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Allgemeine Fundstücke / [W3]
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"Schon als Kind habe ich die Dinge durchschaut",
sagte Peter. "Niemals konnte ich sorglos auf einer
Wiese Fußball oder Versteck spielen. Das Bewußtsein,
daß es Gebote gab, die ich entweder einhielt oder
übertrat, nahm mir selbst als Kind den ganzen Spaß.
Wenn ich etwas beginnen wollte, wurde ich schon
völlig mutlos bei dem Gedanken, daß ich damit bald
wieder würde aufhören müssen, so daß ich lieber gar
nicht erst anfing und alles ließ, wie es war. Die
Gebote und Verbote, die mich umgaben, setzten
unerbittliche Grenzen. Daher kommt es auch, daß ich
mich nie bei meinen Eltern geborgen fühlte, im
Gegenteil, ich hatte immer das Bedürfnis, sie zu
beschützen, weil sie dem Ende bereits so viel näher
standen. Ihre unwissende Hilflosigkeit hat mich
immer gerührt und zugleich bestürzt. Wie war es
möglich, daß ich so viel mehr wußte als sie?" (Leon de
Winter: Nur weg hier! S. 65)
Ein junger Mann trat ein, der zwar
außergewöhnlich groß war, dem
es aber an den breiten Schultern und an der
Stabilität des Körperbaus mangelte,
die Größe eindrucksvoll machen. Die
Natur, die Horace Davenport in die Länge
gezogen hatte, hatte vergessen, ihn in die Breite
zu ziehen, und - wären sie sich begegnet -
könnte man sich vorstellen, wie Euklid
verstohlen einen Freund angestoßen
hätte: "Schau jetzt nicht hin, aber dieser
Mensch, der da gerade kommt, demonstriert genau,
was ich dir über die gerade Linie gesagt
habe: Länge ohne Breite." (Pelham G.
Wodehouse: Schloß Blandings im Sturm
der Gefühle, S. 7f.)
Für Pongo Twistleton, dessen Vorstellung von einem
Privatdetektiv aus einem falkengesichtigen Mann mit
hellwachen, stechenden Augen und dem allgemeinen Gehabe
eines Leoparden bestand, war Claude Pott eine
vollkommene Überraschung. Falken haben kein Kinn.
Claude Pott hatte gleich zwei. Leoparden schleichen.
Claude Pott watschelte. Seine Augen waren weit davon
entfernt, hellwach und stechend zu sein - wie es so oft
bei jenen der Fall ist, die durchs Leben gehen und
versuchen, ihre Gedanken vor der Welt zu verbergen -
mit einer Art Film oder glasigen Schicht bedeckt zu
sein. (Pelham G. Wodehouse: Schloß Blandings im Sturm
der Gefühle, S. 11)
Der neunte Earl von Emsworth war ein Mann, der in
Zeiten der Anspannung stets dazu neigte, auszusehen wie
der ehrwürdige alte Vater im altmodischen Meldodram,
wenn er erfährt, daß der Bösewicht die Hypothek nicht
verlängern will. In diesem Moment war sein
Gesichtsausdruck derart aufgelöst, als hätte ihm jemand
die Mehrzahl seiner inneren Organe entfernt. Genauso
sehen ausgestopfte Papageien aus, wenn die Sägespäne
herauszurieseln beginnen. Der Kneifer saß schief auf
der Nase, und der Kragen hatte sich vom Kragenkopf
gelöst. (Pelham G. Wodehouse: Schloß Blandings im Sturm
der Gefühle, S. 73)
"Dieser Bursche da, der alte Stoker, macht mich nervös. Im
allgemeinen ist er ganz freundlich, aber ich werde das Gefühl
nicht los, er könnte jeden Moment einen Koller bekommen
und alles kurz und klein schlagen. Sag mal, gibt es bei ihm
spezielle Themen, die man besser vermeidet?" "Was meinst
du mit speziellen Themen?" "Ach, du weißt doch, wie das
mit Leuten ist, die man nicht kennt. Da sagst du, was für'n
schöner Tag ist das heute, und da sitzt einer, der wird
kreidebleich und knirscht mit den Zähnen, weil du ihn gerade
daran erinnert hast, was für'n schöner Tag das war, als
seine Frau mit dem Chauffeur abgehauen ist." (Pelham G.
Wodehouse: Bertie in wilder Erwartung, S. 36)
Ich bin ein Mensch, der in Gesichtern lesen kann, und das
von Chuffy sprach Bände. Nicht nur glich sein
Gesichtsausdruck, als von Pauline die Rede war, dem eines
ausgestopften Frosches, der vor seinem Ableben noch eine
himmlische Vision gehabt haben mußte, nein, auch seine
Wangen waren in schönstem Karmin eingefärbt. Die Spitze
seiner Nase hatte gebebt, und seine ganze Verlegenheit
kam in seiner linkischen Haltung zum Ausdruck. Dies alles
zusammen brachte mich zu der Erkenntnis, daß Gott Amor
den alten Schulkameraden kräftig am Schlafittchen gepackt
hatte. Schnelle Arbeit, wenn man bedenkt, daß Chuffy den
geliebten Gegenstand erst seit wenigen Tagen kannte. Aber
so ist Chuffy. Ein Heißblut, das mit Ungestüm jähen
Regungen folgt. Zeigen Sie ihm ein Mädchen, und er macht
alles übrige. (Pelham G. Wodehouse: Bertie in wilder
Erwartung, S. 37)
Das Bild, das derartige Gefühlsäußerungen bei ihr
hervorrief, mochte den unvoreingenommenen
Betrachter kaum in gleichen Maße beeindrucken. Es
könnte sein, daß er es als Dilettantenarbeit
betrachtet hätte; gleichviel, hier war ein ziemlich
wüster Bengel von zirka elf Jahren abgebildet, der
irgendwie erbost und unendlich gelangweilt
dreinschaute. Ein fetter, feister Knabe war hier
konterfeit, das genaue Ebenbild dessen, was er in
Wirklichkeit war: das verzogene Söhnchen von Eltern,
