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Allgemeine Fundstücke / [V, X-Z]
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Nicht selten prahlte sie damit, daß es kein Gelüst auf
dieser Welt gebe, das von ihren Mädchen nicht zu
befriedigen sei, und in ernsten Augenblicken ließ sie
sogar durchblicken, es gebe keine für die Gesellschaft
nützlicheren Institutionen als die Bordelle, und als
Beweis führte sie ein halbes Dutzend
Selbstmordversuche an, die ihre Mädchen mit ihren
unwiderstehlichen Verführungskünsten angeblich im
letzten Moment verhindert hätten. Oder all die
Männer, die, gebrochen von den Widrigkeiten des
Lebens und mit den Resten ihres verlorenen
Vermögens, die Seele im Auflösungszustand, abends
um sechs im Etablissement eingetroffen waren und es
gegen Mitternacht verlassen hatten, mit gestärktem
Rücken, lachend und befriedigt bis ins Mark, bereit für
den Nahkampf mit allem, was der nächste Tag zu
bieten hatte. Selbst die Fälle, in denen Ehen am
Rande des Abgrunds hatten gerettet werden können,
verbuchte sie als ihren Erfolg, denn zumindest in ihrer
Phantasie gab es nicht wenige Männer, die an den
Busen ihrer Mädchen eine so lebensumwälzende
Befreiung gefunden hatten und auf dem Gebiet der
Liebe so gründlich umgeschult worden waren, daß sie
in einem ehelichen Bett, so mausetot wie sein Holz,
neues Leben erwecken und bei Ehehälften, die sie
seit einem Vierteljahrhundert zuvor nicht mehr geliebt
hatten, Aufsehen erregen konnten. (Carl-Johan
Vallgren: Geschichte einer ungeheuerlichen Liebe, S.
46)
Schuster zweifelte an einem Gott, der allzu selten
ihre Gebete erhörte, tatsächlich so selten, daß es
eher wie ein Zufall erschien, wenn es einemal
vorkam. Er zweifelte an seinem Leben als Mönch und
hatte den Verdacht, daß das Schicksal ihm eigentlich
ein anderes Leben zugedacht hatte, daß dessen
Partitur schon geschrieben war, daß er sich aber durch
einen unglücklichen Zufall hatte dazu verleiten
lassen, sich für ein anderen zu entscheiden, auf die
Stimme seines Herzens nicht gehört hatte und
deshalb zum Unglück verdammt war. (Carl-Johan
Vallgren: Geschichte einer ungeheuerlichen Liebe, S.
125)
Manchmal guckt mich einer im Zug aufdringlich
neugierig an, und dann gucke ich aus dem Fenster,
obwohl ich zuerst immer denke, ich habe irgendwo
einen Fleck auf dem Mantel oder irgendwas
Komisches an mir. Natürlich haben sie auch früher
aufdringlich neugierig geguckt oder sich umgedreht
und mir manchmal auch hinterhergepfiffen, aber das
machen sie bei allen Frauen, und irgendwann hört das
auf. Es hatte auch schon fast aufgehört, als ich um
die Vierzig war, und im Grunde war ich sogar ein
bißchen beleidigt, daß es ausgehört hatte, weil es
sowieso um die Vierzig schwierig genug ist, vierzig zu
werden, und wenn sie dann noch aufhören,
aufdringlich neugierig zu gucken, wie man das
gewohnt ist, ist man ein bißchen beleidigt, auch wenn
es einen die ganze Zeit eher geärgert hat, aber
ausgerechnet um die Vierzig könnten sie ruhig
gucken. Als sie dann wieder anfingen zu gucken,
hatte ich mich gerade daran gewöhnt, daß sie nicht
mehr gucken, und nun fingen sie wieder an, und ich
war irritiert. (Birgit Vanderbeke: abgehängt, S. 9)
Simmy kam sehr vergnügt an und war beinahe gar
nicht naß, weil Bines Mutter sie nach Hause gefahren
hatte. Gegessen hatte sie auch. Eierkuchen mit
Spinat. Simmy hat eine ganz besonders Art,
Eierkuchen mit Spinat so zu betonen, daß sie sich in
eine Frage verwandelt: Warum machst du eigentlich
niemals Eierkuchen mit Spinat? Menschen, die in ihrer
Kindheit unter fortgesetztem Genuß von Eierkuchen
mit Spinat zu leiden hatten, sagte ich, scheinen in
ihrem späteren Leben aufgrund eines dunklen
Gesetzes damit zu tun zu haben, daß ihre Kinder
andauernd Eierkuchen mit Spinat von ihnen
verlangen. (Birgit Vanderbeke: abgehängt, S. 20)
Links neben mir erklärte ein junger Mann seiner
Freundin, wie man die Stäbchen hält, weil es noch
nicht lange zum guten Ton gehört, ins "Nagasaki" zu
gehen und dort mit Stäbchen zu essen, also mußte er
ihr die Stäbchen erklären, und die Stäbchen waren
ein guter Vorwand für einen jungen Mann, der wußte,
daß es neuerdings zum guten Ton gehört, jungen
kosmopolitischen Analphabetinnen von diversen
Fernreisen zu berichten, über die weltweit
grauenvollen Zustände auf den diversen Flughäfen zu
klagen und von diversen Hotels zu schwärmen, in
denen ein junger Mann mit diversen wichtigen Leuten
diverse Verhandlungen über diverse Technologien des
21. Jahrhunderts geführt und die wichtigen Leute
regelmäßig über den Tisch gezogen hat. Die junge
Frau war von der Weltläufigkeit des jungen Mannes
beeindruckt, kleckerte unverdrossen mit Reis und
Sojasoße herum, duftete penetrant nach "Amazone"
und kicherte den balzenden Angeber an, wie sich das
aus biologischen Gründen gehört. (Birgit Vanderbeke:
abgehängt, S. 63)
Manchmal gibt es zusätzlich auch noch Möwen und hier
und da einen Fisch, der tot daliegt. Wenn alles ist, was
es ist, und dann liegt auch noch ein toter Fisch herum,
kann es sein, daß Lila sich fürchtet. Erst wird ihr ein
bißchen übel, weil ihr immer übel wird bei toten
Fischen und Vögeln, und nachdem ihr eine Weile übel
gewesen ist, fängt sie sich zu fürchten an. Tote Fische
gukcne einen so komisch an, und tote Vögel auch,
komisch ist vielleicht nicht das richtige Wort für die
Art, wie tote Fische und Vögel gucken, aber Lila
fürchtet sich sehr, daher fällt ihr das richtige Wort
nicht ein, sondern nur so ein falscher Vergleich, vor
lauter Sich-Fürchten findet Lila es immer komisch, wie
tote Fische und Vögel sie angucken, zum Kotzen komisch,
genauer gesagt, zum Fürchten komisch, zum Wegrennen
komisch. (Vanderbeke, Birgit: Fehlende Teile, S. 45)
Es sind nicht die Zeiten für Weltliebe, um von der
Weltliebe anzufangen, die einem irgendwo oberhalb des
Magens und dann die Kehle hinauf eine Heiterkeit macht,
daß man gluckst vor Bewegung; die Welt liegt im Koma,
man hat als erwachsener Mensch für die Welt keine
Weltliebe, sondern ein Stirnrunzeln, ein besorgtes
Stirnrunzeln, zu empfinden und übrig zu haben, aber ich
kann nichts dagegen machen, die Weltliebe überfällt
mich von Zeit zu Zeit unpassend unzeitgemäß, wenn ich
im Auto sitze und singe. (Vanderbeke, Birgit:
Fehlende Teile, S. 107)
Meinetwegen soll er sich diesen Minirock merken für
alle Zeiten, er kann seine Frau als Nonne verkleiden
oder ins Badezimmer einschließen, damit niemand
ihre schönen Beine zu sehen kriegt, er kann ihr mit
seiner Eifersucht Magenprobleme machen und ein
Zwölffingerdarmgeschwür, solche Geschwüre kommen
keinesfalls, wie er denkt, von dem anderen Essen,
das sie ihm neuerdings kocht (einmal der Verdacht,
sie hätte ihm etwas Essen getan, um ihn
loszuwerden, er ißt und ißt und ißt wie verrückt und
wird immer dünner davon), diese Geschwüre kommen
vom Streß. Es ist nämlich Streß für die schöne Korsin,
ein gewisses weißes Stretchkleid, eine winzige weiße
Strechröhre, die kaum bis über den Po reicht, immer
genau dann nicht anzuhaben, sondern in
Trainingshosen, Kartoffelsäcken oder Bermudas zu
stecken, wenn der Mann nach unregelmäßigen
Dienstplan unregelmäßig nach Hause kommt. Den
Dienstplan gibt er ihr nicht: er möchte sie in flagranti
erwischen. Daher der Streß, daher die Magen- und
Darmgeschwüre der Korsin, die eines Tages ihrem
Mann weglaufen wird, weil er sie fertigmacht mit dem
Verdacht, sie hätte es mit dem Filialleiter vom
Supermarkt, den sie überhaupt gar nicht kennt, aber
wenn er sie nun schon monatlang mit dem Filialleiter
fertigmacht, schaut sie sich den mal an, und er hat
gegen ein Geplänkel mit Stretchröhre nichts
einzuwenden. (Birgit Vanderbeke: Ich will meinen
Mord, S. 74)
Viszmans Wohnung wird sicherlich kein Problem sein,
schon wegen der vielen Bücher an den Wänden.
Wohnungen mit Büchern sind in der Regel ohne die
Verlegenheit betretbar, die Wohnungen ohne Bücher
bereiten. Viszman stellt sein Leben nicht aus: eine
Lampe bedeutet Licht, ein einzelner kleiner Teppich
unter dem Schreibtisch bedeutet: keine kalten Füße
beim Arbeiten, eine Kaffeemaschine bedeutet Kaffee,
alles leicht zu verstehen, vor allem: nichts
dargestellt, nichts ausgestellt. Kein Reisemitbringsel,
keine Allerweltstrophäen, überhaupt keinerlei
Folklore, vor allem keine Photos erfreulicherweise.
Auch keine Zimmerpflanzen, ein einzelner Ficus
weigert sich, den Naturzustand zu ersetzen oder zu
simulieren, oder Viszman weigert sich, ihn zu gießen.
