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Allgemeine Fundstücke / [W1]
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Der Mut, den man braucht, Sparkassenräuber zu werden,
auf blankem Steinboden in die taghelle Schalterhalle
einzudringen, dieser Mut fehlte mir, als ich von meinen
Erziehern gedrängt wurde, einen Beruf zu wählen. Gerne
wäre ich auch Förster geworden; aber selbst für diesen
Beruf, so schien es mir, brauchte man den Mut eines
Sparkassenräubers. Fast für alle Berufe, wenn man sie
näher betrachtet, braucht man den diesen Mut eines
Mannes, der in die Schalterhalle eindringt, alle mit einer
geladenen oder noch öfter mit einer ungeladenen Pistole in
Bann hält, bis er hat, was er will, der dann noch lächelt und
rückwärts gehend plötzlich verschwindet. (Martin Walser:
Fingerübungen eines Mörders, S. 22)
Ich bewundere Menschen, die wenig Zustimmung brauchen.
Ich brauche viel Zustimmung. Vielleicht meine ich das
nur, weil mir bisher Zustimmung versagt wurde. Das
Geld, das ich so und so verdiene, ist die einzige Form
der Zustimmung, die mir zuteil wird. Und ich bin so
wehleidig, das für eine abstrakte Form der Zustimmung
zu halten. Der Arbeitgeber überweist das Geld auf mein
Konto. Vielleicht müßte er mir die Hand geben, sich
bedanken. Nein, das kann er nicht. Ich arbeite nicht
gut. Ich hasse die Arbeit, die ich tun muß. Ich weiß
aus Erfahrung, daß Arbeit das einzige ist, wodurch ich
auf mich aufmerksam machen könnte. Überstunden vor
Weihnachten, Rationalisierungsvorschläge, dann würde
man mich bald kommen lassen. Ich möchte, daß man sich
für mich interessiert, auch wenn ich nicht im Betrieb
angenehm auffalle. Ich weiß, das ist kindisch. Trotzdem
möchte ich es. Manchmal zerstöre ich eine Kleinigkeit
im Betrieb, um auf mich aufmerksam zu machen. Ich warte
dann immer darauf, daß ich zum Abteilungsleiter gerufen
werde. Aber offenbar richte ich die kleinen Schäden so
geschickt an, daß niemand mich als Täter ausfindig
machen kann. Inzwischen bin ich aus dem Arbeitsprozeß
ausgeschieden. Ich wurde ausgeschieden. Arbeit fiel mir
nie leicht. Ich liebe mich vielleicht zu sehr. Ich habe
mich beworben, um einen Kiosk in der Nähe des
IG-Hochhauses. Als Pächter. Ich strebe zum Mittelstand.
Mein Ziel ist es, mehrere Kioske zu betreiben. Ich
werde Jugoslawinnen anstellen, die ich aus dem Betrieb
kenne. Jugoslawinnen sind die zuverlässigsten Menschen,
die es gibt. Sie sind noch zuverlässiger als
Jugoslawen. (Martin Walser: Die Gallistl'sche
Krankheit, Suhrkamp 1972, S. 24.)
D. hat gerade ein Buch über Kleist geschrieben. So, als
sei er selber Kleist. Oder Kleist sei ihm doch sehr
ähnlich. Das Buch beweist, es gibt keinen, der Kleist
näher steht als D. Man spürt beim Lesen ganz deutlich,
wenn Kleist heute lebte, würde er sein Leben in einem
Zimmer mit D. verbringen, alle anderen würde er meiden,
ausgenommen (vielleicht) seine Schwester; aber die
würde ihrem Bruder ununterbrochen zuraten, nur noch mir
D. umzugehen. Ich beneide D. um diese
Kleist-Bruderschaft. Wir sind befreundet. Aber Kleist
steht zwischen uns. Und die Verachtung, die D. mir
gegenüber so stark empfindet, daß er Mühe hat, einen
Teil davon zu verbergen, wird am meisten von seiner
Kleist-Intimusrolle genährt. Wer so mit Kleist ist, muß
mich verachten, das habe ich gefälligst zu begreifen.
Ich begreife es nicht. Weil ich noch lebe. (Martin
Walser: Die Gallistl'sche Krankheit, Suhrkamp 1972, S.
29.)
Allmählich stellt sich heraus, daß die anderen nicht
viel anders sind als ich. Anstatt mich darüber zu
freuen, fürchte ich, es schwinde für mich der Grund zu
leben. Diese Furcht ist natürlich die Folge davon, daß
ich mein Leben nur auf meine Einzigartigkeit gegründet
hatte. Ob ich mir das selber ausgedacht habe, ob man
mir das beigebracht hat, weiß ich nicht. Auf jeden Fall
werde ich jetzt immer undeutlicher, verwechselbarer.
Ich schwinde. (Martin Walser: Die Gallistl'sche
Krankheit, Suhrkamp 1972, S. 26.)
Benrath dachte, ein Mann, der seine Frau betrügt, ist
das lächerlichste Wesen, das man sich vorstellen
kann. Er wollte keine Geliebte haben. Er haßte dieses
Wort. Er wollte sich nicht gemein machen mit den
lüsternen Männchen, die sich in entlegene Zimmer
schleichen, um sich hinter geschlossenen Gardinen
ein paar Stunden gütlich zu tun. Wenn er keine
Hoffnung mehr hatte, Cecile ganz für sich zu
bekommen und für immer, dann wollte er sie nicht
mehr besuchen. Warum kam er dann immer noch? Die
Zeit des ersten Überschwangs, als sie noch mit
Schwüren übereinander hergefallen waren, war doch
längst vorbei. Jetzt war sie doch seine Geliebte!
Nichts anderes als seine Geliebte! Ein Verhältnis! Und
er war auch so ein Männchen, das durchs
Treppenhaus schleicht, eintritt und gleich aufs Ziel
lossteuert. Ein bißchen über die eigene Frau klagen,
sich bemitleiden lassen, bis es dann soweit ist. Dann
wieder hinausschleichen, heimkommen und
feststellen, daß man alles übertrieben hat, daß es
sich zu Hause eigentlich ganz gut leben läßt. Aber
morgen wird er, der wahre Schizophrene, trotzdem
wieder jenen lächerlichen Schleichweg betreten.
