|
Allgemeine Fundstücke / [T-U]
A
B
C
D
E
F
G
H
I
J
K
L
M
N
O
P
Q
R
S
T
U
V
W
X
Y
Z
[^]
Mrs. Barbour stammte aus einer Society-Familie mit einem alten
holländischen Namen und sah so kühl, so blond, so monochrom aus,
dass es manchmal den Eindruck erweckte, man habe einen Teil ihres
Blutes abgelassen. Sie war ein Meisterwerk der Gefasstheit;
nichts brachte sie je durcheinander oder versetzte sie in
Aufregung, und obwohl sie nicht schön war, hatte ihre Ruhe die
magnetische Anziehungskraft der Schönheit – eine Stille, die so
mächtig war, dass die Moleküle sich um sie herum neu ordneten,
sobald sie einen Raum betrat. (Donna Tartt: Der Distelfink)
Schon Goethe sagte, daß die Fünfzig im Leben eines
Mannes ein Datum von besonderer Bedeutung sei. Man
zieht Bilanz, hält Rückschau, blickt auf das Erreichte,
bedenkt das zu Erreichende. Die Periode des Sturm und
Drang ist vorüber, man hat seinen Platz im Leben
gefunden. Fortan ist, wie mein verehrter Lehrer
Sauerbruch zu sagen pflegte, mit kontinuierlicher
Zunahme nur bei einem Organ zu rechnen: der
Vorsteherdrüse. (...) "Die Damenwelt möge mir diesen
kurzen Ausflug in urologische Gefilde verzeihen -
Chirurg, bleibe bei deinem Leistenbruch, wie schon
Hippokrates sagte." Er nickte der Ärztegruppe zu und
tupfte sich mit dem Siegelring wieder die Lippen. "Sie
werden bemerken, verehrte Kollegen, daß ich das Prinzip
Absicherung schon beinahe so weit treibe wie die lieben
Kollegen von der Inneren Medizin." (Uwe Tellkamp: Der
Turm, S. 46)
"Ich erinnere mich zum Beispiel, daß vor zwanzig
Jahren", er runzelte die Stirn und spitzte die Lippen,
"alle Jungens auf einmal Kosmonaut werden wollten,
Gagarin und Wostok und German Titow, ich nicht, ich war
ja schon zu alt, wenngleich meine Frau immer sagt, daß
mir das Training in Baikonur nebst Anchovispaste aus
der Tube", er blickte an sich herunter und breitete in
gespielter Verständnislosigkeit die Arme, "nichts
geschadet hätte, das aber sieht sie, wie ich glaube,
allzu einseitig aus der Perspektive der Diätköchin."
Müllers Frau, die neben Anne saß, warf verlegene Blicke
in die Runde und errötete hinreichend. (Uwe Tellkamp:
Der Turm, S. 46)
Nur Hedwig Kolb, die Lehrerin für Deutsch und
Französisch, schien nichts zu fordern. Nicht nur
deshalb liebten die Schüler der 11/2 sie. Im übrigen
forderte sie doch, aber sie forderte nicht fordernd.
Sie betrat das Klassenzimmer wie eine vergeßliche Elfe,
blieb, noch die Klinke in der Hand, versonnen stehen,
unbekümmert um den Lärm, den die auf ihre Plätze
eilenden Schüler machten, schaute zart und befremdet,
Klassenbuch und Unterrichtsmaterialien hoch unter den
Arm geklemmt, auf eine Helligkeitsfleck auf dem
Fußboden, ein besonntes Traumtellerchen, auf dem sie
vielleicht ein paar Kobolde entdeckt hatte, die ihr die
Zunge herausstreckten; dann besann sie sich, probierte
den Raum bis zum Pult - Christian mußte an eine Gazelle
denken, die von einem ungerührten Zauber auf das Eis
eines Sees versetzt worden war -, legte die Bücher ab
und zog ein Taschentuch mit Häkelsaum hervor, um die
immer ein wenig schnupfende, großflügelige Nase zu
befreien. Dies war kein Schnauben oder Schneuzen, kein
Posaunenstoß wie bei Engelmann, der kein Taschentuch
normaler Dimension, sondern eine rotweiß gewürfelte
Fahne verwendete, die seine Hosentasche zu Apfelgröße
ausbeulte; es war ein sanfter Kehraus bei Hedwig Kolb,
leise und trocken; auf das Taschentuch war eine blaue
Giraffe gestickt, die um Verzeihung zu bitten schien.
(Uwe Tellkamp: Der Turm, S. 339)
Meno empfand tiefe Scham, er wußte nicht, warum, und
Mitleid für seinen Schwager, der ihm immer so stark und
unkompliziert vorgekommen war; die üblichen Trübungen,
die das Leben mit sich brachte, gewiß, aber im Grund
ein sonniges Gemüt, ein praktischer, wenig mit
Grübeleien belasteter Mensch, dessen Wesen zu sagen
schien: Was wollt ihr denn? Man kann auch anders leben,
heiterer, aufgeschlossener für die einfachen Dinge, die
über euch Kopfzerbrecher sowieso schon staunen - was
ihr aus ihnen macht, wie es euch gelingt, auch noch
einen frischen Zug Waldluft mit Komplexen zu behängen.
(Uwe Tellkamp: Der Turm, S. 442)
"Ihr Neffe ist nett, aber ich nehme ihn trotzdem ernst,
das finde ich merkwürdig. Er scheint viel zu wissen.
Vielleicht ein wenig zuviel für sein Alter. Und er übt
eine Anziehung auf Frauen aus. Das scheint er
interessanterweise nicht zu wissen." "Sie brauchen ihm
diesen Floh auch nicht ins Ohr zu setzen", warnte Meno
schroffer, als er gewollt hatte. "Keine Angst",
erwiderte Judith Schevola, "ich glaube nicht, daß er
bedenkenlos und animalisch genug ist, um mit Frauen ins
Bett zu gehen, die doppelt so alt sind wie er und also
seine Mutter sein könnten. Es gibt Männer, die
gewissermaßen immer mit ihrer Mutter ins Bett gehen,
und solche, die das hassen. Er dürfte eher zu dieser
Kategorie gehören." "Junges Gemüse strebt zu jungem
Gemüse!" "Wie taktvoll du bist, Philipp. Mit reiferen
Frauen könnten junge Männer lernen, was Sinnenglück und
Diskretion ist. Die Lust zum Kriegspielen würde ihnen
vergehen." "Du hast eine unangenehme Art, andere
Menschen einzuschätzen", bemerkte Philipp gekränkt,
"oft baust du auf bloßen Äußerlichkeiten auf". "Komm
mir doch nicht mit Tiefe, Genosse Professor. -
Revolutionäre! Kaum kratzt man ein bißchen am Lack,
kommt ein Einfamilienhäuschen zum Vorschein. Und eine
Küche mit Herd und rotweiß gewürfeltem Tischtuch, auf
dem der Gemütlichkeits-Samowar herzwärmende Getränke
zum Kuchen liefert." (Uwe Tellkamp: Der Turm, S. 517f.)
Sie hielt ihren Rock fest und rutschte unbeholfen vom
Wagen, klopfte den Heustaub von den Schultern, wandte
sich Fjodor zu und musterte ihn von der Mütze bis zu
den Filzstiefeln. Wenn man sie vor sich stehen sah,
dachte man unwillkürlich: Donnerwetter, das ist aber
ein Brocken! Sie war nicht groß, Fjodor reichte sie nur
bis zur Schulter, hatte jedoch ein breites, grobes,
männliches Gesicht. Die klobige Derbheit der Züge wurde
durch die kleinen grauen Augen noch hervorgehoben. Ihr
Blick war ernst und prüfend. Sie hatte große Hände, war
breit in den Schultern und gehörte zu denen, die nicht
gut behauen, aber fest gefügt sind. (Wladimir
Tendrjakow: Der Fremde, S. 30)
Da können sich die klugen Leute noch so viel die Köpfe
zerbrechen, wie man das Leben auf Erden besser einrichtet
und alle ein bißchen glücklicher macht - auch mit dem neuen
Glück und dem leichteren Leben werden die Kinder ihre
verstorbenen Eltern beweinen, werden Mädchen Tränen
vergießen, weil dem Liebsten eine andere gefällt, wird es so
unsinnige, plötzliche Todesfälle geben wie diesen. Schlimm
ist, im Unglück allein zu sein. Wenn erst das Alleinsein für
immer aus der Welt verschwindet, wird sich manches Unheil
verhüten lassen, und das unvermeidliche Unglück wird
leichter zu tragen sein. (Wladimir Tendrjakow: Der Schuß)
In einer Zeitung heißt es, daß diese Art Geschichten
Mäuseturmgeschichten sind. Schon seit dem
Mittelalter existiert eine umfangreiche Literatur über
Fälle, in denen Menschen von Ratten und Mäusen
völlig aufgefressen wurden. Früher wurden Menschen
zur Strafe in einen verschlossenen Turm mit Mäusen
und Ratten eingesperrt - den Rest kann man erraten.
Was mir dabei auffällt? Daß einer gräßlichen
Geschichte immer Glauben geschenkt wird.
Offentsichtlich knüpft das an etwas in unserem
Innersten an, das sich heimlich nach so Schrecklichem
sehnt. Wenn Menschen darüber sprechen, sieht man
einen bestimmten Glanz in ihren Augen, der verrät,
wie wunderbar sie es finden, während sie mit dem
Mund fromm beteuern, wie schockiert sie sind.
(Maarten t'Hart: Die schwarzen Vögel, S. 105)
In diesem Herbst kam mein Vater jeden Abend äußerst
zufrieden nach Hause. Sehr bald schon wurde er um die
Hüften ein wenig fülliger, denn seit Ginus da war, fehlte ihm
plötzlich körperliche Bewegung. Ihm war offenbar selbst
bewußt, daß er dicker wurde. Hin und wieder schaute er nach
dem Mittagessen, das aus zu Brei gekochtem Endivien,
mehligen Kartoffeln und fetter Soße bestand, ein wenig
besorgt zu seinem Unterleib hinunter und sagte dann, wobei
sich sein Gesicht wieder aufhellte und er sich mit beiden
Händen auf den Bauch klopfte: "Bäuchlein, Bäuchlein, was
hast du es nur wieder gut gehabt." Oder er murmelte: "Wir sind
nun satt und wieder quicker und leider auch ein bißcher
dicker." (Maarten 'tHart: Der Flieger, S. 100)
"Was weißt du von den Burschen... die Namen? Wie wäre es,
wenn wir uns den attraktivsten raussuchten? Dann würde ich
zu ihm hingehen und sagen: 'Lieber Freund, wenn du sie mit
einem dicken Bauch sitzen läßt, solltest du wissen, daß mein
Kollege und ich noch ein sehr tiefes leeres Grab haben.'" (..)
"Du mußt keinen Schwiegersohn schlucken, der dir nicht
gefällt. Du kannst dir den besten aussuchen." Ginus hob sein
schneeweißes, tränennasses Gesicht und sah meinen Vater
an. Er wollte etwas sagen, brachte jedoch nur ein
schauerliches Jammern hevor. "Willst du damit etwa sagen,
daß auch verheiratete Männer darunter sind?" Ginus nickte.
