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Allgemeine Fundstücke / [W2]
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Der Untersuchungsrichter Sebastian kam am Montag
gegen seine sonstige Gewohnheit um eine halbe
Stunde zu spät ins Amt. Sein Protokollführer, der
junge Rechtspraktikant Doktor Elsner, erklärte sich
diese Verzögerung mit dem stumpfen Wetter, das
heute herrschte. Sebastian nämlich gehörte zu jener
seltenen Art von Leidenden, die man die
Luftdruckkranken nennen könnte. Es standen zwei
Barometer auf seinem Schreibtisch, von denen er die
stündliche Zukunft seines Wohlbefindens ablas. Seine
Nerven witterten im tiefsten Wortsinn die
Erträglichkeit oder Unerträglichkeit des Lebens
voraus. (Franz Werfel: Der Abituriententag, S. 255)
Karoline, die Tochter eines höheren Polizeibeamten, war
mit dem damals fünfundzwanzigjährigen Komödianten
durchgegangen. Das scheint aber die einzige
unrationelle Handlung ihres Lebens gewesen zu sein,
denn sie war die Nüchternheit selbst, die leibhaftige
Muse des Unmusischen. Das Glück dieser Ehe bedeutete
für den Beobachter ein nicht geringes Geheimnis. In
ihrer Jugend war Karoline nicht gerade das gewesen, was
man häßlich nennt, aber ein heimlicher Haß gegen alle
Musik, Schönheit und Verführung hatte sie gezwungen,
ihr Äußeres mit einer so kantigen Akkuratesse und
Farblosigkeit herzurichten, daß sie zeitlebens einer
strengen Bürgerschullehrerin glich. Dazu kam, daß die
Schlankheit ihrer Mädchenfigur in ihrem
achtundzwanzigsten Jahr zur Dürre ausgeartet war, und
die raschen Bewegungen jungfräulichen Fliehens sich nur
allzubald in unsymmetrische Fahrigkeit verwandelt
hatten, und ein leichter Augenfehler der Jugend mit der
Zeit zu unzweifelhaftem Schielen gedieh. (Franz Werfel:
Die tanzenden Derwische. Erzählungen, S. 19)
Graf Lajos, der "lächerliche Mensch" neben mir,
sah mit todernstem und zerfurchtem Clownsgesicht
den Vielredner an. Er sah ihn mit vollendeter,
ja, ich kann es nicht anders sagen, mit
hocheleganter Aufmerksamkeit an, so, als wäre
er geneigt, sollte dem Professor eines seiner
Worte zu Boden fallen, sich zuvorkommend danach
zu bücken. (Franz Werfel: Die tanzenden
Derwische. Erzählungen, S. 82)
Nach dem Mittagessen endlich ging der Wärter ins
Zimmer, um nachzusehen, ob man den Assistenzarzt holen
könne, damit er den Tod konstatiere. Der Mann liebte
derartige Scherereien nicht und war entschlossen, nach
Vorschrift die Leiche so schnell wie möglich sich vom
Halse zu schaffen. Tatsächlich trat er auch zehn
Minuten später ins Zimmer des Assistenten ein, aber er
meldete, der Kranke sei nicht tot, sondern säße
selbsttätig im Bette und habe mit vernehmlicher Stimme
Milch verlangt. Der Arzt war ernsthaft ungehalten über
die Renitenz des Sterbenden. Es kam natürlich manchmal
vor, daß man sich in der Zeitbemessung irrte. Aber
Wohlwollen erzeugte solche Unpünktlichkeit der Natur
keineswegs. Der Asisstent sah drein, wie ein hoher
Staatsbeamter, der einer Partei gegenüber sich
irgendein Formfehler hat zuschulden kommen lassen, und
eine ungezwungen ablehnende Haltung einnimmt, um ja
keine Betretenheit zu zeigen. (Franz Werfel: Die
tanzenden Derwische. Erzählungen, S. 138)
Das Junge Mädchen: "Ja, lieber Salomon, das Grammophon
aus dem Salon! Und die neue Platte von Chevalier..."
"Der Tragische Herr: "stöhnend Auch das noch!
Dieser heisere Gigolo ist mir auch ohne
Bombenbegleitung ein Greuel!" Salomon: "Also vielleicht
etwas klassische Musik!" Das Junge Mädchen: "Nur keine
klassische Musik, Salomon! Die ist so schrecklich lang,
selbst wenn sie kurz ist..." Salomon: "Also vielleicht
etwas Jazz?" Der tragische Herr: "Ich würde Sie in
diesem Falle ermorden, Salomon, und von jedem
französischen Gericht freigesprochen werden!" (Franz
Werfel: Jacobowsky und der Oberst, S. 14)
Ich bin ein durchaus praktisch gesinnter Mensch, habe
mich zu genauer Einteilung erzogen, zu Pünktlichkeit,
Stundenplan, Konsequenz. Die keimenden Kräfte, die in
mir früh verwelkten, hat Cella in Gestalt ihrer
musikalischen Begabung geerbt. Und doch, wenn ich auch
nur ein Hundertstel dessen verriete, was in mir
vorgeht, würde ich mich vor der Welt lächerlich machen,
und meine Kanzlei ginge noch schlechter, als sie schon
geht. Wahrscheinlich ist es bei andern Menschen ebenso,
denn ich bin, weiß Gott, keine Ausnahme. Unser
Verstand, unser Wohlverhalten, unsre Konvention scheint
ja nur die Kruste zu sein, die sich über einer
brennenden Wunde gebildet hat. (Franz Werfel: Cella
oder Die Überwinder)
Unser Städtchen hatten wir schon verlassen. Die Straße
zog durch das schöne traurige Land der Weinreben und
buntbemalten Bildstöcke, meine Heimat. Dörfer öffneten
ihre schäbigen Arme. Obgleich die Winterkälte noch
nicht eingebrochen war, standen die Kirchtürme grau und
steifgefroren. Armes Land! Selbst die nackten Akazien
trauerten, und die gänsebeschnatterten Dorftümpfel
waren voll Kot und Schlamm. Die Menschen lungerten vor
ihren Hütten, sonntäglich gereiht, und starrten uns
nach, hohl, neugierig und vorwurfsvoll. Sie schienen
auf etwas zu warten, was nicht und nicht des Weges
kommen wollte. Wir waren's gewiß nicht. Aus meiner
Praxis kannte ich diesen Menschenschlag, verhängte
Seelen, zögernd, ein Schritt vor, ein Schritt zurück.
Allzu viele Völker haben ihren Trank in dieses
Mischgefäß gegossen. Und der Osten schaut mit seinen
leeren Augen über den Horizont. Tritt aber der Wein des
Landes in sein Recht, dann geraten diese verhängten
Seelen außer sich, werden gewalttätig, und es gibt Mord
und Totschlag und Politik. Das Volk aber trinkt
mancherlei Wein, der nicht an Reben wächst. (Franz
Werfel: Cella oder Die Überwinder, S. 38)
Nie wieder bin ich einem Menschen begegnet, bei dem
alles dermaßen "in Ordnung" war wie bei Myslivec.
Während wir andern beinahe täglich irgend etwas
vergaßen, hatte er seine Sachen stets vollzählig
beisammen. Nichts an dem Sprachkünstler Myslivec war
unbeabsichtigt und nicht vorherberechnet. Seine
Stundeneinteilung war ein Wunder. Er hatte immer und
für alle Zeit, obgleich er kein einziges der freien
Lehrfächer ausließ, von denen sich die andern drückten,
auch "Singen" und "Freihandzeichnen" nicht; dabei sang
er wie eine Bohrmaschine und lieferte Zeichnungen
(Vasen und Gipsköpfe) von schwer erreichbarer
Talentlosigkeit. (Franz Werfel: Cella oder Die
Überwinder, S. 50)
"Was heißt das, Herr...? Wie lange haben Sie studieren
müssen, um Ihren Doktor zu machen? ... Arzt, wie? ...