(Martin Walser: Ehen in Philippsburg, S. 136)
Tatsächlich, die Partygäste, das war das erste Thema
seit Beginn des Essens, an dem sich alle, außer Hans
natürlich, beteiligten. Allerdings konnte Anne nicht
verhindern, daß das Gespräch in jener freimütigen
Weise geführt wurde, die sie anscheinend auch nicht
liebte. Alice nannte die Frau des Rechtsanwalts Dr.
Alwin eine adlige Ziege, die nicht einmal imstande
sei, diesen Fettkloß zu befriedigen. Dr. Benrath gab
dazu einige sachliche Erläuterungen über die
geschlechtlichen Möglichkeiten einer mageren Frau
einem dickleibigen Mann gegenüber. Die Potenz eines
solchen Mannes bestehe vor allem im Willen, nicht
impotent zu sein, sagte er, und diesem Sachverhalt
müsse die Frau ohre erotische Draperie anpassen.
Andererseits sage die körperliche Dürftigkeit einer
Frau nichts über ihr Schlafzimmervolumen aus; unter
den Frauen sei gerade das körperliche Proletariat oft
mit den rosigsten Phantasien gesegnet... Dr. Benrath
sagte keinen Satz, der nicht mit verblüffenden
Anschauungen operierte. Feinstes lateinisches
Fachvokabular flocht er unvermittelt mit brutalstem
Gassenjargon zusammen und hüllte so seine Zuhörer
in gleichzeitig klinisch und obzön duftende
Redewolken. (Martin Walser: Ehen in Philippsburg, S.
100)
Dr. Benrath kannte seine Wirkungen offensichtlich
sehr genau. Er blieb ganz ruhig sitzen, geriet nicht in
die geringste Eile oder Erregung, im Gegenteil, je
gewaltiger und greller er seine Sätze mit Bildern
belud, mit Bildern, die einem mit der Vehemenz eines
tropischen Sturzbaches durch alle Adern fluteten,
desto leiser sprach er, desto unabsichtlicher entließ
er die Sätze aus seinem Mund. Dabei hantierte dieser
braungebrannte Koloß aus Muskeln und Sehnen
äußerst zart und sicher mit dem Fischbesteck und
legte die in Weingelee servierte kalte Forelle so rasch
und geradezu anmutig auseinander, daß man sich am
liebsten sofort hingelegt hätte, um sich von ihm
operieren zu lassen. (Martin Walser: Ehen in
Philippsburg, S. 100)
Der Eintritt des Intendanten enthob ihn dieser Sorgen.
Ein lilafarbener Anzug flatterte heute um seine
hagere Gestalt. Hinter seinen ausgreifenden Schritten
trippelten zwei winzige Sekretärinnen her; sie
schleppten Papier und ganze Bündel neuer Bleistifte
mit sich. Der Intendant selbst war flankiert von zwei
jungen Herren, deren Haare auf die Kopfhaut gemalt
zu sein schienen, so glatt lagen sie an. Als sich alles
gesetzt hatte, stellte sich heraus, daß der Intendant,
seine zwei Herren, der fröhliche Pressechef und
Programmdirektor Relow, der heute einen
gletscherfarbenen Anzug trug, am größten Tisch an
der Stirnseite des Saales Platz genommen hatten.
Schräg hinter ihnen die Sekretärinnen, die jetzt ihre
Bleistiftspitzen in Millimeterhöhe über dem Papier
hielten und mit gesenkten Köpfen wie
Hundertmeterläuferinnen auf den Startschuß
warteten. Früher, dachte Hans, wäre der Intendant
bestimmt Erzbischof geworden. (Martin Walser: Ehen
in Philippsburg, S. 113)
Wenn sie nur den Namen dieses
Beleidigungsspezialisten hörte, fühlte sie sich mit
Sylvio verbunden, als sei zwischen ihr und ihrem
Mann noch nichts Trennendes passiert. Was immer
Sylvio veröffentlichte, was auch immer die anderen
Kritiker über ein weiteres Buch von Sylvio schrieben,
der Erlkönig wies nach, daß Sylvio ein ermüdend
umständlicher Plauderer sei. Nein, er wies es nicht
nach, er gab es bekannt. Sein Stil war ein
Bekanntgebungs-, also ein Verkündigungsstil. Laut
und hallend. Viel zu laut für Ellens Empfindung. Ein
Stil, hatte einmal jemand gesagt, in dem es
andauernd donnert, ohne daß es geblitzt hat. Er
rechtfertigte seine Übertreibungstonart mit dem
Schmerz, den die schlechten Bücher in ihm
produzieren. Niemand hätte gewagt, von ihm zu
verlangen, daß er, der unter dem Schlechten litt, auch
noch beweise, warum das, worunter er so litt, so
schlecht sei. Wäre es nicht schlecht, würde er doch
nicht darunter leiden! Er litt allerdings - und das war
nun wirklich seine Begabung - auf eine lustige Art. Es
ging ja doch um nichts beziehungsweise nur um
Literatur. (Martin Walser: Ohne einander, S. 26f)
Ernest ist skrupellos. Das ist sozusagen sein Reiz.
Ellens Erfahrung: je mehr einer Chef ist, desto mehr
ist er Monologist. Einen Chef erkennt man daran, daß
er glaubt, man interessiere sich für gar alles, was er
sagt. Nur weil er es ist, der es sagt. Du sagst, ohne
etwas zu denken: Wie geht's. Und er erzählt dir alles,
was du nicht wissen willst. Vom letzten
Schlechtwetterflug; von den Komplimenten, die der
Masseur gestern seiner Haut gemacht hat; von dem
unheimlich originellen Geschenk, das ihm zum Glück
kurz vor dem Geburtstag seiner Sekretärin noch
eingefallen ist; von dem Schilddrüsenpaniken seiner
Tochter, den Darmblutungen seiner Mutter, den
Ergebenheitsbeweisen seines Fahrers. Ernest ist der
exemplarische Chef. (Martin Walser: Ohne einander,
S. 40)
Wenn du einem Arzt gestehst, daß du fünfundfünzig
oder gar sechsundfünzig bist, fühlt er sich total
entlastet. Er muß dir nicht mehr helfen, sondern dir
nur noch beibringen, daß du dich mit deinem Zustand
abzufinden hast. Ernest hat mehr Umgang mit Ärzten
als jeder andere Mensch, den Ellen kennt. Er ist nie
krank, aber andauernd in Behandlung. Ellen hat die
Zahl seiner Ärztekontakte drastisch reduziert. Von
allen seinen Suaden war ihr keine so lästig wie die
über seine Krankheiten, seine Ärzte. Sie hatte zuerst
nicht verstanden, warum dieser Sportsmensch
andauernd glaubte, gleich breche die tödliche
Krankheit aus. Sie hatte Angst, diese geradezu
irrsinnige Gesundheitsüberwachung werde eines
Tages aus einem Symptömchen ein Verhängnis
produzieren. Einfach durch die ständige Steigerung
der Untersuchungsgenauigkeit. (Martin Walser: Ohne
einander, S. 45f.)