"Ausschließlich?" Ginus schüttelte den Kopf. "Prima, dann
können wir loslegen. Aus denen, die nicht verheiratet sind,
wählen wir den attraktivsten. Und den knöpfe ich mir dann vor,
das ist wirklich die richtige Aufgabe für mich, dafür bin ich wie
geschaffen. Wenn ich mich mit dem Burschen unterhalten
habe, dankt er dem Himmel, daß er auf Knien zum
Standesamt kriechen darf." (Maarten 'tHart: Der Flieger, S.
211)
Eine Spinne hatte ein riesiges Netz zwischen unsere
Türpfosten gespannt. Weil unsere Straßenseite noch im
Schatten lag und die Sonne unbändig auf die Häuser
gegenüber schien, bemerkte ich das Netz erst, als ich
hindurchlief. Dutzende von Spinnenfäden hingen auf meinem
Sonntagsanzug, und in meinem Nacken zappelte die
verzweifelte Spinne, deren Netz ich zerstört hatte. Vorsichtig
nahm ich sie zwischen Daumen und Zeigefinger und setzte sie
auf die Türschwelle unserer neuen Nachbarn. Wenn sie wollte,
konnte sie dort ein neues Netz spinnen, ausgestattet mit der
Erfahrung, die sie während der Bauarbeiten bei uns erworben
hatte. (Maarten 'tHart: Der Flieger, S. 215)
... daß die Tür irgendwann aufging und Baarvink selbst aus
dem Haus trat. Sein Blick fiel auf mich, und man sah ihn
denken: Ich glaube, der ist Mitglied unserer Gemeinde, also
muß ich ihn wohl grüßen, da komme ich nicht drumherum, und
da kramte er das allerkleinste Nicken hervor, das sich in
seinem Körper versteckt, davon nahm er dann noch die Hälfte
weg, und so wie er dann seinen Kopf bewegte... der Rand
seines Hutes geriet vielleicht zwei Millimeter aus seiner
ursprünglichen Bahn. (Maarten 'tHart: Der Flieger, S. 225)
"Danke fürs Bringen." "Danke für den Flieder." (...) Mit einer
Flasche Sekt in der Hand richtet sie sich wieder auf. "Nein, das
-" Kerstin hebt abwehrend die Hände und schüttelt den Kopf.
"Doch, unbedingt." "Es ist weder nötig noch -" "Ich bestehe
darauf." Wieder stehen sie sich gegenüber und sehen einen Moment
lang aneinander vorbei. Wahrscheinlich sind es Begebenheiten
solcher Art, derentwegen sie so selten unter Menschen geht.
Dauernd passiert ihr das, immer nehmen die Dinge auf einmal eine
Wendung ins Gezwungene und halb Peinliche, in die Randbereiche
der Lächerlichkeit, wo sie ihren Stolz zusammenraffen muss wie
ein zu langes Kleid auf matschigem Boden. Und dabei lächeln,
lächeln, lächeln. (Stephan Thome: Grenzgang)
Einen Monat lang haben sie einander nur zu gelegentlichen
Spaziergängen gesehen, bei denen Kerstin Werner die Arme vor der
Brust verschränkt und ihren Gang zu einem zögerlichen Schlendern
gemacht hat, was ihm das Gefühl gab, es stünde etwas zwischen
ihnen, das keiner von beiden sich auszusprechen traute. Als
würden Gedanken sich wie Schlingpflanzen um ihre Knöchel winden.
(...) So sind sie in den vergangenen Wochen durch eine Art
Moratorium ihrer gegenseitigen Annäherung gelaufen. Ein jeder sah
auf seine Schuhspitzen und sagte bei jedem Reh, das ihren Weg
kreuzte: Ein Reh. Spaziergänge wie Deutsch für Anfänger. (Stephan
Thome: Grenzgang)
Man denke, wie man wolle, man lebe, wie es sich
schickt, man hege Meinungen, noch so bizarr oder
freventlich, so bleibt das eine doch ausgemacht: das
Rauchen macht erst den Mann, den Deutschen und
vollends den Preußen. Sieh, Alter, wenn du nur mehr
rauchen dürftest, so würdest du auch reifer und
tiefsinniger denken. So wie der Mensch, scheinbar
unbeschäftigt, den Rauch vor sich hinbläst, der sich
kräuselt, aufsteigt, windet und verschwindet, so
folgen ganz von selbst die feinsten Gedanken aus
dem Kopf nach und repräsentieren sich auf diesen
Wolken als dem ätherischen Grund des sublimen
Gemäldes. Und immer ergänzt sich die
verschwindende Hinterwand und ebenso die neuen
Einsichten. Wer nicht denken kann, rauche nur, und er
findet seine eigene Seele. Ruach nennt sie der
Ebräer: Rauch." (Ludwig Tieck: Die Gesellschaft auf
dem Lande, S. 47f.)
Die Kiste kam aus England, und zwar aus Coventry. Nun
waren aus England kommende Kisten, Päckchen und Briefe
in der Residenzstadt Coburg nichts Ungewöhnliches, denn
Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha war ein
Schwager der englischen Königin Victoria, und da er
kinderlos war, sollte ein Sohn der Queen sein
Nachfolger werden. So kamen über die engen
verwandtschaftlichen Bande in großen und kleinen Mengen
Tee, Porridge, Ingwer, Whiskey und Crocketbälle in die
Stadt, sogar ein Wasserklosett, als Vorbote eines lang
geplanten Besuchs der Queen Victoria, das erste und für
lange Zeit einzige Wasserklosett in der Stadt, das,
nachdem man es im Schloß aufgestellt hatte, als
Kartoffelwaschmaschine benutzt wurde, bis mit der
Ankunft der Queen der staunende Hofstaat über die wahre
Funktion aufgeklärt wurde. (Uwe Timm: Der Mann auf dem
Hochrad, S. 9)
Die Speichen trennten ihm säuberlich die beiden
obersten Glieder seines kleinen Fingers ab. Er muß das
sehr gefaßt ertragen haben. Jahre später noch erzählte
man sich, wie Schröder die Mohrenstraße heraufgekommen
sei, mit der Rechten das Rad schiebend, in der Linken
den blutverschmierten dreckigen kleinen Finger wie ein
Würstchen vor sich hertragend. Er hatte seinen kleinen
Finger im Staub gesucht und aufgesammelt, damit der
nicht von irgendeinem vorbeikommenden Köter
aufgefressen werde. Das sagte er dem Doktor Schilling
und bat ihn, den Finger zu vernichten. Schilling nahm
Schröders kleinen Finger und warf ihn, ohne ihn auch
nur einmal anzusehen, in den Abfalleimer. Dann trank er
mit Schröder eine halbe Flasche Branntwein, die
Schröder den Schmerz und ihm das Flattern aus der Hand
nehmen sollte. Mit ruhiger Hand nähte er sodann die
Wunde. Als Anna in das Ordinationszimmer gestürzt kam,
weil sie gehört hatte, ihr Mann habe bei einem Unfall
alle Finger der rechten Hand verloren, saß Franz
Schröder rotgesichtig und grinsend da, an der linken
Hand eine dicke weiße Wurst. Die anderen Finger waren
abgeschrammt, aber heil, und Schröder konnte sich auf
dem Nachhauseweg gar nicht darüber beruhigen, was er
doch für ein Glück gehabt habe, diesen überflüssigen
kleinen Finger veloren zu haben und nicht etwa den
unersetzlichen Daumen. Der Daumen ist alles, gröhlte
er, dem jetzt, nach dem Schock, dem Blutverlust und der
abendlich frischen Luft, der Branntwein in den Kopf
gestiegen war, was ist dagegen der Zeigefinger. Denn
die Bedeutung der Finger nimmt von vorn nach hinten ab.
Der kleine Finger ist ein Nichts. Dann sang er, von
Anna stützend untergehakt. (...) Er brüllte, als habe
er mit dem kleinen Finger auch jede Scheu verloren.
Diese Stadt sei nur radfahrend zu ertragen. (Uwe
Timm: Der Mann auf dem Hochrad, S. 18)
Komm grad von ner Tante. Is im Altersheim. Is neunzig.
Kann nich mehr loofen und hat immer Mundbrennen. Die
sagt, det Essen im Heim ist zu schaaf. Jibt nur zwei Sorten
Essen, und sie sagt, beede sin immer zu schaaf. Ja, der tut,
wenn se ißt, der Mund weh, rasend. Und det hat se, seit se
ihre Möbel verkoofen mußte, weil se in n kleenes Zimmer
jekommen is, mit Möbeln ausm Heim. Jenau seit dem Tag
brennt ihr der Mund. Verträgt auch det Gebiß nicht mehr im
Mund. Wenn ick se besuch, sitzt se da und schnitzt mit m
Kartoffelmesser am Jebiß rum. (Uwe Timm: Johannisnacht,
S. 187)
Wie die Franzosen allein durch Steinmasse eine
katastrophale Niederlage in einen Sieg umgewandelt
haben? Du mußt dir nur den Arc Triomphe ansehen.
Die Namen aller Schlachten sind in den Bogen
graviert. Niederlagen wie Siege, und so überwölbt
dieser gigantische Steinbogen sogar Katastrophen
wie Leipzig und Moskau. Beim Anblick des Arc de
Triomphe kommt doch niemand auf den Gedanken,
Napoleon habe entscheidende Schlachten oder sogar
den Krieg verloren. Das ist Ästehtik, verstehst du,
man sieht Dinge anders, darum gehts doch. (Uwe
Timm: Johannisnacht, S. 13)
So ging ich mit der langstieligen Rose, die erschöpft
den Kopf hängen ließ, den Kurfürstendamm hinauf,
ein paar Nutten standen noch da in ihren kurzen
Schlauchröcken, eine rief mir zu: Hallo, Kleiner. Ich
ging weiter und überlegte, warum sich gerade diese
Anrede eingeschliffen hat. Hallo, Kleiner. Machen sie
sich Mut, damit das Kommende erträglicher wird, oder
machen sie den Kunden Mut? Kommste zu Muttern.
Vielleicht aber ist es ja der ferne Ruf, daß man sich
erinnern möge an die frühen Erfahrungen mit dem
eigenen Geschlecht, die ja noch von der Liebe
getrennt sind, allein ausgerichtet auf Lust. (Uwe
Timm: Johannisnacht, S. 229)
Als sie vor einer Woche vor dem Kongreß zurückkam
und ich sie vom Bahnhof abholte, war die Umarmung
- bilde ich mir heute ein - wie immer. Aber schon auf
dem Bahnsteig sagte sie: Ich muß mit dir reden.
Bevor es dazu kam, fuhr mich ein Gepäckwagen
ziemlich schmerzhaft an. Erst zu Hause, in der Küche,
am Tisch, sagte sie unvermittelt: Was ich dir gleich
sagen wollte, ich habe mit einem Mann geschlafen.
Sie sagte das, während sie Zwiebeln schnitt und
dabei - wie immer - weinte. Ich pellte Kartoffeln. Sie
wolle, sagte sie, für ein paar Tage nach Berlin fahren
und ihn dort treffen. Vorsichtig zog ich die Schale ab.
