Porthgenna Tower [<<]


von Wilkie Collins

... stieg gedankenvoll die Treppe zu den Rumpelkammern auf dem Boden des Hauses hinauf. Das waren zwei Räume, gänzlich ohne Möbel, aber mit der kostbaren Büchersammlung vollgestopft, die einst die Bibliothek von Porthgenna Tower geschmückt hatte. Mit Staub bedeckt und in alle Richtungen über den Boden verstreut, lagen dort Hunderte und Aberhunderte von Bänden, einst aus den Kisten ausgeschüttet, so wie man Kohlen aus den Säcken in den Keller schüttelt. Altehrwürdige Folianten, die Studenten für unbezahlbar gehalten hätten, lagen in gleicher chaotischer Vernachlässignung Seite an Seite mit modernen Publikationen, deren Hauptvorzug die Schönheit ihres Einbandes war. In diesem Urwald vertreuter Bücher wanderte Shrowl umher. Hier nach einem bestimmten Buch zu suchen, dazu bedurfte es des hohen Selbstbewußtseins trotz Unwissenheit, wie es Shrowl besaß, und es leuchtete ihm kein anderes Licht als der schwache Glanz der beiden hinweisenden Worte "Porthgenna Tower".

Nachdem er sie seinem Gedächtnis eingeprägt hatte, war es seine nächste Aufgabe, sie auf irgendeinem der Hunderte von herumliegenden Bücher gedruckt zu sehen. Darauf war im Augenblick sein ganzer leidenschaftlicher Eifer gerichtet, als er nun, in verbissener Bereitschaft, in der größeren der beiden Dachstuben stand. Mit den Füßen schuf er soch soviel Raum, daß er bequem auf dem Boden sitzen konnte. Dann begann er alle Bücher zu überblicken, Ausgaben mit Dramen und Schauspielen aus der elisabethanischen Zeit, Reisebücher, Predigtbücher, Scherzbücher, naturgeschichtliche Werke und Sportbände wurden von ihm hastig in wunderlicher Reihenfolge aufgehäuft, aber kein Buch enthielt im Titel die Worte "Porthgenna Tower" und belohnte damit den fleißigen Spürsinn Shrowls in den ersten zehn Minuten, nachdem er sich auf den Boden gesetzt hatte. Bevor er sich einen neuen Platz suchte und mit einem weiteren Literaturstapel kämpfte, überlegte er bei sich, ob es nicht eine leichtere und besser überschaubare Methode gäbe, um sich durch die umherliegenden Büchermassen hindurchzuarbeiten.

Es erschien ihm schließlich einfacher, sich bei der Bücherdurchsicht lediglich nach ihrer Größe zu richten; mit den größten zu beginnen, sie zu einem Stapel zusammenzustellen, mit den nächstkleineren fortzufahren und so schließlich bis zu den Taschenbüchern zu kommen. In diesem Sinne räumte er ein weiteres Fleckchen neben der Wand leer und suchte dann, über die vielen Bücher hinwegtrampelnd, als wären es ebenso viele Erdklumpen auf einem Acker, nach dem größten von ihnen. Das war ein Atlas, und Shrowl fuhr mit dem Blick über die Landkarten, dachte nach, schüttelte den Kopf und trug ihn zu dem leergeräumten Platz an der Wand. Das zweitgrößte Buch war eine prachtvoll gebundene Sammlung von Kupferstichporträts berühmter Personen. Shrowl begrüßte sie mit rohem Mißfallen und trug sie fort, dem Atlas Gesellschaft zu leisten. Das drittrößte Buch lag unter verschiedenen anderen, sah an einem Ende hervor und war zudem in feines Ziegenleder gebunden, sonst hätte es kaum seine Aufmerksamkeit erregt.