Also Jurist! ... Also vier bis fünf Jahre Universität
und dann noch ein Jahr Gerichtspraxis, nicht wahr? ...
Glauben Sie vielleicht, die Musik gibt es billiger? ...
Teurer, Herr Doktor Bodenhaus, viel teurer ist die
Musik... Ein Orden ist die Musik mit dem
allerstrengsten Arbeitsgelübde. (Franz Werfel: Cella
oder Die Überwinder, S. 53)
Mit den Ballfesten einer kleinen Stadt hat es sein
eigenes Bewenden. In Eisenstadt gab's während des
Faschings eine Menge dergleichen, der Ball der Garnison,
der Winzerball, der Ball der Staatsbeamten, und wie all
diese mittelmäßigen Jahrmärkte der Eitelkeit hießen,
die sich in den beiden großen Sälen des Städtchens
abwickelten. Ein steifes Gedränge in dumpfer Luft.
Unfrohe Gesichter zumeist, denn der Provinzler glaubt
sich etwas zu vergeben, wenn er Heiterkeit zeigt. Er
braucht den Wein hierzulande, um seinen Alltagsmißmut
zu verlieren, und hat er ihn verloren, ist es noch weit
schlimmer. Die Mädchen und Frauen, auch die hübschen,
sind ungeschickt gekleidet. Irgend etwas stört beinahe
an jeder, sei's ein modisches Zuviel, sei's ein
Zuwenig. Im allgemeinen mangelt ihnen die Anmut. (Franz
Werfel: Cella oder Die Überwinder, S. 76)
Da aber der Tunichtgut ganze sechs Jahre lang in der
untersten Volksschulklasse sitzengeblieben war und noch
immer kaum Lesen und Schreiben gelernt hatte, wurde er
schon bei der Aufnahmeprüfung, die jeder Holzknecht
bestand, mit Schimpf und Schande davongejagt. Er
berichtete seine Niederlage nicht nach Hause, sondern
blieb in der lebhaften Stadt, wo es ihm besser gefiel
als daheim, und verjuxte eine Menge Geld, die er zu
vorgeblichen Studienzwecken seinem Alten entlockte.
Peterls Laufbahn hätte in normaler Zeit wahrscheinlich
schlimm geendet, in unseren Tagen aber kam ihr die vom
Dritten Reiche gutbezahlte "Bewegung" rettend zu Hilfe.
Sie versicherte sich solcher Taugenichtse mit
weitblickender Weisheit, denn die Unbegabung fürs
Alphabet schließt die geniale Begabung für
rücksichtslose Gewalttätertum keineswegs aus. (Franz
Werfel: Cella oder Die Überwinder, S. 163)
Dieses Kinderzimmer war überaus geräumig, hell und in blendendem
Weiß gehalten. Der gummibelegte Fußboden, die blitzenden
Turngeräte, die mächtige Schulbank und -tafel, die Anordnung der
eingebauten Wandkästen, das weiß-geschmeidige Bett, all dies
erweckte den Anschein, als hätten sich in diesen Räumen Hygiene,
Erziehungskunst und Luxus zusammengefunden, um aus einem
gesegneten Kinde einen Vollmenschen ohnegleichen zu modeln. Man
sieht, dieses Haus und seine Herren gehörten zu den Auserwählten,
denen die Zeichen der Zeit nicht näherkamen als es für einen
ernsthaften Gesprächsstoff notwendig ist. Ihr Schicksal war so gut
gedämmt, daß es die Sturmfut nur vom Hörensagen kannte. Der
schwere Wermutstropfen der Zeitläufte hatte hundert immer feinere
Siebe passiert, ehe er als zerstäubter Duft ins Bewußtsein dieser
Glücklichen trat, wo seine Bitterkeit sogleich als edle Gesinnung
die Lebensmeinungen würzte. (Franz Werfel: Kleine Verhältnisse)
Erna Tappert hingegen gewann Hugos Sympathie schon in der Minute,
da sie ihren Koffer vor seinen Augen auspackte, wobei eine Anzahl
von Büchern, ein ganzes Bündel ausgeschnittener Zeitungsromane,
zwei Alben mit Photographien und Ansichtskarten und ein Stammbuch
voll gepreßter Blumen zum Vorschein kamen. Zudem hatte das
Fräulein große, langsame Augen, die keine gefahrbringende Energie
verrieten, eine hohe, gar nicht magere Gestalt, die sich ein
wenig träge bewegte, was wiederum darauf hindeutete, daß die
Turngeräte nicht überanstrengt werden würden. (Franz Werfel:
Kleine Verhältnisse)
Diese Mila war nicht im übertragenen, sondern im wörtlichen Sinn auf
den Kopf gefallen, und zwar als kleines Kind noch in Hustopec. Im
Wachstum zurückgeblieben, mit einem Wasserkopf und einer gaumigen
Sprachstörung behaftet, fuhr die Schwachsinnige als ein flinker,
emsiger Krüppel in der Wohnung umher und arbeitete für zwei.
Katherina Zikan behandelte sie sehr streng und betonte öfters, der
Herr Oberrevident habe gesagt, Mila sei eigentlich ein "Fall" und
gehöre nicht ins "soziale Leben", sondern in die Obhut des Staates.
Der Krüppel fand es ganz in Ordnung, dass er sich aus Gründen seiner
bedenklichen Existenz doppelt plagen müsse, und verlor niemals die
Willigkeit und gute Laune, die den geistesarmen Stiefkindern des
Lebens gar oft eignen. (Franz Werfel: Der veruntreute Himmel. Die
Geschichte einer Magd)
Das wenige, das ich erzählte, genügte Josef, um - mit
verdächtiger Hektik - Schublade um Schublade zu ziehen
und meinen Vater darin zu versorgen. Ich warf ihm
Anmaßung vor, er warf mir Hörigkeit vor. Für dich und
deinesgleichen, sagte ich, sind Menschen, für für ein
Weilchen stocken, gestört und klinikreif. - Paß auf,
sagte Josef, die Midlife crisis gipfelt gern im
Amoklauf. - Paß auf, sagte ich, je kümmerlicher das
Verständnis, desto dreister die Diagnose, und wer
zufällig in der Mitte des Lebens steht - was mit fünzig
übrigens selten der Fall ist - und etwas zu ahnen
beginnt, muß sich von allen Tölpeln dieser Welt auf
englisch rubrizieren lassen. - Danke, sagte Josef. -
Gern geschehen, sagte ich.- Du hast ja, sagte Josef,
selbst erzählt, dein Vater habe sich dem Kaminfeger
gegenüber gestört verhalten, hochgradig gestört, hast
du wörtlich gesagt, und wenn ich ihn so nenne, bist du
beleidigt. - Josef, sagte ich mühsam beherrscht, das
grenzt an Niedertracht, ich habe nur angedeutet, mein
Vater habe sich vom Kaminfeger offenbar hochgradig
gestört gefühlt. - Gestört ist gestört, sagte Josef.
(Markus Werner: Festland, S. 30f.)
In der Wohnung ist alles schon schwierig genug, aber
sobald man sie verläßt, nimmt die Sinnlosigkeit -
und das ist nicht einmal das gehörige Wort - die
furchtbarsten Ausmaße an. - Trotzdem sei er am späten
Morgen ausgegangen, um Notvorrat zu kaufen. Schon vor
der Haustür habe er gedacht: Auf welchen Stern bin ich
gefallen? Wie schaffe ich den Gang durch die tosende
Unübersichtlichkeit? Er habe sich bemüht, ein
vollwertiger Mitmensch zu sein und sich wie alle
anderen im Laufschritt zu bewegen, doch unsichtbare
Zügel hätten ihn gebremst. (Markus Werner: Festland, S.
32f.)