Demnächst wird er blattfrei sein. Die Bücher sind
alphabetisch sortiert, weil einmal vor Jahren in
diesem organischen Gewusel nichts mehr zu finden
war, wie Kraut und Rüben, und schließlich hat er sich
ein Wochenende genommen und seine Bibliothek
sortiert. Ein wenig dunkel, die Wohnung, eine
typische Männermischung aus braunen, grauen,
schwärzlichen Tönen, ein paar Häkelkissen,
dunkelgrün, andere, in Ockertönen gestreift, auf einer
Couch, kein Verhältnis zur Farbe, gut. Buchrücken
sind bunt. Eine Dürersche Melencholia mit Flügeln
überm Schreibtisch in einem gesprungenen
Glasrahmen schaut, das Gesicht in die Hand gestützt,
unverwandt auf eine moderate
Schallplattensammlung, Korbstühle, um sich die
Strümpfe daran zu zerreißen; natürlich glaubt
Viszman nicht ans Wohnen, Möbelparadiese sind
jedem denkenden Menschen und Antikapitalisten
suspekt; er brauchte sich nicht zu entschuldigen,
warum entschuldigt er sich. (Birgit Vanderbeke: Ich
will meinen Mord, S. 85f.)
Noch könnte ich sie aussteigen lassen. Auf den
ersten Seiten tun meine Leute, was ich ihnen sage.
Wenn ich sie in eine Bar schicke und dort weißen
Whisky trinken lasse, gehen sie widerstandslos hinein
und trinken den weißen Whisky, anstatt Kaffee zu
bestellen oder Bier oder Limonade. Sie fragen nicht
einmal, warum ausgerechnet sie in ausgerechnet
dieser Bar ausgerechnet weißen Whisky trinken
müssen, alle anderen Gäste trinken Bier, der Kellner
versteht nicht, was sie verlangen, weil es alle
möglichen Sorten Whisky gibt, aber von weißen
Whisky hat er noch nie gehört, meine Leute würden
auch viel lieber Bier trinken, als sich erst mit dem
Kellner und sodann mit dem Wirt über die Existenz
weißen Whiskys zu unterhalten, die dieser bei aller
Höflichkeit rundheraus wenn nicht abstreitet, so doch
lebhaft bezweifelt. Auf den ersten Seiten bringe ich
sogar den Wirt dazu, seine Frau sich an eine Flasche
weißen Whisky erinnern zu lassen, die irgendwo
endgelagert im Keller herumliegt, Geschenk eines
Gastes nach einer Irlandreise, und schließlich sitzen
sie brav in der Bar und rinken meinen überteuerten
weißen Whisky, weil ich es will. Leider geht das nur
auf den ersten Seiten. Nach und nach werden sie
renitent. (Birgit Vanderbeke: Ich will meinen Mord, S.
11)
Was die Schwiegermutter da jeden Tag auf den Tisch
bringt, ist am Rande der Zumutbarkeit, mit den
Kindern wird sie auch nicht fertig, und die Kleine hat
völlig recht, wenn sie sich trotz der Sahnebonbons
weigert, mit der durchgedrehten Omi zum Zahnarzt zu
gehen, die hysterische Omi soll wieder nach
Neuchatel und dort den Opi mit ihren Kochkünsten
quälen. Sorge macht ihm: er hat gelesen, Frauen
schlagen im Alter nach ihren Müttern, und Hysterie
kann er im Geschäft nicht brauchen. (Birgit
Vanderbeke: Ich will meinen Mord, S. 28)
Viszman hat die besten Erfahrungen mit
Büroklammern gemacht, was uns erneut feststellen
läßt, daß wir nicht verschiedene Leseverfahren haben,
sondern genau dieselben, tatsächlich: zwei Menschen
an zwei verschiedenen Orten der Welt sind
unabhängig voneinander auf die Idee gekommen,
Büroklammern in bunten Farben oben an ihre
Buchseiten zu stecken, um Merkwürdigkeiten später
leicht wiederzufinden, und unabhängig voneinander
sind sie durch Ausprobieren darauf gekommen und
versichern sich in einer Bar in Metz, daß auch das
Unfug ist. Das Wortkarge an Viszman hat sich in
Lebhaftigkeit verwandelt, weil das Leben, auch wenn
es im ganzen ein Geheimnis ist, in Einzelheiten doch
Wunder bereitstellt, Einzelwunder, die nicht nur
mitteilbar sind, sondern mitgeteilt werden müssen.
(Birgit Vanderbeke: Ich will meinen Mord, S. 98)
Viszman begeht einen fatalen taktischen Fehler und
behauptet, verliebt zu sein, was ich ohne weiteres
glauben muß, da es für einen Mann sicher nicht leicht
sein dürfte, in doch ziemlich fortgeschrittenem Alter
endlich einmal außerberuflich einen ersten Menschen
zu treffen, dazu eine Frau (die auffallende
Frauenlosigkeit in Viszmans Erzählungen ähnelt der
Männerlosigkeit, von der mein bisheriges Leben erfüllt
ist), eine erste Frau also und Diderot-Kennerin so
spät im Leben endlich zu treffen und sich dann nicht
zu verlieben. Ich muß es glauben, ebenso wie ich
glauben muß, daß dem Menschen im Naturzustand ein
intuitiver Zugang zu europäischer Damenober- und -
unterbekleidung angeboren ist, es gibt da ein Know-
how, das nicht vom Leben erworben wird, sondern das
unschuldig immer schon wartet in einem
liebesbegabten Mann, in dessen Leben nur eben
zufällig nie eine Frau und Diderot-Leserin und
Eselsohren-Knifferin getreten ist, weshalb er natürlich
- seit gestern vom lebenslänglichen Zölibat befreit -
erneut in Melancholie versinken wird, wenn seine
soeben erst entdeckte Begabung alsbald wieder
brachgelegt wird, weil ich heute abend am
Winterfeldplatz ägyptische Bohnen esse. (Birgit
Vanderbeke: Ich will meinen Mord, S. 102)
Es ist aber öfter vorgekommen, daß der Braten
vertrocknet war, und da hört sich die Großzügigkeit
aber auf, hat mein Vater gesagt, besonders bei der
Weihnachtsgans, die meine Mutter preiswert gekauft
hatte und die infolge ihres niedrigen Preises gar nicht
anders hat werden können als trocken, mein Vater
hat meine Mutter verschiedentlich zu erklären
versucht, daß die polnischen Weihnachtsgänse,
anders als die ungarischen, nicht trocken würden,
meine Mutter hat das nicht einsehen können, weil sie
gedacht hat, die Polen sind doch ein armes Volk, wie
sollen dann ihre Weihnachtsgänse nicht trocken und
zäh sein, meine Mutter hat das mit den Devisen nicht
richtig verstanden, sie hat einer polnischen
Weihnachtsgans weniger Fett zugetraut als einer
ungarischen, weil die Ungarn ihr keinen zu hungrigen
Eindruck gemacht haben, aber die ungarische
Weihnachtsgans, die sie so preiswert gekauft hatte,
hat ihr diesen Gefallen nicht getan, eine fette und
fleischige Gans zu sein, sie war auf erbärmliche
Weise nur trocken und knochig und zäh, und da hat
sich die Großzügigkeit aufgehört, und Weihnachten
war für meine Mutter mit diesem ungarischen Gerippe
zu Ende. (Birgit Vanderbeke: Das Muschelessen, S.56)
Manchmal kam die Basisdemokratie auch in unseren
Saal, wenn wir gerade Vorlesung hatten. Vorlesung
war fast so schön wie Kino. Vorne im Raum stand
einer und erzählte, und nach einer Weile war er fertig
und sagte, wo man es nachlesen könnte, wenn man
das wollte; und ich wäre ganz gern an der Uni
gewesen, wenn nicht die Basisdemokratie regelmäßig
dazwischengeplatzt wäre und mit verteilten Rollen
gesagt hätte, daß der Kapitalismus mitsamt den
Bonzen am nächsten Mittwoch zu Fall gebracht werden würde.
Einer aus der Vorlesung sagte dann manchmal, haut
doch ab, ihr Idioten, laßt uns doch hier in Frieden,
aber die Basisdemokratie schrie, daß es keinen
Frieden geben kann, solange wir unseren Stoff bloß
pauken, weil das von oben verordnet wird, und daß
wir uns statt dessen solidarisieren sollten, und schon
schaukelte sich die Stimmung hoch, weil in der
Vorlesung Leute saßen, die die Vorlesung hören
wollten, anstatt sich zu solidarisieren. Besonderen
Krach mit der Basisdemokratie handelten sich die ein,
die sagten, aber nächsten Mittwoch ist hier eine
Klausur, dann eskalierte die Stimmung, und
manchmal wurde die Polizei geholt. (Birgit
Vanderbeke: Geld oder Leben, S. 50)
Sie verstaute die Pilze in der Speisekammer und
kochte, weil gegen Mittag ihre Kinder zum Essen
kamen und an verschiedene komplizierte Dinge
glaubten, aber bestimmt nicht an Pfifferlinge, und
meine Großmutter fürchtete sich etwas vor diesen
komplizierten Dingen und ihren Kindern, aber sobald
die Kinder nach dem Essen wieder zur Arbeit gingen,
fing die Andacht im Hause erst richtig an mit Putzen,
Schneiden, Braten, Kochen, und bevor die Kinder am
Abend wieder da waren und vor belegten Broten
saßen, die meine Großmutter Abend für Abend
machte, war ein weiteres Kellerregal mit weiteren
Pfífferlingsgläsern gefüllt, und als meine Großmutter
später gestorben war, bin ich heimlich
hinuntergegangen in ihren Keller und habe ein paar
von den Gläsern mitgenommen, bevor die anderen
runterkamen und dort ausmisten würden, denn die
Gläser waren nicht zum Ausmisten, sondern die
Reliquien aus vielen vergangenen Jahren, sorgfältig
mit Etiketten beklebt, auf denen stand, wann sie
dahin gekommen waren, das erste stammte aus dem
September '47. Gurkengläser standen auch da, aber
sie waren nicht heilig gewesen, sondern wurden von
Zeit zu Zeit aufgemacht, genau wie die Gläser mit
Wurst und die Sauerkirschen, das Pflaumenmus und
das Stachelbeerkompott, weil meine Großmutter daran
nicht geglaubt hatte, sondern in ihrer Tüchtigkeit fast
alles in Gläser einmachte, was sie zwischen die
Finger bekam. (Birgit Vanderbeke: Geld oder Leben,
S. 10f.)
In der Uni lernte ich Dinge, die nur mit der Uni-
Wirklichkeit zu tun hatten, weil kein Mensch auf die
Idee kommt, in Bibliotheken zu gehen und
Zeitschriften herauszusuchen, die nicht gut riechen,
und in diesen Zeitschriften nach Aufsätzen zu suchen,
die keinen anderen Sinn haben als den, daß die Leute
in der Uni nach ihnen suchen und sie dann mehr oder
weniger abschreiben und mit anderen Aufsätzen
vergleichen, die über dasselbe Thema in anderen
Zeitschriften stehen, die wiederum nur für die Uni
gemacht werden, und je mehr solche Aufsätze man
abschreibt und in seine eigenen Arbeiten
hineinschreibt, um so dicker werden die eigenen
Arbeiten, und um so länger wird die Liste am Schluß,
an der man sehen kann, wie viele solcher Aufsätze
gefunden und abgeschrieben worden sind. (Birgit
Vanderbeke: Geld oder Leben, S. 103)
Mona machte ihre Prüfung erst viel später, weil sie
endlos an der Uni und in diversen Kliniken warten
mußte, bis sie zur Prüfung zugelassen wurde, und
schließlich war sie Ärztin und hatte kein Geld, um
eine Arztpraxis gründen zu können, weil eine
Arztpraxis sehr viel kostet. Sie blieb in einer Klinik
und hörte nicht auf, an die Frauenunterdrückung zu
glauben, weil es in der Klinik Chefärzte gab, die
hauptberuflich die Ärztinnen quälten, die kein Geld
hatten, eine eigene Praxis zu gründen, und folglich in
den Kliniken hängenblieben, um sich von Chefärzten
quälen zu lassen und nach achtundvierzig Stunden
Dienst in der Klinik nicht mehr zu wissen, ob es noch
in Ordnung ist, jetzt mit dem Auto völlig verheult
nach Hause zu fahren. (Birgit Vanderbeke: Geld oder
Leben, S. 114)
Bei den Czupeks wurde alles gesammelt und aufgehoben,
und mit der Zeit verstand ich, daß es mit dem
Verhungern und Erfrieren zu tun hatte, von denen Adams
Mutter in ihren sinnlosen schönen Sätzen sprach.