Mit einiger Schwierigkeit zog Shrowl es hervor, öffnete es, blickte mit außerordentlich düsteren Mißtrauen auf die Titelseite und schlug sich plötzlich unter frohlockenden Ausrufen auf die Schenkel. Da standen die beiden Worte, die er suchte, stachen ihm sozusagen ins Auge mit all dem Nachdruck, den solche Großbuchstaben so an sich haben! Einen Augenblick lauschte er, um sicherzugehen, daß sein Herr sich nicht im Hause bewegte; dann wandte er sich der ersten Buchseite zu. Sie war leer. Die zweite begann mit einer Inschrift. In verblaßter Tinte enthielt sie folgende Worte und Initialen: "Rarität! - Nur sechs gedruckte Exemplare! J.A.T." Darunter, in der Mitte des Blattes, stand eine gedruckte Zueignung: "Dieses Werk ist John Arthur Treverton Esquire, Herr von Porthgenna Tower, gewidmet von einem Friedensrichter Seiner Majestät, F.R.S. - Der Versuch einer Beschreibung seines alten und ehrwürdigen Herrenhauses und seiner Vorfahren." Es waren noch weit mehr Zeilen vorhanden mit all den großartigen und willfährigen Wörtern, die im Wörterbuch zu finden sind, doch Shrowl sah, weise wie er war, davon ab, sie alle zu lesen, und ging sofort auf die Titelseite über.

Da standen in der Tat alle wichtigen Wörter: "Die Geschichte und die Altertümer von Porthgenna Tower, beginnend bei seiner Errichtung bis zur Gegenwart, enthält interessante genealogische Besonderheiten der Treverton-Familie; mit einer Untersuchung des Ursprungs der gotischen Architektur und einigen wenigen Gedanken über die Theorie des Festungswerkes nach der Zeit der normannischen Eroberungen - von Reverend Job Dak, D.D. Rektor von Porthgenna. - Alles ergänzt durch Porträts, Ansichten und Pläne, höchst kunstvoll ausgeführt. Nicht veröffentlicht. Gedruckt bei Spaldoch und Grimes, Truro, 1734." Das war die Titelseite! Die nächste Seite enthielt eine gravierte Ansicht der Westseite von Porthgenna Tower. Dann kamen einige den ältesten Quellen der gotischen Kultur gewidmeten Seiten sowie mehrere Seiten, die die normannische Theorie des Festungswerkes erklärten. Sie schlossen ab mit einer weiteren Gravur: Porthgenna Tower von Norden. Hier hielt Shrowl inne und sah voller Interesse auf das Blatt neben der Gravur. Dies kündigte jedoch nur weiteren Lesestoff über den Bau des Herrenhauses an und wurde mit den Familienporträts der Galerie in Porthgenna abgeschlossen. Shrowl steckte seinen linken Daumen zwischen die Seiten, um die Stelle zu markieren und wandte sich ungeduldig dem Ende des Buches zu, um nachzusehen, was dort etwa zu finden sei.

Das letzte Blatt enthielt einen Plan der Stallungen; das Blatt davor zeigte den Grundriß des Nordgartens, und auf der Rückseite - da stand doch tatsächlich das, wovon in Robert Chennerys Brief die Rede war: ein Plan über die Zimmeranordnung im Nordflügel des Hauses! Nach dieser Entdeckung war es Shrowls erster Gedanke, das Buch in das sicherste Versteck, das er finden konnte, zu tragen, um es dann am nächsten Morgen heimlich dem Boten zum Verkauf anzubieten. Ein wenig Nachdenken jedoch brachte ihn zu der Überzeugung, daß dieses Vorgehen einem Diebstahl gefährlich ähnlich sähe. Auch könnte die Person, mit der er zu verhandeln wünschte, am Ende einige unbequeme Fragen über seine Rechte an besagtem Buch stellen. Wenn diese Idee also verworfen werden mußte, so blieb nichts weiter übrig, als eine möglichst gute Kopie des Planes anzufertigen und ihn als ein Dokument zu verschachern, das zu erwerben auch eine von Bedenken geplagte Person nicht zögern würde.


© Wilkie Collins: Das Geheimnis des Myrtenzimmers, Frankfurt/M.: Fischer-Taschenbuch, 1997. ISBN: 3-596-13766-7


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