die an ihrem viel zu großen Vermögen Schaden
genommen hatten. (Pelham G. Wodehouse: Ein
Goldjunge, S. 8)
Es gibt Situationen im Leben, die so unerwartet, so
kritisch sind, daß wir alle übereinstimmen, ein Auge
zuzudrücken und unsere Meinung über denjenigen,
der davon betroffen ist, deswegen nicht gleich zu
ändern. Wir weigern uns zuzulassen, daß das
Verhalten des Opfers in solch auftreibenden
Situationen schwerwiegende Änderungen in der
Wertschätzung der Person hervorrufen könnte. Wir
erlauben dem Feldherrn großzügig, daß er beim
Zusammentreffen mit einem wildgewordenen Stier
einfach flüchtet, ohne daß er den Ruf hervorragenden
Mutes verwirkt. Ein Bischof, der im Winter auf ein
tückisches Glatteis gerät und die Passanten
unfreiwillig mit einem flotten Boogie-Woogie
unterhält, hat nach Beendigung der Vorstellung nichts
von seiner Würde verloren. (Pelham G. Wodehouse:
Ein Goldjunge, S. 25)
"Und du liebst ihn sehr?" "Ich mag ihn. Peter ist
harmlos." "Du überschlägst dich ja nicht gerade vor
Begeisterung." "Oh, wir werden schon miteinander
auskommen. Dir muß ich ja Gott sei Dank nichts
vormachen, Nesta.... übrigens auch ein Grund,
weshalb ich dich so schätze. Du kennst meine
Situation. Ich muß jemanden heiraten, der reich ist,
und Peter ist der netteste reiche Mann, den ich
jemals kennengelernt habe. Er ist wirklich erstaunlich
selbstlos. Ich kann das gar nicht verstehen. Bei
seinem vielen Geld müßte man eigentlich erwarten,
daß er ein Scheusal ist." (Pelham G. Wodehouse: Ein
Goldjunge, S. 37)
Ich wollte ihm schon nahelegen, die ganze Sache
abzublasen und auf den Rest des Unternehmens zu
verzichten, als ein Foxterrier um die Ecke schoß und
Bingo anfing, wie Espenlaub zu zittern. Gleich darauf
sprang ein kleiner Junge in unser Blickfeld, und Bingo
wackelte wie Sülze. Schließlich erschien auch das
Mädchen, wie ein Start, dessen Auftritt schon durch
das gesamte Ensemble vorbereitet worden ist. Bingos
Erregung tat einem in der Seele weh. Sein Gesicht
war mittlerweile hochrot, und mit seinem weißen
Kragen und der vor Kälte blau anbelaufenen Nase
erinnerte er fatal an die französische Trikolore. Von
der Hüfte aufwärts sackte er zusammen, als hätte
man ihn filetiert. (Pelham G. Wodehouse: Der
unvergleichliche Jeeves, S. 182)
Ich weiß nicht, ob Sie Gelegenheit hatten, meinen
Onkel George kennenzulernen. Er ist ein geselliger
alter Herr, der von Club zu Club wandert und sich
pausenlos mit anderen geselligen alten Herrn ein
paar hinter die Binde gießt. Wenn er in Sicht kommt,
stehen die Kellner stramm, und der Kellermeister
spielt schon mit dem Korkenzieher. Es war mein
Onkel George, der entdeckte, daß Alkohol Nahrung
ist, lange bevor die moderne Medizin das herausfand.
(Pelham G. Wodehouse: Der unvergleichliche Jeeves,
S. 214)
"Du wirst doch nett sein zu Reginald, Liebling, nicht wahr?"
"Ich bin immer nett." "Ich wünsche nicht, daß er sich bei
Hermione beklagt, er sei abweisend behandelt worden. Du
weißt doch, wie sie ist." Ein nachdenkliches Schweigen trat
ein, als die beiden sich vergegenwärtigen, wie Hermione war.
Lady Bostock beendete die Stille mit einer hoffnungsfrohen
Bemerkung. "Vielleicht werdet ihr ja die dicksten Freunde."
"Pah!" "Hermione behauptet, er sei reizend." "Bestimmt ist er
eine dieser kichernden jungen Pestbeulen mit Pomade im
Haar", sagte Sir Aylmer mißmutig und wollte weder den
Silberstreif am Horizont noch die schöneren Seiten des
Daseins erkennen. "Es ist schon schlimm genug, einen William
im Haus zu haben. Kommt noch ein Reginald dazu, wird das
Leben endgültig zur Hölle." (P.G. Wodehouse: Onkel Dynamit,
S. 37)
Wer in einem Landhaus vorstellig wird, in dem man ihn nicht
kennt, und den Butler um Einlaß bittet, um die Räumlichkeit
nach Fotografien des Gutsherren-Neffen zu durchforsten,
dem wird dieser Butler normalerweise eher unterkühlt
gegenübertreten, und Coggy, der Majordomus von Ickenham
Hall, war noch unterkühlter als der Durchschnitt gewesen. Er
war ein großer, stämmiger Mann mit einem Mondgesicht und
dem Blick eines Dorsches, und während der gesamten
Prozedur hatte er mit diesem Blick Sir Aylmer fixiert, als schaue
er ihm tief in die Seele. Wem aber schon einmal ein Dorsch tief
in die Seele geschaut hat, der wird bestätigen können, wie
ausgesprochen unangenehm eine solche Erfahrung ist. Die
Botschaft in jenem Blick ließ sich unschwer entziffern. Zwar
hatte Coggs Sir Aylmer nicht explizit unterstellt, es auf das
Tafelsilber abgesehen zu haben, doch eigentlich hätte er
diesen Vorwurf auch gleich aussprechen können. Mit eiskalter
Stimme sagte er: Nein, Sir, leider kann ich Ihrem Wunsch nicht
entsprechen, Sir, und beendete daraufhin das Gespräch,
indem er einen Schritt zurücktrat und dem Besucher energisch
die Tür vor der Nase zuschlug. Und wenn wir energisch sagen,
dann meinen wir mit einem Knall, der den Schnurrbart des
Besuchers beinahe aus seinen Grundfesten riß. (P.G.