Das Wort Erdapfel kam mir in den Kopf, und ich
dachte, wie unfaßbar schwer er in der Hand lag, bis
ich merkte, daß es die Hitze war. Das Bemühen,
vernünftig zu sein, wie wir es vereinbart hatten. Jetzt
versuche ich, mich immer wieder selbst zur Vernunft
zu bringen, indem ich mir Sätze vorsage, die von ihr
stammen, wie: Was einfach ausgedrückte doch wohl
heißt: Ich will auch mal mit einem andern vögeln.
(Uwe Timm: Kerbels Flucht, S. 9)
Einmal, zufällig, sah Kerbel seine Mutter im offenen
Badezimmer nackt. Sie schlug die Tür vor ihm zu. Eine
Zeitlang streute Kerbel Salz auf das Fensterbrett. Die
Mutter hatte gesagt, er solle sich ein Brüderchen
wünschen. Er wünschte sich aber gar kein Brüderchen.
Dennoch war er neugierig, ob er mit dem Salzstreuen
etwas bewirken könne. Tatsächlich kam die Mutter
wenig später ins Krankenhaus, und Kerbel wollte den
Klapperstorch sehen. Aber der Vater verbot es. Am
folgenden Tag sagte der Vater, Kerbel habe ein
Schwesterlein bekommen, allerdings klebten zwei
Finger zusammen, das komme vom Storchenbiß. Am
selben Tag erklärte ein älterer Junge Kerbel, wie
Kinder gemacht werden: Hose runter, Beine breit, das
Ficken ist ne Kleinigkeit. Der Vater bestritt den ihm
so beschriebenen Vorgang. (Uwe Timm: Kerbels
Flucht, S. 19)
Arbeiten, etwas tun, was Spaß macht, etwas, was
Sinn stiften kann, weil es anderen (und einem selbst)
hilft (nützlich ist), weil es anderen (und einem selbst)
Freude macht. Plötzlich schien es mir nur konsequent,
daß sie sich für ihn entscheiden würde, nicht, weil er
Geld verdient oder Karriere machen wird, sondern weil
der Sinn auf seiner Seite ist. (Es hilft mir nichts, daß
ich ihn in seiner Begeisterung zugleich auch komisch
finde!) Dieser mit Vitalität gemästete Sinn, natürlich
putzt der sich in seiner blauäugigen Munterkeit mit
Fleiß auf. Und doch frage ich mich, wie ich diesen
Sinn verloren habe. (Uwe Timm: Kerbels Flucht, S. 61)
Ich lief durch die nächtlichen Straßen: Jemand, dem
nur noch diese Bewegung eine Bedeutung gibt. Als
ich hinschlug, fragte mich jemand, ob mir schlecht
geworden sei. Ich sagte, nein, ich sei nur heiter. Ich
hatte aber angeheitert sagen wollen. Aus einem
Schaufenster grinsten mir glatzköpfige Männer
entgegen, alle in ein legeres Beige gekleidet. Ich
wünschte mir eine Bombe. Ich verstand erstmals, aus
welchen Entsetzen heraus diejenigen handelten, die
zu jagen die Bevölkerung von amtlicher Seite
aufgerufen war. Es gibt eine Gewalt des Alltäglichen,
eine Macht der Faktizität, gegen die nur Gegengewalt
hilft. (Uwe Timm: Kerbels Flucht, S. 63)
Ich hoffe, die Architekten in Nigeria sind nicht ganz
so fleißig wie mein Vater. Er und seine Helfershelfer -
gut dreißig Angestellte hatte er - haben nicht nur
Hamburg, nein, sie haben die ganze norddeutsche
Tiefebene vollgebaut, gemeinsam mit all diesen
anderen mittelmäßigen oder miserablen Kollegen, ja,
es gab darunter Architekten, die von Blindenhunden
zu ihren Baustellen geführt wurden. Der Fahrer lachte.
Es ist unbeschreiblich, wenn man durch Elmshorn
fährt, was man an Häusern sieht, oder durch
Pinneberg, durch Rendsburg, bis in die kleinsten
Städte, Dörfer, Häßlichkeit neben Häßlichkeit, nichts
stimmt, nicht die Proportionen, nicht die Zahl der
Fenster, nicht das Material, nicht die Farben, nicht die
Dächer. Woher kommt diese Häßlichkeit? Fährt man
nur hundert Kilometer weiter in den Norden, sieht,
gleich hinter der Grenze, alles besser aus, in
Dänemark, die alten Häuser sind nicht ausgeweidet
worden, haben ihre Hoffenster und Türen, weiß
gestrichen, keine Kunststoffrahmen, keine
Buntglasziegel in Fachwerkhäusern, keine
Metalljalousien, die als Aluminiumkästen über den
gesimslosen Fenstern hängen. Zugegeben, es
gehören zwei dazu, ganze Landstriche zu verwüsten,
die Architekten und die Hausbesitzer. Mit welcher
Blödheit, ja mit welchem Selbsthaß da entkernt,
abgerissen, umgebaut wurde, kann nur damit
zusammenhängen, daß man seine Geschichte
auslöschen wollte. Was ja auch wieder verständlich
ist, bei dieser Geschichte. (Uwe Timm: Rot, S. 112)
Nilgün trug ein ärmelloses Top, schwarz, vorn mit
einem Reißverschluß. Der war ziemlich weit
heruntergezogen. Bewegte sie sich, mich regelrecht,
was ich sonst nie tue, ihr immer wieder auf die Brust
zu schauen. Blickte ich sie an, zog sie demonstrativ
den Reißverschluß hoch, mein Blick wurde regelrecht
im Reißverschluß eingeklemmt. Natürlich war es ein
Spiel, etwas pubertär und albern, das den Streit über
Vorurteile und Klischeebildung und deren
Berechtigung begleitete. Kaum wandte ich den Blick
zu Ben oder Iris, zog Nilgün den Reißverschluß
wieder wie befreit herunter. Blickte ich hin, zack
wieder hoch. Ich weiß nicht, warum ich mich an dem
Abend, draußen sitzend, mit dieser Nilgün streiten
mußte, plötzlich in der Rolle des konservativen
Finsterlings, der gerade gegen das Rolle der
türkischen Musik vom Leder zog. (Uwe Timm:
Rot, S. 110)
Ich behaupte, zwischen dem Lachen und dem Licht
besteht eine Korrespondenz, beide erhellen
Gegenstände und damit auch die Personen, ja man
erhellt sich selbst, lacht man über sich - und lacht sie
über mich, sehe ich mich weit deutlicher, so
unangestrengt. Ihr Lachen entspricht, wie ich es bei
ihrer Arbeit beobachten konnte, dem
Theaterscheinwerfer, der mit einem Gelbfilter arbeitet
und plötzlich, der Regler wird aufgezogen, die Szene
ins Sonnenlicht taucht. (Uwe Timm: Rot, S. 111)
Bleib. Im Gästezimmer liegt auch ne Matratze. Wein
haben wir, keine Gläser. Trink aus der Flasche. Oder
von meinem Teller. Wird man schneller blau. Also
alles paletti. Können wir loslegen. Was. Wir. Wir sind
die Rotweinmillionen, da kann man ja nicht von
Losergeneration sprechen. Da kann ich ja nur lachen.
Mein Lieber. Hör mal. Wir wollten doch die Welt aus
den Angeln heben. Nicht nur etwas Sozialkosmetik,
nein, mehr, viel mehr, grundsätzlich, wir wollten das
Gravitationsgesetz des Kapitalismus aufheben, den
Profit. Das war's doch. Dieses widerliche
Profitdenken, das alles rechtfertigt. Dagegen
Gerechtigkeit, weißt du noch, und Edmond brüllte,
daß es durch die leeren Räume hallte: Liberte,
Egalite, Fraternite. Der Mensch sollte dem Menschen
Bruder sein - und nicht Konkurrent. Keine
Ausbeutung. Keine Unterdrückung. Keine Herrschaft
des Menschen über den Menschen. Und dann das,
sagte Edmond und schlug kurz, aber nicht heftig, es
war diesmal nur ein Antippen, den Kopf gegen die
Wand. (Uwe Timm: Rot, S. 190)
Es soll nicht sein, dass immer wieder ein anderer, eine andere
kommen kann, die, und sei es nur für einen Augenblick, Begierde
auslösen und damit Beliebigkeit schaffen. Ihr Reden wurde ein
Furor: Dann sind wir auf dem Markt. Greifen Sie zu. Die
Gelegenheit ist günstig. Jung, attraktiv. Grabbelkiste. Dann
hängt alles von Zufall und Zeitpunkt ab, und wir meinen, das sei
das Leben. Das ist das Leben. Nein, der dumme Zufall. (Uwe Timm:
Vogelweide)
Aber die Frage, die die Diplomaten nicht gelöst
haben, kann noch weniger mit Pulver und Blut gelöst
werden. Mir ist oft ein merkwürdiger Gedanke
gekommen: wie, wenn die eine kriegführende Partei
der anderen vorschlüge, aus jeder Armee einen
Soldaten zu entlassen? Dieses Verlangen könnte
seltsam erscheinen, aber warum sollte man es nicht
erfüllen? Dann auf jeder Seite einen zweiten
entlassen, einen dritten, einen vierten und so weiter,
bis in jeder Armee nur noch ein Soldat vorhanden ist
(vorausgesetzt, daß die Armeen gleich stark sind und
daß Quantität durch Qualität ersetzt werden könnte).
Und dann, wenn wirklich verwickelte politische Fragen
zwischen vernünftigen Vertretern vernünftiger
Geschöpfe durch Kampf entschieden werden müssen,
sollten diese zwei Soldaten sich miteinander
herumprügeln - der eine sollte die Stadt belagern und
der andere sie verteidigen. Diese Überlegung mag
paradox erscheinen, aber sie ist richtig.
(Lew Tolstoj: Sewastopol im Mai 1855)
War das nun die Heldentat der Liebe, die sie ihren
Kindern gegeben hatte, als sie klein waren, was es der
große Verlust oder war es die Eigentümlichkeit ihres
Charakters - jeder, der diese Frau ansah, mußte
begreifen, daß von ihr nichts mehr zu erwarten war, daß
sie schon vor langer Zeit ganz im Leben untergegangen
und nichts mehr von ihr übriggeblieben war. Es war nur
noch etwas achtungswürdig Schönes und Trauriges da, wie
eine Erinnerung, wie das Licht des Mondes. Man konnte
sie sich nicht anders vorstellen als umringt von
Verheerung und von allen Bequemlichkeiten des Lebens.