Pommerland ist abgebrannt, sang sie manchmal, wenn sie
in der Küche Kartoffeln für sieben Personen schälte;
irgendwann begriffen wir, daß ihre eigene Mutter auf
der Flucht aus dem abgebrannten Pommerland verhungert
oder erfroren war oder beides, jedenfalls wurden bei den
Czupeks Stoffe und Wolle und Knöpfe und Garn gesammelt
und aufgehoben, Zucker und Mehl, Reis und Konserven,
Adams Mutter hat gehortet, was ihr nur in die Finger
kam. Als sie starb, war das kleine überheizte Haus
vollgestopft mit Wollknäueln, Stoffbahnen, Vliesen und
Bergen mit Schnittmustern. (...) Mich macht das
jedenfalls heute nervös, wenn du hier jeden Schrott
anschleppst, der auf der Straße liegt. (...) Ist doch
in top Zustand, sagte er, wenn er an einem Sessel
vorbeikam, der alles andere als gepolstert war und aus
dem die blanken Sprungfedern herausragten, und er wußte
ganz gewiß nicht, was er mit der Klabund-Ausgabe
anfangen sollte, die schon etwas zerfleddert und
unvollständig in Einzelbänden bei einem Umzug in
unserer Nachbarschaft entsorgt worden war, aber er
wußte, daß ich viele Bücher besaß, und daraus zog er
den Schluß, daß ich offenbar Bücher sammelte und aufhob
wie seine Mutter ihre Stoffe, die Wolle und die
Konservendosen aus dem Angebot; ich bekam ein paar
Bände Klabund zu meinen Büchern hinzu - wer weiß, ob es
solche Bücher in zwanzig Jahren noch gibt, dachte ich
amüsiert. (Birgit Vanderbeke: Das läßt sich ändern, S.
27f.)
Meine Waschmaschine war ziemlich alt und machte
unheimliche Geräusche. Sie lief praktisch unaufhörlich,
seit Anatol mit dem Laufen angefangen hatte; schon
vorher hatte er das Talent, sich in kürzester Zeit
unglaublich dreckig zu machen; wenn ich ihm eine Banane
in die Hand gab, war er vom Kopf bis zu den
Zehenspitzen mit der Banane beschäftigt und eingesaut.
Meine Waschmaschine stand in der kleinen Speisekammer
hinter der Küche, und aus der Speisekammer kamen in
Intervallen besorgniserregende Geräusche, ein
unregelmäßiges Ächzen und Poltern, das im Schleudergang
schließlich umschlug in blanke Raserei; außerdem hatte
die Maschine in letzter angefangen, sich ruckweise zu
bewegen. (Birgit Vanderbeke: Das läßt sich ändern, S.
31)
... mußte ich zugeben, daß es eine Eins-a-
Waschmaschine war und kein Fachmann sie besser hätte
anschließen können. Der Gummihammer wird noch in der
Küche herumgelegen haben, denn aus der Küche drangen
dumpfe Geräusche zu mir herüber, nicht die ehemaligen
Poltergeräusche meiner rasenden Ex-Waschmaschine, weil
die neue tadellos leise lief; dies hier waren
rhythmische, dumpfe Geräusche, die ich wahrscheinlich
eine ganze Weile lang nicht gehört hatte, weil ich in
ein Buch vertieft war, und damals glaubte ich noch an
Sprache, obwohl sich damals ihre Halbwertszeit rasant
zu verkürzen begann, trotzdem glaubte ich noch eine
ganze Weile daran. Natürlich wußte ich, daß die Welten
in Romanen nicht wirklich waren, und dennoch bin ich
oft so in einer dieser Welten versunken gewesen, daß
ich nichts um mich herum wahrgenommen oder gehört habe,
da konnte neben mir ein Preßlufthammer dröhnen oder die
Waschmaschine im Schleudergang rattern. (Birgit
Vanderbeke: Das läßt sich ändern, S. 51)
Ich hatte Adam bis dahin überhaupt noch nie zornig
gesehen und gar nicht gewußt, daß er zornig werden
konnte. Es war nicht der launische Jähzorn, den ich von
meinem Vater kannte und der jeden erwischen konnte, der
ihm in dem Zustand in die Quere kam, egal, ob in der
Firma oder zu Hause, dieser Jähzorn, der mit dem
Brilleputzen begann, wer denkt ihr eigentlich, daß ihr
seit, und damit endete, daß man sein Wunder erlebte und
danach nicht mehr wußte, wer man war. (Birgit
Vanderbeke: Das läßt sich ändern, S. 57)
Oder haben Sie keinen Gewerbeschein? - Herr Özyilmaz
war durch die schroffe Abfuhr in seiner Ehre getroffen,
erzählte Adam später, er hatte sichtbar Lust, gekränkt
den Rückzug anzutreten, aber dann, so Adam, ging er in
die Offensive. Deutschland immer Papiere, sagte er
verächtlich und gab damit zu verstehen, daß er es eines
freien Mannes für unwürdig hielt, von einer
lächerlichen Obrigkeit eines unkultivierten Landes mit
einer Lappalie wie Papieren behelligt zu werden, aber
da man in diesem zivilisationsfernen Staat offenbar
keinen Begriff von der Freiheit eines Mannes hat und
daher nicht satisfaktionsfähig ist, hat Herr Özyilmaz
sich selbstverständlich dazu herbeigelassen, einen
Gewerbeschein zu beantragen. (Birgit Vanderbeke: Das
läßt sich ändern, S. 94)
Ist es nicht erstaunlich, daß sie unter Umständen, in
denen ihr Leben jede Sekunde auf dem Spiel steht,
daß sie in dieser Stunde der Wahrheit, die sie läutern
und nur das Erhabene in ihnen zurücklassen sollte,
diese Gier zeigen, Geschäfte zu machen und Geld zu
horten? Nicht das Erhabene verstärkt sich angesichts
des Todes, sondern das Schmutzige und Verwerfliche,
Gewinnstreben und Raffgier, denkte Teotonio. Die
Vorstellung, die er sich vom Menschen gemacht hat,
ist in diesen Wochen brutal befleckt worden. (Mario
Vargas Llosa: Der Krieg am Ende der Welt, S. 577)
"Sie können das nicht begreifen", sagte der
kurzsichtige Journalist, als klage er den Baron an.
"Sie haben Liebe sicher schon mit jungen Jahren
erfahren. Viele Frauen müssen Sie geliebt,
bewundert, sich Ihnen hingegeben haben. Sicher
konnten sie sich Ihre schöne Gattin unter vielen
anderen schönen Frauen aussuchen, die nur auf Ihre
Zustimmung warteten, um sich in Ihre Arme zu
werfen. Sie können nicht verstehen, was in uns
vorgeht, die wir nicht attraktiv, ansehnlich, vom Glück
begünstigt, reich sind, wie Sie es waren. Sie können
nicht verstehen, was es heißt zu wissen, daß man auf
Frauen abstoßend und lächerlich wirkt, was es heißt,
von der Liebe und der Lust ausgeschlossen zu sein.
Auf Huren angewiesen." Liebe, Lust, dachte der Baron
verstört: zwei beunruhigende Wörter, zwei kleine
Meteore in der Nacht seines Lebens. Er empfand es
als ein Sakrileg, daß diese zwei schönen,
vergessenen Wörter aus dem Mund dieses
lächerlichen Kerls kamen, der mit verflochtenen
Beinen wie ein Reiher auf seinem Sessel hockte. War
es nicht komisch, grotesk, daß so eine Feld-, Wald-
und Wiesenmischung aus dem Sertao einen trotz
allem gebildeten Mann veranlassen konnte, von Lust
und Liebe zu sprechen? Verlangten diese zwei Wörter
nicht nach Luxus, Raffinement, Sensibilität, Eleganz,
nach den Riten und der Kennerschaft einer an Büchern
trainierten Phantasie, nach Reisen und Bildung?
(Mario Vargas Llosa: Der Krieg am Ende der Welt, S.