Wodehouse: Onkel Dynamit, S. 112)
Noch das trübste Auge hätte, wäre ihm das Privileg zuteil
geworden, die Erscheinung dieser jungen Frau, die sich in der
schlechterdings unglaublichen Pracht ihres neuen Hutes, ihres
besten Kleides und ihrer mit größter Sorgfalt ausgewählten
Schuhe, Handschuhe und Strümpfe präsentierte, in aller Ruhe
zu studieren, erkennen können, daß sie in hohem Maße über
das gewissen Etwas verfügte. Mochte ihr Vater auch wie ein
Walroß und ihre Mutter wie eines der Wesen aussehen, die
um halb drei beim Rennen in Catterick Bridge mit hundert zu
acht an den Start gehen: Die hochgewachsene,
dunkelhaarige Hermione mit ihren großen Augen, dem
perfekten Profil und der ebenso perfekten Figur wäre jedem
orientalischen Potentaten als Traumkandidatin für seinen
Harem erschienen. (P.G. Wodehouse: Onkel Dynamit, S. 209)
Angesichts der gelockerten Sitten passiert es jungen Frauen
von aufreizender Schönheit heutzutage ziemlich häufig, daß
Hüte ziehende Unbekannte männlichens Geschlechts auf sie
zukommen. Wenn Hermione Bostock solches widerfuhr,
neigte sie zur Schroffheit, so daß der Vertreter der anderen
Seite meist mit dem Gefühl davontaumelte, bei einer
Wildkatze Anstoß erregt zu haben. (P.G. Wodehouse: Onkel
Dynamit, S. 255)
"Sie gehört zu jenen Frauen, die immer auf den
Schwächeren herumreiten müssen. Auf gar keinen Fall
darf man zulassen, daß sie über einem steht. Man muß
sie unter der Knute halten. Genau das habe getan, seit
ich vor einem Jahr hier einzog. Gott sei Dank habe ich
gekräuselte Lippen und einen gebieterischen Blick.
Obschon mir auch das nicht viel nützen würde, wenn
Mabel nicht glaubte, ich hätte ein schwaches Herz und
Geld in Hülle und Fülle und könnte schon im nächsten
Moment den Löffel abgeben und ihr meine Millionen
hinterlassen." "Diese Frau ist ja eine wahre
Schauergestalt." "Nein, nein. Sie ist ganz in Ordnung,
sofern man in der Lage ist, auf ihr herumzutrampeln.
(Pelham G. Wodehouse: Jetzt oder nie, S. 122)
Rotes Haar und Sanftmut vertragen sich schlecht, und
Lottie Blossoms Spezialität war eindeutig ersteres. Die
Szene begann und endete auf dem Oberdeck, und der
interessierte Zuhörer, der mit einem zweiten
interessierten Zuhörer zwei Dollar darauf wettete, daß
Ambrose es nicht schaffen würde, innerhalb von zehn
Minuten - gemäß Wanduhr im Rauchsalon - ein einziges
Wort einzuwerfen, hätte um ein Haar gewonnen. Ihre
Lehrzeit auf den Brettern der Musicalbühnen und die
anschließenden Wanderjahre in den Hollywood-Studios
hatten Miss Blossom beigebracht, möglichst von Beginn
weg, möglichst schnell und möglichst pausenlos zu
reden. Als sie ihre Meinung endlich losgeworden war,
zeugte nur noch ein Scherbenhaufen von dem einst so
robusten und vielverprechenden Verlöbnis. (P.G.
Wodehouse: Monty im Glück)
Kein Mensch hatte mehr für Onkel Cutberth übrig als ich, aber
jeder weiß, daß er, soweit es um Geld ging, der vollkommenste
Dummkopf in den Annalen der Nation war. Er besaß einen
kostspieligen Durst; er setzte nie auf ein Pferd, das nicht
mitten im Rennen weiche Knie kriegte, und er hatte ein System,
die Bank von Monte Carlo zu sprengen, das die Verwaltung
gewöhnlich veranlaßte, die Fahnen hinauszuhängen und die
Freudenglocken zu läuten, sobald er gesichtet wurde. (Pelham G.
Wodehouse: Der Pennymillionär. Lustige Geschichten)
Miss Pillinger war eine vorsichtige alte Jungfer mit strengen
Ansichten, unbestimmten Alters und von tiefverwurzeltem Mißtrauen
gegenüber den Männern - einem Mißtrauen, das zu beseitigen die
Männer nichts unternommen hatten; auch das muß an dieser Stelle
gesagt werden, um einem verkümmerten Geschlecht Gerechtigkeit
widerfahren zu lassen. Im Umgang mit Miss Pillenger hatten die
Männer sich in ihrer Korrektheit beinahe kühl benommen. In den
zwanzig Jahren ihrer Erfahrung als Stenotypistin und Sekretärin
hatte sie ihre Arbeitgeber höchstens wegen einer Schachtel
Pralinen mit Zorn und Empörung zurückzuweisen brauchen. Trotzdem
bleib sie weiterhin gespannt auf der Hut. Die geballte Faust
ihrer Wohlanständigkeit lag immer dicht an ihrem Körper, bereit,
dem ersten männlichen Wesen entgegenzufliegen, das die Grenzen
beruflicher Höflichkeit überschritt. (Pelham G. Wodehouse: Der
Pennymillionär. Lustige Geschichten)
Wenn dem Durchschnittsmenschen eine Katastrophe zustößt, dann trifft
sie ihn nicht unvorbereitet. Wie oft hat er schließlich in all den
Jahren den Acht-Uhr-fünfundvierzig verpaßt, den Hund bei Wind und
Wetter Gassi führen müssen, sich mit qualmenden Kaminen abgequält
und beim Frühstück ein übers andere Mal festgestellt, daß die
Spiegeleier schon wieder angebrannt waren! Das alles hat seine Seele
widerstandsfähig gemacht, und wenn deshalb die Verwandten seiner
Frau für einen längeren Besuch eintreffen, ist er gewappnet.
(Pelham G. Wodehouse: Sommerliches Schloßgewitter)
Schwester Leonie: der angehängte Name hat
üblicherweise die Funktion, die verschiedenen
Mitglieder des Pflegepersonals auseinanderzuhalten.