Daß sie je hungrig gewesen wäre und mit Gier gegessen
hätte oder daß sie schmutzige Wäsche auf dem Leibe
gehabt hätte oder gestolpert wäre oder vergessen hätte,
sich zu schneuzen - das konnte ihr einfach nicht
widerfahren. Das war physisch unmöglich. Warum das so
war, weiß ich nicht, aber jede ihrer Bewegungen war
voll Erhabenheit, Grazie, Gnade für alle diejenigen,
die ihren Anblick genießen durften. (Lew Tolstoj:
Sämtliche Erzählungen, Bd. 3, S. 179)
Beide, nach Charakter und Geist angesehene Männer,
achteten sich auch gegenseitig, hegten aber fast in
allem eine unversöhnliche Meinungsverschiedenheit,
nicht deshalb, weil sie entgegengesetzten Richtungen
gehuldigt hätten, sondern gerade deshalb, weil sie
einem gemeinsamen Lager angehörten – ihre Feinde
identifizierten sie – in diesem Lager aber ein jeder
von ihnen seine eigene Schattierung besaß. Du nun indes
nichts für eine gegenseitige Übereinstimmung weniger
förderlich ist, als die Meinungsverschiedenheit in den
fernerliegenden Dingen, so kamen sie in ihren Meinungen
nicht nur niemals überein, sondern waren schon längst
daran gewöhnt, ohne sich zu ereifern, über ihren
unverbesserlichen Irrtum sich gegenseitig lustig zu
machen. (Lew Tolstoj: Anna Karenina)
Nach seinem Abschluß am Balliol College in Oxford
verschlug es ihn ins Verlagwesen, und er übernahm
die Redaktion der Leserbriefseite eines erotischen
Magazins namens Fetisch. Krafft-Ebings Lehrbuch zur
Sexualpathologie immer in Reichweite, verfaßte er
unflätige Antworten auf die zumeist traurigen,
gelegentlich aber auch prahlerischen Schreiben seiner
Leserschaft. (Sue Townsend: Downing Street No. 10,
S. 17)
Nachdem man ihn ins Behandlungszimmer gebracht hatte,
streckte Boy dem Zahnarzt mit der Maske seine Hand hin.
"Keine Zeit für so was", entgegnete Stein brüsk. "Auf
den Stuhl, zurücklegen, Mund auf." (...) "Muß viele
gemacht werden?", fragte Boy. "Mußte in London nach dem
Blitzkirge viel gemacht werden?", gab Stein zurück,
dessen eigenes Gebiß, wie Boy bemerkte, gelblich und
wenig bemerkenswert war. "Lächeln", befahl Stein.
"Zeigen Sie mir Ihr Politikerlächeln, in dem Stil: 'Ich
hab gerade einen Säugling geküßt." (Sue Townsend: Queen
Camilla, S. 166)
"Und was für Wohltätigkeitsvereine unterstützt Ihre
Frau?", erkundigte sich die Queen. "Sie ist die
Gründerin von VOICE", erklärte Grice. "Voice?",
wiederholte die Queen. Langsam und bedächtigt betonte
Grice: "Vereinigung der Opfer Inkompetenter
Silikonimplantationen in England." Dann fügte er hinzu:
"Sie hatte selbst eine Brust-OP, die schiefgegangen
ist. Einer von ihren Möpsen ist doppelt so groß als wie
der andere. Sie hängt für den Rest ihres Lebens
schief." Grice ließ den Kopf hängen und starrte
bekümmert auf den Boden. "Was für ein Pech", murmelte
die Queen. "Und sie arbeitet viel mit halbwüchsigen
Jungs", ergänzte Grice. "Das ist sehr bewunderswert."
Die Queen hatte Mrs Grice schon häufig zu dröhnend
lauter Musik in ihrem Cabrio mit diversen Rabauken auf
dem Beifahrersitz in der Siedlung herumkurven sehen.
Sie war inzwischen kosmetisch derart korrigiert, daß
sie aussah wie ein sonnengebräunter Nachwuchsastronaut,
der gerade ein Gravitationstraining absolvierte. (Sue
Townsend: Queen Camilla, S. 86)
Beim Anblick der Hafenbrücke von Sydney hatte sie
bemerkt: "Das erinnert mich dran, ich wollte den
Steward nach extra Kleiderbügeln fragen." Ihr Urteil
über Venedig hatte gelautet: "Höchste Zeit, daß die mal
modernisieren, diese Kanäle gehören aufgefüllt und ein
paar anständige Straßen gebaut." Und ihre Meinung zu
Rom war schlicht: "Das könnte ganz nett aussehen, wenn
sie mal die ganzen kaputten Häuser renovieren täten."
(Sue Townsend: Queen Camilla, S. 318)
Sandras Anweisungen an ihre Schneiderin hatten
gelautet: "Sexy, aber geschmackvoll. Titten, aber keine
Nippel. Arsch, aber keine Ritze. Beine, aber keine
Muschi." Woraufhin die Schneiderin alles hatte stehen
und liegen lassen, um sich nur auf Sandras Outfit zu
konzentrieren. Am Ende hatte sie ein Kleid produziert,
das Camilla später als eine Mischung aus
Flamencotänzerin und ruritanischer Prinzessin
beschrieb. (Sue Townsend: Queen Camilla, S. 404)
"Und ich habe mich auf Dr. Abbots Interpolationsverfahren
verlassen ..." Lederhose rief: "Und wo ist sie, wenn man sie
braucht? Im Scheißmutterschaftsurlaub auf ihrem schönen
walisischen Berg, wo sie das sabbernde Mondgesicht stillt, ohne
Festnetz, ohne Handynetz, und das Modernste, was sie in dieser
verschimmelten Bruchbude namens Cottage hat, ist ein verfickter
Dualit-Toaster. Schaffen Sie diese Lauchfresserin irgendwie her!"
(Sue Townsend: Die Frau, die ein Jahr im Bett blieb)
Barry war nicht sicher, ob das große, stämmige schwarzhaarige
Mädchen ihn beleidigt hatte oder nicht. (...) Er hatte sich den
Mund verbrannt, er hatte Fahrgäste verloren, und erst jetzt fiel
ihm ein, dass der Hochgeschwindigkeitszug, vor den er sich werfen
wollte, erst um fünf Uhr in Sheffield losfuhr. (...) "Wie
üblich", dachte er, "hab ich alles vermasselt. Das mach ich schon
mein ganzes Leben: Sachen verlieren, Sachen kaputtmachen, Sachen
klauen, mich bei Sachen erwischen lassen." Ihm war, als hätte man
ihm die Regeln des Lebens nie erklärt, während alle anderen,
Männer, Frauen, Kinder und Tiere, sie zu kennen schienen. Er
hinkte immer hinterher - manchmal wortwörtlich - und schrie:
"Wartet auf mich!" Für ihn blieben immer nur die Frauen übrig,
die seine Kumpel ausgemustert hatten. (Sue Townsend: Die Frau,
die ein Jahr im Bett blieb)
Wie er eigentlich zu seiner angetrauten Frau gekommen
war, das hätte er so genau jetzt nicht mehr sagen
können. Er konnte sich jedoch recht wohl erinnern, daß
nicht er sie geheiratet hatte, sondern sie ihn. Sie
brachte weder Geld mit, noch hob sie ihn in eine
gesellschaftliche Schicht, wo er einflußreiche Freunde
hätte finden können. Die Heirat hatte sich begeben, als
er Clerk in einer Versicherungsgesellschaft war und
fünfunddreißig Dollar die Woche verdiente. Mit
fündunddreißig Dollar Wochenlohn kann man ja auch kaum
erwarten, eine reiche Heirat zu machen oder durch
Heirat in die bessere und darum wertvolle
Gesellschaftsschicht zu gelangen. Der Heirat war
nichts, aber auch gar nichts voraufgegangen, was man
heiße Liebe oder etwa gar romantische Liebe hätte
nennen können. Der Vorgang hatte sich so trocken und
nüchtern abgespielt wie der Abschluß der
Einbruchsversicherung eines Möbelhändlers. Beide, Man
und Frau, waren dann eines Tages ziemlich erstaunt
gewesen, als plötzlich eine Tochter geboren wurde. Denn
beide hatten sich keine besondere Mühe dazu gegeben,
und beide hatten nichts besinders Auffallendes
empfunden in jenen Drei-Minuten-Funkspruch, der die
Möglichkeit einer nicht unwahrscheinlichen Geburt in
Aussicht stellte. (B. Traven: Die weiße Rose, S. 112)
Bereits am ersten Abend nach seiner Ankunft hatte
ihn einer der älteren Schüler auf einen Tee
eingeladen. Der Schüler war der Flurälteste und hatte
ein Einzelzimmer. Er empfing Albert im Bademantel.
Anscheinend hatte er gerade geduscht. Und noch
während er ihm den Tee einschenkte, stellte er sich
so vor ihn hin, daß sich der Gürtel seines
Bademantels löste und Albert plötzlich das erigierte
Glied des Flurältesten vor dem Gesicht hatte. Erst
später hatte Albert begriffen, daß dies ein
Verführungsversuche gewesen war. Damals war Albert
nur aufgesprungen und aus dem Zimmer geflüchtet,
als ob er einer ansteckenden Krankheit oder einem
Anfallleiden des Fluältesten ausweichen wollte. In der
Tat kam ihm dieser rote und geschwollene Körperteil
krank und gefährlich vor. Damit wollte er nicht zu tun
haben. Er wollte auch mit dem Flutältesten nichts
mehr zu tun haben, der, wie er bald feststellen
konnte, des öfteren Neuankömmlinge zum Tee einlud
und außerdem ein Krawattenträger war. Ein
Krawattenträger und Jungenverführer, was Albert
entrüstete und in ihm Haßgefühle gegen Flutälteste
und Krawattenträger insgesamt auslöste. (Hans-
Ulrich Treichel: Der irdische Amor, S. 56)
Bücher wie "Die sexuelle Revolution" oder "Die
Funktion des Orgasmus". Wenn er nicht die
"Memoiren eines Revolutionärs" auf den Arbeitstisch
oder die Schulbank gelegt hatte, dann hatte er "Die
Funktion des Orgasmus" dorthin gelegt. Obwohl das
Buch nicht immer leicht verständlich war. "Die
Funktion des Orgasmus" war ein weitaus
schwierigeres Buch, als der Buchtitel erahnen ließ. Es
fanden sich darin zahlreiche Kurven, Zeichnungen und
Statistiken, in denen beispielsweise die reaktive
Arbeitsleistung des neurotischen Charakters mit der
sexualökonomischen Arbeitsleistung des genitalen
Charakters verglichen wurde. Irritiert hatte ihn auch
ein sogenanntes Schema der Panzerstruktur, das wie
ein aus Pfeilen gesponnenes Spinnennetz aussah.
Vielleicht aber waren nicht die Kurven, Zeichnungen
und Statistiken an Alberts Verständnisschwierigkeiten
schuld, sondern die Tatsache, daß es ihm an den
entsprechenden Erfahrungen fehlte. Er hatte gehofft,
das Buch könne ihm auch praktisch weiterhelfen.
Doch das einzige, was das Buch bewirkt hatte, war
ein Streit mit dem Vater. Schon der Kropotkin hatte
beim Vater großen Ärger ausgelöst. Schließlich war
Kropotkin ein Russe. Und ein Russe, so pflegte der
Vater zu sagen, komme ihm nicht ins Haus. Nachdem
der Vater auf Alberts Arbeitstisch "Die Funktion des
Orgasmus" gesehen hatte, bekam er einen Wutanfall.
