeln an und eßt lecker Kaviar, freut euch, daß ihr Gedichte aufsagen könnt, wenn ihr spazierengeht, aber begreift, daß ihr keine Antwort bekommen werdet von mir. (Sibylle Berg: Amerika, S. 32) Der Mann schläft [11]Ich habe noch nie davon gehört, daß Alkoholiker besonders gerne erwachen. (...) Trotz der unangenehmen Begleitumstände ist der Zustand nach dem Alkohol unbedingt dem ohne vorzuziehen. Die Aufgabe, meine schuhlose Füße voreinanderzusetzen und ein anmutiges Gesicht zu machen, ist erfüllend. Selbstredend ist die Bootsfahrt mit einem Kater genau so, wie jeder, der Erfahrung mit Überdosierung von Rauschmitteln gemacht hat, sich die Sache vorstellt. Ich verbringe die gesamte Überfahrt, ungefähr hundert Stunden, auf der Toilette. An Land bewege ich mich sehr unsicher, den Zustand überstandener Trunkenheit deutlich ausstrahlend. Keiner nimmt Notiz von mir. Die Chinesen haben sich an Ausländer am Rande der Katastrophe gewöhnt. All die ausgebleichten, rotgesichtigen westlichen Menschen, die verzweifelt versuchen, ihr Heimweh zu vergessen. Vergessen gibt es nicht. Ein gepflegtes Pegeltrinken muß erlernt werden. Ich bin zu dicht von Menschen umgeben. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 251) Der Mann schläft [10]Pegeltrinken ist durchaus eine Leistung, die nach Respekt verlangt. Da denkt man dich, das wäre nichts, sieht man gutgelaunte Penner vor Sacre-Coeur sitzen, die einem mittags mit einem frohen Lied zuprosten. Als Anfänger in dem Geschäft erwische ich entweder zu viel und muß mich übergeben oder zu wenig und sehe klar. Den Zustand freundlich gelaunter Umnachtung zu halten ein Unterfangen, das nicht zu den einfachsten zählt. Es muß ähnlich sein, die Eigernordwand zu besteigen, adrenalinabhängige Grenzerfahrung. Und dann werden Filme darüber gemacht, wie Männer sich die Beine abfrieren und von schlechtbezahlten Helikopterpiloten aus Gletscherspalten gekratzt werden. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 242) Der Mann schläft [9]Unwissend wie ich war, hatte ich das Gefühl, beim Landen könne mir nichts mehr passieren; wenn man den Boden so nah hatte, konnte es doch nicht schmerzhaft sein, sich in einem Wolkenkratzer zu verfangen. Wie niedlich sie aus dem Fenster schauten, beeindruckt von der Leistung der Rasse. Wir haben diese Häuser gebaut, das Flugzeug entwickelt, all die Momente, in denen man sich für Sekunden eins mit der Schönheit des Menschseins fühlt, ja, ich bin Teil einer Spezies, die so wild ist und unbezähmbar. Unsere kleine Reisegruppe, die gemeinsam elf Stunden hospitalisiert war, während der jeder Sex mit der Atemluft eines jeden anderen gehabt hatte und alle Gesäße mit der Toilette, also miteinander Kontakt hatten, in denen wir die Angst geteilt und miteinander gefrühstückt hatten, vergaß einander in dem Moment, da das Flugzeug aufsetzte. Keiner hatte das Gefühl unbestimmten Verlustes. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 238) Der Mann schläft [8]Absolut glatte Arschgesichter, deren Leben ihnen gnädigerweise nicht eine Sekunde des Innehaltens und inneren Betrachtens gestattet. Vermutlich beherrschen sie alle mindestens fünf Sprachen fließend und haben diesen Typ neuen Wissens, die schnelle, vernetzte Sorte, die nichts mit dem zu tun hat, was wir als intellektuell bezeichnen, was meint: Bücher zu Hause wie Trophäen auszustellen , den Kanon zu beherrschen und Köchelverzeichnisse aufsagen zu können. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 236) Der Mann schläft [7]Der Vater des Mannes war gestorben, vermutlich an einer durch Alkohol verunstalteten Leber. Er hatte, soweit der Mann sich erinnerte, von einer Invalidenrente gelebt, seine Frau, des Mannes Mutter, war in den Westen geflohen und hatte den Säufermann und das fünfjährige Kind zurückgelassen. Der Mann sagt: "Ich hatte keine so schlechte Kindheit." Er kniff die Augen ein wenig zusammen, und ich wußte, sehr viel schlechter kann eine Kindheit nur sein, wenn man sie nicht überlebt. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 217) Adrenalin in alten AdernZu sehr nach seniler Bettflucht schienen mir die hektischen Unternehmungen älterer Paare, die kurz vor der Pensionierung das hektische Mountainbiken entdecken, zu Salsa-Kursen gehen und Abenteuerurlaube auf dem Amazonas verbringen. Verzweifelte Versuche, das Adrenalin der Jugend durch die alten Adern zu jagen. Keine Träne des Bedauerns, wenn Personen unseres Alters, die nicht begriffen haben, daß Geschwindigkeit das Leben nicht verlängert, auf unbekannten Flüssen kentern und von Piranhas verzehrt werden. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 216) Vertraute Gefühle an unvertrauten OrtenUrlaub meint für die meisten, mich eingeschlossen, an unvertrauten Orten möglichst schnell vertraute Gefühle wiederherzustellen. In den kommenden zwei Wochen verließen wir das Zimmer täglich und schlugen zaghaft größer werdende Zirkel um das Hotel. Wir liefen um den Block, holten uns Suppe, mit der wir auf Bordsteinkanten saßen, weil man in Tokio nicht viel herumsitzt und es an entsprechenden Unterlagen gebricht. Nach zwei bis drei Stunden Außenaufenthalt waren wir erschöpft, wegen der Menschen, der Geschwindigkeit, der Luft, der Fremdheit, die ermüdete, und gingen wieder in unser Bordzimmer. Wir saßen im Bett, lasen, schauten aus dem Fenster, schauten verstörendes japanisches Fernsehen. Unsere erste gemeinsame Reise war in jeder Hinsicht gelungen. Dem Mann wohnte, wie auch mir, absolut keine Neugier inne. Er wollte nichts besichtigen, studierte keine Metropläne, schlug sich nicht mit Reiseführern herum und mit anstrengenden Tagesausflügen. Ich mochte fremde Orte gerne, solange ich mit ihnen keine großen Verbrüderungsszenen vornehmen mußte. Wenn es mir gelang, ein symphatisches Cafe zu finden, ein Hotelzimmer mit feinem Ausblick und eine Steckdose für meinen Tauchsieder, um mir Tee zuzubereiten, und ein gutes Restaurant im engen Umfeld des Hotelzimmers, war ich völlig zufrieden. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 193) Der Mann schläft [6]In meinem theoretischen Entwurf hatte ich Mann und Frau beim anderen ankommen sehen, immer war einer der beiden regennaß und trug ein weißes Leinenhemd, und dann tropften die Haare, die immer schwarz waren, und die beiden standen im Regen und rissen sich die weißen Hemden vom Körper, fielen in den Schlamm, wälzten sich darin herum, bissen sich und verkehrten miteinander, bis der Morgen die Nacht ablöste. Schnitt. Im nächsten Bild saß das Paar dann ohne Übergang in zwei Schaukelstühlen vor einem Kaminfeuer, trank Rotwein und las sich aus Erstausgaben vor, wobei ich weder Wein trank noch genau zu sagen wußte, was eigentlich der Schmackes an einer Erstausgabe war. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 185) Arme suchende DeppenDie Bekannte war eine große Suchende. Mit verbissenem Mund ins Guruland. Und über jede banale Erkenntnis so froh, daß sie sie verteidigen mußte wie ein Baby, damit sie ihr nicht verloren ging. Früher hätten mich solche Beobachtungen vielleicht noch amüsiert, ich hätte das Heer von gebatikten Deckenträgern, von Osho und Reiki, von Krishna, reformierten Christen und Scientologen als das verstanden, was sie sind - arme suchende Deppen, die sich ihre Unfähigkeit, selber auf eine befriedigende Lösung im Leben zu kommen, nicht eingestehen können, und immer Angst, solche Angst, daß jemand ihnen den Sinn, der nur geborgt ist, nehmen könnte, und so aggressiv darum. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 205) Der Mann schläft [5]Ich studiere die Wohnung, die einen sehr unentschlossenen Eindruck macht. Früher wollte sie mal gemütlich werden, doch die alte Schußwunde war wieder aufgebrochen. Mir fällt ein, daß die Frau des Masseurs gestorben ist, und ich frage mich, ob es vielleicht chinesischer Brauch ist, daß die Hälfte des Besitztums mit der Leiche verbrannt wird. Das Ableben der Masseursgattin erklärt die scheinbare Verwahrlosung des älteren Herrn. Witwer haben selten einen optischen Lebensentwurf, der einen zu kleinen Tänzen animieren würde. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 180) Das zu Tode industrialisierte JapanJapan bot alle Voraussetzungen, sich unwohl zu fühlen. Ohne jedes Schulterzucken des Bedauerns hat die Ökonomie den Kampf gegen den Menschen aufgenommen, und wie es aussah, stand der Sieg kurz bevor. Zwischen riesigen Anhäufungen von Beton fuhren Autos im Schritttempo, Einzelpersonen darin, die größte Teile ihrer voraussichtlichen Lebenszeit an Unternehmen verkauft hatten, die irgendwem am Ende einer langen Hierarchiekette gehörten, der daran verdient, daß die Welt furchtbarer wird, rein formal gesehen. Irgendwann hätte Schluß sein sollen, mit dem Bauen, mit dem Höher, dem Beton, den Autobahnen, den kleinen eingezäunten Flecken, der armseligen Bank und dem kranken Baum darin, den Parks, die die Abwesenheit von Natur symbolisieren und nur zum Selbstmord einladen. Aber aufgehört wird nicht und erst recht nicht, wenn es am schönsten ist, von der Optik her wäre das beim Menschen spätestens mit Ende zwanzig, und wehe, da wären keine Hochhäuser in der Nähe, von denen man sich hinabwerfen könnte. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 195) Rührend alberne LebensplanungWüßte man es doch nur von Anfang an, wie rührend albern jeder Plan im Leben ist, dachte ich, das Auge ein wenig matt. Dann hätte man all die Stunden, die man verbringt mit der Erstellung von Listen, auf denen man Vor- und Nachteile einer Entscheidung aufzeichnet, und mit dem Sinnieren darüber, was sein würde und wie es aussehen sollte, das Leben, später, und all die unglaublich wichtigen Entscheidungen zum Grillen von Innereien verwenden können. Das kann sich doch keiner vorstellen, wie er sich in zehn Jahren fühlen wird, oder auch nur in fünf, und was sind das für Menschen, die mit zwanzig zu wissen glauben, wo sie ihren Lebensabend oder auch nur den Urlaub in einem Jahr verbringen möchten. Irgendwann hatte ich verstanden, daß meine Wünsche, meine Haut, meine Ideen, mein Befinden sich mit jedem neuen Jahrzehnt komplett ändern würden. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 184) Jahre stilisierter EinsamkeitAuf einmal wurde mir klar, daß all die Jahre stilisierter Einsamkeit, all dieses: Wir sind die Generation der Einsamen und wir leiden, all dieses Sich einmalig Fühlen in der Unfähigkeit sich zu binden, nichts weiter war als ein großes, sich ständig wiederholendes Theater. Was hatten wir uns besonders gefühlt! Getriebene Wölfe in dampfenden Großstädten mit Ausdünstungen aus U-Bahn-Schächten, die Hände tief in den Taschen. In Bars hatten wir frierend gestanden mit unserem kajalumrandeten Schmerz. Nur wir wußten, was Leiden meinte, schliefen in ungeheizten Wohnungen, die nach Rauch rochen und in denen der Kühlschrank leer war. Und was war davon geblieben, außer daß wir erst alt werden mußten, um zu erkennen, daß Alleinsein noch trauriger ist, als zu zweit in einem Reihenhaus zu sitzen und das Kind Freia zu nennen. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 128) Erwachsen sein"Es ist auch nicht sehr viel angenehmer, erwachsen zu sein", sage ich. "Geht es denn schnell?" fragt Kim. Und leider kann ich ihr auch in dieser Hinsicht wenig Erfreuliches mitteilen. Erwachsen zu werden verbraucht die längste Zeit eines Lebens. Kind sein will man nicht, wegen der Sehnsucht nach etwas, das man doch nicht benennen kann, und wegen der fast drogensuchtgleichen Abhängigkeit von einem Erwachsenen, der einem liebevoll zugetan ist. Es gibt durchaus Kinder, deren Drogensucht befriedigt wird. Durch Nähe und ständige Berührungen. Aber wehe, wenn nicht! Dann wächst man mit dem Gefühl, ein unvollständiger, kranker Mensch zu sein. Und was man sich nicht alles vom Erwachsensein verspricht in jener Zeit. Daß dann alle Bedürfnisse keine mehr wären, weil man sie sich selber zu erfüllen in der Lage wäre. Ist man nicht. Man ist nur groß und weiß auch nicht weiter. Man sieht die Veränderung der Zellen, ein Krebsgeschwür vor dem Ausbruch, und man sehnt sich immer noch, und Erfüllung wird immer unwahrscheinlicher. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 124) Zwei Sorten von DummheitWie sie plärren in Chören, die Bürger, von der Schönheit des Lebens, ein Geschenk von Gott, ein Männermärchen, das sie bis heute in den Schulen in Kinderhirne schütten, um die Schafe auf den Weiden zählen zu können. Sie kriechen durch ihr Dasein, klammern sich an Moral und Gesetze, an Pianokonzerte und die Philosophen, die auch nichts zu erklären vermochten, wie auch, mit einem Menschenhirn. Sie rennen Marathon und schreien: "Ich habe den Krebs besiegt", um dann am Herzschlag zu verrecken. Es gibt zwei Sorten von Dummheit: die derjenigen, die das Schild "Betreten verboten" befolgen, und die der anderen, die es extra nicht tun. Ich gehöre zu den Letzteren, auch albern in ihrem Trotz, die Freaks, die Rocker, die Kiffer, aber die kenne ich, verstehe ich, die anderen werden mir immer ein Rätsel bleiben. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 108) Der Mann schläft [4]Kim steht mit den Füßen nach innen gedreht vor der Haustür, und in diesem Moment sieht sie sonderlich unattraktiv aus. Sie ist eines dieser häßlichen Mädchen, deren Körper zu dünn, deren Brille zu groß, deren Haare zu ausdruckslos sind, und natürlich trägt sie eine zumindest innere Zahnspange. Sie gehört zu der Sorte, die in traurigen Filmen am Ende Schönheitskönigin werden, mit dem Alphajungen der Klasse eine Beziehung eingehen oder ein Superheldinnentalent an den Tag legen. Im Leben, das nicht Film ist, wird Kim vielleicht einfach von einem häßlichen Mädchen zu einer jungen Frau werden, keinerlei Spuren hinterlassend. Wenn Kim spricht oder sich bewegt, vergißt man ihr Aussehen, weil sie nichts Kindliches an sich hat, das man hätte bemitleiden müssen. In ihrer seltsam humorlosen Art erinnert sie einen eher an die Vorsteher einer naturkundlichen Bücherei als an ein Mädchen. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 178) Tüchtig einen an der WaffelFrauen neigen häufiger als Männer dazu, ihre Existenz durch aberwitzige Geschichten aufzuwerten. Sie werden wiedergeboren, haben heilerische Fähigkeiten, Borderline oder werden von Meteoriten infziert. Normal. Männer sind einfach, Frauen brauche einen Grund zum Sein. Die Frau, von der ich zu berichten wußte, zeigte mir gerne ihre Fingernägel, unter denen sie Spuren fremden Lebens glaubte. Ich hatte noch nie daran gezweifelt, daß Menschen tüchtig einen an der Waffel hatten. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 127) Durchs Leben driftenIch schlich durch mein Leben, dem es auffallend an Harmonie gebrach, und füllte meine Tage, wie mir schien, mit Unsinnigkeiten. Es war neu, daß ich die kleine Melancholie, die oft bei mir zu Besuch war, einem klaren Ursprung zuordnen konnte. Der bedauernswerte Zufall, der Menschen geschaffen hat, ohne sie mit einer klaren Aufgabe auszustatten, war ohne jemanden, den man gerne berühren wollte, schwer zu ertragen. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 102) Der Mann schläft [3]Vor allem siegte er in jedem Gelassenheitswettbewerb mit einem Lächeln. Ich, die ich erfreulich wenige Menschen kannte, war noch nie jemandem begegnet, der der Welt so wohltemperiert begegnete wie der Mann, wahrscheinlich weil er nicht übermäßig an Wertungen interessiert und frei von Projektionen schien. Unklar, ob er schlichten Gemütes war oder ob seiner Unfähigkeit, sich zu erregen, ein buddhistisches Prinzip innewohnte. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 97) Was Partner miteinander treibenIn der Naivität eines Alleinlebenden war ich davon ausgegangen, daß Paare ihre Freizeit intensiv gestalten müßten, weil sich ansonsten die Stille, die zwischen ihnen steht, als bösartiges Geschwür manifestieren würde. Das Beziehungsmodell, das mir von verschiedenen Kunstformen her bekannt war, basierte auf rein sexueller Anziehungskraft, die nach einer gewissen Zeit erlosch. Was Partner dann miteinander trieben, blieb unklar und wurde meist als Elend verittelt. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 95) MitleidIch bin die einzige Person, die die Energie aufbringen wollte, mich zu bemitleiden, wäre da Energie vorhanden. Mitgefühl bringt man für die engsten Angehörigen auf. Für das Kind, die Eltern. Meist findet schon zwischen Partnern kein wirkliches Mitleid mehr statt, und den Bewohnern des eigenen Dorfes oder Landes bringt man nur noch Sätze der wohlerzogenen Anteilnahme entgegen, die eigentlich meinen: Gut, daß es mich nicht getroffen hat. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 85) Der Mann schläft [2]Häuser haben mich schon immer traurig gemacht, entweder sind sie hilflose Versuche des Menschen, es sich nett zu machen, da wird Klinker angebracht und innen Fichtenholz, und das sitzen sie dann und frieren. Oder die Häuer sind so elegant, daß der Mensch in ihnen wie etwas Störendes wirkt. Schöne Häuser scheinen immer etwas zu erwarten und sind nicht in der Lage mitzuteilen, um was es sich handelt. Vielleicht gibt es ein paar gutgestaltete Babys, die sich in der Villa Tugenhat noch einigermaßen ausnehmen, aber sowie sie wachsen, beginnen Fleischwülste an Stellen zu gedeihen, die der Optik abträglich sind. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 137) Nur eine Zellanhäufung... daß sie nicht mehr waren als eine Zellanhäufung, die aus Versehen ein Mensch geworden war, der nicht damit zurechtkam, daß er denken konnte und fühlen. Es ist alles Zufall. Nichts hat man sich verdient, gutes Benehmen garantiert kein langes Leben, es gibt weder Gerechtigkeit noch Vernunft, es gibt keine göttliche Weltordnung oder was auch immer wir herbeisehnen, um uns nicht ausgeliefert zu fühlen. Es kann alles vorbei sein in der nächsten Sekunde, oder schlimmer: Es kann alles genauso weitergehen. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 81) Geld und harte GesetzeMag man es Resignation nennen, Abstumpfung oder die Weisheit, nicht mehr gegen Unabänderliches zu kämpfen, doch schien mir das Einzige, was helfen konnte, vielen ein angenehmeres Leben zu schaffen, eine gute Ausbildung zu sein, Geld und harte Gesetze. Menschen werden ohne empfindliche Geldstrafen ihr Verhalten nie ändern. Der Rest bliebe immer der Bosheit, der Dummheit und der Gier überlassen. Ich versuchte ein Leben zu führen, bei dem niemand zu Schaden kam. Mehr stand nicht in meiner Macht. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 72) Der Mann schläft [1]Ich konnte ihm die Wahrheit sagen, was bedeuten würde, daß es künftig einen mehr gäbe, der die Straßenseite wechselte, träfe er auf mich. Unterdes schien mir, daß die Trottoirs, auf denen ich mich bewegte, auffallend leer wurden. Also sagte ich: "Nein, mir ist nur ein wenig übel heute, es wird wohl mit meinen Wechseljahren zu tun haben." Wenn man Männer schnell und definitiv zum Schweigen bringen will, muß man ihnen nur von Frauenleiden erzählen. Selbst bei hartnäckigen Zweiflern genügen die Worte "Unterleib" und "Blut", um jeder weiteren Frage zu entgehen. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 58) Früher oder später - alle"Ich mußte zugeben, daß es tatsächlich schwieriger ist, sein Leben angemessen verstreichen zu lassen, als ich angenommen hatte. Ohne es zugeben zu wollen, hatte ich immer auf ein Später gehofft. (...) Ich habe nicht im großen Stil versagt, ich habe nur begriffen, daß wir alle scheitern, irgendwann, und sei es an dem Versuch, das zu wahren, was wir unter Würde verstehen. Was nichts anderes bedeutet, als daß man, wenn der Körper in die Grauzone von jung und alt gerät, am besten unsichtbar bleibt. Würde", der Abteilungsleiter lachte kurz auf, "mit Würde ist so etwas wie Peter O'Toole gemeint, in einem See angelnd, mit einem Kaschmirmorgenmantel am Leib. Und dabei enden doch alle betrunken in Kegelgruppen oder inkontinent mit vertrotteltem Blick. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 51) Gelebt muß ja werdenJeder ist so erstaunlich individuell, wurde uns in jungen Jahren erzählt, um uns vom Selbstmord abzuhalten. Auch so eine Unsitte. Menschen ihrer letzten Freiheit berauben. Selbstmordversuch und ab in die geschlossene Abteilung, gefesselt und überwacht, egal wie alt man ist, ohne Rücksichtnahme, ob einer seine evolutionäre Pflicht schon erfüllt hat oder nicht. Gelebt muß werden, da könnte ja sonst jeder kommen. Die Steuern, die Armee, der Nachwuchs, die Evolution. Dieses kollektive Zusammenzucken, wenn vom freiwlligen Abschied die Rede war, hätte man nicht das Gespräch suchen können, therapieren können, den Unglücklichen abhalten, ihn zwingen, die achtzig Jahre abzusitzen? (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 33) Schlechte Meinung von eigener RasseDaß ich irgendwann eine so schlechte Meinung von der eigenen Rasse haben würde, überraschte mich, ich war davon ausgegangen, daß man gütiger würde, im Alter. Als junger Mensch hatte ich mich noch über Tierschützer erregt, verstand nicht, warum man seine Energie nicht dazu verwendete, Menschen zu retten, heute wußte ich es besser. Es gab wohl nur wenige Tiere, die so von der Brillanz ihrer Meinung überzeugt waren wie der Mensch und die mit solcher Vehemenz ihre Dummheit verteidigten. Die Menschen hatten ihre niedlichen Momente, doch das täuschte nicht darüber hinweg, daß die meisten von überwältigender Einfalt und Niedertracht waren. An mir konnte ich beobachten, wie überaus schnell der Wunsch entstehen konnte, andere mit Einkaufswagen zu rammen. Nach Momenten, in denen mir klar war, daß andere denselben Impuls bekamen, wenn sie meine Fesseln sahen: Wir mochten uns nicht besonders. Jeder fühlte sich dem anderen überlegen, und daraus bildete sich ein Dauerton der Aggression, der den Menschen wie ein Tinnitus im Ohr klang. Permanent. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 31) Mißtrauen gegen die LiebeNatürlich mochte ich die, die nicht ich waren, nur selten. Machten sie mir doch allein durch ihre Anwesenheit klar, daß ich nicht einzigartig war. Daß ich älter werden würde, schlaff, verrottet, vergessen. Bei jedem, der behauptete, Menschen zu lieben, vermutete ich einen Geistesdefekt, und der machte mir Angst. Wie ihre Stimmen tiefer wurden, wenn sie sagten: "Ich liebe meine Freunde und meine Familie und täte alles für sie." Ihre überwältigende Liebe sehen wir täglich, sie liegt am Boden, mit einer Axt im Schädel, sie zerren sich gegenseitig vor Gericht, bestehlen sich, es genügt ein falscher Satz der Freunde, die einem so nahe sind, und man merkt, man hat mit keinem etwas gemein. Ich mißtraute der Liebe zutiefst. (Sibylle Berg: Der Mann schläft, S. 15) Berg, Sibylle: Ein paar Leute suchen... [1]Vera sitzt bei Frau Burchard und glaubt nix. Es gibt auch noch nix, was sie glauben könnte, aber es ist schon mal eine gute Grundhaltung, nix zu glauben, wenn eines zu einer Wahrsagerin geht. Alle, die zu so was gehen, sagen immer: Wissen Sie, ich glaub da natürlich nicht dran. Die Wahrsagerin sieht aus wie eine verwahrloste Bankangestellte, und wie sich später herausstellt, ist sie eine etwas verwahrloste Bankangestellte. Sie raucht Kette, und Vera sitzt ihr an einem wirklich häßlichen Tisch gegenüber, in einer wirklich häßlichen Wohnung. Während die Hexe wie besessen raucht und die Karten mischt, guckt Vera die Bücher im Regal an. Thorwald Dethlefsen: Krankheit als Weg. Die Nebel von Avalon. Ich bin O.K. Du bist O.K. Thorwald Dethlefsen: Schicksal als Chance. Vera bekommt einen Schluckauf. Eine kalte Hand greift nach ihrem Herzen. Menschen, die Thorwald Dethlefsen lesen, sind zu allem fähig. (Sibylle Berg: Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot, S. 26) Berg, Sibylle: Ein paar Leute suchen... [2]Ich