Nummern würden es auch tun; reine Gewohnheit,
Lebendiges durch Namen zu unterscheiden. Dann der
weiße Kittel; Berufsbekleidungseffekt, die
Individualität verschwindet. Immerhin geht es ihr
nicht genau darum, für ein paar Stunden nicht
Individuum, nicht verantwortlich sein zu müssen; das
Soldatische fehlt ihr, was mich freut. Es ging nicht
soweit, daß ich sagen könnte, sie war nicht im
Dienst. Sie war es. Sie verheilt sich in allen
Situationen, wie es von einer Schwester zu erwarten
ist, durch Praxis geschult. (Ulrich Woelk: Freigang, S.
19)
Der Junker mustert seinen Gast erstaunt. Er winkt dem
Diener einzugießen und befiehlt Till: Trink! Till
trinkt seinen großen Humpen auf einen Zug leer; der
Diener füllt ihn aus einer anderen Kanne nach. Auch
diesen Humpen trinkt Till sofort aus. Dann kommt der
Wein aus der dritten Kanne. Till kostet, setzt ab und
bemerkt: Der Wein ist gut. Warum sagst du das jetzt?
will der Junker wissen. Du trinkst schon den dritten
Wein. Die beiden anderen lobten sich selbst, erklärt
Till. Dieser hier hat's nicht nötig, daß man ihn lobt.
(Christa Wolf: Till Eulenspiegel, in: Erzählungen
1960-1980, S. 186)
Da kommt ja auch Schneidermeister Bornow über den
Sonnenplatz. Die neuen Häuser sind wie weggeblasen,
dafür die alte unkrautbewachsene Einöde, Trampelpfade,
Sandkuten. Kinder und Betrunkene haben einen
Schutzengel. Schneidermeister Bornow fällt nicht hin.
Er verliert auch seine schwarze Schirmmütze mit der
Kordel nicht. Über dem Platz ist ein Gesang, der
entweicht Schneidermeister Bornow. Durchaus falsch wäre
es zu sagen, Schneidermeister Bornow singt. Denn auf
seinem Schneidertisch und auch sonst im Familienkreis
singt er niemals, das wäre nicht vorstellbar, Nellys
Freunding Lieselotte Bornow gibt es widerwillig zu.
König Alkohol ist es, der ihn singen macht, und zum
Gespött der Menschheit, sagt die Mutter. Nelly hat ihre
eigene Vorstellung. Jeden Sonnabend, denkt sie, wartet
der Gesang unten an der Chausee vor der Eckkneipe auf
den Schneidermeister, um sich auf ihm, nur auf ihm,
niederzulassen, sobald er aus der Tür heraustritt - ein
großer, schwerer Vogel, dessen Last Herrn Bornow
torkeln und schwanken macht und immer ein und dasselbe
Lied aus ihm herauspreßt: "Du kannst nicht treu sein,
nein nein, das kannst du nicht, wenn auch dein Mund mir
wahre Liebe verspricht." Eine Klage, die Nelly zu
Herzen geht und dieses Lied für immer unter die
tragischen Gesänge einreiht. Die Sonne schien auf Herrn
Bornow, weißt du noch, und er begann laut zu reden und
zu schimpfen, und Lieselotte Bornow kam aus Nummer 6
gerannt, mit ihren dünnen, steif abstehenden Zöpfen,
und zog ihren Vater am Ärmel ins Haus, ohne die
Freundin eines Blickes gewürdigt zu haben. "In deinem
Herzen, da ist für viele Platz", sang Lieselottes
Vater, und die Trauer, die ihn pünktlich jeden
Sonnabendnachmittag ins Wanken brachte, zog sich auch
über Nelly zusammen. (Christa Wolf: Kindheitsmuster,
Reclam, S. 22/23)
Die Hexe fängt nun an - nachdem sie unter heftigem
Mäkeln alles in sich hineingestopft hat, was Onkel
Heinrich ihr auf den Teller gelegt -, sich zu winden
und zu krümmen, zu stöhnen und sich den Leib zu reiben,
bis sie zu ihrer eigenen Erleichterung und zu Nelly
Pein, eine nicht enden wollende Reihe von unanständigen
Tönen von sich geben muß. Hexen haben kein Gefühl
dafür, was peinlich ist, so daß sie es fertigbringen,
mit falscher Stimme ein zufällig anwesendes Kind zu
fragen: Na, und das Fräuleinchen? Ekelt es sich auch
schön vor mir? - Aber nein doch, aber gar kein bißchen,
eigentlich sogar im Gegenteil (Aussagen, die zu einer
Unterabteilung der erlaubten Notlügen gehörten, zu den
Mitleidslügen, die man gegen alles Mißgestaltete zu
richten hat). Doch Hexen, die niemals zu lügen
gezwungen sind, weil sie von Berufs wegen unverschämt
sein müssen, nehmen Lügen unerbittlich für bare Münze
(das ist der zweite Punkt, an dem man sie von Menschen
unterscheiden kann) und fangen also an, einem mit ihrer
runzligen, gekrümmten Hand endlos die Wangen zu
tätscheln. Eine Hand, an der Nelly zu ihrem
unaussprechlichen Verdruß Tante Emmys in Gold gefaßte
Perle erblicken muß. Die Hexe, die sich nach dem Gesetz
ihrer Gattung erst zufrieden gibt, wenn sie die Leute um
sich herum zu Zerrbildern ihrer selbst gemacht hat,
verschafft sich einen von übertriebenen Danksagungen
strotzenden Abgang. Sie wünscht noch allen Anwesenden
ein langes Leben, weil die Hinterbliebenen beim Tod
eines Angehörigen immer zuerst an ihre Trauerkleider
dächten, was sie später nicht sich selbst, sondern dem
Verstorbenen übelnähmen. Aber so sind die Menschen, und
wie sie sind, müssen sie auch verbraucht werden.