Der Prinz hatte tatsächlich einen Mann entdeckt, der
aus eigenem Antrieb jahrelang Tausende von Büchern
gelesen hatte, nur um Fehler zu finden. Fehler zu
finden, war seine Leidenschaft. Er hatte in Tausenden
von Briefen an Redaktionen und Verlagen seine
Fehlerfunde mitgeteilt. Vom fehlenden Komma bis
zum falschen Konjunktiv. So wie andere gefährlich im
Gebirge herumklettern, um glitzernde Minerale aus
steilen Wänden und schwierigen Höhlen zu klopfen,
las der sich durch die Nächte, nur um Fehler zu
finden. Der Prinz hatte ihn gebeten, sich den DAS-
Mitarbeitern selbst vorzustellen. Die Kurfassung, die
Wolf Koltzsch von seiner Biographie gab, begleitete
der Prinz mit dem versteinerten Lächelausdruck, der
bei ihm den höchsten Grad der Zustimmung
signalisiert. Geboren in Greiz an der Weißen Elster.
Vor dem Abitur von der Schule geflogen, weil er trotz
mehrfacher Ermahnung den von ihm gegründeten
Lesekreis "Weiße Elster" nicht auflösen wollte.
Vorwurf: Lektüre zur Planung staatsfeindlicher
Provokation. Tatsächlich habe er die Regierung der
DDR stürzen wollen, weil jeder der Regierenden
falsche Konjunktive gebrauchte, sagte Herr Klotzsch.
Dann zwei Jahre Netzschkau, Bautrupp
Göltzschtalbrücke, ein Prachtsviadukt, ein Gedicht in
Backstein, vierundachtzig Meter hoch, in vier Etagen,
fünfhundertneunundsiebzig Meter lang, größte
Eisenbahnbacksteinbrücke Europas. Um wieder
aufzuholen, Eintritt in die SED. Wehrdienst. Meldung
zum Grenzschutz. Zwei Jahre Grenzdienst. Flucht über
die Werra im Winter. Eintritt in den bayrischen
Zolldienst. Verglichen mit den DDR-Beamten seien
die bayrischen Zöllner die reinen Hobby-Angler.
Fortsetzung der Lektüre im Westen. Allmählich
kommt er zur Einsicht, die Zerfallsgeschwindigkeit
einer Gesellschaft sei an ihrem Sprachschluder
ablesbar. (Martin Walser: Ohne einander, S. 55f.)
Die Ärzte sind oft die wunderbarsten Menschen, als
Ärzte müssen sie sich natürlich beherrschen. Arztsein
fordert wahrscheinlich die grausamste aller
Selbstbeherrschungen. Eine allmählich auch den
wunderbarsten Menschen vernichtende
Enthaltsamkeit. Sie müssen der Gesellschaft
rückhaltloser dienen als jeder Polizist oder
Staatsanwalt. Sie haben ja kein engmaschiges
Gesetznetz, das sie über den Patienten werfen
können. Sie müssen sich selbst, ihre ganze Feinheit
müssen sie einsetzen, um den Patienten, der einer
ist, weil er etwas gemerkt hat, wieder einzufangen,
ihn zu weiterem Inkaufnehmen zu bewegen. Zu
erpressen eigentlich. Ihnen zuliebe soll der Patient
vergessen, was er erfahren hat. Natürlich sind sie im
Dienst. Aber keiner tut weniger, als sei er im Dienst,
als der Arzt. (Martin Walser: Jagd, S. 128)
Siebeneinhalb Jahre ... damit wollte er allein sein.
Darüber wollte er mit niemandem sprechen. Er war
ganz sicher, daß die Oberstaatsanwältin keinen
Verwandten hatte, der je zu siebeneinhalb Jahren
verurteilt worden war. Wahrscheinlich kommen die
Staatsanwälte immer aus den gleichen Familien. Und
die Verurteilten auch. Die einen strafen immer und
die anderen werden immer gestraft. Anders wäre es
auch gar nicht vorstellbar. Wie sollte jemand, der
eine Ahnung hat, wie das wirkt: siebeneinhalb Jahre!,
wie sollte der noch so etwas fordern können?!
Arbeitseinteilung, das ist die Voraussetzung für so
eine Forderung. Soll doch, bitte, ein Statistikstudent
einmal ein Jahrzehnt durchzählen, ob es NICHT so ist!
Wie viele Verurteilte stammen aus Familien, aus
denen Verurteiler stammen? Und umgekehrt: Wie
viele Verurteiler stammen aus Familien, aus denen
Verurteilte stammen? (Martin Walser: Dorle und Wolf,
S. 170)
Trotzdem eine Nase, die man nicht Näschen nennen darf.
Und zwetschgensteinförmige Augen, die eben die Farbe
wechseln. Aber glänzen tun sie immer. Das hatte er
schon aus den vergangenen Jahren mitgenommen: diese nie
müden, nie matten, diese immerzu blau und grün, sondern
blaugrün. Er mußte sich ihrem Mund zuwenden. Kein
Lippengebirge, eine volle und ganz harmonisch
verlaufende Oberlippe, die sich auf die bescheiden
dienende Unterlippe verlassen kann. Fast ein bißchen
einsam, dieser Mund in der unteren Gesichtshälfte. Die
Nase bleibt auch für sich. Sie hat eine eher ahnbare
als wahrnehmbare Brechung. Sie will einfach nicht
spannungslos und langweilig gerade verlaufen. Wer nicht
richtig hinschaut, glaubt, sie ende spitz. In
Wirklichkeit endet sie in einer zuletzt noch gerundeten
Spitze. Sie endet eben, wie eine Nase über diesem
einsam schönen Mund enden muß: zu ihm hinführend, ohne
ihm zu nahe zu kommen. Eine grandiose
Unaufdringlichkeit hat dieses Gesicht. (Martin Walser:
Ein liebender Mann, S. 21)
Sie lachte. "Wie seltsam sie lacht", dachte der Untergebene
und fuhr fot zu denken: "An diesem Lachen könnte einer, der
sich darauf versteifen wollte, Geopgraphie studieren. Es
bezeichnet genau die Gegend, wo diese Frau her ist. Es ist ein
behindertes Lachen, es kommt nicht ganz natürlich zum Mund
heraus, als wäre es früher durch eine allzupeinliche Erziehung
stets etwas im Zaum gehalten worden. Aber es ist schön und
fraulich, ja, es ist sogar ein bißchen frivol. Nur hochanständige
Frauen dürfen so lachen." [Robert Walser: Der Gehülfe, S. 30]
Vor einem halben Jahr hatte er eine solche Hutgeschichte erlebt.