Und Albert mußte sich anhören, daß dem Vater auch
ein Orgasmus nicht ins Haus komme. Natürlich hatte
der Vater das Wort Orgasmus nicht benutzt. Ein
bäuerlich-pietistischer Mensch wie der Vater würde so
ein Wort niemals in den Mund nehmen. Der Vater
hatte bloß "Schund" geschrien und mit dem
Zeigefinger auf das Buch gezeigt. Dann hatte er das
Zimmer verlassen, war aber zurückgekehrt, hatte
nochmals auf das Buch gezeigt und nun
"Russenschund!" geschrien und "Nicht in meinem
Haus!". (Hans-Ulrich Treichel: Der irdische Amor,
S.55f)
Albert hatte den Mann schon oft gesehen. Er war für
ihn nicht nur einer der gewohnten Berliner
Schwimmbadbesucher, sondern in gewisser Weise
auch sein Lieblingsberliner. Der Mann war zwischen
vierzig und fünzig, fettleibig und jeden Tag im
Schwimmbad. Außerdem hatte er schon vom ersten
und zumeist noch kühlen und regnerischen
Öffnungstag an einen tiefroten Sonnenbrand auf
Rücken, Schultern und Armen. Wie viele der Berliner
Schwimmbadbesucher ging er nur selten ins Wasser
und lag die meiste Zeit auf den Steinterassen. Was
ihn aber für Albert interessant machte, war die
Tatsache, daß er im Unterschied zu allen anderen
niemals ein Handtuch dabeihatte und es
offensichtlich liebte, mit gestreckten Armen und
Beinen auf den rohen Steinen zu liegen. Und zwar auf
dem Bauch. Albert hatte noch nie einen Menschen so
sehr am Boden liegen sehen wie diesen Mann. Der
Mann lag so dicht und fest am Boden, daß man die
Schwere, die ihn an den Boden drückte, noch unter
den eigenen Füßen spüren konnte. Albert hatte auch
noch nie einen Menschen so lange am Boden liegen
sehen wie diesen Mann. Er legte sich am Vormittag
hin und stand am späten Nachmittag wieder auf.
Albert schätzte, daß der Mann im Durchschnitt, und
wenn das Wetter gut und die Steine einigermaßen
warm waren, sechs bis acht Stunden am Boden lag.
Und er lag nicht nur sehr fest, sehr dicht und sehr
lange am Boden, sondern auch sehr ruhig, fast
bewegungslos. Ab und zu jedoch konnte es passieren,
daß ein wenig Wasser von den Duschen am
Beckendurchgang zu ihm herübergeweht wurde. Dann
ging ein leises und lustvolles Zittern durch seinen
Körper, das sich aber sofort wieder beruhigte. (Hans-
Ulrich Treichel: Der irdische Amor, S.90f)
Albert war sich nicht sicher, ob er überhaupt das
gehabt hatte, was man die Latenzzeit nannte. Die
Latenzzeit war so etwas wie ein Vorruhestand vor der
Unruhe der Pubertät. Die Ruhepause vor dem
Fegefeuer. Albert konnte sich nicht daran erinnern,
jemals eine Ruhepause gehabt zu haben. Er war
immer schon unruihig gewesen. Er war wahrscheinlich
schon als Kleinkind, wenn nicht gar als Säugling
unruhig gewesen. Er kannte nicht die entspannte
Muskulatur, den wohligen Schlaf des Säuglings, die
süße Betäubung durch die Muttermilch. Als Albert
geboren worden war, hatte er sogleich einen
verspannten Nacken gehabt und unter Juckreiz
gelitten. Außerdem hatte er schon als Säugling so
etwas wie sexuelle Begierde und eine Art
Dauerunruhe verspürt. Diese Dauerunruhe hatte ihn
noch mehr verspannt und zugleich den Juckreiz
verstärkt. Er glaubte sich daran zu erinnern, daß der
Juckreiz und die Verspannung der Muskulatur genau in
dem Moment begonnen hatten, als er den
Mutterkörper verließ. Das Verlassen des feuchten und
schwerelosen Muttermilieus hatte eine sofortige
Verspannung des Nackens und eine juckende
Austrocknung der Haut zur Folge gehabt. (Hans-Ulrich
Treichel: Der irdische Amor, S.92f)
Das einzige, was ihm wirklich helfen würde, war ein
Anruf bei Elena. Doch er fürchtete eine Abfuhr. Er
konnte nicht von sich behaupten, daß er besonders
viele Lebensweisheiten erworben hatte. Aber eine
dieser Weisheiten war: Wenn du bedürftig bist,
sinken deine Chancen. Das hatte er schon sehr früh
gelernt, im Grunde schon als Kleinkind. Obwohl er als
Kleinkind überaus bedüftig gewesen war, glaubte er
sich daran zu erinnern, daß ihm die Mutterbrust
immer dann zur Verfügung stand, wenn er keinerlei
Hungergefühle zeigte. Sobald er brüllte, strampelte
und schrie, war keine Mutterbrust zu sehen. Wenn er
aber gleichgültig dreinschaute, tauchte vor ihm dieser
große weiße Monde mit Warze auf und drückte sich
auf sein Gesicht. Alsohatte er irgendwann nicht mehr
gebrüllt, gestrampelt und geschrien, sondern selbst
während größter Hunger- und Durstattacken
gleichgültig in die Welt geschaut. (Hans-Ulrich
Treichel: Der irdische Amor, S. 109)
Aber zugleich mußte er zugeben, daß sich, seit er fünfzig
geworden war und beinahe das Lebensalter seines Vaters
erreicht hatte und trotz seiner sozusagen heldenhaften
Vorsätze, sich so wenig wie möglich von der Vergangenheit
behelligen zu lassen, immer öfter eine Sehnsucht nach alten
Papieren seiner bemächtigte. Eine Art Dachbodensehnsucht
überkam ihn dann, ein Verlangen nach alten Truhen,
vergilbten Briefen und Fotoalben. (Hans-Ulrich Treichel:
Menschenflug, S. 9)
Rita sagte: "Gerd hat Karten für Gluck besorgt. Du
paßt doch wie üblich?" Hartwig gehörte zu denen, die,
wenn sie auf der Straße irgendwo Musik hören,
unbedingt lauschen und gleich darauf kundzutun:
"Aha, Genosse Bach!" oder "Wir haben's hier allem
Anschein nach mit dem Genossen Mozart zu tun!"
oder etwas anders im gleichen idiotischen Stil. Bei
solchen Gelegenheiten errötete Rita und hielt mir vor:
"Warum bist du nur so ein Musikbanause? Das ist
dein größter Mangel." Sie konnte auch noch
aggressiver werden: "Nein, du kannst dich nicht voll
zur Intelligenz zählen!" Dabei habe ich mich selber
nie dazugezählt. Wenn auch keineswegs deshalb,
weil ich keine Musikkoryphäe bin. Nein, ernste Musik
verstehe ich nicht, sie ermüdet mich, während mir
Schlager und Jazzmotive Vergnügen bereiten. Die
pfeif ich sogar. Bei einem Sinfoniekonzert jedoch
schlafe ich entweder ein oder denke an
Geschäftliches, an die Arbeit, an allen möglichen
Unsinn. Was kann ich denn dafür? Jawohl, es ist ein
Mangel, ein Fleck, eine Versündigung gegen die
Geisteskultur, aber warum reibt man mir das ständig
unter die Nase? Mein Gott, die Liebe zur Musik an
sich sagt doch noch nichts über einen Menschen aus!
Bestimmt nicht über das 'Menschliche'. Schlangen
mögen auch Musik. Es gibt ganze Nationen, die man
als unmusikalisch bezeichnen kann, die Engländer
zum Beispiel, und trotzdem... es ist nicht angebracht,
zu übertreiben und sich allzuviel einzubilden. Man
kann Musik mögen und doch ein Zyniker sein.
(Juri Trifonow: Zwischenbilanz, S. 32f.)
Ich selbst kann blauäugige Optimisten nicht
ausstehen und hab stets die Welt, die Menschen
kritisch betrachtet und tue das heute noch, aber eine
solche Einstellung zur Umwelt, wie Hartwig sie hat -
hinterhältige Verspottung von allem und jedem -,
versetzt mich in Rage. Ich werde zum wütenden
Orthodoxen, am liebsten nähme ich einen großen
Knüppel und prügelte damit auf das begabte
Köpfchen ein. Jawohl, er ist ein begabter Kerl, ich
weiß es. Er ist Kandidat der Wissenschaften, hat eine
schöne Stellung im Institut, schreibt etwas, lehrt
irgendwo - steht sich ganz ausgezeichnet. O Gott,
wieso aber dann? So viele Menschen bleiben im Leben
auf der Strecke. Sie wollen etwas erreichen, aber sie
können es nicht, sie haben nicht die Kraft dazu. Und
hierin liegt Hartwigs Geheimnis. Mühelos erreicht er,
wofür andere sich ihr Leben lang abstrampeln, und
hat er es erreicht, pfeift er darauf. (Juri Trifonow:
Zwischenbilanz, S. 34)
Nur ein predigender Geistlicher kann in Platitüden,
Binsenwahrheiten und Binsenunwahrheiten schwelgen und
dabei wie ein unanfechtbares Vorrecht das nämliche
respektvolle Betragen ernten, als fielen Worte voll
leidenschaftlicher Beredsamkeit oder überzeugender
Logik von seinen Lippen. Nehmen wir an, ein Professor
der Rechte oder der Physik stünde in einem
Vorlesungssaal und gäbe geistlose Worte und
wiedersinnige, hohle Phrasen von sich - er würde sie
vor leeren Bänken von sich geben. (Anthony Trollope:
Die Türme von Barchester, S. 84)
In ihrem Gesicht lag eine ruhige, immer gleiche,
wohltuende Freundlichkeit, die auf alle ihr
Nahestehenden eine starke Anziehungskraft ausübte; auf
Menschen hingegen, die sie nur oberflächlich kannten,
wirkte das hohe Lob ihrer Schönheit von seiten ihrer
alten Freunde seltsam übertrieben. Ihre Schönheit glich
der mancher Landschaften, die man öfter sehen muß, bis
man an ihnen Gefallen findet. (Anthony Trollope: Die
Türme von Barchester, S. 229)
Ihre Schwester, die Gattin des Archidiakonus, hatte zwar
geringschätzig von ihren Reizen gesprochen, doch Eleanor war sehr
schön, wenn man sie richtig ansah. Ihr Antlitz war nicht eines jener
leidenschaftslosen Gesichter, die die Schönheit einer Marmorbüste
besitzen, mit zierlich geformten Zügen, deren Linien alle vollkommen
sind und den Regeln der Symmetrie gehorchen, die dem Fremden wie dem
Freund gleich lieblich erscheinen und sich nur in der Krankheit oder
unter dem Einfluß des Alters verändern. Sie besaß keine frappierend
blendende Schönheit, ihre Gesichtsfarbe war weder von perlenhafter
Blässe noch strahlend wie die der Nelke. Sie besaß nicht die
majestätische Gestalt, die die Aufmerksamkeit fesselt, unmittelbares
Staunen erheischt und dann durch die Kälte ihrer Reize enttäuscht.