(Christa Wolf: Kindheitsmuster, Reclam, S. 78/79)
Sie hat, jetzt spreche ich von Christa T., nichts
inniger herbeigewünscht als unsere Welt, und sie hat
genau die Art Phantasie gehabt, die man braucht, sie
wirklich zu erfassen - denn was man auch sagen mag,
mir graut vor der neuen Welt der Phantasielosen. Der
Tatsachenmenschen. Der Hopp-Hopp-Menschen, so
hat sie sie genannt. Und sich ihnen, in ihren finsteren
Stunden, tief unterlegen gefühlt. (Christa Wolf:
Nachdenken über Christa T., S. 60)
Sie sind so blaß, sagte die Dame Schmidt, als sie am
Abend nach der Versammlung nach Hause kommt,
krank werden Sie mir doch nicht werden? Die Dame
Schmidt sieht empfindsame Filme sehr gerne, aber
seelische Schmerzen in der Wirklichkeit sind ihr ein
Greuel. Was also, wenn die eigene Untermieterin in
ihrem Zimmer hockt und nicht ißt und nicht trinkt?
(Christa Wolf: Nachdenken über Christa T., S. 81)
Was braucht die Welt zu ihrer Vollkommenheit? Das
und nichts anderes war ihre Frage, die sie in sich
verschloß, tiefer noch aber die anmaßende Hoffnung,
sie, sie selbst, Christa T., wie sie war, könnte der
Welt zu ihrer Vollkommenheit nötig sein. Nichts
Geringeres hat sie zum Leben gebraucht, der
Anspruch ist allerdings gewagt und die Gefahr, sich
zu überanstrengen, groß. (Christa Wolf: Nachdenken
über Christa T., S. 62)
Doch schon der nächste Schlag - wie wenig wüßtest
Du es, genügt, für mich ein Schlag zu sein! - kann
mich endgültig an den Strand werfen. Aus eigener
Kraft finde ich dann nicht mehr zurück. Ein Leben mit
anderen Gestrandeten würde ich nicht führen, das ist
das einzige, was ich sicher weiß. Ehrenvoller,
ehrlicher ist immer noch der andere Weg. Auch
stärker. Bloß den anderen nicht zur Last fallen, die
weitergehen werden, die recht haben, weil sie stärker
sind, die sich nicht umblicken können, denn sie haben
keine Zeit. (Christa Wolf: Nachdenken über Christa
T., S. 84)
Sie hat das Unglück, leidenschaftlich und stolz zu sein, also
verkannt zu werden. So hält sie sich zurück, an Zügeln, die ins
Fleisch schneiden. Das geht ja, man lebt. Gefährlich wird es,
wenn sie sich hinreißen ließe, die Zügel zu lockern, loszugehn,
und wenn sie dann, in heftigstem Lauf, gegen jenen
Widerstand stieße, den die andern Wirklichkeit nennen und
von dem sie sich, man wird es ihr vorwerfen, nicht den rechten
Begriff macht. (Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends, S. 11)
Was mich betrifft: Ich gäbe
mein Alles dafür, wenn ich in ein, zwei Jahrhunderten noch
einmal auf dieser Welt leben und an den paradiesischen
Zuständigkeiten teilhaben dürfte, welche die Menschheit -
dank der Entfaltung der Wissenschaften! - dann genießt.
Diesem Denken liegt ein Fehler zugrunde, aber es ist noch zu
früh, ihn zu benennen. Sie gehn nicht vom Zusammenhang
der Dinge aus, sagt Kleist, sondern von einzelnen Disziplinen.
Soll ich denn alle meine Fähigkeiten, alle meine Kräfte, dieses
ganze Leben nur dazu anwenden, eine Insektengattung
kennenzulernen, oder einer Pflanze ihren Platz in der Reihe
der Dinge anzuweisen? Muß die Menschheit durch diese
Einöde, um ins Gelobte Land zu kommen? Ich kann's nicht
glauben. Ach, wie traurig ist diese zyklopische Einseitigkeit.
(Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends, S. 100/01)
Kleist, stark erregt durch das Gespräch - wie schnell sein
Gleichmut zusammenbricht! -, sagt dem Hofrat; indem er sich
mit beiden Fäusten gegen den Schädel hämmert: Ja, ja, ja!
Mag sein, daß der Fehler hier drinnen steckt. Daß die Natur
grausam genug war, mein Gehirn falsch anzulegen, so daß
auf jedem Weg, den mein Geist einschlägt, der Aberwitz ihm
entgegengrinst. Wedekind, wenn Sie ein Arzt wären: Öffnen
Sie diesen Schädel! Sehn Sie nach, wo der Fehler sitzt.
Nehmen Sie Ihr Skalpell und schneiden Sie, ohne zu zittern,
die verkehrte Stelle heraus. Es mag ja wahr sein, was ich in
den Gesichtern meiner Familie lese: daß ich ein verunglücktes
Genie, eine Art Monstrum bin. Doktor, ich flehe Sie an:
Operieren Sie das Unglück aus mir heraus. Sie werden keinen
dankbareren Geheilten haben als mich. (Christa Wolf: Kein
Ort. Nirgends, S. 102/03)
Jetzt versteht er plötzlich seine immerwährende Müdigkeit. Ein
Vergleich fällt ihm ein: Eine Maschine, die auf höchste Touren
gebracht und zugleich gebremst wird. Der Verschleiß muß
erheblich sein, sogar berechenbar. Es ist, sagt er, höchst
merkwürdig, wie man einer Denkart, die man für verkehrt
erkannt, doch immer wieder unterliegt und die Gewalt nicht
aufbringt, den Karren aus der gewohnten Bahn zu reißen,
Manchmal komme eine äußere Erschütterung dem
festgefahrenden Kopf zu Hilfe. (Christa Wolf: Kein Ort.