Er war ein halbhoher, ganz guter, normaler Hut, wie ihn die
"Besseren" Herren zu tragen pflegten. Er aber traute dem Hut
nichts Gutes zu. Er setzte ihn tausendmal auf den Kopf, vor dem
Spiegel, um ihn dann endlich auf den Tisch zu legen. Dann ging er
drei Schritte weg von dem niedlichen Ungetüm und beobachtete ihn,
wie ein Vorposten den Feind beobachtet. Ews war nichts an ihm
auszusetzen. Hierauf hängte er ihn an den Nagel, auch da erschien
er harmlos. Er versuchte es wieder mit dem Kopf, entsetzlich! Es
schien ihn von unten bis oben zerspalten zu wollen. Er hatte das
Gefühl, als ob seine Persönlichkeit eine benebelte, gesalzene,
halbierte geworden sei. Er trat auf die Straße: er schwankte wie
ein schnöder Betrunkener, er fühlte sich wie verloren. Er trat in
eine Erfrischungshalle, legte den Hut ab: gerettet! Ja, das war
eine Hutgeschichte gewesen. Auch Kragengeschichten,
Mäntelgeschichten und Schuhgeschichten kamen in seinem Leben vor.
[Robert Walser: Der Gehülfe, S. 143.]
Diese Frau stand in ihrer Umgebung deshalb so sicher da,
weil sie immer ein wenig eine Fremde darin blieb, weil sie
darin immer ein bißchen gleichsam zitterte, es ihr nie
allzuwohl darin war. Unsere Sicherheiten dürfen nichts
Starres werden, sonst brechen sie. Es bedarf zur wirklichen
Sicherheit des Auftretens und des Weltfühlens eines
beständigen Schwankens, Federns. Der Boden unter unsern
Füßen darf und soll sich heben und senken, und wir brauchen,
um die Richtung ins Vollkommene beizubehalten, fortwährende
Empfindung, daß wir nicht fertig mit uns sind und es wohl auch
nie werden." (Robert Walser: Der Räuber)
"Meine Gaben wurden fleißig benützt, glauben Sie mir
doch das, bitte." "Ihnen glaube ich nie etwas!" Immer
ging sie den zarten Dingen nach. Sie hatte sich's nun
einmal in den Kopf gesetzt, ihn für einen Verleugner
eines Teiles seiner Fähigkeiten zu halten, und zwar
mit keiner Zusicherung, sie täusche sich, von der
Meinung abzubringen, er bringe sich selbst um, sei
ein Verlotterer seiner teuersten Angelegenheiten,
einer, der sich selbst lausig behandle. (Robert
Walser: Die Räuber, S. 14)
Eine Lehrerin hat sich in der Stadt sagen lassen
müssen, sie sei gar keine richtige Lehrerin, sie
verstehe ihren Beruf nicht. Daraufhin war sie so
entmutigt, daß sie zu sich sagte: "Ich gehe aufs
Land", wo sie sich in der Stille und Ruhe, und weil sie
dort mit Leuten zu tun bekam, die ihr Zeit ließen,
Herrin über ihr möglicherweise etwas wunderlichers
Gemüt zu werden, zur sehr guten Lehrerin
entwickelte. "Liebe Mitmenschen, sprecht euch doch
nicht so schnell gegenseitig den Wert. Redet nicht
bloß von Hemmungen, sondern nehmt in Wirklichkeit
Rücksicht geben. Tut ihr das, so würde es
sounsdsoviel megr geachtete und darum auch
freudige und fleißige Bürger und Bürgerinnen geben.
Man sei im Dienen schnell, aber im Urteilen so
langsam wie im Befehlen und Regieren. Regiert kann
gar nicht sorgfältig genug werden. Regieren und
kommandieren sind übrigens zweierlei. im
Heraufschrauben sei man so vorsichtig wie im
Herabsetzen. (Robert Walser: Der Räuber, S. 30)
Diese schöne und gutherzige Frau trug wegen ihres
ausgezeichneten Mannes Indisponiertheiten einen
Grämlichkeitszug um den Mund, der ihr übrigens ganz
nett zu Gesicht stand. Sie nahm sich vielleicht etwas zu
tragisch. - Es geht vielen Menschen so, daß sie, wenn
sie sich mißgestimmt sehen, sich durch das bißchen
Mißgestimmtheit immer mißlicher stimmen lassen, als
säßen sie in einem Wagen, der mit ihnen fortführe.
(Robert Walser: Der Räuber, S. 71)
Ängstlichkeit ist aber etwas Ungesundes. Der Räuber
war eines Tages beim Baden nahe am schönsten
Ertrinkungstod. Infolge wackern Schaffens mit Wellen
usw. blieb er als flotter Herausarbeiter aus
Näßlichkeitsmächten am Leben, das heißt kam wieder
ans sichere Trockene. Er ist aber dabei fast außer
Atem gekommen. O wie er still Gott dankte. Ein Jahr
später ertrank dann in demselben Fluß jener
Molkereischüler. Der Räuber weiß also aus Erfahrung,
wie es demjenigen ist, den die Nixen an den Beinen
herunterreißen. Er kennt die Kraft des reißenden
Wassers und er hat dort gespürt, was der Tod für
eine barsche Art hat, sich uns bekannt zu machen.