Du, fragte ich, hast du mit der Außenwelt immer so Mühe
gehabt? - Er bleibt stehen und überlegte. Im Tiefschlaf
eigentlich nicht, sagte er, im Tiefschlaf habe ich
dazugehört, da bin ich ein rühriger Bestandteil und
Katzenmusikant gewesen, jetzt aber ist es so still, daß
ich schon das rhythmisch rauschende Blut in den Ohren
als etwas lärmig empfinde, verstehst du? (Markus
Werner: Festland, S. 33)
Da wurde mir elend und bange, und Atemnot, die Geißel
meiner Mädchenjahre, fiel mich an. Den Schimmer eines
Heimatgefühls, immerhin, hatte ich in Josefs Armen
manchmal gehabt, jetzt waren Arme und Schimmer weg, und
ich sah mich, obwohl ich die Verlassende war,
verlassen, sah hinter mir Verluste, vor mir Abschiede,
kam wieder zu Atem und weinte ein wenig. Und als ich
bemerkte, daß ich eine weinende Dame im Park war, floh
ich in die Wohnung, wo ich als erstes die Bettwäsche
wechselte. (Markus Werner: Festland, S. 74)
Ich habe lebenslänglich nicht verstanden, warum die
Frauen, warum die Frauen, ich meine, Brüste sind mir ja
lebenslänglich fremd gewesen, die ewig frische
Unbegreiflichkeit von Brüsten hat mich toll gemacht,
süchtig, denn sie sind fremd und schön - im Unterschied
zu unsrem gerippten und schroffen Knorpelstab samt
seinem scheinheilig rosavioletten Hut, eine Zumutung,
fremd und häßlich, ihr müßtet alle verstört sein, und
wenn nicht verstört, so wenigstens entsetzt, statt
dessen, statt dessen, mir kann es ja recht sein, hat es
ja recht sein können, und ich verstehe auch anderes
nicht, da lebt man so schneidig, vergrößert den
Tageslärm, verstrickt sich ins Triebwerk, scheißt mit
dem Expreßkurs für Business Englisch auf den Knien, man
strotzt und rollt und hört sich Paßworte wechseln, geht
mit dem Lob des Chefs ins Bett und stellt den Wecker
auf halb sechs statt auf sechs, und nie das leiseste
Grauen beim Hören des Tickens der Uhr, verkommen
verödet verdumpft. (Markus Werner: Festland, S. 77)
Die Betriebsamkeit zum Beispiel, die in Santo Domingo
herrsche, sei so beseelt und festlich, daß man nicht
darum herumkomme, die heimatliche als mechanisch zu
empfinden, und die Menschen hätten sich auf eine Weise
bewegt, die ihm das Gefühl gegeben habe, er sei
behindert. Fast jedes Gesicht, ob sklavenschwarz oder
kolonialherrenweiß oder schattiert, habe eine
Heiterkeit ausgestrahlt, die in Zürich als pathologisch
gelten würde, und wenn ein Fahrgast in der Totenstille
einer Zürcher Straßenbahn auch nur den Anflug
karibischer Kommunikationsfreude zeigen würde, so müßte
er damit rechnen, von einer über Funk alarmierten
Streife herausgeholt und abgeführt zu werden. (Markus
Werner: Festland, S. 88)
Sie war einfach kundiger und also etwas fordernder als
ich, eine behutsam treibende und behutsam mich
niederziehende Kraft, aber mit dem BH-Häkchen kam ich
ernüchternderweise nicht zu Rande, Lena mußte helfen
und tat es ohne Ungeduld. Die Berührung ihrer Brüste
und die Wahrnehmung, daß Lena die Berührung mochte -
beides riß mich so hin, daß ich den Dingen endlich
ihren Lauf ließ. Hast du etwas bei dir? flüsterte Lena.
Ich flüsterte zurück, was sie meine. Etwas Verhütendes,
sagte sie. Ich verneinte bekümmert, worauf etwas
geschah, das mich zutiefst verwunderte und worüber ich
später oft nachgedacht habe. Lena griff nämlich nach
ihrem Jutetäschchen, fand, ohne lange wühlen zu müssen,
das Benötigte und überreichte es mir mit einer solchen
Selbstverständlichkeit, als handle es sich um einen
Salzstreuer. (Markus Werner: Festland, S. 125)
Über mich ist jene legendäre Zeit einfach
hinweggegangen, und auch die politischen Geschehnisse
geschahen ohne mich, mir genügten die Beatles, aber der
Rechtskonsulent, der Chef, der Doktor Dubs, dessen
graue Maus ich bin, wie du weißt, der war sehr aktiv in
jener Zeit, immer im vordersten Glied der
Demonstrationszüge, wie er sagt, ein Prozeßvirtuose und
Profirebell, wie er scherzhaft sagt, er hört sich gern
reden über seine einstigen Taten, und er ist stolz
darauf, aber es ist kein echter Stolz, es ist der
schmunzelnde Altherrenstolz auf eine Jugensünde, wie
auch immer, sein Parfüm ist schauderhaft, und er steht
jetzt wieder im vordesten Glied. (Markus Werner:
Festland, S. 126)
Was nun? fragte er, nachdem sein Honigbrot verzehrt
war. Erstens möchte ich endlich soweit sein, mich als
eminent nebensächlich zu betrachten, als schäbiges
Erbslein im Weltall, das ich ja in Wahrheit bin.
Kichern möchte ich über meinen Daseinsernst, über meine
Selbstverhätschelung. Vermehrt möchte ich mich von
meinen Ende her definieren: mich begreifen als
belangslose Vorstufe eines verottenden Kadavers.
Zweitens aber würde ich ganz gern einen kleinen Roman
schreiben, nur verriete ich mich gerade dadurch wieder
als Wichtigtuer, der - wie jeder Schreibende - auch in
der bizzarsten Verkleidung sich und nur sich meint.
(Markus Werner: Zündels Abgang, dtv, S. 29)
Im Morgengrauen, kurz vor Mailand, taumelt Zündel
verknittert zum WC. Ich bewege mich, der Zug bewegt
sich, die Erde bewegt sich, und doch fehlt mir alle
Beschwingheit. Zündel pfiff. Am Sonntag will mein Süßer
mit mir seglen gehn. Zündel dachte an seine Frau und an
jenen Arzt, den er sich gesichtslos, aber stämmig
vorstellte. Magda war Krankenschwester gewesen und er
für kurze Zeit ihr erster Richtiger. Hartmut hieß
dieser Typ, und der segelte und sie mit ihm. Auf dem
halbrunden Schiebschild an der WC-Tür stand: Occupato.
Zum Zeichen, daß jemand wartete, drückte Zündel die
Klinke. Die Tür ging auf, Zündel erschrak. Die Toilette
war leer. Aber auf dem Boden, zwischen Klosett und
Papierkorb direkt an der Wand, lag ein Finger. Zündel
bückte sich ungläubig. Es war ein Menschenfinger,
gelblich, verkrustet mit schwarzem Blut, der Nagel
blau. Sofort spürte Zündel, daß er dieser Entdeckung
nicht gewachsen war. Als er sich aufrichtete, erblickte
er im Papierkorb eine Brieftasche. Er starrte sie an.
Dann griff er nach einer Zigarette, gab ihr Feuer und
dachte: Keep cool, boy. - Er nahm die Brieftasche aus
dem Papierkorb. es war sein, es war Zündels
Brieftasche. Dann quietschten die Bremsen. Mailand.
(Markus Werner: Zündels Abgang, dtv, S. 11)
Alles ist feindlich, alles, was mir begegnet,
überfordert mich. [...] Beizeiten lernt jeder, sich
untragbar zu finden. Die Menschheit rekrutiert sich
aus ehemaligen Bettnässern, die das Gefühl
existenzieller Deplaziertheir nie loswerden. Ohne
Schließmuskel keine Schwermut. [...] Für die
Bahnfahrt hatt er eine deutsche Zeitung gekauft und
sich auf die Lektüre gefreut. Aber schon das Wort
"Maßnahmepaket" nahm ihn fast bis Como in Anspruch.