Nirgends, S. 112)
Unser Kater Maximilian liegt auf einem Stuhl zu meinen
Füßen, schlafend, und zeigt durch seine Haltung (er
schützt weder Bauch noch Kehle), daß er von niemandem
sich eines Bösen versieht, Gerd hat ihn eben am Kopf
gestreichelt und gesagt: Na Maxel, dir geht's
vielleicht gut, du wirst nicht kritisiert, aber dafür
schreibst du ja auch keine Bücher, wie wär's denn, mach
uns doch mal ein Katzenbuch. (Christa Wolf, in:
Reimann/Wolf: Sei gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft
in Briefen. 1964-1973)
Tinka ist, vom Laienstandpunkt aus, genesen. Morgen
wird an ihrem kostbaren Blute noch ein Lebertest
gemacht. Jetzt liegt sie mit dem Kater Max auf dem
Bauch auf meiner Ottomane und liest. Leider frißt Kater
Max unsere guten gelben Wolldecken, er scheint ein
bißchen pervers zu sein. Tinka spielt Tag und Nacht mit
Vater ein neu erworbenes Tisch-Fußballspiel, und wenn
Vater zu viele Tore schießt und sich unverhohlen
darüber freut, bricht sie in Tränen aus. - Annette hat
uns heute zwanzig Halbstarke ins Haus gelockt und
spielt ihnen - auf Platte - das "kleine Mahagonny" vor.
Übrigens hat sie heute ihre Zulassung zum Psychologie-
Studium gekriegt. Vater knabbert am Hölderlin. So hat
jeder seins. (Christa Wolf, in: Reimann/Wolf: Sei
gegrüßt und lebe. Eine Freundschaft in Briefen.
1964-1973)
Nicht nur der Himmel des ersten Morgens, alles in dieser grünen,
lebenskräftigen Stadt schien ihnen günstig. Fiel Regen, wusch er
ihnen die Straßen blank, schien die Sonne, trocknete sie ihre
Wege. Die Vögel in den Alleen und Parks sangen für sie, ihnen
galt das Lachen der Menschen und ihre Lieder. Die Erde war rund
und umgab sich mit einem leichten Schmelz der Vollkommenheit,
jenem Hauch, den nur die Glücklichen spüren und der ihnen das
unbeschreibliche Gefühl gibt, unverletzlich zu sein. (Christa
Wolf: Erzählungen 1960-1980)
Niemand, der weiß, daß mein Professor mit dem totalen
Menschenglück befaßt ist, kann sich über seine oft so gequälte
Miene wundern oder über die bedauerliche Tatsache, daß neuere
klinische Untersuchungen ein Geschwür an seinem Magenausgang auf
die Röntgenplatte bannten, die mein Professor nicht ganz ohne
Stolz, indem er sie gegen das grüne Licht seiner Arbeitslampe
hielt, seinem Freund Dr. Fettback vorführte. Wir hatten die
Freude, Herrn Dr. Fettback dieses Geschwür "klassisch" nennen zu
hören und aus berufenem Mund den gesundheitsschädigenden
Charakter unserer Arbeit bestätigt zu bekommen. Natürlich schlafe
er auch schlecht, mein Professor? - Fast gar nicht, erwiderte der
bescheiden. (Christa Wolf: Erzählungen 1960-1980)
Die Schirmherrin sämtlicher Künste, insbesondere aber der Musik,
dieser Himmelstochter, Mrs Franz Wilhelm Von Zeck, Gattin des
berühmten Lungenspezialisten und Entdeckers des "Von-Zeck-Serums",
segelte aus dem Modegeschäft von Mr Louis Rosalsky und wurde vom
Inhaber galant zu den weichen Polstern ihres Cadillacs geleitet.
Wohlwollend, aber hoheitsvoll lächelte sie auf ihn herab: Das weiße
Pergament seines harten polnischen Gesichts wurde durchbrochen von
einem Grinsen voll peinlicher Unterwürfigkeit, das sich bis zu den
Flügeln seiner riesigen gelbgrauen Nase hinzog. Frau Von Zeck senkte
ihr mächtiges Doppelkinn auf den wuchtigen Sims ihrer
wagnerianischen Brüste und wurde, indes sie sich schläfrigen Blicks
in Phantasien künftiger Menschheitsbeglückungen erging, gemach vom
treu ergebenen Geschäftsmann hinwegkutschiert. (Thomas Wolfe:
Schau heimwärts, Engel)
Sie ist natürlich - was sonst? - Künstlerin, ein von
unerfüllten Wünschen zerschrammtes Wesen, das in
einem Überlebenskampf erstarrt scheint, und das mit
einer Ausdauer, die nur noch alter Adel aus dem Hut
zaubern kann. Die Bilder, die sie malt, sind vor allem
eines: bunt! Ich bin sicher, in jedem Krankenhaus
liegen welche, die sich so etwas in ihrem Kummer
gern zur Aufheiterung anschauen würden; ich meine,
immer noch besser, als zwischen Schnittblumen
abkratzen zu müssen, die schon im Zimmer aussehen
wie Friedhofsschmuck. Was aus harmlos
hingepinselten Bildchen aber noch lange keine
Kunstwerke macht! Sie aber träumt davon, damit
partout die New Yorker Kunstszene aufmischen zu
wollen, hat immer, für alle Fälle, einen Katalog ihrer
Arbeiten in der Tasche, Pläne für den endgültigen,
und zwar total internationalen Durchbruch im Kopf
und ein, wie sie behauptet, angeborenes Bedürfnis,
Champagner trinken zu müssen, das erste Glas
spätestens nach dem Frühstück. Ein Luxus, stöhnt
sie, und das bei meinem Kontostand. Was soll nur
aus mir werden? (Wolf Wondratschek: Mozarts
Friseur, S. 44)
Ist das Leben nicht grauenhaft? Der Friseur bekundet
Respekt für die Frage, bleibt eine Antwort aber
schuldig. Außerdem kann er nicht sprechen. Eine ihrer
Locken, die sich um einen seiner Finger gewickelt hat,
löst bei ihm gerade eine Art Geistesabwesenheit aus,
wie sie Opiumraucher beschrieben haben. Was alle
für Höflichkeit halten, ist in diesem Moment nichts
weiter als völliger Stillstand von Interessen. Ein
komfortabler Zustand, der nie lange anhält; zwei, drei
Minuten. Dann spürt er wieder, daß er Schuhe trägt,
der überdeutliche Hinweis auf Lebendgewicht. Es ist
grauenhaft, glaub ' mir. Übrigens, was mir gerade
einfällt, weil du mich zwingst, andauernd in den
Spiegel da vor mir starren zu müssen. Kennst du nicht
jemanden, der Pässe fälscht? Ich meine, mein
inzwischen ziemlich ranziges Geburtsdatum müßte
mal runderneuert werden. Ein Jährchen oder zwei
weniger, dafür kommt man doch wohl nicht gleich ins
Gefängnis, oder? Sie kontrolliert ihren Puls, zählt aber
aus Desinteresse nicht mit. (Wolf Wondratschek:
Mozarts Friseur, S. 48)
Niemand hier im Basar hat etwas gegen
Übertreibung. Aber ab einem gewissen Alter läßt das
Interesse derer nach, die sie damit beeindrucken
möchte. Dann wirkt sie hilflos. Das Einfachste ist
dann, sie macht etwas mit ihren Haaren. Sie macht
mit ihren Haaren täglich etwas, egal was. Haare sind
ihr Spielzeug, aber auch eine Waffe. Sie erprobt mit
ihnen ihre Unwiderstehlichkeit, der sie mehr und mehr
inzwischen allerdings mißtraut. Sie will Beweise, daß
sie sich noch verlieben kann - und den Beweis, daß es
sich nicht lohnt. Wie groß und leer die Welt ist, wenn
sie weint, und wie winzig gleichzeitig im Vergleich zur
Stärke ihres Hinterns. Die Proportionen stimmen
nicht. Ob herausgeputzt oder heruntergekommen, es
bleibt immer zuviel Erdenschwere an ihr haften.