(Robert Walser: Der Räuber, S. 58)
Diese Großen kommen sich oft zu groß vor, büßen die
Erkenntnis über den Sinn ihrer Bedeutung ein und
dessen, wie sie sich gegenüber sich und der Umwelt
zu verhalten haben. Sie fangen vielleicht an, sich
selber anzustaunen, und finden, sie seien übler
Laune, und weil sie sich gegenüber den Geringen in
der Herrscherei haben üben können, sich ans
kurzatmige Befehlen gewöhnt haben, so kommen sie
kurz und gut und mit einer Gedankenglätte, die man
einen eleganten Entschluß nennen könnte, zu einer
Untat. Sie betrinken sich leicht an ihrer höheren
Stellung. (Robert Walser: Der Räuber, S. 74)
Fängt man an, ernst zu reden, so finden sich unter
zehn stets acht, die überzeugt sind, nun fange man
an, gleichsam herabzustürzen, als befände sich jeder
Fröhliche bedingungslos auf dem Gipfel menschlicher
Gescheitheit, was nicht ganz zutreffen dürfte. Freilich
liegt in der Fröhlichkeit ein großer Wert, aber
Fröhlichkeit und Ernst müssen obachtgeben,
damit der Ernst fröhlich und die Fröhlichkeit ernsthaft
abschließt, das heißt begrenzt und angerührt wird.
(Robert Walser: Der Räuber, S. 91)
Benehmen wir uns dann am liebenswürdigsten, wenn
in uns Fragen sind, die wir nicht mit Bestimmtheit zu
beantworten vermögen? Sind wir am schönsten, am
ansehenswertesten, wenn sich auf unserer Aufführung
Widersprüche, Kämpfe der Seele, edle Beklemmungen
abspiegeln? Sind wir verworren am wahrsten, unklar
am klarsten, ungewiß am sichersten? O wie tat mir
die Schöne leid, daß sie gerettet worden war, daß ihr
nun keine Rettung mehr blühte, daß kein Sehnen nach
Rettung mehr sie umlispelte und daß ihr jetzt kein
Retter mehr erscheinen konnte, weil er schon
erschienen war. Glücklich der, der zwanzigmal im
Leben unglücklich zu werden vermag. (Robert Walser:
Der Räuber, S. 80)
Bin ich schriftstellerisch wach, so gehe ich achtlos am Leben
vorbei, schlafe als Mensch, vernachlässige vielleicht den
Mitbürger in mir, der mich sowohl am Zigarettenrauchen und
Schriftstellern verhindern würde, falls ich ihm Gestalt gäbe.
Gestern aß ich Speck mit Bohnen und dachte dabei an die Zukunft
der Nationen, welches Denken mir nach kurzer Zeit deshalb
mißfiel, weil es mir den Appetit beeinträchtigte. Daß dies hier
kein Seidenstrumpfaufsatz wird, freut mich und wird, wie ich mir
vorstelle, vielleicht einem Teil meiner geneigten Leser
ausnahmsweise angenehm sein, da dieses beständige
Mädelmiteinbeziehen, dieses unaufhörliche
Frauennichtaußerbetrachtlassen einer Eingeschlafenheit ähnlich
sein kann, was von jedem lebhaft Denkenden wird zugegeben werden
können. (Robert Walser: Der kleine Tierpark)
Ein Einsamgeher aus anarchischer Veranlagung; tief im Zwiespalt mit
der Welt, meist aber recht zufrieden mit sich selber. Doch der
Zwiespalt trieb zu Leistungen; er war ein Weltverbesserer, der mit
der Zerstörung alles dessen begann, was ihm in die Hände geriet, um
nachher erklären zu können, daß es schlecht gemacht sei. Stillen
Studien ergeben, hatte er zugleich eine närrische Prahlsucht an
sich, und nicht bloß den greifbaren und sichtbaren Dingen hatte er
beständig was am Zeug zu flicken, auch dem lieben Gott war er in
einer listigen Manier aufsässig. Ja, er war einer von den
Selbstgerechten dieser Erde, ein malkontenter Winkelphilosoph.
(Jakob Wassermann: Faber oder die verlorenen Jahre)
Sie ging aus dem Zimmer, und Dennis vergaß sie sofort.
Er hatte sie schon vorher überall gesehen.
Amerikanische Mütter, dachte Dennis, kennen ihre
Töchter vermutlich auseinander, wie ja auch die
Chinesen, sagt man, die Angehörige ihrer anscheinend
gleichförmigen Rasse genau unterscheiden können. Aber
für sein eurpäisches Auge war die "Bestattungshostess
No. 4" eins mit allen ihren Schwestern in den
Verkehrsflugzeugen und in den Büros, eins mit Miss
Poski von denm 'Ewigen Jagdgründen'. Sie war ein
Standarderzeugnis. Ein Mann konnte einem solchen
Mädchen in einem Delikatessenladen in New York Adieu
sagen, dreitausend Meilen fliegen und es im
Zigarrenkiosk in San Francisco wiederfinden, genau so
wie er seine gewohnte Humorspalte in der Lokalzeitung
wiederfand. Es würde ihm in zärtlicher Situation die
gleichen Worte vorgirren, und in gesellschaftlicher
Situation die gleichen Ansichten äußern. Das war
zweifellos bequem; aber Dennis gehörte einer älteren
Kultur an, die mehr verlangte. Er suchte das Unfaßbare,
das verschleierte Gesicht im Nebel, die Silhouette in
der erleuchteten Haustür, die geheimen Reize eines
Körpsers, der sich unter dem feierlichen Samt verbarg.
(Evelyn Waugh: Tod in Hollywood, S. 53f.)
Lady Marchmain war nicht verworren, aber sie ging an
das, worüber sie sprach, in einer weiblichen, koketten
Art heran, schlug Kreise, näherte sich, wich zurück,
griff zu Finten; sie schwebte darüber wie ein
Schmetterling; sie führte Täuschungsmanöver durch,
kam dem Punkt, um den es sich handelte, unmerklich
näher, während man den Rücken wandte, und blieb
wie festgewurzelt stehen, wenn sie beobachtet
wurde. (Evelyn Waugh: Wiedersehen mit Brideshead,
S. 124)
"So, du läßt dich also scheiden", sagte mein Vater.
"Ist das nicht einigermaßen überflüssig, nachdem ihr
alle diese Jahre hindurch glücklich miteinander
gewesen seid?" "Wir waren nicht besonders glücklich,
weiß du." "Nein? Ihr wart nicht? Ich erinnere mich
sehr genau daran, wie ich euch letzte Weihnachten
zusammen gesehen habe, da habe ich mir noch
gedacht, wie glücklich ihr ausseht, und nicht recht
begriffen, warum eigentlich. Du wirst es sehr störend
finden, weißt du, noch einmal anzufangen. Wie alt
bist du? Vierunddreißig? Das ist kein Alter zum
Anfangen. Du solltest schon zu einem Definitivum
kommen. Hast du irgendwelche Pläne?" "Ja, ich
verheirate mich wieder, sowie die Scheidung
ausgesprochen ist." "Also, das nenne ich einfach
Unsinn. Ich kann es verstehen, wenn ein Mann den
Wunsch empfindet, lieber nicht geheiratet zu haben,
und versucht, sich freizumachen - obwohl ich selbst
nie derartige Empfindungen gehabt habe. Aber eine
Frau loswerden und sich sofort eine andere auf den
Hals laden, das hat nichts mehr mit Vernunft zu tun.