643)
Ich hatte ihm gerade in einem Anfall von Vertrauengsseligkeit
erzählt, wenn auch ohne Einzelheiten oder Namen, daß ich seit vielen
Jahren in eine Frau verliebt war, die wie ein Irrlicht in meinem
Leben auftauchte und verschwand, es für kurze Zeit vor Glück glühen
ließ, um es dann ausgebrannt, leer und immun gegen jede andere
Leidenschaft oder Liebe zurückzulassen. "Es ist ein Fehler, sich zu
verlieben", erklärte Salomon Toledano sentenziös und in bester
Übereinstimmung mit meinem verstorbenen Freund Juan Barreto, der
diese Einstellung teilte, wenn auch ohne die verschrobene
Ausdrucksweise meines Kollegen. "Man muß die Frau an den Haaren
packen, sie niederzwingen, und ab mit ihr ins Bett. Und sie
blitzschnell sämtliche Sterne am Firmament sehen lassen. Das ist die
richtige Theorie. Ich kann sie nicht praktizieren, wegen meiner
schwachen Konstitution, helas. Einmal habe ich bei meinem wilden
Weib versucht, den Macho zu mimen, und sie hat mir eine saftige
Ohrfeige verabreicht. Deshalb behandle ich die Damen, vor allem die
Huren, trotz meiner These wie Königinnen." (Mario Vargas Llosa: Das
böse Mädchen)
Man sah ihre Knie, rund und blank, und die schlanken Beine. Sie war
schmaler, als ich sie in Erinnerung hatte, und in ihren Augen lag
ein Anflug von Müdigkeit. Doch kein Mensch auf der Welt hätte
geglaubt, daß sie schon älter als vierzig war. Sie sah blühend und
schön aus. Aus der Entfernung hätte man sie für eine dieser zarten,
kleinen Japanerinnen halten können, die still auf den Straßen
dahinschwebten. (Mario Vargas Llosa: Das böse Mädchen)
"So sind nun einmal die Leute aus Lyon, calvinistisch
verklemmt, mit einem Schlag ins Theosophische! Sie sitzen
abends bei heruntergelassenen Läden in ihrer guten Stube,
lesen sich gegenseitig die übergeschnappten Traktate von
Swedenborg vor und bekommen dabei Lichterscheinungen
aus der Geisterwelt. Die Fenster halten sie fest verschlossen,
starren die vier Wände an und rücken vor dem Zubettgehen
mit den Stühlen - in der Hoffnung, ein Engel käme aus dem
neuen Jerusalem und brächte ihnen die Botschaft vom nahen
Paradies." (Vercors: Das Schweigen des Meeres, S. 76)
Du mochtest den Kerl - Mit seinem Bart und seinem Bauch wie
ein überdimensionaler Gartenzwerg. Vielleicht kein Muster an
pädagogischer Expertise, aber so tief verwurzelt im Glauben, daß die
Erfüllung seiner religiösen Pflichten ihm ein innerer Zwang war.
Ein Mann, in diesem Tränental nur auf Durchreise zum Himmel, der
geistig und körperlich litt, wenn er auch nur eine Sekunde lang
nicht an andere dachte. Zunächst hatte er geglaubt, diese Berufung
mit einer Ausbildung zum Priester erfüllen zu müssen, bis seine
Libido gegen das Zölibat rebellierte, er sich verliebte und Vater
wurde. (Dimitri Verhulst: Die Unerwünschten)
Gwendoline Cools, das dreimonatige Baby, Gewicht fünf Kilo und ein
paar zerquetschte, würde das Hotel in einem Leichensack von der
Größe eines Netzes Kartoffeln verlassen. Ihre Mutter hatte sie
erstickt, mit einem Kissen, auf das sie sich mit vollem Gewicht
setzte, während der Fernseher lief. (...) Am Samstag würde Dominique
Cools, der Sohn, sieben denkwürdige Winter zählend, mit einige
Stunden alten Leichenflecken aus demselben Hotelzimmer getragen
werden. Erstochen mit einer Schere, die ihm der Vater in den Rücken
gerammt hatte, während der Junge auf dem Geborgenheit versprechenden
Bauch seiner Mutter lag, die Hände in ihre Unterarme und
Hinterbacken gekrallt und immer weiter gekrallt, bis er nicht mehr
konnte. (...) Sarah: Wenn man so drüber nachdenkt, Bolleke,
hat das Ganze doch eine gewisse Logik. Schau, ich hab Nähen und
Zuschneiden gelernt, und du hast bis achtzehn eine Lehre als
Metallbauer gemacht. Da braucht sich doch niemand zu wundern,
daß wir unseren Dominique mit einer Schere aus Eisen umgebracht
haben? Unser beider Leben kam in der einen Schere zusammen. Wie
die zwei Klingen. Stefaan: Stimmt, ein bißchen so wie bei
Jesus, der wurde an ein Holzkreuz genagelt. Und das bei'nem
Zimmermannssohn! (Dimitri Verhulst: Die Unerwünschten)
Damals hörte ich zum ersten Mal von der Existenz eines
drängenden Verlangens, das manche Menschen überkommt
und Selbstmord heißt. Und ich erinnere mich noch daran,
wie sehr es mich berührte, daß man diesem Verlangen
allein, geschützt vor allen Blicken, im Schatten und in
aller Stille nachgibt. Ich erinnere mich an das
Schweigen zwischen Horacio und mir an jenem Tag, als
dächten wir an die Menschen, die, vor allen Blicken
geschützt, dem einsamen Verlangen nachgegeben und so
die einzig mögliche Fülle erlebt hatten, die Erfüllung
im Selbstmord. Und ich weiß auch noch, daß der Schulhof
so verlassen dalag wie eine viereckige Ewigkeit.
(Enrique Vila-Matas: Vorbildliche Selbstmorde, S. 19)
"In der Calle Rendel", sagte sie, "in der Buchhandlung,
die nach der Straße benannt ist, arbeitet ein
klapperdürrer Angestellter, der ein Ohrfeigengesicht
und den Namen von einem Gebäckstück hat. Er heißt Hans
Hörnchen und könnte der Mann sein, den du suchst." (..)
Da sah ich, daß Hörnchens linke Gesichtshälfte
merkwürdigerweise die gleichen Züge aufwies wie mein
Profil, als ich noch dünn war und ein Star. Von links
erinnerte sein Profil an das eine liebstollen Reihers,
und damit konnte er selbst einen todernsten Menschen
noch zum Lachen bringen. Der nichtsahnende Hörnchen
besaß das Kernstück meiner verlorenen Komik, das
Geheimnis meines früheren Erfolges, eine regelrechte
Goldgrube. (Enrique Vila-Matas: Vorbildliche
Selbstmorde, S. 33f)
Um sie herum entfalteten sich Luft und Farben des
Mittags, frisch, anregend, neu, während sie sich
bemühte, jene sittliche Leidenschaft auf ihre
Hausfrauenarbeit zu übertragen, die, auch
uneingestanden, das Herz so vieler Frauen entflammt,
sobald sie einmal erfahren haben, mit welch heimlicher
Süße und wilder Entschlossenheit man die
abgeschmackteste Alltagsarbeit verrichten kann, denn im
Grunde - dachte Rosa Schwarzer - gibt es nichts, was
der tiefen Befriedigung beim Anblick eines dampfenden
Gerichts, mit bewunderswerter Pünktlichkeit serviert,
auch nur annähernd nahe käme. (Enrique Vila-Matas:
Vorbildliche Selbstmorde, S. 50)
Er (...) warnte mich, daß es in Toronto keine Kaffeehäuser gebe
und ich mir möglichst schnell eine Freundin zulegen solle, denn
Prostituierte seien teuer. (...) "Die Einheimischen sind Menschen
wie alle anderen auch, aber das zeigen sie erst, wenn sie
betrunken sind. Dann kippen sie dir im Taxi um und rutschen dir
von der Sitzbank, oder sie kommen auf die schlaue Idee, dich
auszurauben. Manchmal wünsche ich mir, ich wäre Kutscher in Wien
in den Tagen des alten Franz Joseph." Dann folgte eine kurze
Pause zu Ehren des untergegangenen österreichisch-ungarischen
Kaiserreichs, an das wir uns beide unmöglich erinnern konnten.
"Bei den Kanadiern steht das Geld an erster Stelle, was ja auch
in Ordnung ist", fuhr er fort. "Dann kommt der Fusel, dann das
Fernsehen und Eishockey und dann das Essen. Sex steht auf der
Liste ziemlich weit unten. Wo unsereiner die Hand nach einem
Mädchen ausstreckt, greift der Kanadier zum nächsten Drink. Hier
wimmelt es von fetten Männern und unglücklichen Frauen."
(Stephen Vizinczey: Wie ich lernte, die Frauen zu lieben)
Er gibt einen Aspekt, den man selten beachtet: die
Menschenferne der Ornithologie und daß man diese
Menschenferne von Zeit zu Zeit braucht. Meine Frau
sagt: Du solltest von Vögeln schreiben. Menschen
sind dir egal. Du kannst die Menschen nicht
behandeln wie einen Vogelschwarm. Andere, sage
ich, behandeln Menschen wie Insekten. Ich liebe die
Vögel wenigstens. (Walter Vogt: Altern, S. 58)
Es grenzt ans Wunderbare, wie man so ein Haus bewohnt.
Ständig ist man dran, Spuren zu verwischen, nach dem
Backen, dem Duschen, dem Essen - ich dilettantisch,
meine Frau nach einem ausgeklügelten, effizienten
System. Ich möchte bloß wissen, was die Spurensicherung
der Kriminalpolizei überhaupt je findet in einer
gutbürgerlichen Schweizer Haushaltung, mit einem
gesundschweizerischen Putzteufel an der Macht, an einem
Werktag, vormittags um elf - nach dem
Reinemachen, vor dem Kochen. Nun, vormittags um
elf gibt es selbstverständlich auch keinen Mord. Nicht
in diesem Land. (Walter Vogt: Altern, S. 122)
Mit zehn bekam ich meine Brille. Ich war plötzlich kein
kriegerisches Kind mehr. Indianerspiele waren mir
vergällt. Bei den kleinen Höhlenabenteuern
verschmutzten Lehmklümpchen die Brillengläser, nahmen
mir die Sicht. Immerzu fiel ich hin, die Brille ging in
Brüche. Beim Ballspiel wurde sie mir von der Nase
geschlagen. Beugte ich mich über irgend etwas, um es
endlich zu sehen, fiel die Brille zu Boden,
zerbrach. Beim Skilaufen beschlugen sich die Gläser
schon beim Aufstieg. Bei der Abfahrt setzten Schnee und
Eis sich auf den Gläsern fest; ich wurde blind,
stürzte, fuhr in einem Baum. War es kalt genug, ließ
die Brille sich nicht mehr enteisen. Schien hingegen
die Hochgebirgssonne, mußte eine Schutzbrille über den
Gläsern getragen werden; leicht einzusehen, daß sich
zwischen den beiden Augenprothesen eine feuchte Kammer
bildete; wieder beschlugen sich die Gläser, wieder sah
ich nichts, mußte ich die Brille abnehmen; ich habe
diese plötzlich überhellen, strahlenden, verschwommenen
Hochgebirgslandschaften mit ihren flauen Konturen
hassen gelernt. Sah die Gemsen nicht, fiel, die Brille
in der Hand, in den Pflotsch. Ich begann die Brille
auszunutzen, im Turnunterricht zum Beispiel; endlich
wurde mir die träge Vorsicht des Kurzsichtigen zur
zweiten, wahren Natur. Ein lesendes Kind; Gymnasiast,
Student. Mediziner, aber auf keinen Fall Chirurg:
Hinter den Operationsmasken beschlugen die Gläser sich
sofort. Die Brille drohte in aufgeschnittener Bäuche
und Brustkästen zu fallen usw. usf. Ein Hörer von
Musik. Ein schlechter Anatom, weil mir das
dreidimensionale Sehen schwerfiel. Endlich Träger
zweier kursichtiger Berufe, Schriftsteller, Nervenarzt.