Auf der Straße hätte man an Eleanor Harding vorbeigehen können, ohne
sie zu bemerken, doch es wäre kaum möglich gewesen, einen Abend mit
ihr zu verbringen, ohne sein Herz zu verlieren. (Anthony Trollope:
Septimus Harding, Vorsteher des Spitals zu Barchester)
Er mochte fünfzig Jahre alt sein und hätte für sein Alter jung
ausgesehen, hätte nicht die pausenlose Arbeit seine Züge hart werden
und ihn wie eine Maschine ohne Bewußtsein erscheinen lassen. Er
hatte ein sehr intelligentes Gesicht, dem es jedoch an natürlichem
Ausdruck fehlte. Man hätte ihn als einen nützlichen Mann
eingeschätzt, um den man sich anschließlich nicht mehr kümmert:
jemand, an den man sich in schlimmen Notlagen wendet, der sich aber
nicht zu gewöhnlichen Aufgaben eignet; jemand, den man bitten würde,
das Eigentum zu verteidigen, dem man sich aber nur ungern in
Liebesdingen anvertrauen würde. Er war eine glanzvolle Erscheinung,
wie ein Diamant, und war ebenso schneidend und genausowenig zu
beeindrucken. Er kannte jeden, den zu kennen als Ehre galt, aber er
hatte keinen Freund, was er jedoch nicht als Mangel empfand; er
kannte die Bedeutung des Wortes "Freund" nur in seinem
parlamentarischen Sinne. Ein Freund! (Anthony Trollope: Septimus
Harding, Vorsteher des Spitals zu Barchester)
Rakitin: (...) Bei dieser Gelegenheit, Alexej Nikolajitsch:
Sie leben vielleicht noch in der Vorstellung, Liebe ist das
höchste Gut auf Erden? Beljajew (kühl): Ich habe da noch
keine Erfahrung, glaube aber, daß es ein großes Glück
ist, von einer Frau geliebt zu werden, die man selber
liebt. Rakitin: Geb Gott, daß diese angenehme
Überzeugung Ihnen recht lange erhalten bleibt! Meiner
Ansicht nach, Alexej Nikolajitsch, ist jede Liebe, die
glückliche wie die unglückliche, eine Katastrophe,
sobald man sich ihr restlos hingibt. Warten Sie ab! Sie
werden vielleicht noch erfahren, wie diese zarten Hände
zu foltern verstehen, mit welch freundlicher Sorgfalt sie Ihr
Herz in kleinste Teilchen zerpflücken. Warten Sie ab! Sie
werden erfahren, wieviel brennender Haß sich hinter der
flammendsten Liebe verbirgt! Sie werden an mich
zurückdenken, wenn Sie sich - wie der Kranke nach der
Gesundheit - nach Ruhe, nach der unsinnigsten,
banalsten Ruhe sehnen und jeden sorglosen, freien
Menschen beneiden. Warten Sie ab! Sie werden
erfahren, was es bedeutet, sich an eine Schürze zu
hängen, was es bedeutet, versklavt, ja, infiziert zu sein -
und wie qualvoll und schmählich diese Sklaverei ist! Sie
werden schließlich erfahren, welche Belanglosigkeiten
man mit diesem hohen Preis erkauft. (Iwam Turgenjew:
Ein Monat auf dem Lande)
Nach dem Mittagessen pflegte sich mein Freund vor
dem Spiegel sehr sorgfältig anzuziehen, und dann
fuhr er zu irgendeinem Nachbarn, der mit zwei oder
drei hübschen Töchtern gesegnet war. Unbekümmert
und ohne jegliche Absichten machte er einer von
ihnen den Hof, spielte mit ihnen Blindekuh, kehrte
ziemlich spät nach Hause zurück und sank sofort in
tiefen Schlaf. Langweilen konnte er sich nicht, da er
niemals völligem Müßiggang frönte; bei der Wahl
seiner Beschäftigungen aber war er nicht
anspruchsvoll, und wie ein Kind ergötzte er sich an
der geringsten Kleinigkeit. Andererseits hing er nicht
sonderlich am Leben, und wenn es galt, einen Wolf
oder einen Fuchs zu stellen, ließ er mitunter sein
Pferd in vollem Galopp über Gräben und Hindernisse
setzen, so daß ich bis heute nicht begreife, weshalb
er sich nicht schon hundertmal den Hals gebrochen
hat. Er gehörte zu jenen Menschen, die den Gedanken
aufkommen lassen, sie kennten den eigenen Wert
nicht und unter ihrem äußerem Gleichmut verbärgen
sich starke und große Leidenschaften. (Iwan
Turgenjew: Drei Begegnungen, Erzählungen, S. 6)
Am grauen Himmel zogen schwerfällig langgestreckte
Wolken dahin; das dunkelbraune Strauchwerk
krümmte sich unter den Windstößen und ächzte
kläglich; kraftlos und traurig schmiegte sich das
vergilbte Gras an den Boden; Schwärme von Drosseln
fielen in die Ebereschen ein, die voller leuchtend roter
Dolden hingen; zwitschernd hüpften Meisen im
dünnen, zerbrechlichen Gezweig der Birken umher; im
Dorf kläfften heiser Hunde. Schwermut übermannte
mich. (Iwan Turgenjew: Drei Begegnungen,
Erzählungen, S. 7)
Iwan Andrejewitsch war lang aufgeschossen und
hager, wortkarg und überaus langsam in allen seinen
Bewegungen. Er trug niemals einen Schlafrock, und
niemand außer seinem Kammerdiener hat ihn je
ungepudert gesehen. Iwan Andrejewitsch pflegte
beim Gehen die Hände auf dem Rücken zu
verschränken und bei jedem Schritt bedächtig den
kopf hin und her zu wenden. Tag für Tag spazierte er
die lange Lindenallee entlang, die er eigenhändig
angepflanzt und von deren Schatten zu profitieren er
noch vor seinem Tode das Vergnügen hatte. Iwan
Andrejewitsch geizte außerordentlich mit Worten. Als
Beweis für seine Schweigsamkeit mag der
bemerkenswerte Umstand dienen, daß er im Verlauf
von zwanzig Jahren kein einziges Wort mit seiner
Gattin, Anna Pawlowna, gesprochen hat. (Iwan
Turgenjew: Drei Begegnungen, Erzählungen, S. 6)
Olga Iwanowna, meine Herren, war recht hübsch.
Übrigens bestand ihre Schönheit mehr in der
außergewöhnlichen Zartheit und Lebensfrische ihres
Körpers sowie in der ruhigen Anmut ihrer Bewegungen
als in strenger Regelmäßigkeit der Konturen. Die
Natur hatte sie mit einer gewissen Selbständigkeit
ausgestatet; ihre Erzeihung - sie war ja als Waise
aufgewachsen - hatte in ihr Vorsicht und
Standhaftigkeit entwickelt. Olga gehörte nicht zu den
stillen und trägen Fräulein; dennoch war nur eine
Gefühl bei ihr ausgereift: der Haß gegen ihren
Wohltäter. Indessen mögen auch andere, weiblichere
Leidenschaften mit ungewöhnlicher, krankhafter
Heftigkeit in ihrem Herzen entbrannt sein, doch sie
besaß weder jene stolze Kälte noch jene
komprimierte Seelenstärle noch jene ehrgeizige
Konzentriertheit, ohne die jede Leidenschaft sehr
rasch abkühlt. Die ersten Aufwallungen solcher halb
aktiven, halb passiven Naturen sind mitunter
außergewöhnlich heftig; aber sie schlagen sehr
schnell um, vor allem, wenn es darum geht, die
Grundsätze, die sie sich zu eigen gemacht haben,
rücksichtslos anzuwenden; dann haben sie Angst vor
den Konsequenzen. Und doch, meine Herren, muß ich
Ihnen offen gestehen: Frauen dieser Art machen auf
mich einen tiefen Eindruck. (Iwan Turgenjew: Drei
Begegnungen, Erzählungen, S. 22)
Der Major war ein Mann in den Sechzigern, korpulent
und unbeholfen, mit schwammigem rotem Gesicht,
kurzem Hals und beständigem Zittern in den Fingern,
das von übermäßigem Branntweingenuß herrührte. Er
gehörte zu den sogenannten "Bourbonen", das heißt
zu den Offizieren, die sich vom einfachen Soldaten
emporgedient haben, und hatte erst mit dreißig
Jahren lesen und schreiben gelernt; auch fiel ihm das
Sprechen schwer, teils infolge seiner Kurzatmigkeit,
teils wegen seines Unvermögens, einen eigenen
Gedanken folgerichtig zu Ende zu denken. Sein
Temperament wies alle der Wissenschaft bekannten
Spielarten auf: Morgens vor dem Branntweingenuß
war er Melancholiker, mittags Choleriker und am
Abend Phlegmatiker, das heißt, dann schnaufte und
brummte er nur noch, bis man ihn zu Bett brachte.
(Iwan Turgenjew: Drei Begegnungen, Erzählungen, S.
75)
Von jenem Tage an besichte Iwan Afanasjitsch häufig
die Bäckerei, und nicht vergebens. Er erreichte, um im
gehobenen Stil zu sprechen, sein Ziel. Für gewöhnlich
kühlt das den Menschen ab; Petuschkow hingegen
entflammte von Tag zu Tag mehr. Die Liebe ist eine
Frucht des Zufalls, sie existiert aus sich selbst heraus
- wie die Kunst, und sie bedarf keinerlei
Rechtfertigung - wie die Natur, hat einmal ein kluger
Mann gesagt, der selber niemals liebte, aber dennoch
ausgezeichnet über die Liebe urteilte. (Iwan
Turgenjew: Drei Begegnungen, Erzählungen, S. 53)
"Einen Scherz verübeln, wie könnte man das? Denken
wir bloß an Iwan Illitsch; er trägt bei uns den
Scherznamen 'Schmiegsame Seele", weil er einfach zu
nichts nein sagen kann. Na, und fühlt sich Iwan
Illitsch deshalb gekränkt? Nie!" (...) Der Name
'Schmiegsame Seele" paßte wahrhaftig genau zu Iwan
Illjitsch. Keine Spur fand sich an ihm von dem, was
man Willen oder Charakter nennt. Jeder, der nur
wollte, konnte ihn zu jedem beliebigen Ziel
mitnehmen; er brauchte bloß zu sagen: Iwan Illjitsch,
wir fahren los! Und dieser griff nach dem Hut und fuhr
mit. Kam ein anderer daher, der zu ihm sprach: Iwan
Illjitsch, bleiben Sie!, so hängte Iwan Illjitsch den
Hut an den Haken und blieb. (Iwan Turgenjew: Drei
Begegnungen, Erzählungen, S. 273f.)
Auf halbem Wege zwischen seinem Gut und
Ipatowka, oberhalb einer breiten Schlucht, dicht am
Abhang, wuchsen gedrängt, gleichsam eine Schonung
bildend, junge Birken. Noch hatte keines Menschen
Axt ihre schlanken Stämme berührt; ein lichter, doch
beinahe geschlossener Schatten fiel von den kleinen
Blättern auf das weiche Gras, zwischen dessen
dünnen Halmen, das Grün sprenkelnd, sich die
goldenen Köpfchen des Hahnenfußes, die weißen
Ringel der Waldglockenblumen und die
himbeerfarbenen Kreuzchen der Nelken reckten. Die
Sonne, die eben aufging, tauchte den ganzen Hain in
kräftiges, wenn auch nicht blendendes Licht; überall
blitzten Tautröpfchen; hier und da funkelten
unvermittelt auch große Tropfen, färbten sich rot;
alles atmete Frische, Leben und jene makellose
Feierlichkeit der ersten Augenblicke des Morgens, da
alles schon so hell und noch so still ist. Nichts war zu
hören als die perlenden Stimmen der Lerchen über
den fernen Feldern, und im Hain selbst ließen sich
zwei, drei Vögelchen ohne Hast ihre kurzen Strophen
ertönen, und nachher lauschten sie gleichsam, wie es
ausgefallen sei. Von der feuchten Erde stieg
gesunder, kräftiger Geruch auf; die reine, leichte Luft
plätscherte in weichen, kühlen Wellen. In allem regte
sich, offenbarte sich der Morgen, ein herrlicher
Sommermorgen, in allem lächelte der Morgen, wie das
rotwangige, eben gewaschene Gesichtchen eines
erwachten Kindes. (Iwan Turgenjew: Drei
Begegnungen, Erzählungen, S. 311f.)