trink Kaffee und seh die Menschen an, die richtig arbeiten müssen. Denen werden einige Entscheidungen abgenommen. Wie zum Beispiel die Was-mache-ich-jetzt-Entscheidung. Ich geh wieder heim. Aufzuräumen gibt es nichts, lesen habe ich keine Lust, also lege ich mich aufs Bett und seh fern. Ich weiß nicht, was andere Menschen, also solche, die nicht arbeiten, mit ihrer Zeit machen. Ich finde schwierig, die rumzukriegen. Lesen ist eine legitime Zeitrumbringung. Die ist akzeptiert. Machen sich andere Menschen Gedanken über Tag? Erfinden sie Dinge? Meditieren sie? Helfen sie der Menschheit? Was machen die anderen Menschen? (Sibylle Berg: Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot, S. 97) Berg, Sibylle: Amerika [1]Ein dunkles Backsteinhaus mit einem alten Garten, schwer und voller Andenken aus mehreren Ländern, erfüllt von dem guten Geruch nach Reichtum, nach Kultur, der nur im Überfluß gedeiht. Wirkliche Kultur, wußte Raul, wuchs nur bei Reichen. Beim Volk ging Kultur ein, oder war Unterhaltung und Beseitigung der Leere. (Sibylle Berg: Amerika, S. 16) Berg, Sibylle: Amerika [2]Die Straße, in der sich das Haus ihrer Eltern aufhält, heißt Lange Straße, und so sieht sie auch aus. Einfach eine lange Straße mit Häusern, und kein Baum hat sich in sie verirrt. Es ist Herbst, natürlich ist es Herbst, und manchmal ist es wirklich besser, daß der Mensch um seinen Tod weiß, denn diesen Mist ohne Ende vor sich zu haben, wäre ein Grund zum Selbstmord. Ein Mensch alleine in einer faden Stadt ohne gutes Wetter, in einer Stadt ohne Straßencafes, Märkte und Sammelpunkte anderer alleiniger Menschen, ist wie eine Krankheit, die mit jedem Schritt den Patienten mehr aushöhlt. Und egal wie sie heißt, die kleine Stadt, Heilbronn, Bochum, Münster, Birmingham, die miesen kleinen Städte, die immer gleich aussehen, immer nach Metall schmecken, nach vergammeltem, mit Metzgerläden, von denen alle zehren, einer großen Fabrik oder Uni, die alle ernährt, mit Würsten ernährt und rohem Fleisch, das nur fette Schwarte ist. Die Straße mit ein paar großen, ein paar kleinen, aber immer durchschnittlichen Häusern, einem Kiosk und Toten in den Häusern, an Schwarte erstickt. (Sibylle Berg: Amerika, S. 41f.) Berg, Sibylle: Amerika [3]Sie sitzt mit rasendem Herzen in der Dunkelheit an der Wand, betrachtet die Lichter vorüberschleichender Fahrzeuge, wie Ufos, die kommen, um Karla abzuholen. Im Raumschiff fesseln sie Karla nackig mit Laser an einen Metallstuhl und lassen den Film ihres Lebens ablaufen. So, jetzt sehen Sie sich den Müll mal an, sagen die Außerirdischen. Karla sieht sich also ihr Leben an. Die Außerirdischen schütteln die Köpfe, das muß leider bestraft werden, sagen sie, nachdem der Film zuende ist, Sie haben nichts aus Ihrem Leben gemacht, da müssen wir Sie leider foltern, sagen sie. Gesagt, getan, und Karlas Strafe für die Führung eines bescheuerten Lebens ist, daß sie es zehnmal wiederholen muß. (Sibylle Berg: Amerika, S. 66) Berg, Sibylle: Amerika [4]Rolf ist da, sie essen beim Italiener, beim Griechen, eine Spelunke, irgendwohin irgendwas essen. Rolf ist nicht reich geworden, für die Eigentumswohnung hat er einen Kredit aufgenommen, den er zurückzahlt. Die nächsten dreißig Jahre. Die Wohnung ist in der Straße, die Karla nur einmal in ihrem Leben verlassen hat, und das ging nicht gut aus. Ich werde nie mehr ohne die Straße sein, denkt Karla manchmal, es wird jetzt immer so weitergehen, die Falten werden mehr, das Geld für ein Lifting nie vorhanden, Rolf immer da, der gute, warme Rolf, wenigstens einen Rolf hat sie. An den Wochenenden machen sie Spaziergänge oder Schlimmeres. Manchmal in den Zoo, Tiere schauen, denen es noch schlechter geht. Rolf geht es nicht schlecht. Er hat nie mehr vom Leben erwartet als das, was es ist. Er ist glücklich, nicht alleine zu sein, er liebt Karla, und über seine Arbeit denkt er nicht nach. Arbeit ist nicht zum Spaß da, das Leben eigentlich auch nicht, wenn er