(Walter Vogt: Altern, S. 81)
Beatrice hatte ein Gesicht - noch dazu ein
interessantes. Man konnte sagen, daß sie aussah wie
ein indianischer Krieger mit Überbiß. Aber jeder, der
das gesagt hätte, hätte schnell hinzufügen müssen,
daß sie unglaublich schön aussah. Ihr Gesicht war -
wie das Gesicht von Malachi Constant - für ihren
Typus einmalig, eine Variation zu einem vertrauten
Thema, eine Variation, die im Betrachter den Gedanken
weckte: Doch, es wäöre eigentlich auch sehr schön,
wenn Menschen so aussähen. Beatrice hatte in
Wirklichkeit nur das mit ihrem Gesicht getan, was
jedes nicht sehr hübsches Mädchen tun könnte. Sie
hatte es mit Würde, Leiden, Intelligenz und einem
pikanten Spritzer weiblicher Bosheit beschichtet.
(Kurt Vonnegut: Die Sirenen des Titan, S. 39)
"In diesem Jahrhundert hat es drei große Figuren
gegeben: Dolores Ibarruri, Manolete und Josef Stalin",
verkündete der Fahrer, entschlossen, uns mit einer
detaillierten Hagiographie des illustren Genossen zu
beglücken. Ich saß bequem auf dem Rücksitz, ohne
mich an dem Gespräch zu beteiligen, und genoß
durchs offene Fenster die frische Luft. Fermin,
begeistert von der Spazierfahrt im Studebaker,
animierte den Fahrer mit gezielten Fragen. "Nun, ich
habe gehört, seit der einen Mispelkern verschluckt
hat, leidet er gräßlich an der Prostata und kann jetzt
nur noch urinieren, wenn man ihm die Internationale
vorsingt", warf Fermin hin. "Faschistische
Propaganda", entgegnete der Fahrer. "Der Genosse
pißt wie ein Stier. Mit so'ner Wassermenge kann
selbst die Wolga nicht aufwarten." (Carlos Ruiz
Zafon: Der Schatten des Windes, S. 235)
Sie war eine fleißige Messegängerin und verehrte die
Jungfrau von Lourdes abgöttisch. Täglich hörte sie in
der Kirche Santa Maria del Mar den Acht-Uhr-
Gottesdienst, und dreimal pro Woche ging sie
beichten. Barcelo, der sich als Agnostiker
bezeichnete, war der Meinung, es sei mathematisch
unmöglich, daß das Dienstmädchen genügend sündigen
könne, um einen solchen Beichtrhythmus zu
rechtfertigen. "Du bist doch ein herzensguter Mensch,
Bernarda", sagte er ärgerlich. "Leute, die überall
Sünden sehen, haben eine kranke Seele und, wenn
ich noch deutlicher werden soll, kranke Därme. Der
Grundzustand des spanischen Frömmigkeit ist
chronische Verstopfung." (Carlos Ruiz Zafon: Der
Schatten des Windes, S. 54)
"Deine Mutter ist nicht allein, Daniel. Sie ist bei Gott.
Und bei uns, auch wenn wir sie nicht sehen können."
Genau diese Theorie hatte mir in der Schule auch
Pater Vincente dargelegt, ein altgedienter Jesuit, der
sich ein Bein ausriß, um uns aus dem
Matthäusevangelium vom Grammophon bis zu den
Zahnschmerzen sämtliche Geheimnisse des
Universums zu erklären. Aber aus dem Mund meines
Vaters klang es, als glaubten daran nicht einmal die
Steine. (Carlos Ruiz Zafon: Der Schatten des Windes,
S. 42)
Senor Molins hatte bessere Zeiten gesehen und
schmorte jetzt in seinem schmierigen, in einem
Hochparterre der Calle Floridablanca versteckten Büro
vor sich hin. Er war ein heiterer, zufriedener
Zeitgenosse, der an einer halb aufgerauchten Zigarre
hing, welche seinem Schnurrbart zu entwachsen
schien. Es ließ sich schwer sagen, ob er schlief oder
wach war, sein Atem klang wie ein Schnarchen. Er
hatte fettige, auf die Stirn geklatschte Haare und
einen durchtriebenen Schweineblick. Sein Anzug hätte
ihm auf dem Trödelmarkt Los Encantes keine zehn
Peseten eingebracht, aber er kompensierte ihn mit
einer Krawatte in schreienden Farben. Nach dem
Aussehen des Büros zu schließen, wurden hier
bestenfalls Spitzmäuse und Katakombem eines
Barcelona vor der Restauration verwaltet. (Carlos Ruiz
Zafon: Der Schatten des Windes, S. 151)
... füllten Don Gustavo Barcelo und die Bernarda den
armen Priester vor der Feier nach Fermins genauen
Anweisungen mit Muskatteller, damit er schön locker
würde. Als der entscheidende Moment gekommen
war, hielt Pater Fernando, auf dessen vorteilhaft
rosigem Gesicht ein seliges Lächeln leuchtete, in
einem Aufschwung protokollarischer Zügellosigkeit
dafür, die Lektüre eines der beiden Korintherbriefe
durch ein Liebesgedicht zu ersetzen, Sonett eines
gewissen Pablo Neruda, den einige der von Senor
Aguilar Geladenen als Kommunisten und
Kulturbolschewiken identifizierten, während andere im
Meßbuch nach diesen ungewöhnlich schönen
heidnischen Versen blätterten und sich fragten, ob
sich schon die ersten Auswirkungen des künftigen
Konzils abzuzeichnen begännen. (Carlos Ruiz Zafon:
Der Schatten des Windes, S. 551)
Antoni Fortuny, den alle den Hutmacher nannten,
hatte Sophie Carax 1899 vor den Stufen der
Kathedrale von Barcelona kennengelernt. Eben hatte
er dem heiligen Eustachius ein Gelübde abgelegt, der
im Rufe stand, von allen Heiligen mit eigener Kapelle
der flinkste und am wenigsten zimperliche zu sein,
wenn es darum ging, Liebeswunder zu wirken. Antoni
Fortuny, schon über dreißig und des
Junggesellendaseins müde, wollte eine Gattin, und er
wollte sie gleich. (Carlos Ruiz Zafon: Der Schatten
des Windes, S. 154)
Trotz seines Bemühens empfand er den kleinen Julian
nicht als Kind seines Blutes, noch erkannte er sich in
ihm wieder. Den Kleinen seinerseits schienen weder
Hüte noch die Lehren des Katechismus allzusehr zu
interessieren. Zu Weihnachten vergnügte er sich
damit, die Krippenfiguren neu zusammenzustellen
und Verwicklungen zu ersinnen, in denen das
Jesuskind von den Heiligen Drei Königen zu
schlüpfrigen Zwecken entführt wurde. (Carlos Ruiz
Zafon: Der Schatten des Windes, S. 157)
In jener Zeit glaubte Antoni Fortuny noch, die
Geistesschwäche des Jungen sei zum Teil auf seine
Kost zurückzuführen, die zu sehr von den Gebräuchen
der französischen Küche seiner Mutter bestimmt war.
Bekanntlich zog ein Übermaß an Butter den
moralischen Ruin und die Betäubung des Verstandes
nach sich. Er verbot Sophie auf immer und ewig, mit
Butter zu kochen. Das Ergebnis war nicht unbedingt
das erhoffte. (Carlos Ruiz Zafon: Der Schatten des
Windes, S. 158)
Pater Fernandos Zusammenfassung seiner
Erinnerungen hatte einen gewissen Predigtton. Mit
meisterhafter Knappheit konstruierte er seine
stilreinen Sätze und erfüllte sie mit einem Rhythmus,
der gleichsam als Zugabe eine unausgesprochene
Moral einzuschließen schien. In jahrelangem
Lehrerdasein hatte er sich diesen bestimmten,
didaktischen Ton eines Mannes erworben, der es
gewohnt ist, daß man ihn vernimmt, der sich aber
fragt, ob man ihm auch zuhört. (Carlos Ruiz Zafon:
Der Schatten des Windes, S. 240)
Senor Valls war zwar überzeugt, daß Frauen unfähig
waren, etwas anderes als Strümpfe und gehäkelte
Decken zu schaffen, sah aber mit Wohlwollen, daß
seine Tochter zu einer kundigen Klavierspielerin
heranwuchs, denn er hatte Pläne, sie mit irgendeinem
Erben eines guten Namens zu verheiraten, und
wußte, daß distinguierte Leute an heiratsfähigen
jungen Mädchen irgendeine hübsche Begabung
schätzten - neben der Folgsamkeit und der üppigen
Fruchtbarkeit einer blühenden Jugend. (Carlos Ruiz
Zafon: Der Schatten des Windes, S. 444)
Später, nachdem sie die Kinder ins Bett gebracht
hatte, führte sie Guevara auf eine geziert beiläufige
Weise ihren Körper vor; sonnenbankgebräunt,
muskulös baute sie sich zwischen ihm und dem
Fernseher auf, in einem ihrer knappen Sportbodys
oder nur in einem Slip und einem ärmellosen Shirt,
mit verschränkten Armen, so daß er die prallen
Bizepse bewundern konnte, und er kam sich unförmig,
schwabbelig, weiß und dick vor, und sie rief: Es ist
schon spät, mein Wölfchen; und dann gingen sie in
das dunkle Zimmer, und er lag auf ihr, und sie sagte,
komm schon, und er drückte ihr in stummer Wut über
die Sache, in die er da hineingeraten war, die Beine
auseinander, und sie hielt diese Wut für
Leidenschaft, während er, wie der Kolben eines
Motors, in ihr vor- und zurückstieß. Sie verlangte nach
dem 'ultimativen Fick', von dem sie in einer Zeitschrift
gelesen hatte, er beobachtete seine Bierkugel, die
auf ihrem Waschbrettbauch hin und her schrubbte,
sah den Farbunterschied, als ob er es mit einer
Schwarzen trieb, ihr Gesicht, das unter der
künstlichen Sonne früh gealtert war, die Schwielen an
ihren Händen, DAS IST VON DEN GEWICHTEN,
LIEBLING. Dann, nach einer sehr langen Zeit, schloß
er die Augen und dachte an nichts, und sie schrie: Mir
kommt's, und ihm kam es dadurch auch irgendwie, er
spritzte leutselig ab und rollte sich auf die Seite, die
Arme an den Körper gepreßt, schnaufend wie ein in
die Jahre gekommener See-Elefant. (Norbert
Zähringer: So, S. 198f.)