"Wissen Sie, warum ich trinke? Schauen Sie mal nach
der Schwalbe dort... Sehen Sie, wie keck sie über
ihren kleinen Körper verfügt - wirft ihn dorthin, wohin
sie will! Da schwingt sie sich empor, da stößt sie
hinab, schmettert sogar Freudenlaute, hören Sie?
Eben darum trinke ich, Mascha - um des Gefühls
willen, das die Schwalbe erfüllt. Sich selbst nach
Herzenslust hierhin und dorthin zu schnellen, auf und
ab durch die Lüfte...." "Und wozu?" unterbrach ihn
Mascha. "Was heißt: 'Wozu?' Was wäre sonst das
Leben?" "Und ohne Wein wäre das nicht zu erreichen?
" "Nein, weil wir alle verdorben, zerknittert sind. Die
Leidenschaften freilich, die bewirkt dasselbe. Eben
darum liebe ich Sie". (Iwan Turgenjew: Drei
Begegnungen, Erzählungen, S. 315)
Deutsche Bücher sind ziemlich leicht zu
lesen, wenn man sie vor den Spiegel hält
oder sich auf den Kopf stellt - um den Aufbau
umzukehren -, aber ich glaube, eine deutsche
Zeitung lesen und verstehen zu lernen ist eine
Sache, die einem Ausländer stets
unmöglich bleiben muß. Aber sogar
die deutschen Bücher sind nicht ganz frei
von Anfällen der Parenthesenstaupe - obwohl
diese gewöhnlich so mild verläuft,
daß sie nur ein paar Zeilen umfaßt,
und daher vermittelt das Verb, wenn man sich
endlich zu ihm hinabgearbeitet hat, dem Verstand
noch einen gewissen Sinn, weil man sich noch
an eine ganze Menge von dem erinnern kann, was
davor stand. (...) Ich habe gehört,
daß sie manchmal, wenn sie eine oder zwei
Spalten lang aufregende Einleitungen und
Parenthesen dahergeschwafelt haben, in Zeitnot
geraten und in Druck gehen müssen, ohne
überhaupt bis zum Verb gekommen zu sein.
Natürlich läßt das den Leser
in einem Zustand starker Erschöpfung und
Unwissenheit zurück. (Mark Twain: Die
schreckliche deutsche Sprache)
Die Deutschen haben noch eine Art von Parenthese, die sie
bilden, indem sie ein Verb in zwei Teile spalten und die eine
Hälfte an den Anfang eines aufregenden Absatzes stellen
und die andere Hälfte an das Ende. Kann sich jemand etwas
Verwirrenderes vorstellen? Diese Dinger werden »trennbare
Verben« genannt. Die deutsche Grammatik ist übersät von
trennbaren Verben wie von den Blasen eines Ausschlags;
und je weiter die zwei Teile auseinandergezogen sind, desto
zufriedener ist der Urheber des Verbrechens mit seinem
Werk. (Mark Twain: Die schreckliche deutsche Sprache)
In Deutschland fangen alle Substantive mit einem
Großbuchstaben an. Das ist nun mal eine gute Idee; und
eine gute Idee fällt in dieser Sprache notwendigerweise
wegen ihrer Seltenheit auf. Ich halte die Großschreibung der
Substantive für eine gute Idee, weil man daran fast immer
das Hauptwort erkennen kann, sobald man es sieht.
Gelegentlich gerät man in einen Irrtum, weil man den
Namen einer Person fälschlich für den Namen einer Sache
hält und ziemlich viel Zeit mit dem Versuch vergeudet, einen
Sinn herauszugraben. (Mark Twain: Die schreckliche
deutsche Sprache)
Ich habe von einem amerikanischen Studenten gehört, der
gefragt wurde, wie er mit seinem Deutsch vorankomme,
und prompt antwortete: "Ich komme überhaupt nicht
voran. Ich habe drei volle Monate lang hart daran
gearbeitet, und alles, was ich vorweisen kann, ist nur der
eine deutsche Satz: 'Zwei Glas!'" (Zwei Glas Bier.) Er hielt
einen Augenblick nachdenklich inne, dann fügte er mit
Nachdruck hinzu: "Aber das sitzt!" (Mark Twain: Die
schreckliche deutsche Sprache)
Sie gehörte zu den Leuten, die auf jede Medizin
schwören und alle neu erfundenen Heilmethoden. Sie
war unermüdlich in ihren Experimenten. Sobald sie
von etwas Neuem in der Branche hörte, brannte sie
darauf, es zu probieren; nicht an sich selbst, denn sie
war nie leidend; aber am ersten besten, der ihr in die
Hände fiel. Sie war Abonnentin sämtlicher »Heil«-
Zeitschriften und jedes gedruckten,
wissenschaftlichen Betruges; den größten Unsinn, mit
dem nötigen feierlichen Ernst vorgetragen, nahm sie
wie ein Evangelium auf in ihrer Unwissenheit. Alle
Abhandlungen über Ventilation, das Zubettgehen und
Aufstehen, Essen und Trinken, über das Maß der
nötigen Bewegung, die Gemütsverfassung, die Art der
Kleidung, erschienen ihr einfach einwandfrei, und sie
merkte gar nicht, daß die Gesundheits-Journale des
laufenden Monats gewöhnlich all das widerriefen, was
sie im Monat vorher empfohlen hatten. Sie war
einfachen Herzens und so ehrenhaft, wie der Tag lang
is t, und so war sie ein leichtes Opfer. (Mark Twain:
Tom Sawyers Abenteuer, S. 95)
"Na, und du willst gar nichts sparen?" "Sparen?
Wozu?" "Na, damit du später mal was zu leben hast."
"Ach, das ist ja Unsinn. Pap wird eines schönen Tags
in dies liebliche Nest zurückkommen und seine Klauen
drauf legen, wenn ich’s noch nicht verbraucht hätt’,
und ich sag’ dir, der hätt’s sehr bald durchgebracht. -
Was willst du tun, Tom?" "Ich werd’ mir ’ne neue
Trommel kaufen und ’n richtiges Schwert und ’n roten
Schlips und ’ne junge Bulldogge - und dann würd’ ich
heiraten." "Heiraten?!!" "Na ja!" "Tom, du - na, wenn
du nicht recht bei Verstand bist!" "Wart’ nur - wirst’s
ja sehn." "Na, das ist doch’s Dümmste, was du tun
kannst. Sie doch nur meinen Pap und seine Alte.
Teufel - was die sich prügelten! Weiß ich noch ganz
gut! Und wenn sie mal ausnahmsweise einig waren,
dann sind sie zu zweit über mich hergefallen." "Das
ist ’n anderes Ding. Das Mädchen, das ich heirate,
prügelt sich nicht!" (Mark Twain: Tom Saywers, S.
183)
Zur rechten Zeit war das Schiff bereit, seine
Passagiere aufzunehmen. Ich wurde dem jungen
Mann vorgestellt, der die Kajüte mit mir teilen sollte,
und fand ihn intelligent, heiteren Gemüts, selbstlos,
voll großmütiger Regungen, geduldig, rücksichtsvoll
und wunderbar gutmütig. Wohl keiner der Passagiere,
die mit der "Quaker City" reisten, wird die Bestätigung
des soeben Gesagten verweigern. Wir suchten uns
eine Luxuskabine aus, die steuerbord vor dem Rad
"unter Deck" lag. Sie enthielt zwei Schlafkojen, ein
trübes Deckenlicht, einen Ausguß mit einer
Waschschüssel und eine lange, üppig gepolsterte
Truhe, die teils als Sofa und teils als Versteck für
unsere Sachen dienen sollte. Trotz aller dieser
Einrichtungsgegenstände war noch genügend Raum
vorhanden, um sich darin umzudrehen, aber nicht, um
eine Katze herumzuschwingen, jedenfalls nicht mit
völliger Sicherheit für die Katze. Immerhin war der
Raum für eine Schiffskabine groß und in jeder Hinsicht
befriedigend. (Mark Twain: Die Arglosen im Ausland,
S. 20)
Der Grund und Boden dürfte inzwischen ziemlich
heilig geworden sein, möchte man meinen. Ein
Abschnitt dieses edlen, alten Bauwerks erinnert an
die wunderlichen Gepflogenheiten alter Zeiten. Es
wurde von Jean sans Peur, Herzog von Burgund,
errichtet, der sein Gewissen beruhigen wollte - er
hatte den Herzog von Orleans ermordet. Ach, jene
guten, alten Zeiten sind vorbei, als ein Mörder noch
den Makel von seinem Namen wischen und seine
innere Not besänftigen konnte, indem er einfach
Ziegelsteine und Mörtel auspackte und einer Kirche
einen Anbau hinzufügte! (Mark Twain: Die Arglosen
im Ausland, S. 114)
Gerade in diesem Punkt liegt der hauptsächliche Reiz
des Lebens in Europa - in der Geruhsamkeit. In
Amerika geht alles Tempo - das ist in Ordnung; aber
wenn die Tagesarbeit getan ist, denken wir weiter an
Verlust und Gewinn, planen für den nächsten Tag,
nehmen unsere Geschäftssorgen sogar mit zu Bett
und werfen uns hin und her und grübeln über sie
nach, während sich unser geplagter Kopf und Körper
lieber im Schlaf erholen sollte. Wir verpulvern mit
diesen Aufregungen unsere Kräfte und sterben
entweder zeitig oder verfallen der Kraftlosigkeit und
Armseligkeit des Alters schon zu einem Zeitpunkt
unseres Lebens, den man in Europa das beste
Mannesalter nennt. (Mark Twain: Die Arglosen im
Ausland, S. 163)
Ich beneide die Europäer um die Geruhsamkeit, die
sie sich leisten. Wenn das Tagewerk getan ist,
vergessen sie es. Einige von ihnen gehen mit Frau
und Kindern in eine Bierhalle und setzen sich dort
still und gelassen hin, trinken ein oder zwei Krüge
Bier und lauschen der Musik; andere bummeln durch
die Straßen, andere fahren in den Alleen spazieren,
wieder andere versammeln sich am frühen Abend in
den großen Anlagen, um den Anblick und den Duft der
Blumen zu genießen und sich ein Platzkonzert
anzuhören - es gibt wohl keine europäische Stadt
ohne gute Militärmusik zur Abendstunde; und noch
andere Leute sitzen im Freien vor den
Erfrischungsstätten, essen Eis und trinken harmlose
Getränke, die einem Kinde nicht schaden. Sie gehen
einigermaßen früh zu Bett und schlafen gut. Immer
sind sie ruhig, immer gesittet, immer fröhlich und
gelassen und wissen das Leben und seine zahlreichen
Segnungen zu schätzen. Man sieht niemals einen
Betrunkenen. Die Veränderung, die sich in unserer
Gesellschaft bemerkbar macht, ist überraschend. Tag
für Tag legen wir etwas von unserer Rastlosigkeit ab
und nehmen etwas von dem Geist der Ruhe und
Gelassenheit an, der in der ruhigen Atmossphäre um
uns und im Verhalten der Menschen zu spüren ist.