Jenseits der Landesgrenze verweilte er lange bei der
Bezeichnung "Sattelgriff mit Antirutschnoppen", Auch
darin sah Zündel eine imponierende Gegenposition zu
seinem Lebensgestolper. (Markus Werner: Zündels
Abgang, dtv, S. 14/15)
... mir zwei Eigenschaften meiner Großmutter schon
lange vertraut waren - ehrenwerte, aber einer
nüchternen Geschichtsschreibung eher abträgliche
Eigenschaften: Zum einen neigte sie dazu, immer und
überall das Positive zu sehen und die Welt als Summe
alles Erfreulichen zu betrachten, was, nebenbei gesagt,
zur Folge hate, daß sie sich erst im hundertunddritten
Lebensjahr von ihr verabschieden mochte, zum anderen
hatte sie eine ziemliche blühende Phantasie, und es ist
leicht ersichtlich, daß die Verbindung dieser
Eigenschaften dazu verleiten muß, Gewesenes und
Seiendes zu idealisieren. Begebenheiten, die so
erdrückend finster waren, daß sie sich beim besten
Willen nicht aufhellen ließen, schob meine Großmutter
weg. (Markus Werner: Der ägyptische Heinrich, S. 30)
Er kenne kaum jemanden, der nicht gezeichnet sei von
der Angst zu versagen. Fast alle hätten, krud und
bildlich gesprochen, die Hosen voll, und so wie die
wirkliche Inkontinenz der Scham und dem Schweigen
anheimfalle, so blieben die Versagensängste unterm
Deckel. Man habe es also, in welchem Umfeld man sich
auch bewege, mit lauter heimlichen Würstchen zu tun,
die einen Großteil ihrer Energie dazu benötigten, ihr
Stigma zu drapieren. (Markus Werner: Am Hang, S. 61)
In diesem Augenblick piepste ein Handy. Loos schüttelte
den Kopf und lief rot an. Ich fürchtete einen
Wutausbruch. Er griff nach seiner Jacke, die über der
Stuhllehne hing. Jetzt geht er, dachte ich. Er schob
die Hand in eine der Außentaschen, das Piepsen
verstummte. Entschuldigung, sagte er, ich habe
vergessen, es auszuschalten. - Schon gut, sagte ich. -
Wissen Sie, sagte er, man kann auch das ehrlich
verfluchen, woran man selber teilnimmt, zum Beispiel
das Leben, zum Wohl! - Ein Hoch auf die Inkonsequenz,
sagte ich, sie erhält uns geschmeidig. (Markus Werner:
Am Hang)
... nahm eine Zeitung und schlug zwei Fliegen tot. Ihre
Aufgabe im Schöpfungsplan bestand so offenkundig darin,
die Menschen zu belästigen, daß Wank eine Schonung
immer nur für Augenblicke in Betracht zog. Ob die Pause
zwischen Impuls und Tat durch eine Kindheitserinnerung
erzwungen wurde oder diese erst ermöglichte, war
ungewiß, jedenfalls hatte er sich als Kind oft mit der
Hölle beschäftigt und dabei eine Zweigstelle für
Fliegentöter nicht ausgeschlossen. (Markus Werner: Die
kalte Schulter, S. 9f.)
Oft war er - beeindruckt von einem Film - nach Hause
gekommen mit dem Wunsch, sein Leben zu ändern, es
bunter und verwegener zu gestalten. In solchen
Stimmungen empfand er es fast als Pflicht, so zu leben,
daß sein Leben verfilmt werden könnte und der fertige
Film ganze Kinosäle voll Menschen in Atem hielte. Mit
Vorsätzen also ging Wank dann zu Bett, nicht ohne
vorher ein paar Bilder umgehängt und ein paar Möbel
verstellt zu haben, aber am Morgen, nach dem Schlaf,
kam das Aufstehen, die Verrichtungen blieben dieselben,
und obwohl Wank versuchte, ihre Reihenfolge zu
vertauschen und allerlei Varianten einzubauen, wirkte
sein Tun auf ihn nicht wie ein Anfang, sondern wie eine
Selbstverhöhnung. (Markus Werner: Die kalte Schulter,
S. 66)
Von einer Talfahrt des Dollars, sagte ein Experte im
Fernsehen, dürfe man nicht sprechen, vielmehr handle es
sich um einen Schwächeanfall, beziehungsweise um einen
Schüttelfrost. Das Klima an den internationalen
Devisen- und Aktienmärkten sei im großen und ganzen
freundlich, eine Leitzinssenkung führender europäischer
Zentralbanken dränge sich nicht auf, auch wenn die
niederländische Notenbank den Diskontsatz um einen
viertel Prozentsatz reduziert habe. Bestimmt war hier
von wichtigen und letzten Endes auch ihn - Wank -
betreffenden Dingen die Rede, aber Wank verstand
nichts, und er sagte sich, daß die Ereignisse an den
Finanzmärkten auch dann, wenn er sie verstehen würde,
ohne ihn geschähen und daß die Erkenntnis von
Sachverhalten bei gleichzeitiger Unmöglichkeit, sich
einzuschalten, wahrscheinlich bedrückender sei als
jeder Wissensmangel. (Markus Werner: Die kalte
Schulter, S. 69)
... aber die Großmutter hatte unrecht. In einer
aufgeräumten Stube ist auch die Seele aufgeräumt, hatte
sie immer behauptet, und immer hatte Wank diese
Behauptung angefochten und tat es auch jetzt, weil er
glaubte, daß sich fast jede Art Ordnung dem Eifer
unaufgeräumter Seelen verdankte. Wie aber sollte, was
bloß ein Erzeugnis unaufgeräumter Seelen war, seelische
Aufgeräumtheiten stiften? Hatte sich Wank in
Großmutters Stube nicht immer verloren gefühlt und als
Kind sogar den Heiland am Kreuz bedauert, der täglich
dem Staublappen ausgesetzt war? (Markus Werner: Die
kalte Schulter, S. 77)
Die meisten Wähler verdrücken sich gehemmt in die Kabinen
und zupfen verlegen am Vorhang. Man sieht Füße.
Manchmal fällt ein Wahlzettel zu Boden und wird hastig
aufgehoben. Bei manchen geht es schnell, bei manchen
dauert es länger. Es wird genestelt, geatmet, geschwitzt.
Der ganze Vorgang hat deutlich etwas Obzönes. Kaum einer
kommt befreit aus der Kabine. Keine Erlösung. Eine
mißlungene Onanie. Die Mischung aus geheim und öffentlich
ist nicht befriedigend. Man sollte die Wahllokale in
abschließbare öffentliche Toiletten verlegen. Nach den
Scheißhausparolen der Wahlschlacht wären sie dort besser
aufgehoben. (Joseph von Westphalen: 33 weiße
Baumwollunterhosen, S. 14)
Späße macht man immer auf Kosten von anderen. Ekelhaft.