(Evelyn Waugh: Wiedersehen mit Brideshead, S. 266)
... simuliert Tante Luci eine Herzattacke. Herzattacke kann sie gut.
Herzattacke geht kinderleicht. Kein Problem für Tante Luci, aus dem
Stand heraus ein kleines akut lebensbedrohliches Ereignis zu
zaubern. Sie beginnt blaß zu werden. Ihre Augen werden groß wie
gebratene Wachteleier. Sie verlangt ein Glas Wasser. Und während der
Mann aufspringt, es ihr zu beschaffen, rutscht sie auf halb acht vom
Stuhl. Versenkt sich in ihre Rolle. Spielt mit innerer Hingabe ein
baldiges Sterben. Legt bühnrenreif eine Herzmuskellähmung hin.
Bringt eine solide Ischämie zustande. Man sieht das Blut rinnen. Man
spürt die Arterie sich verengen, die Herzkranzgefäße verkrampfen.
Man kann so gar nichts für die Tante tun, die unter Schmerzen
keucht, einen Knopf zu öffnen versucht, der am Kittel nicht
vorhanden ist. Wie sie Schultern und Arme winkelt, den Unterkiefer
klappt, mit dem Oberbauch spielt, Vibrationen erzeugt, die durch die
Kleidung hin wirken. Begleitet von Schweißausbrüchen und einer sehr
gekonnt vorgeführten leichten Übelkeit bis hin zu einer Art
Erbrechen. Ehe der Besorgte zum Nottelefon greift und Hilfe ruft,
erholt sie sich vom Herzinfarkt schnell und komplett, und
normalerweise wird ihrem Antrag stattgegeben. (Peter Wawerzinek:
Schluckspecht)
... wurde dann später vom Doktor in einer Sparkassenverwaltung
untergebracht, wo er mit seinem blütenweißen und sonnenverwöhnten
Aussehen am Empfang für wichtige Gäste fungierte. Das hat er im
Ulenhof oft geübt, wo er oftmals irrtümlich als Chef des Hauses
angesehen wurde: Wenn Sie mit dem Chef reden möchten, so darf ich
Ihnen mitteilen, daß selbiger zurzeit im Öltankschacht verschwunden
ist und dort die Notabschaltung überprüft. Der Doktor kommt dann
auch arg verdreckt mit schmutzigen Händen und pechschwarz im Gesicht.
Als der feine Pinkel plötzlich an einem Blutgerinnsel starb, war er
die bestangezogene Leiche, die je auf dem Friedhof bestattet wurde.
Im Ulenhof sagten sie, in seinen Adern wäre nur Blut aus weißen
Blutkörperchen geflossen. (Peter Wawerzinek: Schluckspecht)
Kommst du zur Welt, hast du zwei Möglichkeiten: hier oder anderswo.
Anderswo wäre gut für dich, kommst du hier zur Welt, hast du zwei
Möglichkeiten: reiche Eltern oder nicht. Reiche Eltern wären gut für
dich, bei armen Eltern hast du zwei Möglichkeiten: Du kommst zu
einer Volksschullehrerin, die dich trotzdem fördert, oder nicht.
Fördern wäre gut für dich, ist es nicht so, hast du zwei
Möglichkeiten: Prammer oder Eder, Mechaniker oder Dachdecker,
zumindest war das vor fünfzehn Jahren so. Prammer wäre gut für dich,
bei Eder hast du zwei Möglichkeiten: gehen oder bleiben. Gehen wäre
gut für dich, bleibst du, hast du zwei Möglichkeiten: durchhalten
oder durchdrehen. Durchhalten wäre gut für dich, drehst du durch,
hast du zwei Möglichkeiten: vollkommen oder die Eltern klären es.
Vollkommen wäre gut für dich, bei den Eltern hast du zwei
Möglichkeiten: abhauen oder bleiben. Abhauen wäre gut für dich,
bleibst du, hast du zwei Möglichkeiten: früh sterben oder spät. Früh
wäre gut für dich, wird es spät, hast du zwei Möglichkeiten: nicht
mehr gefunden werden oder dort drüben am Friedhof begraben werden.
(Anna Weidenholzer: Weshalb die Herren Seesterne tragen)
Das Frühstück ist übrigens ziemlich unitalienisch, will
sagen reichhaltig. Schließlich wohnt Antonio bereits
seit über dreißig Jahren in Deuitschland und weiß ein
Käsebrötchen am Morgen durchaus zu schätzen. Es
gibt nicht viele Bereiche im Leben der beiden, in der
sie eindeutig die Regeln festlegt. Zumindest beim
Frühstück scheint das absolut der Fall. Es gibt
allerdings Espresso, da hat er sich durchgesetzt.
Diese Verschränkung von Lebensgewohnheiten ist wie
das Bild von Neapel und der Holzteller im Flur,
nämlich der Versuch, Mentalitätsunterschiede durch
gemeinschaftlich begangene Verbrechen am guten
Geschmack zu überwinden. Ich glaube, so ist Europa.
(Jan Weiler: Maria, ihm schmeckt's nicht! S, 28)
Italienische Betten sind, orthopädisch betrachtet,
Trojanische Pferde. Auf den ersten Blick sehen sie
harmlos und gemütlich aus, entpuppen sich jedoch
schnell als lebensgefährliche Folterwerkzeuge. Bereits
beim Beziehen der Matratze entdecke ich, daß der
ungemein nobel daherkommende Bettrahmen nur eine
Attrappe ist. Er umkleidet ein Stahlrohrgestell, in
welches ein Sadist eine Konstruktion aus federndem
Drahtgeflecht eingelassen hat. Darauf liegt eine dicke
Schaumstoffmatratze und fertig. Wie überall in Italien
werden dazu ein flaches Kissen und eine Art Laken
gereicht, das man fest mit der Tagesdecke verbindet.