Rasch werden wir weise. Wir beginnen zu begreifen,
wozu das Leben da ist. (Mark Twain: Die Arglosen im
Ausland, S. 164)
Wir erreichten Venedig um acht Uhr abends und
bestiegen einen Leichenwagen, der zum Grand Hotel
d'Europa gehörte. Zumindest glich es mehr einem
Leichenwagen als etwas anderem, obwohl es,
wenigstens auf dem Papier, eine Gondel war. Das
also war die gefeierte Gondel von Venedig! - das
Märchenboot, in dem die fürstlichen Kavaliere der
guten alten Zeit das Wasser der mondbeschienenen
Kanäle durchpflügten und mit der Beredsamkeit der
Liebe in die sanften Augen patrizischer Schönheiten
blickten, während der fröhliche Gondoliere in
seidenem Wams seine Gitarre zupfte und sang, wie
eben nur Gondolieri singen können! Das also ist die
berühmte Gondel und das der prächtige Gondoliere! -
das eine ein tintenschwarzes, verschossenes altes
Kanu mit einem daraufgesetzten düsteren
Leichenwagenaufbau, und der andere ein schäbiger,
barfüßiger Gassenjunge, an dem Teile der Kleidung
zur Schau gestellt waren, die einer öffentlichen
Inspektion hätten vorenthalten bleiben sollen.
Während er um eine Ecke bog und seinen
Leichenwagen in einen schaurigen Graben zwischen
zwei Reihen hochaufragender, unbewohnter Gebäude
schießen ließ, begann der fröhliche Gondoliere
plötzlich, getreu den Traditionen seiner Gattung, zu
singen. Ich hielt es eine kurze Zeit aus. Dann sagte
ich: "Jetzt hör mal her, Roderigo Gonzales
Michelangelo, ich bin ein Pilger, und ich bin ein
Fremder, aber ich bin nicht gewillt, meine Gefühle von
einem solchen Gejaule zerfleischen zu lassen. Wenn
das nicht aufhört, muß einer von uns ins Wasser. Es
genügt, daß meine langgehegten Träume von Venedig
für immer dahin sind, was die romantische Gondel
und den prächtigen Gondoliere angeht; diese
systematische Vernichtung soll nicht weiterschreiten;
ich werde unter Protest den Leichenwagen
akzeptieren, und du magst unbehelligt deine
Parlamentärsflagge wehen lassen, aber hiermit
verkünde ich einen finsteren und blutigen Schwur, daß
du nicht mehr singst. Noch ein Quieckser, und du
gehst über Bord." (Mark Twain: Die Arglosen im
Ausland, S. 192f.)
Wir gingen weiter und hielten an der Marienquelle.
Aber das Wasser war nicht gut, und es gab nirgends
Erquickung oder Ruhe, wegen eines Regiments von
Knaben, Mädchen und Bettlern, das uns die ganze
Zeit über verfolgte, um ein Bakschisch zu ergattern.
Der Führer wünschte, daß wir ihnen etwas Geld
gäben, und wir taten es; aber als er fortfuhr und
sagte, sie wären am Verhungern, konnten wir nur
empfinden, daß wir eine große Sünde damit begangen
hatten, Hindernisse auf den Weg zu einem so
wünschenswerten Ziel zu werfen, und daher
versuchten wir, es wieder einzusammeln, aber das
ging nicht. (Mark Twain: Die Arglosen im Ausland, S.
544)
Der Gedanke, wie nahe sie selbst einem Sündenfall
gewesen war, entsetzte sie; sie war vor vierzehn Tagen
gerade noch zur rechten Zeit durch eine
Erweckungsversammlung in der Methodistenkirche der
Farbigen davor bewahrt worden. Zu diesem Analß nämlich
hatte sie "sich bekehrt". Gerade am Tag nach jenem
gnadenvollen Ereignis, als ihr Sinneswandel für sie
noch frisch und sie noch stolz auf ihren geläuterten
Zustand war, hatte ihr Herr ein paar Dollars offen auf
seinem Schreibtisch liegenlassen, und sie war zufällig
beim Staubwischen auf diese Versuchung gestoßen. Sie
betrachtete das Geld eine Weile lang mit ständig
wachsenden Bedauern, dann brach es aus ihr heraus:
"Verfluchte Erweckung, wär se nur erst morgen gewesen!"
(Mark Twain: Knallkopf Wilson, S. 28)
Die Schwarzen hatten eine ungünstige Ausgangsposition
im Daseinskampf, und sie hielten es daher nicht für
sündhaft, eine Schwäche des Gegners auszunutzen - in
bescheidenem Maße; stets nur in bescheidenem Maße; nie
darüber hinaus. Sie klauten Vorräte aus der
Speisekammer, sooft sie die Gelegenheit dazu hatten;
oder sie stibitzten einen Messingfingerhut, eine
Wachsplatte, Schmirgeltüten zum Polieren von Nähnadeln,
ein Nadelheft, einen silbernen Löffel, einen
Dollarschein, kleinere Kleidungsstücke oder einen
anderen Artikel von geringem Wert. Und es lag ihnen so
fern, solche Beutezüge als Sünde zu betrachten, daß sie
mit ihrem Diebesgut in der Tasche in die Kirche gingen
und, so laut sie nur konnten, sangen und beteten. Eine
Räucherkammer mußte man gut verschließen, denn selbst
der farbige Pastor konnte einem Schinken nicht
widerstehen, wenn die Vorsehung ihm im Traum oder
anderweitig verkündete, wo ein solcher einsam hing und
sich nach einer liebenden Seele sehnte. Doch selbst
wenn der Pastor hundert Schinken vor sich hängen sähe,
würde er keine zwei nehmen - jedenfalls nicht in
derselben Nacht. In frostigen Nächten pflegte der
tierliebende schwarze Strauchdieb das eine Ende eines
Bretts anzuwärmen und es unter die kalten Krallen eines
auf einem Baum nächtigenden Huhns zu halten; eine
schlaftrunkene Henne trat dann mit dankbaren Glucksen
auf das behagliche Brett, der Strauchdieb verstaute sie
in seinem Sack, später in seinem Magen und war sie
absolut sicher, das dieses wenige, was er dem Mann
wegnahm, der ihn täglich eines unschätzbaren Gutes -
seiner Freiheit - beraubte, keine Sünde war, die Gott
ihm am Jüngsten Tag aufrechnen würde. (Mark Twain:
Knallkopf Wilson, S. 26f.)
Noch nie waren die Jungs von der Feuerwehr so schnell
zur Stelle; sie hatten es diesmal nicht weit, da ihre
Station sich auf der Rückseite der Markthalle befand.
Es gab eine Spritzenkolonne und eine Haken-und-Leiter-
Kolonne. Sie rekrutierten sich beide jeweils zur Hälfte
aus Schnapsfreunden und zur anderen Hälfte aus
Schnapsgegnern, ganz der moralischen und politischen
Halbpart-Fasson der Grenzstadt jener Zeitläufte
entsprechend. In der Station lungerten genug
Schnapsgegner herum, um die Spritze und die Leitern zu
bedienen. In zwei Minuten hatten sie ihre roten Hemden
und Helme angelegt - denn sie regten in Ausübung des
Diensts keinen Finger ohne Dienstuniform -, und als
oben die Teilnehmer der Massenkundgebung durch die
lange Reihe von Fenstern quollen und sich auf das Dach
des Laubengangs ergossen, empfingen die Retter sie mit
einem starken Wasserstrahl, der einige vom Dach spülte
und den Rest beinahe ersäufte. Wasser ist allemal
angenehmer als Feuer, die panische Flucht aus den
Fenstern ging weiter, und die Flüchtenden wurden
weiterhin von erbarmungslosen Wassergüssen attackiert,
bis sich der Saal geleert hatte; dann stürmten die
Feuerwehrsleute hinein und überfluteten ihn derart, daß
es ausgereicht hätte, ein vierzigmal größeres Feuer zu
löschen; denn eine kleinstädtische Feuerwehr erhält
nicht oft die Gelegenheit zur Vorführung ihrer Künste;
wenn sich daher eine bietet, wird sie voll ausgenutzt.
Die Bürger der Stadt, die zu Umsicht und Weitblick
neigten, versicherten sich daher nicht gegen
Feuerschaden; sie versicherten sich gegen die
Feuerwehr. (Mark Twain: Knallkopf Wilson, S. 141)
"Gib mir das deutsche Buch her, das auf dem Kaminsims liegt, und eine Kerze; doch zünde sie nicht an; gib mir das Streichholz; ich werde sie hier drinnen anzünden. Das Buch enthält einige Ratschläge."
(...)
"Mortimer, hier heißt es: Während eines Gewitters entledige
man sich aller Metallgegenstände, wie zum Beispiel Ringe,
Uhren, Schlüssel und so weiter, und nähere sich auch nicht
solchen Stellen, wo viele Metalle beieinanderliegen oder
mit anderen Körpern verbunden sind, wie an Herden, Öfen,
Eisengittern... Verstehst du das, Mortimer? Bedeutet das
nun, daß man Metalle bei sich haben oder von sich fernhalten
soll?" "Ja, ich weiß es auch nicht recht. Es kommt mir etwas
unklar vor. Alle deutschen Ratschläge sind mehr oder weniger
unklar. (Mark Twain: Humoristische Erzählungen)
Simkas erstaunlichster Charakterzug war ihre ungeheure
Eitelkeit. Sie brüstete sich mit ihrem Scheuerlappen
aus bestem Sackleinen; wenn sie im Frühjahr ihr
riesiges Federbett zum Lüften aufhängte, war sie so
stolzgebläht, als hinge auf der Leine mindestens ein
Zobelpelz; über den grünen Klee lobte sie ihren Mann,
den besten aller Verstorbenen; selbst das totale Fehlen
jeglicher Zähne im eigenen Mund hielt sie für einen
interessanten Umstand, würdig, wenn schon nicht
bewundert, so doch bestaunt zu werden. (Ljudmila
Ulitzkaja: Sonetschka und andere Erzählungen, S. 10)
Emma Aschotowna war eine originelle Person mit ganz
eigenem Lebenssystem, in dem strenge moralische
Grundsätze, eine abgebrochene Hochschulbildung,
besagter Aberglaube und zum Prinzip erhobene Launen,
die für ihre Mitmenschen im übrigen harmlos waren,
gleichberechtigt nebeneinander existierten. Zu
letzteren gehörte zum Beispiel der völlige Verzicht auf
Hammelfleisch, einen gängigen Bestandteil der
armenischen Küche, der unerschütterliche Glaube an die
Heilkraft der Quittenblätter, die Angst vor gelben
Blumen und die heimliche Angewohnheit, Zahlenreihen
herzubeten wie einen Rosenkranz. Mit Hilfe dieses
eigenwilligen Spiels bewältigte sie in der Regel die
Alltagsaufgaben. (Ljudmila Ulitzkaja: Sonetschka und
andere Erzählungen, S. 137)
[Nach oben]
[Allgemeine Fundstücke]
|
|