Fettblume hat man sie als Kind gerufen. Ein
Nachbarjunge hat ihr zum vierzehnten Gebutstag eine
Kiste mit Bauchtanzzubehör geschenkt und fand das
komisch; und alle haben sie gelacht und sie
angeschaut. Sie sackt noch heute in sich zusammen,
wenn sie so ein Blick trifft, und sie dann wie etwas,
das man zerknüllt hat. Mit so einem Gefühl liegt sie
oft nachts im Bett und fühlt sich krank, jedenfalls
alles andere als kampfeslustig. Niemand ahnt, wie
klein sie dann ist; und das bei ihrer Statur mit dem
Volumen einer Traktoristin, was sie zwar robust
macht, die Handgriffe in gewissen Stunden aber eben
auch unhandlich. (Wolf Wondratschek: Mozarts
Friseur, S. 49)
Wenn ich nur meine Hand auf der Fensterbank ansehe und
bedenke, wieviel Wohltuendes ich in ihr gehalten habe, wie
sie Seide berührt hat und Tonköpfe und heiße Mauern, wie
sie sich flach auf feuchtes Gras gelegt hat oder
sonnenverbrannt den Atlantik durch ihre Finger spritzen
ließ, Glockenblumen und Narzissen abgerissen, reife
Pflaumen gepflückt hat, nicht eine Sekunde lang, seitdem ich
geboren bin, aufgehört hat, mir von heiß und kalt, von
Feuchtem oder Trockenem zu berichten, so bin ich
bestürzt, daß ich diese wunderbare Verbindung von Fleisch
und Nerven dazu benutzen soll, den Mißbrauch des Lebens
aufzuschreiben. Doch eben das tun wir. Was mich denken
läßt, Literatur ist die Chronik unseres Mißvergnügens.
(Virginia Woolf: Blau & Grün. Erzählungen, S. 16)
Sie wurde natürlich mit übertriebener Fürsorglichkeit
aufgezogen, die während ihrer Kindheit ihrer
Gesundheit galt, und als sie dann ein junges Mädchen
und schließlich eine junge Frau war, dem, wofür das
Wort Tugendhaftigkeit fast schon grob erscheint. Bis
noch vor ganz kurzer Zeit hatte sie nicht die
geringste Ahnung gehabt, daß derartige Dinge für
Frauen überhaupt existieren. Sie tastete in alten
Büchern nach dem entsprechenden Wissen und fand
es in Form abstoßender Brocken, doch eigentlich
hatte sie keinen Hang zu Büchern und zerbrach sich
folglich nicht groß den Kopf über die Zensur, die erst
von ihren Tanten, später dann von ihrem Vater geübt
wurde. Freundinnen hätten ihr Dinge erzählen können,
doch sie hatte wenige im gleichen Alter - Richmond
war unbequem zu erreichen-, und es traf sich, daß
das einzige Mädchen, das sie gut kannte, eine
religiöse Eiferin war, die die Vertraulichkeit befeuerte,
von Gott und den geeignetsten Möglichkeiten zu
sprechen, sein Kreuz auf sich zu laden, ein
Gesprächsthema, das für jemanden, dessen geistige
Entwicklung einen ganz anderen Verlauf nahm, nur
von sporadischem Interesse sein konnte. (Virginia
Woolf: Die Fahrt hinaus, S. 36)
Bisweilen gibt es natürlich Wunderkinder-" Sie
schaute sich nach etwas um, und erblickte jetzt ein
Glas auf dem Kaminsims, das sie herunterholte und
Rachel reichte. "Wenn Sie den Finger in dies Glas
stecken, gelingt es Ihnen vielleicht, ein Stück
kandierten Ingwer herauszuholen. Sind Sie ein
Wunderkind?" Der Ingwer lag jedoch zu weit unten
und war nicht zu erreichen. "Das macht nichts", sagte
Rachel, als Miss Allan sich nach einem anderen
Instrument umsah. "Ich mag wohl sowieso keinen
kandierten Ingwer." "Haben Sie nie welchen probiert?"