Er sprach davon, daß dieses Staatskrankenhaus ein Reich
der Trennvorhänge und kleinen Kammern wäre, man würde die
besondere Affinität der Krankenschwestern zu
gutausehenden Ärzten aus den Groschenheften kennen, hier
aber herrschen die Gesetze der Realität, hier würden dicke,
mit Keulenwaden watschelnde Krankenschwestern buckligen
und verwarzten Ärzten verfallen... (Feridun Zaimoglu: Liebesbrand, S. 34)
Er hatte sich mit einer Schwester wegen eines Zusatzkissens
gestritten, läppisch, sagte er, das Läppische wird uns allen
zum Verhängnis, ich werde irgendwann auf einer Murmel
ausrutschen, mit dem Kopf unglücklich aufschlagen und sofort
sterben, meine Blutlache wird die Pfütze sein, in der die
verdammten Tauben baden werden. (Feridun Zaimoglu:
Liebesbrand, S. 52)
Ich starrte auf die kitschige Festtagskarte, mein Cousin lud
zum Beschneidungsfest seines erstgeborenen Sohnes ein -
war ihm da etwa ein Irrtum unterlaufen? Er sah in mir einen
Davongelaufenen, und er machte keinen Hehl aus seiner
Abneigung gegen Abtrünnige, die sich der Folklore
verschließen. Ein einziges Mal hatte er mir, unter vier Augen,
versichert, daß ihm allein bei meinem Anblick übel werde, er
hielt viel auf sein Temperament, also sagte ich ihm, er sollte
sich doch bitte in einem Folkloreverein austoben, dort hätte er
viele Trottel um sich, die auch an Stammesehre glaubten.
Seine Frau ging damals dazwischen, sonst hätte er mich
windelweich geprügelt. (Feridun Zaimoglu: Liebesbrand, S.
116)
Er war schon ein Kuriosum, der Cousin, er war eine
sprechende Wachsfigur. Seinen Sohn erzog er streng, denn
er war von dem Glauben nicht abzubringen, daß Gott ihm ein
Wunderkind geschenkt hatte, sein Sohn nahm also Klavier-
und Klarinettenunterricht, und es war ihm strengstens
untersagt, mit anderen Türkenkindern Freundschaft zu
schließen. Ein Wunderkind in Deutschland mußte spätestens
mit zehn Jahren so gut Deutsch sprechen wie ein Germanist.
(Feridun Zaimoglu: Liebesbrand, S. 121)
Er sah furchteinflößend aus, es gab
Männer, die großtaten, aber nichts
weiter waren als Attrappen eines Messerhelden,
und dann gab es Männer wie diesen
Autohändler, der nie in die Leere austeilte,
er hatte sich im Laufe der Jahre jede Regung
der Schwäche aus dem Leib gedrillt, denn er
glaubte, daß der Quell der Miseren die
Schwäche wäre. Sein kahlgeschorener
Schädel wurde vom Neon der Lichtleiste
beflackert, hinter ihm steckte die geneigte
Stange einer Südstaatenfahne im Metallsockel -
der Händler war hart, er ging einem
Gelderwerb nach, der rabiate Auftritte erforderlich
machte. Eine Handspanne über seinem Kopf
hing ein Schild an der Wand mit der Aufschrift:
Geld sorgt für eine große Reichweite.
(Feridun Zaimoglu: Liebesbrand, S. 153)
Susi, die junge, kecke Verlagsassistentin, taucht jetzt
vor dem Verlagseingang auf. Sie zeigt sich hier immer
zu festen Uhrzeiten, sommers wie winters, um eine
Zigarette zu rauchen. In der warmen Jahreszeit bleibt
sie länger draußen, lehnt sich an die Mauer, sonnt
den schmalen Hausausschnitt zwischen Topsaum und
Hosenbund und läßt ihren gepiercten Bauchnabel
glitzern. Vielleicht will sie mich auch nur provozieren,
denn ein wirkliches Interesse an meiner Person habe
ich bei ihr nie ausmachen können. Jedenfalls sind
meine lyrisch verbrämten Komplimente, die ich ihr bei
zufälligen Begegnungen mache, nie mit einem
Lächeln quittiert worden. Ich frage mich manchmal,
ob mich nicht nur die Jahre von solchen jungen Frauen
trennen, sondern eher meine Ignoranz, was deren
Slang, ihre Codes, ihre Alltagssprache betrifft, auch
meine Unkenntnis im Zusammenhang mit ihrer
Unterwäsche, die diese mir so fremden Wesen heute
tragen. Meine diesbezügliche Einbildungskraft
erstickt, wenn ich diese Frauen in der Straßen- oder
U-Bahn beobachte, wie sie zwischen zwei Schlucken
aus der Petflasche ihren Daumen über das Handy
wandern lassen. Und ich frage mich, welch
rudimentären, banalen SMS-Botschaften sie wohl in
der Welt herumschicken. Immer dasselbe "Ich liebe
dich "? Oder ist dieser eherne Satz etwa auch schon
längst aus der Mode gekommen? (Peter Zeindler: Der
Schreibtisch am Fenster, S. 148)
In späteren Jahren, als ich schon nicht mehr bei
meinem Eltern wohnte, nahm ihre Abneigung, andere
Leute zu besuchen, ziemlich makabre Formen an: sie
gingen eigentlich nur noch zu Begräbnissen. War
vielleicht auch oft noch die Rede davon gewesen,
einen lieben Freund oder Bekannten zu besuchen, so
wurde der Besuch aus Faulheit und
Unentschlossenheit so lange aufgeschoben, bis der
Betreffende gestorben war. War er aber einmal tot,
dann gingen meine Eltern hin, denn dann war es eine
Sache der Manieren. Zu Beerdigungen zu gehen, das
gehörte sich eben, das war das "Richtige"; daß der
solcherart mit einem Besuch Geehrte eigentlich mehr
davon gehabt hätte, wenn man ihn zu Lebzeiten
besucht haben würde, war dabei Nebensache. (Fritz
Zorn: Mars, S. 52)
Der Hippie-Slogan "Make love, not war" klingt in
bürgerlichen Ohren heutzutage noch obzön. Es
bestreitet zwar niemand, daß der Krieg eigentlich
etwas Negatives, wenn auch - leider Notwendiges ist;
warum er eigentlich so unbedingt notwendig ist, weiß
man allerdings meist nicht. Ebenso wenig mag man
klar ausdrücken, daß die Liebe etwas Schlechtes sei.
Aber so weit zu gehen, daß man geradeheraus sagt,
daß die Liebe nicht nur gut, sondern sogar noch
besser als der Krieg ist, das ist eine Wahrheit, der
die bürgerliche Gesellschaft noch nicht gewachsen ist;
das klingt immer noch obzön. Man ist schließlich kein
Liebender, sondern Soldat; und schon gar als
Schweizer! Als typisches Beispiel für diese Haltung
kann mann das Abbild der Welt im Kino erwähnen:
Sexfilme werden auch heute noch verboten oder
zumindest verfemt und zensiert; aber ein Film über
Krieg, Mord und Gewalt braucht keine Zensur zu
fürchten. (Fritz Zorn: Mars, S. 79)
Daß die Ruzena Sedlak, allbekannt im weitesten
Umkreis unter dem Namen "Der Totenkopf", daß
dieses häßliche Gebilde mit einem Kinde
niedergekommen sei, diese erst unglaubliche,
unglaubwürdige Nachricht erweckte im Herbst des
Jahres 1899 ausgiebigste Heiterkeit in der kleinen
südböhmischen Stadt Dobitzan. Oft schon hatte ihre
erschreckende, ja geradezu verstörende Häßlichkeit
Anlaß zu mehr mitleidiger als boshafter Heiterkeit
gebenen, aber dies hätte selbst der verwegenste
Spaßmacher nicht zu erwarten gewagt, daß ein so
schundriger und schmieriger Topf noch einmal seinen
Deckel finden würde. (...) Am Stammtisch stießen
sich die biedern Trinker hämisch in die Seite, einer
verdächtigt den andern prustend dieser
unappetitlichen Urheberschaft, und der medizinisch
geeichte Apotheker schilderte die vermutliche
Liebsszene in so realistischen Farben, daß noch
einige Schnäpse zur Erholung verbraucht werden
mußten. (Stefan Zweig: Buchmendel. Erzählungen, S.
123)
In jenem November 1913 muß irgend ein Erlaß aus
einer Kanzlei in die andere hinübergerutscht sein,
denn surr - auf einmal war unsere Eskadron aus
Jaroslau in eine andere kleine Garnison an der
ungarischen Grenze versetzt worden. Es ist
gleichgültig, ob ich das Städtchen beim richtigen
Namen nenne oder nicht, denn zwei Uniformknöpfe
am selben Rock können einander nicht ähnlicher sein
als eine österreichische Provinzgarnison der andern.
Da und dort dieselben ärarischen Ubikationen: eine
Kaserne, eine Reitplatz, ein Exerzierplatz, ein
Offizierskasino, dazu drei Hotels, zwei Kaffeehäuser,
eine Konditorei, eine Weinstube, ein schäbiges
Variete mit abgetakelten Soubretten, die sich im
Nebenamt liebevollst zwischen Offizieren und
Einjährigen aufteilen. Überall bedeutet Kommißdienst
dieselbe geschäftig leere Monotonie, Stunde für
Stunde eingeteilt nach dem stahlstarren,
jahrhundertealten Reglement, und auch die Freizeit
sieht nicht viel abwechslungsreicher aus. In der
Offiziersmesse dieselben Kartenpartien und das
gleiche Billard. Manchmal wundert man sich, daß es
dem lieben Gott beliebt, wenigstens einen andere
Himmel und eine andere Landschaft um die sechs-
oder achthundert Dächer eines solchen Städtchens zu
stellen. (Stefan Zweig: Ungeduld des Herzens, S. 16)
In jenem November 1913 muß irgend eine Erlaß aus
einer Kanzlei in die andere hinübergerutscht sein,
denn surr - auf einmal war unsere Eskadron aus
Jaroslau in eine andere kleine Garnison an der
ungarischen Grenze versetzt worden. Es ist
gleichgültig, ob ich das Städtchen beim richtigen
Namen nenne oder nicht, denn zwei Uniformknöpfe
am selben Rock können einander nicht ähnlicher sein
als eine österreichiscdhe Provinzgarnison der
anderen. Da und dort dieselben ärarischen
Ubikationen: eine Kaserne, ein Reitplatz, ein
Exerzierplatz, ein Offizierskasino, dazu drei Hotels,
zwei Kaffeehäuser, eine Konditorei, eine Weinstube,
ein schäbiges Variete mit abgetakelten Soubretten,
die sich im Nebenamt liebevollst zwischen Offizieren
diesselbe geschäftig leere Monotonie, Stunde für
Stunde eingeteilt nach dem stahlstarren,
jahrhundertealten Reglement, und auch die Freizeit
sieht nicht viel abwechslungsreicher aus. In der
Offiziersmesse dieselbe Gesichter, dieselben
Gespräche, im Kaffehaus diesselben Kartenpartien
und das gleiche Billard. Manchmal wundert man sich,
daß es dem lieben Gott beliebt, wenigstens einen
anderen Himmel und eine andere Landschaft um die
sechs- oder achthundert Dächer eines solchen
Städtchen zu stellen. (Stefan Zweig: Ungeduld des
Herzens)
Da geht mit einem Mal die Tür auf, und ein
wehender Glockenrock schwingt mit einem Büschel
frischer Luft ein hübsches Mädel herein: braune,
mandelförmige Augen, dunkler Teint, famos
gekleidet, gar nicht Provinz, und vor allem ein neues
Gesicht in diesem gottsjämmerlichen Einerlei. Leider
schenkt die smarte Nymphe uns respektvoll
Aufstaunenden keinen Blick; scharf und rassig, mit
sportlich festem Schritt quert sie an den neun kleinen
Marmortischchen des Lokals vorbei geradewegs auf
das Verkaufspult zu, um dort gleich en gros ein
ganzes Dutzend Kuchen, Torten und Schnäpse zu
bestellen. Mir fällt sofort auf, wie devotissime sich
der Herm Kuchenbäcker vor ihr verneigt - nie habe ich
die Rückennaht seines Schwalbenrocks so straff
hinabgespannt gesehen. Sogar seine Frau, die üppig-
grobschlächtige Provinzvenus, die sich sonst von allen
Offizieren nachlässigst hofieren läßt (oft bleibt man
ja bis Monatsende allerhand Kleinigkeiten schuldig),
erhebt sich von ihrem Sitz an der Kasse und zergeht
beinahe in pflaumenhafter Höflichkeit.