Und doch ist es das Wesen des Witzes, daß man
irgendetwas oder irgendwen auslacht, und sei es auch nur
sich selbst. Das Lachen ist immer dreckig, es gibt kein
unschuldiges Gelächter. Man lacht nicht über den Erfolg,
sondern über das Mißlingen. Dummheiten sind lustig, nicht
Intelligenz. Und nichts ist weniger komisch als intelligente
Reden über das Wesentliche, nichts ist langweiliger. (Joseph
von Westphalen: 33 weiße Baumwollunterhosen, S. 92)
Seit Jahren geht das schon so. Der Wunsch, fit zu sein, geht
durch alle sozialen Schichten. Vorbei die Zeiten, wo der
Körper die schlaffe Hülle des Geistes war. Der Intellektuelle
alten Zuschnitts nämlich, schief und krumm und mürbe, fett
und dürr, dem die Puste ausgeht, wenn er den zweiten
Stock des liftlosen Hauses erklimmt, ist schon seit einer
Weile nicht mehr das Ideal. Der Geist braucht nicht mehr
allzu scharf zu sein. Das Wort ist auch schon da, das mit
gebotener Verachtung den mitternächtlich fahlen
Geistesmenschen wie einen Aussätzigen beschreibt: Der ist
verkopft. (Joseph von Westphalen: 33 weiße
Baumwollunterhosen, S. 76)
Ich fing genauso an, wie ich bei Ines aufgehört hatte. Ich
schrieb eine Geschichte, in der Marie vorkam, und als die
Geschichte gedruckt war, gab ich sie ihr. Ihr ahnt nicht, was
Marie damit machte: auf meine übliche, peinlich bohrende
Frage, wie sie die Geschichte gefunden habe, teilte sie mir
mit, sie habe die Geschichte nicht gelesen, sondern die
Seiten herausgetrennt, damit den Anfangsbuchstaben
meines Vornamens aus Bett gebreitet und sich dazu gelegt.
"Nachts raschelte es", sagte sie. Als ich das hörte,
schäumte meine Liebe über: Wie jeder halbwegs
dünkelhafte Literat hasse ich die Literatur genug, um Maries
Rezeption als großartige und als die einzig angemessene zu
empfinden. (Joseph von Westphalen: 33 weiße
Baumwollunterhosen, S. 64)
Die Lage ist unzweifelhaft ernst und besorgniserregend. Der
Zustand dessen, was man früher leichthin Natur nannte, ist
katastrophal. Seitdem diese Diagnose besteht, wird von
Umwelt gesprochen. Die Natur ist in unserer Vorstellung,
wenn auch bedroht, so doch immer noch grün, wachsend,
sprießend, knospend, keimend, das haben wir von den Mai
besingenden Volksliedern noch fest im Kopf. Bei Umwelt
hingegen denken wir nur noch an Siechtum und Zerstörung,
an Müll und Gift und kahle Bäume und an
Schutzmaßnahmen und Alarm. (Joseph von Westphalen:
33 weiße Baumwollunterhosen, S. 100)
In seiner kalifornischen Zeit hatte man Kingfish als
Wiedergeburt von Frank Zappa verehrt, jenen früh
verstorbenen Westküsten-Rockstar, den Kingfish in
seiner Jugend immer für einen exilierten Polen gehalten
und darum ebenfalls bewundert hatte. In Wirklichkeit
war Zappa ein ganz gewöhnlicher Italo-Amerikaner
gewesen, und Kingfish blieb ein Mann ohne das geringste
musikalische Talent - was seine Programmierkollegen in
Valley-Hills rasch herausfanden. Die Ähnlichkeiten
beschränkten sich auf die langen dunklen Haare, die
eher längliche als breite Gesichtsform und den
schwarzen Schnauzer unter der Nase. Wobei Kingfish im
Gegensatz zum Rockstar nie einen Kinnbart getragen
hatte, weil das nicht in die Krippenspiele von Pater
Wachlukov gepaßt hätte, in denen Kingfish sogar dann
noch den Joseph spielen durfte, als er längst unzählige
Marias unglücklich gemacht hatte. Des Paters Hoffnung,
der spirituelle Keim werde irgendwann der Sonne Roms
entgegenwachsen, zerschlug sich freilich mit den
Jahren. Janek Jablonski pflegte denselben romantischen
Feiertagskatholizismus wie die meisten seiner
Landsleute, eine Vorliebe für opulente Kostümspektakel
und weihrauchgeschwängerte Zeremonien, ohne dabei
nennenswerte moralische Fesseln zu verspüren.
(Florian Felix Weyh: Toggle, S. 257)
"Sehen Sie, Monsieur, es wiegt alles andere auf, nicht
wahr, wenn man sich seine geistige Freiheit bewahrt und
seine Urteilskraft und kritische Unabhängigkeit nicht
versklaven läßt. Aus diesem Grund habe ich den
Journalismus aufgegeben und eine so viel langweiligere
Arbeit übernommen: als Lehrer und Privatsekretär.
Natürlich gibt es da viel Plackerei, aber man behält
seine moralische Freiheit, das, was wir französisch
'quant à soi' nennen. Und wenn man einem guten Gespräch
lauscht, kann man daran teilnehmen, ohne andere
Ansichten als die eigenen einzubringen; oder man hört
einfach zu und antwortet im stillen. Ach, eine gute
Unterhaltung - es gibt doch nichts Besseres, nicht
wahr? Nur in der Luft des Geistes lohnt es sich zu
atmen. Darum habe ich es nie bedauert, die Diplomatie
und den Journalismus aufgegeben zu haben - zwei
verschiedene Formen des gleichen Verzichts auf das
eigene Ich." (Edith Wharton: Zeit der Unschuld, S. 263)
"Wenn Leute in meinem Alter abends unbedingt
Geflügelsalat essen wollten, was sollen sie dann
anderes erwarten?" rief sie, und der Arzt benutzte die
Gelegenheit, ihre Diät zu ändern und aus dem
Schlaganfall eine Verdauungsstörung zu machen. Doch
trotz ihres energischen Tons gewann die alte Catherine
ihre frühere Einstellung zum Leben nicht völlig zurück.
Das zunehmende Alter entrückte sie den Ereignissen, und
obwohl sie noch Neugier für das Leben ihrer Mitmenschen
zeigte, hatte sie für ihre Nöte noch weniger Mitgefühl
als sonst, und sie schien keine Schwierigkeit zu haben,
den Fall Beaufort völlig aus ihrem Bewußtsein zu
verdrängen. Aber zum erstenmal vertiefte sie sich jetzt
in die Symptome ihrer Krankheit und bekundete
allmählich ein sentimentales Interesse an gewissen
Angehörigen, denen sie bisher nur mit verächtlicher
Gleichgültigkeit begegnet war. Besonders Mr. Welland
genoß das Privileg, ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. Von
allen Schwiegersöhnen hatte sie gerade ihn am
hartnäckigsten übersehen, und alle Bemühungen seiner
Frau, ihn als einen Mann von starkem Charakter und
ausgesprochen intellektuellen Fähigkeiten (hätte er nur
"gewollt") hinzustellen, hatten bei ihr nur spöttisches
Gekicher ausgelöst. Seine große Bedeutung als
Kränkelnder aber machte ihn jetzt zum Gegenstand einer
gebieterische Vorladung an ihn, damit sie beide ihre
Diät vergleichen könnten, sobald es ihm sein Fieber
gestatte - denn die alte Catherine war jetzt die erste,
die meinte, daß man bei Fieber gar nicht vorsichtig
genug sein könne. (Edith Wharton: Zeit der Unschuld, S.
369)
Für eine Frau war es alles in allem leichter und auch
weniger feige, so eine Rolle ihrem Gatten gegenüber zu
spielen. Unter der Hand hielt man die Wahrheitsliebe
der Frau im allgemeinen für geringer: Sie war die
Unterdrückte und daher in allen Sklavenschlichen besser
bewandert. Auch durfte sie stets Launen und Krisen
vorschützen und verlangen, daß man sie nicht so streng
zur Rechenschaft zog; selbst in der engherzigsten
Gesellschaft lachte man stets nur über den Gatten.
(Edith Wharton: Zeit der Unschuld, S. 404)
"Du weißt absolut nichts über irgendetwas, wenn es nicht dich
selbst betrifft!" Wieder sah sie Schweißperlen auf seine Stirn
treten, und er tastete nach seinem Taschentuch. Bestimmt fragte
er sich nun besorgt, wie er so kurz nach der vorhergegangenen
quälenden Diskussion noch eine weitere durchstehen sollte.