Im Sommer reicht das auch. Diese Konstruktion des
Wahnsinns soll für die nächsten zwei Wochen meinen
Träumen eine Heimat bieten. Ich setze mich aufs
Bett, das dabei zusammensinkt wie ein Souffle, und
denke an zu Hause. Dort steht mein Bett. Es verfügt
über ein stabiles Gerüst, einen Lattenrost, eine
Taschenfederkernmatratze und eine Daunendecke.
Soll ich jetzt etwas sagen? Etwa daß ich dieses
weiche Monster hier irgendwie nicht gut finde? Ich
habe eine Angst, die alle Deutschen im Ausland
haben. Wann immer man nämlich als Deutscher im
Ausland etwas sagt, weil man beispielsweise
Skorpione oder das Ebolavirus oder einen Südeuropäer
mit Handfeuerwaffe im Zimmer hat, muß man sich
darauf gefaßt machen, daß die Kleinkariertheit dieser
Kritik mal wieder nur eines ist, nämlich typisch
deutsch. Davor habe ich wirklich eíne fürchterliche
Angst, nichts macht einen Deutschen so fertig wie der
Vorwurf, typisch deutsch zu sein. Also halte ich die
Klappe und stelle mir vor, wie mein Orhtopäde in drei
Wochen meinen Rücken inspiziert. (Jan Weiler: Maria,
ihm schmeckt's nicht! S. 68f.)
Am Morgen nach der Hochzeit große Aufregung.
Bruder Alfredo hat sich gestern Abend an einem
kleinen Hühnerknochen verschluckt und läßt mitteilen,
daß er sich wegen eines nicht enden wollenden
Schluckaufs absolut außerstande sehe, die Predigt zu
halten. Was nun? Mein Schwiegervater bietet sich als
Ersatz an, aber Onkel Raffaele insistiert, daß Toni
erstens kein Geistlicher sei und zweitends für
Predigten nichts tauge, weil er bei längeren Reden
immer so klinge, als verlese er das Kommunistische
Manifest. (Jan Weiler: Maria, ihm schmeckt's nicht! S.
97)
Mein Schwiegervater hat eine typische Eigenschaft
der Entwurzelten, also derer, die nicht wirklich dort zu
Hause sind, wo sie wohnen, und auch nicht richtig da
hingehören, wo sie herkommen. Wenn er in
Deutschland ist, gibt es für ihn nichts Schöneres als
Italien, das Land seiner Vorfahren und des Weins und
so weiter. Alles ist dann in Italien besser. Das Wetter
sowieso, aber auch die Menschen, die dort so fröhlich
und gastfreundlich sind und immer einen Scherz auf
den Lippen haben und überhaupt so kinderlieb und
noch dazu ausgezeichnete Köche sind. Dazu die
Landschaft und der Duft und die schönen Frauen
allüberall und eben das diamantene Meer. Diese
folkloristischen Hymnen gipfeln jedes Mal im
Absingen neapolitanischer Volksweisen. Fast hat man
aus seinen Schilderungen den Eindruck, als sei Italien
eine Art riesiges Schlumpfhausen. Deutschland
hingegen ist natürlich mies, kalt und grau. Die
Menschen sind nur an Geld interessierte
Vorteilsnehmer, die niemandem etwas gönnen, Kinder
am liebsten immer einsperren und nie, nie lachen.
Und dann das Essen, immer diese Knödel und
Kartoffeln, dieser Schweinefraß. Oh, und wenn er nur
könnte und nicht diesen riesigen Druck von wegen
Karriere und so hätte, dann würde er zurückkehren in
das Land von Dante und Machiavelli. Er würde über
Weinberge schauen, dichten und immerzu 'polenta'
essen. (Jan Weiler: Maria, ihm schmeckt's nicht! S.
62f.)
In meinen Bus steigen Schwarzfahrer, die nicht prickelndes
Schauern und eine Lust auf Flucht und Abenteuer verspüren,
wenn die Fahrkarten kontrolliert werden, sondern wie gelähmt
auf ihre Entdeckung reagieren, weil sie wissen, daß sie als
Wiederholungstäter sogar ins Gefängnis kommen könnten. Ich
fahre sie alle, hinter mir sitzen die wenigen Guten und die alten
und jungen Bösen. Geborene und nachgeborene Nazis,
ungezogene Flegel, stinkende Flittchen und aufgegeilte
Famlilienväter, dumme Verkäuferinnen und pro Fahrt
höchstens ein moralisch integrer Vertreter unserer Gattung,
meistens ein vierjähriges Kind. Sie steigen in meinen Bus, und
dann sind wir für kurze Zeit eine spirituelle Gemeinschaft auf
der Straße des Unheils und des Bösen. Uns verbindet der
Fahrplan, mehr nicht. Ich muß für eine kurze Zeit die
Verantwortung übernehmen für diese grotesken
Proteinhaufen in schlecht sitzenden Kleidern. (Jan Weiler:
Drachensaat, S. 99)
Er wurde grundsätzlich und nannte den Umstand, daß ihm
seine Privatsphäre geraubt wurde, ein "generelles Problem der
modernen Gesellschaft, welches zwar im völligen Widerspruch
zur Vereinzelung und Einsamkeit in modernen
Industrieländern steht, jedoch unabweisbar wie Letztere seine
Wurzeln in der scheindemokratischen Diktatur der Bürokratie
findet". Seine aufgesetzte Sprache wurde uns später noch
nützlich, und der Staatsanwalt hat im Prozeß einmal
angefangen zu weinen, als Ünal in einem 54 Minuten
dauernden Monolog die Unzumutbarkeit eines wackligen
Stuhls als Beispiel für die Verrohung der deutschen
Rachejustiz gegenüber homosexuellen Moslems anprangerte.
Daegegen war dieser Auftritt hier gar nichts. (Jan Weiler:
Drachensaat, S. 87)
Wir befinden uns in diesem Strudel der Bosheit, und die
meisten merken nicht, wie dieser Strudel jeden von uns in die
Hölle zieht, denn alle Menschen sind vollgestopft mit
künstlichen Aromastoffen, Glutamat, Alkohl und Frittierfett.