wollte Miss Allan wissen. "Dann würde ich meinen, ist
es Ihre Pflicht, das jetzt zu tun. Schließlich könnte es
ja Ihr Leben um eine weitere Freude bereichern, und
das Sie noch jung sind-" Sie erwog, ob ein
Schuhknöpfer in Frage kam. "Ich probiere
grundsätzlich alles", sagte sie. "Finden Sie nicht, daß
das doch sehr ärgerlich wäre, wenn Sie Ingwer zum
erstenmal auf dem Totenbett probieren würden und
dann feststellen müßten, daß Ihnen nie im Leben
etwas so gut geschmeckt hat? Ich würde mich so
ungeheuer ärgern, daß ich vermutlich allein schon
deshalb wieder gesund würde." (Virginia Woolf: Die
Fahrt hinaus, S. 300)
Offensichtlich war das, was geschehen war, nichts
Ungewöhnliches; es handelte sich darum, daß sie sich
verlobt hatten, um einander zu heiraten. Die Welt,
die in der Hauptsache aus dem Hotel und der Villa
bestand, zeigte sich alles in allem erfreut darüber,
daß zwei Menschen heiraten sollten, und gab ihnen
zu verstehen, daß man von ihnen nicht erwartete, daß
sie sich an der Arbeit beteiligten, die geleistet
werden muß, damit die Welt weiterbestehen kann,
sondern daß sie sich für eine gewisse Zeit entfernen
durften. (Virginia Woolf: Die Fahrt hinaus, S. 343)
Er war allein mit Rachel, und ein schwacher Nachhall
der Erleichterung, die sie immer verspürt hatten,
wenn sie allein waren, ergriff ihn. Er blickte sie an. Er
hatte erwartet, sie in irgendeiner Weise schrecklich
verändert vorzufinden, doch sie war es nicht. Sie sah
allerdings sehr schmal aus, und soweit er sehen
konnte, sehr müde, doch sie war unverändert
geblieben. Außerdem sah sie ihn und erkannte ihn.
Sie lächelte ihm zu und sagte: "Hallo,Terence." Der
Vorhang, der so lange zwischen gehangen hatte,
verschwand sofort. "Nun, Rachel", sagte er mit seiner
gewohnten Stimme, woraufhin sie die Augen ganz
weit aufmachte und ihr vertrautes Lächeln lächelte. Er
küßte sie und nahm ihre Hand. "Es war scheußlich
ohne dich", sagte er. Sie blickte ihn immer noch
lächelnd an, doch schon bald trat ein leichter
Ausdruck der Erschöpfung oder der Verblüffung in ihre
Augen, und sie schloß sie wieder. (..) Ohne zu
wissen, ob er die Worte dachte oder sie laut
aussprach, sagte er: "Nie sind zwei Menschen so
glücklich gewesen, wie wir es waren. Niemand hat je
so geliebt, wie wir geliebt haben. " (Virginia Woolf:
Die Fahrt hinaus, S. 415)
Das Mittagessen ging methodisch seinen Gang, bis
jeder der sieben Gänge nur noch in Fragmenten
bestand und das Obst nur noch ein Spielzeug war,
das geschält und in Scheiben geschnitten werden
wollte, so wie ein Kind Blütenblatt um Blütenblatt ein
Gänseblümchen zerstört. Das Essen wirkte sich auf
jedwedes Flämmchen des menschlichen Geistes, das
die Mittagshitze hätte überleben können, tödlich aus;
dennoch saß Susan danach in ihrem Zimmer und hielt
sich wieder und wieder die erfreuliche Tatsache vor
Augen, daß Mr Venning zu ihr in den Garten
gekommen war und eine geschlagene halbe Stunde
dabeigesessen hatte, während sie ihrer Tante vorlas.
Männer und Frauen suchten sich ihre Winkel, wo sie
unbeobachtet ruhen konnten, und für die Zeit von
zwei bis vier ließ sich ohne Übertreibung sagen, daß
das Hotel von Leibern ohne Seelen bewohnt war.
Katastrophal wäre das Ergebnis gewesen, wenn ein
Brand oder ein Todesfall plötzlich etwas Heldenhaftes
von der menschlichen Natur verlangt hätte, doch
Tragödien spielen sich in hungrigen Stunden ab.
Gegen vier begann der menschliche Geist wieder den
Leib zu lecken, wie eine Flamme ein schwarzes
Vorgebirge von Kohle leckt. (Virginia Woolf: Die Fahrt
hinaus, S. 135)
Underdessen wurde Helen selbst einer Prüfung
unterzogen, wenn auch nicht seitens eines ihrer
Opfer. Mr Pepper war mit ihr beschäftigt; und die
Überlegungen, die er anstellte, während er seinen
Toast in Streifen schnitt und sie sorgfältig mit Butter
bestrich, führten ihn ein ordentliches Stück in seine
Autobiographie hinein. Einer seiner durchdringenden
Blicke versicherte ihm, daß er am Vorabend zu Recht
zu dem Urteil gelangt war, Helen sei schön. Höflich
reichte er ihr die Marmelade. Sie redete Unsinn, doch
keinen schlimmeren, als die Menschen beim Frühstück
gemeinhin redeten, da die Hirndurchblutung, wie er
aus eigener Erfahrung wußte, zu dieser Stunde gern
Sperenzchen machte. (Virginia Woolf: Die Fahrt
hinaus, S. 25)
"Wir sind uns mittlerweile doch wohl alle einig, daß
die Natur ein Irrtum ist. Sie ist entweder sehr häßlich,
entsetzlich unbequem oder absolut furchteinflößend.
Ich weiß nicht, was mich mehr erschreckt - eine Kuh
oder ein Baum. Ich bin nachts auf einer Wiese einmal
einer Kuh begegnet. Die Kreatur blickte mich an. Ich
versichere Ihnen, ich habe davon graue Haare
bekommen. Es ist eine Schande, daß es Tieren
gestattet ist, frei herumzulaufen. (Virginia
Woolf: Die Fahrt hinaus, S. 139)
Es fehlt ihr vielmehr der Glaube an ein gütiges
Schicksal, an die Gerechtigkeit dessen, was auf
längere Sicht geschieht, und sie neigte mehr und
mehr zu der Überzeugung, daß das, was die
Menschen bekamen, in umgekehrt proportionalem
Verhältnis zu ihren Verdiensten stand. Ja, sie war
bereit, selbst diese Theorie zugunsten einer noch
pessimistischeren aufzugeben, die den Triumph des
Chaos vorsah, das heißt, auf der Annahme beruhte,
daß die Dinge überhaupt ohne jeden Grund geschahen
und ein jeder nur in Verblendung und Unwissenheit
umhertappte. (Virginia Woolf: Die Fahrt hinaus, S.
261)
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