Gewöhnlich brauchte er vierundzwanzig Stunden, um sich zu
erholen, nachdem er jemandem die Hölle heißgemacht hatte - und da
kam nun seine eigene Frau, die besser wusste als jeder andere,
wie empfindlich er war, wie teuer er für nervliche Anstrengungen
bezahlen musste, und zwang ihm rücksichtslos eine zweite Szene
auf, noch ehe er sich von der ersten erholt hatte!
(Edith Wharton: Ein altes Haus am Hudson River)
Sie tastete sich im vertrauten Dunkel vorwärts. Diese bedrohliche
Finsternis zu ihrer Rechten war der hohe Konsolenschrank in der
Halle, dieses Gespensterkonklave, auf das ein blasses
Sternenlicht herniederfunkelte, die Gruppe verhüllter Sessel, die
vertraulich plaudernd unter den Prismen des Kronleuchters im
Salon stand. Launische Sonnenstrahlen, die schräg durch die
Fensterläden fielen, schienen einzelne Gegenstände mit ihrer
Aufmerksamkeit zu beehren, wie Scheinwerfer, die in einer
nächtlichen Landschaft nach Orientierungspunkten tasten. Sie
stellte sich vor, dass die leblosen Dinge ihnen bei der Suche zu
Hilfe kamen, das Licht zu sich winkten und in ihrem sehnsüchtigen
Streben nach Wiederbelebung "Hier, hier!"flüsterten. Es gab kein
seelisches Empfinden, das man den Wänden und Möbeln eines alten,
leeren Hauses nicht andichten konnte... (Edith Wharton: Ein altes
Haus am Hudson River)
Das Leben hatte Laura Lou nicht verändern können und der Tod auch
nicht. Anfangs bildete er sich ein, der Tod, dieser große
Erneuerer, werde auch sein unscharfes Traumbild von ihr erneuern,
sie in einer Vollkommenheit darstellen, die er irgendwie immer
vermisst hatte. Aber der Tod tat nichts dergleichen. Er
hinterließ nur dieses Bild einer Larve zwischen den weißen Rosen,
mit dem seine Phantasie nichts anfangen konnte. (...) Er hatte
sie immer als vom Leben betrogen und unerfüllt gesehen; hatte
sich oft vorgestellt, wie sie mit einem anderen Mann lebte, sogar
mit Bunty Hayes; vielleicht hätte sie dann eher Gelegenheit
gehabt, zu zeigen, was in ihr steckte. Aber das Schicksal hatte
sie ihn wählen lassen, und trotz der Unvollkommenheit ihres
gemeinsamen Lebens wusste er, dass es bis zuletzt das war, was
sie sich wünschte. Um ihm das zu zeigen, brauchte es nicht den
Tod. Weil er wusste, dass sie ihn gewählt hatte und, vor die Wahl
gestellt, lieber mit ihm unglücklich gewesen wäre als mit einem
anderen wohlhabend und zufrieden, war ihm das Band zwischen ihnen
heilig. Der Tod hatte an seinem Bild von ihr nichts geändert und
ihm nichts hinzugefügt. Der Tod hatte nur das Buch zugeschlagen,
in dem er schon lange nicht mehr gelesen hatte... (Edith Wharton:
Ein altes Haus am Hudson River)
Seine gedrungene, stämmige Gestalt, sein grübelnder Sokrates-
Kopf, seine Zigarre und seine Brille zählten zu Halos frühesten
Erinnerungen, und sie hatte ihn immer so gesehen wie jetzt:
ältlich, arm und erfolglos und dennoch bestimmter und anregender
als jeder andere Mensch, den sie kannte."Ein Feuer, das alles
wärmt, nur nicht sich selbst", so hatte sie ihn einmal
bezeichnet, aber er hatte zurückgeblafft:" Ich wärme nicht, ich
versenge." Keine schlechte Beschreibung seiner Beziehung zu den
meisten Menschen; aber sie, die ihn so gut kannte, wusste auch um
das offenherzige Glühen, dass er ausstrahlen konnte, und fragte
sich oft, warum es nie seinen eigenen Weg erleuchtet hatte.
(Edith Wharton: Ein altes Haus am Hudson River)
Während Mrs Spear zuhörte, wechselte der Ausdruck ihrer schönen
Augen von Besorgtheit zu teilnehmender Begeisterung. Wie ihre
Tochter sehr wohl wusste, konnte man mit Mrs Spear niemals über
Begabung sprechen, ohne in ihr das unwiderstehliche Verlangen zu
wecken, diese zu fördern und zu lenken. (...) Der Enthusiasmus
ihrer Mutter amüsierte sie immer. Wenn sie von einem talentierten
jungen Mann in Einladungsreichweite hörte (Talent war für Mrs
Spear gleichbedeutend mit Genie), vergaß sie sofort Familie und
finanzielle Sorgen, wie drückend diese auch sein mochten, und
überlegte angestrengt, was die Köchin für den Lunch
zusammenkratzen konnte - denn aufrichtige Wertschätzung guten
Essens war eine der Eigenheiten ihres merkwürdig vielschichtigen
Wesens, und Berühmtheiten huldigte sie instinktiv mit einer
saftigen Mahlzeit. (Edith Wharton: Ein altes Haus am Hudson
River)
Der Vollkommenheit galt Großmamas Leidenschaft - und die von
Großpapa galt den Damen. Solange seine Frau jung war, hätte sie
mit Hilfe ihrer Schönheit seine Gelüste im Zaum halten können,
wenn sie sich nur dazu entschlossen hätte, davon Gebrauch zu
machen. Doch der Gedanke, die Gabe der Schönheit zu gebrauchen,
zu verstärken, geltend zu machen und einzusetzen, war für sie
nicht so sehr unmoralisch wie einfach unvorstellbar. Sie meinte,
mit ihrer griechischen Nase, den üppigen bernsteinfarbenen Locken
und dem dunkel schimmernden Teint geschlagen zu sein wie andere
Frauen mit dem Kreuz eines Muttermals oder einem Buckel. Sie
verstand nicht,"was die Leute darin sahen" oder was sie sich von
den Genüssen versprachen, zu denen dieses goldene Tor führte. Sie
begegnete diesen Genüssen mit Verachtung und Unglauben. Sie
wollte einzig die Welt verbessern, und Schönheit und Leidenschaft
hinderten sie nur daran. Sie wollte alles reformieren - was, war
dabei eher nebensächlich: Kochen, Ehe, Religion (Religion ganz
gewiss), Zahnmedizin, Salons, Korsetts - sogar Großpapa. Großpapa
pflegte zu klagen, beim Kochen sei sie auf dem Weg zur Vollendung
nicht gerade weit gekommen - nur weit genug, um ihm
Verdauungsstörungen zu bescheren. Aber da sie auf seine ehelichen
Zärtlichkeiten nicht übermäßig willig einging, war er dankbar,
dass ihr Streben nach Vervollkommnung ihr zu wenig Zeit ließ,
seinen privaten Machenschaften nachzuspüren. Und so galt die Ehe
im Großen und Ganzen als glücklich, und die vier daraus
hervorgegangenen Kinder wurden dazu angehalten, beide Eltern zu
ehren, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. (Edith Wharton:
Ein altes Haus am Hudson River)
... an den Tagen des urplötzlichen Präriefrühlings, wenn der
Flieder im Vorgarten seiner Großmutter aufbrach und die
Ahornbäume am Fluss sich mit rosigen Fransen schmückten, wenn die
Erde pochte vor Erneuerung und die schweren weißen Wolken wie