(Stefan Zweig: Ungeduld des Herzens, S. 17)
Schon zwei Tage später bringt er mir, ganz
aufgeplustert vor Stolz, mit gönnerischer Gebärde
eine gedruckte Karte ins Kaffeehaus, in die meine
Name kalligraphisch eingefügt ist, und diese
Einladungskarte besagt, daß Herr Lajos von
Kekesfalva Herrn Leutnant Anton Hofmiller für
Mittwoch nächster Woche acht Uhr abends zum Diner
bitte. Gott sei Dank, auch unsereiner ist nicht auf der
Brennsuppe hergschwommen und weiß, wie man sich
in solchem Falle benimmt. Gleich Sonntag vormittags
haue ich mich in meine beste Kluft, weiße
Handschuhe und Lackschuhe, unerbittlich rasiert,
einen Tropfen Eau de Cologne in den Schnurrbart, und
fahre hinaus, Antrittsbesuch zu machen. (...) Bei
Kekesfalvas geht es zu wie Hof. Ich habe noch nie so
gut, so nobel, so üppig essen kann. Immer
köstlichere und kostbarere Gerichte schweben auf
unerschöpflichen Schüsseln heran; blaßblaue Fische,
von Lattich gekrönt, mit Hummerscheiben umrahmt,
schwimmen in goldenen Saucen, Kapaune reiten in
blaubrennendem Rum, Eisbomben quellen farbig und
süß auseinander, Früchte, die um die halbe Welt
gereist sein müssen, küssen einander in silbernen
Körben. Es nimmt kein Ende, kein Ende und zum
Schluß noch ein wahrer Regenbogen von Schnäpsen,
grün, rot, weiß, gelb, und spargeldicke Zigarren zu
einem köstlichen Kaffee! (Stefan Zweig: Ungeduld
des Herzens, S. 20/24)
Mein erster Eindruck, als ich diesem Doktor Condor
gegenüberstand, war der einer großen Enttäuschung.
Immer arbeitet ja, wenn uns von einem Menschen,
den wir noch nicht kennen, viel und Interessantes
berichtet wird, unsere visuelle Phantasie sich im
voraus ein Bild aus und verwendet dazu
verschwenderisch ihr kostbarstes, ihr romantischestes
Erinnerungsmaterial. Um mir einen genialen Arzt, als
den Kekesfalva mir Condor doch geschildert hatte,
vorzustellen, hatte ich mich an jene schematischen
Merkmale gehalten, mit Hilfe derer der
Durchschnittsregisseur und Theaterfriseur den Typus
'Arzt' auf die Szene stellt: durchgeistigtes Antlitz,
scharf und durchdringend das Auge, überlegen die
Haltung, blitzend und geistreich das Wort -
rettungslos fallen wir ja immer wieder dem Wahn
anheim, die Natur zeichne besondere Menschen durch
eine besondere Prägung schon für den ersten Blick
aus. (Stefan Zweig: Ungeduld des Herzens, S. 97)
Da erkrankte mein Vater, bis dahin ein starker,
vollkommen gesunder, unermüdlich tätiger Mann,
den ich leidenschaftlich liebte und verehrte. Die
Ärzte diagnostizierten eine Diabetes, Sie kennen
sie wahrscheinlich unter dem Namen Zuckerkrankheit,
eine der grausamsten, der heimtückichsten
Krankheiten, die einen Menschen überfallen kann.
Ohne jeden Anlaß hört der Organismus auf, die
Nährstoffe weiter zu verarbeiten, er führt Fett und
Zucker nicht mehr dem Körper zu, und dadurch verfällt
und verhungert der Kranke eigentlich bei lebendigem
Leibe - ich will Sie nicht mit den Einzelheiten quälen,
sie haben mir selbst drei Jahre meiner Jugend
zerstört. Und nun hören Sie: damals kannte die
sogenannte Wissenschaft nicht die geringste Kur
gegen Diät, jedes Gramm wurde gewogen, jeder
Schluck gemessen, aber die Ärzte wußten - und ich
als Mediziner wußte es natürlich auch -, daß man
damit das Ende nur hinausschob, daß diese zwei, drei
Jahre ein entsetzliches Zugrundegehen, ein elendes
Verhungern inmitten einer Welt bedeuteten, die von
Speisen und Getränken strotzt. Sie können sich
denken, wie ich als Student, als zukünftiger Arzt,
damals von einer Autorität zur andern lief, wie ich
alle Bücher und Spezialwerke studierte. Aber überall
antwortete mir mündlich und schriftlich das mir
seitdem unerträgliche Wort 'unheilbar, unheilbar'. Seit
jenem Tage hasse ich dieses Wort, denn ich habe
wach und untätig mitansehen müssen, wie der
Mensch, den ich auf Erden am meisten liebte, elender
zugrunde ging als irgend ein dumpfes Tier; er starb
drei Monate vor meiner Promotion. Und jetzt hören
Sie gut zu: vor ein paar Tagen in der Medizinischen
Gesellschaft haben wir einen Vortrag von einem
unserer ersten Chemikologen gehört, der uns
informierte, in Amerika und in den Laboratorien
einiger anderer Länder seien Versuche schon ziemlich
weit gediehen, ein Drüsenextraktmittel zu finden; es
sei gewiß´, behauptete er, daß die Diabetes in einem
Jahrzehnt eine 'erledigte' Krankheit sein werde. Nun,
Sie können sich denken, wie mich der Gedanke erregt
hat, daß es schon damals ein paar hundert Gramm
dieser Substanz hätte geben können, und der liebste
Mensch, den ich auf Erden hatte, wäre nicht gequält
worden, wäre nicht gestorben, oder wir hätten
wenigstens hoffen können, ihn zu heilen, zu retten.
(Stefan Zweig: Ungeduld des Herzens, S. 162)
"Medizin hat mit Moral nichts zu tun: jede Krankheit
ist an sich ein anarchischer Akt, eine Revolte gegen
die Natur, deshalb darf man gegen sie alle Mittel
einsetzen, alle. Nein, kein Mitleid mit Kranken - der
Kranke stellt sich selbst hors de la loi, er verletzt die
Ordnung, und um die Ordnung, um ihn selber
wiederherzustellen, muß man, wie bei jeder Revolte,
rücksichtslos zugreifen - was einem gerade in die
Hand kommt, muß man nützen, denn mit der Güte
und der Wahrheit ist noch nie die Menschheit und nie
ein einzelner Mensch geheilt worden. Wenn ein
Schwindel kuriert, so ist er eben kein erbärmlicher
Schwindel mehr, sondern ein erstklassiges
Medikament, und so lange ich in einem Fall nicht
faktisch helfen kann, muß ich eben trachen, bloß
hinüberzuhelfen." (Stefan Zweig: Ungeduld des
Herzens, S. 166)
In dieser Zeit begann er sich ungemein eifrig, mit
einer gewissen Verzweiflung dem Studium hinzugeben. Er
war der erste in den Hörsälen und Laboratorien, der
kam, und der letzte, der ging, er arbeitete mit einer
stumpfen Gier, ohne sich um die Kameraden zu kümmern,
bei denen er bald unbeliebt wurde. Er suchte in dieser
wilden Arbeit seine Sehnsucht nach anderen Dingen
niederzuringen, und es gelang ihm auch. Abends war er
so abgearbeitet, daß er oft kaum mehr Bedürfnis hatte,
mit Schramek sprechen. Ganz blind arbeitete er
vorwärts, ohne jeden Ehrgeiz, nur um sich zu betäuben
und nicht an die vielen Dinge zu denken, auf die er
verzichten mußte. Er begriff, daß ein wunderbares
Geheimnis in diesem Fieber war, mit dem sich viele
Leute über die Nutzlosigkeit und Leere ihres ganzen
Lebens hinwegtäuschten, und hoffte, so auch seinem
Leben einen Sinn aufzwingen zu können, freilich
vergessend, daß die erste Jugend nicht einen Sinn des
Lebens will, sondern das ganze vielfältige Leben
selbst. (Stefan Zweig: Praterfrühling. Erzählungen, S.
105)
Die Gasse, sie war nur Nacht und Himmel, als ich hinaustrat, eine
einzige schwüle Dunkelheit mit verwölktem, unendlich fernem Glanz
von Mond. Gierig trank ich die laue und doch starke Luft, und das
Gefühl des Grauens löste sich in das große Erstaunen vor der
Mannigfaltigkeit der Geschicke, und ich spürte wieder - ein
Gefühl, das mich selig machen kann bis zu Tränen -, daß immer
hinter jeder Fensterscheibe Schicksal wartet, jede Tür sich in
Erlebnis auftut, allgegenwärtig das Mannigfaltige dieser Welt ist
und selbst der schmutzigste Winkel noch so wimmenld von schon
gestaltetem Erleben wie die Verwesung vom eifrigen Glanz der
Käfer. (Stefan Zweig: Der Amokläufer. Erzählungen)
Aus purer Langeweile wollte Pan Stanislaw die gerühmten Vorzüge der
Tochter des ehemaligen Gutsverwalters Kohanim inspizieren. Zu diesem
Zweck bezog er auf der Galerie der Konditorei Elbing so lässig
Stellung wie früher im Offizierskasino. Durch die mystischen
Rauchschwaden seiner Orientzigarette übte er den verhängnisvollen
Blick, der Franziska sogleich beim Betreten des Cafés bannen sollte.