Woher ich das weiß? Ich weiß es, weil ich es rieche und spüre,
ich atme jeden Tag den Gestank der Verwesung der
Zivilisation ein, der ich selber angehöre, in deren Zentrum ich
mich bewege mit meinem Bus und den schlechten Menschen
darin. Mein Tag beginnt mit den Nachrichten aus dem Radio
an meinem Bett, und was ich dort hören muß, entspricht nicht
meiner Vorstellung einer Welt, die des Aufenthaltes in ihr
würdig wäre. (Jan Weiler: Drachensaat, S. 93)
Frank war älter, stärker und zwar auch dümmer, jedoch von
einem geradezu bewunderswert einfallsreichen Sadismus.
Solche Kerle gibt es in jeder Siedlung, sie stellen jeweils die
nächste Generation aus Arschloch-Familien dar. In der Regel
waren schon der Vater und zuvor der Großvater Drecksäcke.
Ich kenne das aus meiner Kindheit, jeder kennt es aus seiner
Kindheit. Wenn man diese Burschen später wiedertrifft, sind
sie häufig arme Würstchen mit Würstchenkindern, die kleinen
Mädchen den Arm umdrehen. (Jan Weiler: Drachensaat, S.
155)
Dies war mein erster freier Nachmittag nach einer
Reihe von anstrengenden Arbeitstagen mit vielen
schweren, und wohl nur zum Teil
erfolgversprechenden Operationen. Ein Patient, ein
76jähriger Mann, bei dem ich, zusammen mit einem
dicken, runzligen Karzinom, Magen,
Bauchspeicheldrüse, Milz und Querkolon und alle
Lymphdrüsen der Umgebung herausgenommen hatte,
war mir noch auf dem Operationstisch gestorben. Es
war der Abschluß einer schrecklichen Woche. Ich
hatte mich danach flau und abgenutzt gefühlt und
das Bedürfnis gehabt, mir für zwei Stunden im Dunkel
eines Zuschauerraums aus dem Weg zu gehen,
zuverlässiger als es mir in meinem Apartment mit
Lesen, Musikhören und Telefonieren gelungen wäre.
Aber schon als ich die Eintrittskarte löste - bei einer
etwas schwammig gewordenen Schönheit, die als ein
mit Goldkettchen und Amulett behangenes Brustbild
in dem Kassenhäuschen saß und mir mit einer trägen
handbwegung Billett und Wechselgeld zuschob -, und
dann noch mehr, als ich den dünn besetzten
Zuschauerraum betrat, in dem gerade die letzten
Werbespots über die Leinwand liefen, hatte ich das
Gefühl, etwas Falsches zu tun. ich hatte mir das
falsche Medikament, die falsche Behandlung
verordnet, weil ich nicht wußte, was mir fehlte.
(Dieter Wellershoff: Der Liebeswunsch, S. 7)
Immer schon war es das Besondere und leicht
Unangemessene, um dessentwillen ich das Richtige
verriet. So habe ich Marlene an dich verraten, vor
allem deshalb, weil ich wußte, daß es falsch war. Die
Grenzen des Gesicherten und Achtbaren zu
überschreiten, war für mich die Bedingung der
Leidenschaft geworden, seit mich als 16jähriger
Schüler eine mehr als doppelt so alte Frau in die
Liebe eingeführt hatte, der es genauso gegangen
war. Leidenschaft, das ist die Kraft, alles zu
verwandeln und auf den Kopf zu stellen. Daran allein
kann man sie messen. (Dieter Wellershoff: Der
Liebeswunsch, S. 9)
Beide waren sie unzuverlässige Menschen mit wenig
moralischer Substanz. Paul würde Anja verlassen, und
dann würde sie zugrunde gehen, wie die amtliche
Formel sagte: mit an Gewißheit grenzender
Wahrscheinlichkeit. Er würde keinen Anlaß haben, das
zu bedauern, dachte er mit leiser Rachsucht, ein
Gefühl, das er sich genehmigte, weil er spürte, daß
es ihm half. Paul war ein anderes Problem. Er war der
Verführer und Betrüger, den man früher zum Duell
herausgefordert und erschossen hätte. Jetzt hatten
Leute wie er einen Freibrief für ihr Treiben, denn die
Gesellschaft hatte sich moralisch aus diesen
Bereichen des Lebens zurückgezogen und sie der
Willkür und der allgemeinen Unordnung überlassen.
Jeder durfte jeden tödlich verletzen, wenn es nicht
gerade mit dem Messer oder Pistole geschah. (Dieter
Wellershoff: Der Liebeswunsch, S. 230)
Es war ein ruhiger Sommerabend. Die Hitze hatte
nachgelassen, und das Licht war weicher und
ungefährer geworden und ließ die Konturen der
Landschaft in der dunstigen Ferne verschwimmen. Am
immer noch hellblauen Himmel stand zwischen den
abendlich angeleuchteten Wolken unauffällig und blaß
der früh aufgegangene Mond. Er war nicht mehr als
ein bescheidener milchiger Fleck, den sie eher zufällig
zwischen den Abendwolken entdeckte. Wie ein zu
früh gekommender Gast hielt er sich zurück und
kündigte doch, wenn man ihn erst bemerkt hatte, das
nahende Ende des laufenden Schauspiels an.
Unsichtbar für sie ging hinter dem vom Buchenwald
umhüllten Berggipfel die Sonne unter, und langsam,
dann immer schneller, erlosch der Goldglanz des
schräg einfallenden Lichtes, der in der letzten halben
Stunde die Farben des Laubs mit seinem warmen
Leuchten übergossen hatte. Der Weidenhang und die
nähere Umgebung des Hauses, die schon einige Zeit
im Schatten lagen, wurden grau, die Baumkronen
verschmolzen miteinander, und Bäume und Sträucher
schienen aus der am Boden nistenden Dämmerung
immer mehr Schwärze zu saugen. Irgendwann waren
die Vogelstimmen verstummt. (Dieter Wellershoff:
Der Liebeswunsch, S. 289)
Diese Sturheit oder Lethargie verführte mich zu der
Phrase, auch er würde bestimmt noch eines Tages
entdecken, daß ein neuer Anfang für ihn gut gewesen
sei. Darauf antwortete er: "Halte dich bitte zurück mit
Meinungen darüber, was für mich gut wäre." Ich
glaubte, Leonhard sprechen zu hören, als er das
sagte. Wahrscheinlich war diese gestelzte
Ausdrucksweise, die für Paul überhaupt nicht typisch
war, ein männliches Stereotyp: der Versuch, in
bedrängenden Situationen eine würdige Haltung zu
zeigen. (Dieter Wellershoff: Der Liebeswunsch, S.
310)
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