Herden trächtiger Mutterschafe über den Himmel zogen. In einer
Baumgruppe am Wegesrand versuchte sich ein Vogel wieder und
wieder an einem leisen Lied, und in den Straßengräben übersäte
ein für Vance namenloses Unkraut den Schlamm mit glänzenden
Blättern und goldenen Kelchen. Er spürte ein leidenschaftliches
Verlangen, die erwachende Erde und alles, was sich darin regte
und schwoll, zu umarmen. (Edith Wharton: Ein altes Haus am Hudson
River)
Zu seiner eigenen Orientierung hatte er sich einen behelfsmäßigen
Kodex zurechtgezimmert - ein paar "Vielleicht" und "Keinesfalls" -,
der sein Leben wesentlich einfacher machte. Es gab Dinge, die ein
Mann klar definierter Vorteile wegen hinnahm; und es gab andere
Dinge, auf die er sich um keinen Preis einlassen würde. Bei einer
Frau, das wurde ihm immer klarer, sah das ganz anders aus. Die
Versuchungen waren größer, der Preis beträchtlich höher und die
Grenze zwischen "Vielleicht" und "Keinssfalls" weniger starr. (Edith
Wharton: Der flüchtige Schimmer des Mondes)
Der Fall der Fulmers war ein abschreckendes Beispiel dafür, was mit
jungen Leuten geschah, die den Kopf verloren; der arme Nat, dessen
Bilder kein Mensch kaufte und der plötzlich so schrecklich viele
Kinder hatte - und Grace, die für immer die Frau bleiben würde, von
der die Leute sagten: "Ich kann mich an sie erinnern, als sie noch
ein hübsches Ding war." (Edith Wharton: Der flüchtige Schimmer des
Mondes)
"Die Hälfte der Frauen hält sich Liebhaber nur aus Spaß am Lügen und
Betrügen, die andere Hälfte ist todunglücklich. Und das wäre ich
auch." An diesem Punkt hatte sie ihm ihren Plan erläutert. Warum
sollten sie nicht heiraten, einander offen und in Ehren angehören,
und sei es für noch so kurze Zeit, und zwar mit der eindeutigen
Übereinkunft, jeder von beiden sollte, wenn sich eine bessere
Möglichkeit bot, auf der Stelle seine Freiheit wiederhaben? (Edith
Wharton: Der flüchtige Schimmer des Mondes)
Wie unzureichend Grace Fulmers Erziehung ihrer immer größer
werdenden Kinderschar auch gewesen sein mochte, nie hatten sie in
ihrer Gegenwart etwas Banales oder Langweiliges zu hören bekommen:
Gute Musik, gute Bücher und gute Gespräche waren ihr tägliches Brot
gewesen, und wenn sie auch zuweilen aufstampften und brüllten und
herumtobten wie nicht mit derartigen Privilegien gesegnete Kinder,
so gab es doch Zeiten, in denen das Licht der Poesie in ihnen
aufschimmerte und sie mit der Stimme der Weisheit sprachen. Das war
Susys große Entdeckung: Zum ersten Mal lebte sie unter Menschen,
deren Sinne und deren Verstand von Anfang an nur auf Schönheit
gelenkt worden waren. Es war Grace und Nat Fulmer gelungen, aus
ihrem beengten Haushalt alle Gefühl des Neids und der
Unzufriedenheit heraushalten; über Lärm und Trubel hatten sich die
großartigen Bilder der Schönheit gespannt, so wie die Figuren der
Ahnen auch noch im ärmsten römischen Haushalt ihren festen Platz auf
der Kommode einnehmen. (Edith Wharton: Der flüchtige Schimmer des
Mondes)
"Ihr seid sehr gnädig, Gräfin. Darf ich Euch sagen,
was ich an Euch bewundere?" "Das wird jetzt ein
raffinierter Versuch, mir zu schmeicheln, nicht wahr?"
Der Abbe lachte. "Es ist so erfrischend", sagte er,
"sich mit jemandem wie Euch zu unterhalten. Wißt
Ihr, daß Ihr wahrscheinlich die einzige Frau seid, der
ich auf meinen Reisen begegnet bin, die zu mehr als
eingeübter Koketterie fähig ist?" "Das bezweifle ich.
Vielleicht habt Ihr den anderen Frauen nur nicht
genug Zeit gegeben, damit Sie Euch zeigen konnten,
wie sie wirklich sind." (Thomas Wharton: Salamander,
S. 83)
"Im Mittelalter nämlich", sagte ich vor mich hin, "hat man
den Frauen ganz anders gehuldigt. Da sagte die angebetene
Frau, ich will, lieber Freund, daß Sie mir einen Span vom
Kreuze Christi holen. Und schon war man auf dem Wege
nach Jerusalem. Das war schön." Ich legte meine Hände
unter meinen Nacken, sah zur Decke hinauf und lächelte.
"Oder aber, der legitime Graf war auf einem jahrelangen
Plünderzug. Man fand langsam, durch Liedersingen und
Gedichterezitieren, Zugang zum Herzen seiner Gemahlin.
Nach Monaten durfte man unter die Röcke kriechen und
sich, Küsse murmelnd, daran machen, ihren Gürtel
durchzufeilen. Immer wieder beteuerte man, während der
Arbeit, seine Liebe." Ich atmete langsam ein und aus. "Die
Geliebte, die man durch die Röcke hindurch sprechen hörte,
wie einen fernen Wind, schwor einem ewige Treue. Ihr Duft
war wie ein Versprechen. Nach einer Weile war man,
glühend vor Erregung, durch den Metallgurt hindurch.
Nachtigallen schlugen. Zitherspieler spielten unter dem
Burgfenster. Der Hofnarr machte anzügliche Bemerkungen
während des Essens, aber nicht allzu anzügliche, weil er
nicht in die eiserne Jungfrau wollte. Jede Nacht sang und
liebte man, unter dem Schutz Gottes." Ich schloß die
Augen. "Es war schwierig, den Moment des Zulötens zu
bestimmen", dachte ich dann und gähnte. "Mit Tränen in den
Augen sah einem die Geliebte dabei zu, diesmal unbekleidet,
während im Hof unten schon die Pferde des
zurückkommenden Gatten trappelten. (Urs Widmer: Die
gelben Männer, S. 61f.)
Dabei war nichts gewesen. NICHTS! Ich hatte mich
grundlos fast zerrissen vor Eifersucht. Sie waren in
Wäldern spaziert und hatten über Bücher gesprochen, ob
Joyce nicht vielleicht doch eine Fehlprogrammierung
der irischen Geschichte gewesen und daß Flann O'Brien
ihm vorzuziehen sei, und so Zeug. Alle Schaltjahre
hatte Helmut seine Mary gegen einen nassen Eichenstamm
gepreßt und ihr einen Kuß auf den Mund gedrückt, so
lange, bis sie ihn sanft wegdrängte und der
literarische Diskurs weiterging. (Urs Widmer:
Liebesbrief für Mary, S. 22)
Die drei Frauen - es waren drei -, die ich nur von
hinten sah, waren alte Damen, wohl aus dem Altersheim
am unteren Ende der Straße entlaufen. Sie sprachen mit
lauten hohen Stimmen von ihren Problemen mit der Blase,
dem Darm und dem Hirn. Es war wie beim Pokern, wenn die
eine ein 'full house' hatte (einen faustgroßen Stein,
der den Ausgang der Niere verstopfte und die Dame mit
unnennbaren Schmerzen niederstreckte), hatte die andere
doch noch einen 'royal flush' (Darmkrebs, inoperabel)
und gewann die Partie. (Urs Widmer: Herr Adamson, S.