Zur Steigerung der Wirkung schob er sich ein Monokel vors linke Auge
und wartete wie ein Jäger auf dem Anstand, bis sich das vermeintlich
ahnungslose Reh zeigen würde. Als Franziska das Kuchenparadies
betrat, um sich dort wie immer, wenn sie in Schwetz war, eine
Schillerlocke mit viel Buttercreme einzuverleiben, fiel ihr auf der
Empore der dünkelhafte Snob mit der Scherbe vor dem linken
heringsfarbenen Fischauge auf, und sie lächelte. Es war ein halb
spöttisches, halb seliges Mona-Lisa-Lächeln, das Pan Stanislaw aber
seinem an Kammerzofen und Gastwirtstöchtern erprobten Charme
zuschrieb. Na, dem werd’ ich was husten!, dachte sich Fränze
feixend. Für die nächsten vier, fünf Wochen ignorierte sie das
Fischauge derart formvollendet, dass man den Knacks seines
gebrochenen Herzens fast in Zimmerlautstärke hören konnte, sobald
Franziska die Konditorei betrat. (Marcia Zuckermann: Mischpoke!)
Außerdem kam es ihr immer so vor, als hätte der Herrgott die
vollendete Schöpfung von Marthas älterer Schwester Franziska so
erschöpft, dass er für Martha nur noch den Ausschuss der Ahnenreihe
übrig hatte: Martha war klein, pummelig, mit krausem Haar einer
Farbe, die man sonst bei Promenadenmischungen antraf und falb
nannte. Sie hatte die steingrauen Augen von Mindel, die aber bei
Martha enger zusammenstehend mit Silberblick mausig wirkten. In
ihrem Gesicht prangte eine zu große, fleischige Nase über einem zu
kleinen, schmallippigen Mund mit schlechten Zähnen, die immer wie
grau bemoost aussahen. Dazu litt sie ständig an Ausschlägen aller
Art und an Asthma. Unwillkürlich musste man bei Marthas Anblick an
ein zu groß geratenes Huhn denken, insbesondere, seit sie sich das
Haar zur französischen Tolle hochsteckte, die einem Hahnenkamm
glich. Aber das Ärgste an Franziskas jüngerer Schwester war nicht so
sehr die etwas misslungene Gestalt oder ihre gequetschte weinerliche
Stimme, das Allerschlimmste an Martha war ihre Fantasie! Martha log,
dass im Himmel Jahrmarkt war. (Marcia Zuckermann: Mischpoke!)
... musste die Nazifamilie auch alle Möbel stehen lassen, wie
die jüdische Familie davor. Mit anfänglicher Scheu polierte meine
Mutter im Wohnzimmer an den dunklen Nussbaummöbeln herum.
Chippendale! (...) Meine Mutter, die Hausarbeit normalerweise
hasste, wienerte nun mit Hingabe an den Möbeln herum. Es war ihre
Art der Zwiesprache mit den Dingen, um sie sich anzueignen.
Wahrscheinlich war es das einzige Mal, dass sie völlig entspannt und
mit sich und der Welt im Einklang einen Hausputz verrichtet hatte.
Ein absoluter Ausnahmefall. Für gewöhnlich überkam meine Mutter bei
der Hausarbeit eine berserkerhafte Wut, mit der sie die ganze
Familie terrorisierte.
Eine geschiedene Frau und die Kalamitäten, die Oda wegen Reinhold
Hanke durchlitten hatte, waren Vorkommnisse, die Dr. Leopold
Hirschfeld selbst an der äußersten Peripherie seines
Bekanntenkreises nicht dulden wollte. Anfangs hatte Leopold durchaus
nichts dagegen, dass seine Frau Martha ihre Jugendfreundin Oda traf.
Aber nur in seiner Abwesenheit und über den Dienstboteneingang, so
hatte er es angeordnet. Schließlich war Oda von gebürtigem Adel, und
das wog bei Leopold schwer. Odas sozialer Abstieg berechtigte sie
nun nur noch zur Nutzung der Dienstbotenpforte. Nach einer gewissen
Zeit irritierten ihn Odas Ansichten derart, dass er Martha
aufforderte, die Freundin besser nicht mehr im Hause zu empfangen,
weil man schließlich »Rücksichten« zu nehmen hätte. Nach Odas
Scheidung, die er genauso skandalös fand wie die Vergangenheit der
nicht minder berüchtigten Schwägerin Franziska Rubin, geb. Kohanim,
verbot er Martha jeden weiteren Kontakt zu »dieser Person«. »Das ist
keine Bosheit, meine liebe Martha, sondern eine Frage der sozialen
Hygiene«, belehrte er seine Frau, die daraufhin gleich das
Schlafzimmer abdunkelte und in einem dreitägigen Migräneanfall
versank. (Marcia Zuckermann: Mischpoke!)
'Die Welt', spürte er, 'ist gut und schön gemacht, es
lohnt sich, in ihr zu leben, ja, es verlohnt jede Mühe
und Plage, jeden Schmerz und Schlag, vielleicht sogar
am Ende den Tod. Nichts gibt es, was die Treue
dieser Erde erschüttern könnte, wenn man sie einmal
mit allen Kräften geliebt hat. Nichts gibt es, was die
Gnade dieses Himmels trügen könnte, wenn man sie
einmal mit allen Fasern empfangen hat. Der Tod aber
ist ohne Schrecken, wenn man bedenkt, er müsse
genug haben, nachdem er mit allen Waffen des
großen Krieges durch vier wehrlose Jahre hindurch
nichts erreicht hat, als daß man ihm immer wieder um
Haaresbreite entging - und wenn man hofft, sehr alt
zu werden in Kraft, und dann zu sterben, wenn alles
erfüllt und gerundet ist, an einem Tage wie diesem,
wo das Versinken eines Leichnams im grünen See
keinen Bruchteil der Lust und des Jubels der
Schöpfung beschweren könnte.' (Carl Zuckmayer:
Erzählungen, S. 46f.)
Jede Woche einmal erschien Georg Kulp im Atelier
droben und verbrachte einen Abend mit Robert und
seiner Frau, manchmal auch mit Robert allein, und
das waren die Abende, an denen sie, wie sie sagten,
das Lagerfeuer anzündeten und endlose, zähe und
heftige Männergespräche führten. Dann und wann
waren einige Freunde Roberts dabei, die in Heizer,
Oberheizer, Schürer, Bewacher und Beschauer des
Lagerfeuers eingeteilt waren, es wurde dann unter
Einzel- und Gruppengesprächen sehr viel Schnaps
getrunken, und gegen Morgen sangen sie
Soldatenlieder und störten die Bewohner der unteren
Stockwerke aufs empfindlichste. Nikoline ging dann
frühzeitig ins Bett und schlief mit 'Oropax' in den
Ohren, so gut es eben ging. Oft waren alle noch da,
wenn sie und die Kinder morgens aufstanden, und sie
deckte dann einen großen Frühstückstisch und kochte
ungeheure Mengen von Kaffee und Eeiern. Das ganze
Lagerfeuer saß fromm und etwas abgekämpft nach Art
braver Schulknaben um die Frühstückstafel herum.
(Carl Zuckmayer: Erzählungen, S. 85f.)
Das Haus stand im alten Westen und war eines jener
noblen, stillen Gebäude aus der gediegenen reichen
Bürgerzeit. Innen aber war es vor wenigen Jahren
völlig renoviert worden, unter Hinzuziehung der
modernsten Architekten, Maler, Einrichtungskünstler.
Man hatte zwar übertriebene oder einseitige
Stilexperimente vermieden, aber es war in geschickter
Anordnung alles untergebracht, was in der letzten
Zeit als modern oder geschmackvoll galt. Indirektes
Licht, großflächige, helle Wände, glattpolierte
Holzfüllungen, eingebaute Kamine, in denen man
echte Buchenscheite verheizte, zweckhafte Möbel
aus Holz, Glas oder Nickel, nur alle etwas zu groß in
den Dimensionen; wenige Bilder, gut aufgehängt,
hauptsächlich Originale von Slevogt und Kokoschka;
in den Ecken lauerten gotische Madonnen, und der
Wintergarten war von einem berühmten Meister
phantastisch ausgemalt. Kurzum: es war, wie Robert
sich auszudrücken pflegte, zum Kotzen
geschmackvoll, und man konnte sich dem Eindruck
nicht entziehen, daß man bei längerem Aufenthalt in
diesen Räumen der unheilbaren Bleichsucht oder einer
lebenslänglichen Melancholie verfallen müsse. (Carl
Zuckmayer: Erzählungen, S. 104f.)
Frau Lindner war eine scharfkantige Frau mit dicken
Brillengläsern und einem ruchlosen Blick. Sie hatte sich diesen
Blick zugelegt, um jeden Gedanken an Diebstahl in ihrem
Laden im Keim zu ersticken. Sie hütete ihr Geschäft mit einer
soldatesken Haltung, einer unterkühlten Stimme, und selbst
ihr Atem roch nach "Heil Hitler". Der Laden selbst war im
Innern weiß und kalt und völlig blutleer. Das kleine Haus, das
an seine Seite gezwängt dastand, schien vor lauter Strenge
zu erschauern. Frau Lindner selbst verströmte diesen
Eindruck im Übermaß; er war das Einzige, was man in ihrem
Geschäft umsonst bekam. Sie lebte für ihren Laden, und ihr
Laden lebte für das Dritte Reich. (Markus Zusak: Die
Bücherdiebin, S. 57)
Von diesem Moment an begann er, mit größerer
Regelmäßigkeit zu kämpfen. Eine Gruppe von hartgesottenen
Freunden und Feinden traf sich auf einem kleinen Platz in der
Steberstraße, und sie kämpften im ersterbenden Licht des
Tages. Bilderbuchdeutsche, der eine oder andere Jude, die
Jungs aus dem Osten. Es spielte keine Rolle. Es gab nichts
Besseres als eine gute Prügelei, um die jugendliche Energie
auszutreiben. Selbst die Feinschaften waren nur hauchdünn
von einer Freundschaft entfernt. (Markus Zusak: Die
Bücherdiebin, S. 210)
In der Großen Straße bewunderten sie die Pracht der Häuser.
Die Eingangstüren waren poliert, so daß sie glänzten, und die
Dachziegel saßen auf den Gebäuden wie Toupets, die
makellos frisiert waren. Die Wände und Fenster wirkten
manikürt, und es hätte niemanden verwundert, wenn die
Schornsteine vollkommene Rauchkringel ausgeblasen hätten.
(Markus Zusak: Die Bücherdiebin, S. 312)
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