spazierengehen kann am Wochenende mit Karla, ist Rolf glücklich. (Sibylle Berg: Amerika, S. 70) Berg, Sibylle: Amerika [5]Dollars sind großartig. Sie fühlen sich so verdammt nach Währung an. Es ist erstaunlich, was der Mensch alles für Geld zu tun in der Lage ist. Es gilt nur, im Kopf einen Hebel umzulegen. Mit einer Hand in einen warmen Haufen Kotze zu greifen. Der Kopf sagt: Niemals, das ist ja widerwärtig. Bekommst du Geld dafür, lohnt es sich schon zu überlegen, was es dir schadet, on Kotze zu greifen. Deine Hand ist von der Haut umschlossen wie ein Plastikhandschuh. Du kannst sie in den Haufen stecken, rumrühren, die Brocken kneten, und dann wäschst du sie dir, cremst sie lecker ein. Und was bleibt? Ekel und Moral, alles Kopfgeburten. (Sibylle Berg: Amerika, S. 165) Berg, Sibylle: Amerika [6]Das Hotel hat Philippe Starck designt. Keine Gnade. Wahrscheinlich ist er die ganze Zeit kichernd mit rotem Kopf in dem Hotel rumgerast und hat geflüstert, euch design ich einen, aber richtig. Und so sieht das auch aus. Ich finde es schade, daß die achtizger Jahre vorbei sind. Sie waren so klar. Klares Bekenntnis zu Design und zum Reichtum und fertig. Heute ist es doch nur noch ein Abwarten. Auf den Weltuntergang oder auf Außerirdische. Weil die Ideen aus sind. (Sibylle Berg: Amerika, S. 166) Berg, Sibylle: Amerika [7]Anna hat ihre große Liebe gefunden. Wie schön das klingt. Wie selten das ist. Die große Liebe. So viele Lieder gibt es darüber und Geschichten und Filme und Kriege deswegen, Morde auch. Rübe ab, aufgeschlitzt, oh, so viele Därme in einem Menschen, schau mal... (Ist ja gut, mäßigen Sie sich, sonst gibt es wieder schlechte Kritiken.) Die große Liebe also. Das große Märchen. Die große Verarschung. Soviel Blödheit hinter drei Worten. All diese Weiber mit natürlich ergrautem Haar, Blümchenkleidern, das Scheitern an den verhornten Füßen, den Köpfen, und die halten sie schief, sagen mit sanfter Stimme: Das Wichtigste ist doch die Liebe. Ohne sie gäbe es kein Leben. Und da haben sie auch schon ein paar in die Fresse, von Gottes himmlischer Faust. Aber wir wollten von der großen Liebe reden. Fast alle glauben an sie, wie sie auch an Gott glauben, an etwas, das keiner benennen kann, das einfach eine Sehnsucht ist, etwas, von dem man träumt in kalten Stunden, das verhindert, daß sie zufrieden sind, die Menschen, weil es immer noch etwas hat, von dem sie meinen, es stünde ihnen zu. (Sibylle Berg: Amerika, S. 154) Berg, Sibylle: Amerika [8]Raul hatte eine eklige Kindheit gehabt, mit einem saufenden Vater, einer Mutter, die ihn verlassen hatte, er war verstört gewesen, hatte sich ungeliebt und häßlich gefühlt, und manchmal, um weiter zu leben, war er kurzfristig größenwahnsinnig geworden und hatte in allem, was er stümperhaft tat, einen Geniestreich gesehen. Und sich dann wieder gefragt. Wozu braucht die Welt ein Buch, eine neue Zeitung, noch mehr Musik? Die Frage war berechtigt, war klug, die Antwort lautete: Nichts braucht die Welt, und das zu sehen ist Größe, die Raul jedoch nicht weiterhalf. (Sibylle Berg: Amerika, S. 15) Berg, Sibylle: Amerika [9]Karla geht zurück und denkt, daß sie und Bert einer Generation angehören. Und daß sie es gar nicht so schrecklich findet, nicht mehr jung zu sein. Karla hatte sich nie vorstellen können, daß es mal eine andere Generation geben würde als ihre. Sie hatte lange Zeit keinen Unterschied gefühlt zwischen den Zwanzigjährigen und sich. Sie mochte die Musik der Jungen, ihre Kleidung, sie waren wie sie gewesen. Doch wie über Nacht war ein großes Unverstehen über sie gekommen. Sie verurteilte, hielt die Jugend für blöd und oberflächlich, albern mit ihren DF-Taschen, ihren übergroßen Sackhosen, den fettigen Haaren, langweilig ihre elektronische Musik. Öde ihr Desinteresse an allem, außer an Fernsehen, Kino und Spaß. Das definitive Zeichen dafür, daß man alt wird, ist, wenn man Abscheu für die Jugend entwickelt. (Sibylle Berg: Amerika, S. 69) Zitate & Streusel
|