10)
Wenn ich oberflächlich und gut gelaunt bin, also oft,
gefällt mir auch bestens, was Zürich mir Tag für Tag so
anbietet. Mit einer Ausnahme. Dem Klima. Nämlich,
obwohl die Klimakatastrophe die Lage deutlich
verbessert und uns Dezember schenkt, die uns an den
Frühling vor zehn Jahren erinnern, hat sie es nicht
geschafft, jene ewiggraue Wolkendecke über unsern
Köpfen zu vertreiben. Irgendwann Ende Oktober geht in
Zürich die Sonne unter und kommt im Mai wieder,
bestenfalls. Finnische Verhältnisse, und man weiß ja,
was das bedeutet. Alle Finnen sind bekanntlich
Selbstmörder, Quartalstrinker und sexuell enthemmt. Ich
plädiere deshalb dafür - Verbesserung Nummer eins -,
daß ab dem ersten Dritten das Klima der Kanarischen
Inseln auch bei uns eingeführt wird. (Urs Widmer:
Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück, S. 36)
Ich war einst, als es das noch gab, ein begeisterter
Anhänger des harmlosen Vorurteils. Es tat so gut,
ungerecht zu sein, blöd und voll daneben. Es tat
niemandem weh. "Die Eskimos, wenn sie Haarausfall
haben, brunzen sich auf die Schädel." Damit ist es
vorbei. Heute, wenn ich in der Straßenbahn arglos
"Eskimo" vor mich hin murmle, baut sich sofort ein
Inuit vor mir auf und haut mir eine runter. (Urs
Widmer: Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück, S.
264)
Wir lagen in den Dünen - an Wochentagen! - und freuten uns über
einen Voyeur, den jedes Liebespaar kannte und erwartete und mit
"Hallo, was läuft denn heute so?" ansprach, wenn er wieder einmal
näher gerobbt war - geräuschloses Schleichen war nicht seine
Stärke - und über die Dünenkante lugte. Er beantwortete die Frage
nicht, zog den Kopf ein, schlich rückwärts davon, Sandlawinen
auslösend, und bald sahen wir ihn, ein paar Dutzend Meter weiter,
ein anderes Paar umschleichen. (Urs Widmer: Reise an den Rand des
Universums. Autobiographie)
Ich bin zu der Zeit in der Lehre zum Elektriker, will
aber eigentlich studieren, Philosophie. Starke
Verdachtsmomente. Tagsüber arbeite ich, anschließend
geht's zur Abendschule, das Abitur nachzuholen. Um
nachts nicht einzuschlafen, stelle ich eine Kerze vor
das Buch, das ich gerade lese, und jedesmal, wenn mein
Kopf nach unten sinkt, wird es sehr heiß. Kants "Kritik
der reinen Vernufnt" studiere ich im Gehen. Doch für
seine seitenlangen Parenthesen sind selbst die
weltraumlandebahnbreiten Straßen der Hauptstadt der DDR
entschieden zu eng. (Rayk Wieland: Ich schlage vor, daß
wir uns küssen, S. 33)
Eine Frau, die vor dreißig Jahren einmal ein Feger war, aber es
immer noch versteht, mit ihren Blicken drei älteren Herren zu
schmeicheln, eine Konversation zu treiben, die Männer in eine
Stimmung des Konjunktivs zu versetzen: Und wenn man ihr
durch den Kellner ein Glas schickte... wenn sie lächelte...
hinüberwinkte... Man mag sie für diese etwas in die Jahre
gekommene Begabung, eine Stimmung der Promiskuität zu
schaffen, für ihre Eleganz, ihre Sicherheit, nicht für die
Schönheit ihrer Brüste. Eines Tages hat sie vermutlich durch
einen klassischen Roman erfahren, was eine "schöne Seele"
ist. Das verdarb ihr den Charakter. (Roger Willemsen:
Deutschlandreise, S. 12)
In dem Bauerndorf, in dem ich aufgewachsen bin, hatte die
Gemeinde Glück mit ihrem guten Pastor, der Pastor wiederum
hatte Glück mit seiner reizenden Haushälterin und diese hatte
Glück mit einer befleckten Empfängnis, die sie bald mit
Mutterschaft segnen sollte. Das verstörte die Gemeinde, und
da das "Fräulein Heidrun" nicht sagen wollte, wer der Vater
war, traf man sich beim einzigen Akademiker des Ortes und
beschloß, beide, Pastor und Haushälterin, aus dem Dorf zu
jagen. (Roger Willemsen: Deutschlandreise, S. 69)
Frankfurt am Main. Eine Spezies Mensch entsteht oder
schwärmt von hier aus. Als sie sich jung fühlten, waren sie die
Avantgarde des Herzens als die Verliebten bei Burger King
und überreichten sich zum Einjährigen Geschenkgutscheine.
Zehn Jahre später gehen sie zum Ostereiersuchen politischer
Parteien. Und noch zehn Jahre später haben sie öfter auf die
Uhr gesehen als ins Gesicht ihrer Frau. Inwzischen tragen sie
Bürtchenbart und Flughafenkrawatte unter der bösartigen,
gewaltbereiten Erfolgsfresse, dazu ein Einstecktuch voller
Comic-Motive. In Kriegsmetaphorik reden sie vom Geschäft, in
Zoten vom Privaten. Unsentimental, aber voller Dünkel über
das Zwei-Prozent-Wachsutm ihrer Branche, wurden sie vom
Kino verdorben, sehen sich als Haie aus "Wall Street" und
beherrschen nicht mal Pforzheim. Im Büro Instant-Kaffee mit
H-Milch, zum Geschäftsessen irgendein Matsch mit Mandel-
Limonen-Dressing, drehen sie am großen Rad der Welt,
"Profitmaximierung" genannt, und sind neckisch genug, zum
Signalton ihres handys den "Schwiegermuttermarsch" zu
wählen. (Roger Willemsen: Deutschlandreise, S. 110)
Meist entwickelt sich die poetische Reizbarkeit eines
Menschen parallel zu seiner sexuellen. Der erste Dichter, den
ich persönlich kennen lernte, trug mir an einem Waldrand ein
Gedicht vor, in dem sich ein junger Mann mit einer jungen Frau
ins Unterholz begab. Meine Aufmerksamkeit war unendlich
gespannt. Je näher sie der Schonung kamen, desto mehr
richtete sich meine Vorstellung auf nasse tiefe Küsse, einen
hochgeschobenen Rocksaum und mindestens heavy Petting
ein. Doch das dort war Lyrik. Hier verloren sich die Schatten
der Liebenden im Unterholz und das Werk endete abrupt mit
der Zeile: "Dunkel summt der Biber". (Roger Willemsen:
Deutschlandreise, S. 190)
Ihre Augen, die er für dunkelbraun oder schwarz gehalten hatte,
waren von tiefem Blau. Manchmal fingen sie das schummrige Licht
einer Zimmerlampe ein und schimmerten feucht; er konnte den Kopf
in die eine oder andere Richtung drehen, und die Augen in seinem
Blick änderten die Farbe mit der Bewegung, weshalb sie selbst
dann, wenn sie bewegungslos blieben, aussahen, als stünden sie
niemals still. Ihre von Weitem so kühl und blass wirkende Haut
besaß einen rötlich warmen Unterton wie Licht, das unter
milchiger Transparenz dahinströmt. Und wie die transparente Haut
verbargen Ruhe, Besonnenheit und Zurückhaltung, die er für ihre
eigentlichen Charakterzüge gehalten hatte, eine Wärme,
Verspieltheit und einen Humor, deren Intensität erst durch den
Anschein möglich wurde, der sie verbarg. (John Williams: Stoner)
In ihrem vierzigsten Jahr war Edith Stoner noch ebenso schlank,
wie sie es als junges Mädchen gewesen war, doch verriet ihre
Haltung die Härte und Sprödigkeit einer unbeugsamen Haltung,
die jede Bewegung aussehen ließ, als fände sie nur zögerlich
und widerwillig statt. Die Gesichtsknochen traten deutlicher
hervor, und die dünne, fahle Haut spannte sich wie über einen
Rahmen, sodass selbst scharfe Falten straff gezogen wurden. Edith
war sehr blass und trug so viel Puder und Make-up auf, dass es
aussah, als schüfe sie ihre Gesichtszüge jeden Tag auf
neutraler Maske neu. Nichts als Knochen schienen unter der
trockenen, festen Haut ihrer Hände zu liegen, die sich
unermüdlich bewegten, zwirbelten, pflückten oder sich
zusammenballten.
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