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Allgemeine Fundstücke / [S_2]
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Doc war der alleinige Eigentümer, Direktor, Praktikant
und Aufwärter des Western Biological. Er war klein von
Gestalt, aber das täuschte! Er war verdammt stark und
sehnig, und wenn ihn die Wut packte, konnte die Sache
gefährlich werden. Er trug einen Bart. Sein Gesicht war
eine Mischung aus Christus- und Satyrkopf, und das
entsprach seinem innersten Wesen. Er hatte, so hieß es,
schon manchem Mädchen aus einer Verlegenheit heraus-
und in eine zweite hineingeholfen. Er hatte Hände wie
eine Gehirnchirurg, einen kühlen Geist und ein warmes
Herz. Wenn ihm ein Hund begegnete, griff er an seinen
Hut. Dann sah der Hund zu ihm empor und lächelte. Doc
konnte, wenn es sein mußte, alles und jedes töten, doch
ohne wisseschaftlichen Grund keiner Fliege etwas
zuleide tun. Vor einer einzigen Sache hatte er Angst:
sein Kopf könnte naß werden; er trug daher, ob Sommer,
ob Winter, einen wasserdichten Hut. Er konnte bis zur
Brust durch einen Tümpel waten, ohne daß ihn die Nässe
genierte, docvh ein Tröpfchen Regen auf seinen Scheitel
regte ihn wahnsinnig auf. (John Steinbeck: Die Straße
der Ölsardinen, S. 25f.)
Hazel wuchs heran, besuchte vier Jahre lang die
Grundschule und vier Jahre eine Hilfsschule und lernte
in beiden nichts. In Hilfsschulen lernt man, so heißt
es, Verbrechen und Laster. Aber da Hazel beim
Unterricht nicht aufpaßte, hatte er beim Verlassen der
Hilfsschule so wenig Ahnung von Lasterhaftigkeit und
Verbrechertum wie von Bruchrechnung und Regeldetri.
Hazel hatte eine besondere Vorliebe für Konversation -
nicht etwas für deren Inhalt; er liebte vielmehr das
Plätschern der Worte und stellte Fragen, nicht der
Antwort wegen, sondern nur, damit es weiterplätscherte.
(...) Während er krampfhaft nach einer Fragemöglichkeit
Umschau hielt, denn er war ein langsamer Denker,
stellte plötzlich Doc eine Frage. Das paßte Hazel gar
nicht; denn dann mußte er in seinem Hirnkasten nach
einer Antwort herumstöbern, und das war gerade, als
müsse man in einem ungeordneten Muesum ohne
Beschriftung und Katalog etwas Bestimmtes suchen. (John
Steinbeck: Die Straße der Ölsardinen, S. 28f.)
"Ich fand es schon immer merkwürdig", sagte Doc, "daß
alles, was wir Menschen bewundern, Edelmut, Güte,
Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Anstand, Mitgefühl, Herz,
in unserem Gesellschaftssystem nur zu Fehlschlägen
führt. Während alle Eigenschaften, die wir angeblich
verachten, Härte, Raffsucht, Selbstsucht und
Charakterlosigkeit, zum Erfolg beitragen. Jenen guten
Eigenschaften gilt die Bewunderung der Menschen, doch
was sie mit Vorliebe produzieren, sind die
grundschlechten." (John Steinbeck: Die Straße der
Ölsardinen, S. 109)
Mary Talbot, das heißt Mrs. Tom Talbot, war eine aparte
Erscheinung. In ihrem roten Haar spielten grünliche
Lichter. Ihre Haut war wie Gold, durch welches ein
zartes Grün schimmert, ihre Augen grün mit kleinen
goldenen Tupfen, ihr Gesicht dreieckig: breite Stirn
und Backenknochen, das Kinn schmal, nach unten spitz.
Ihre Beine und Füße waren die einer Tänzerin, lang und
schmal; beim Gehen schienen sie kaum den Boden zu
berühren. Wenn Mary erregt war, und das war sie fast
immer, schimmerte ihr Gesicht in rötlichem Gold. Ihre
Urururururgroßmutter war als Hexe verbrannt worden.
(John Steinbeck: Die Straße der Ölsardinen, S. 115)
Sie konnte mit ihrer Fröhlichkeit ein ganzes Haus auf
den Kopf stellen und handhabte diese Begabung als Waffe
gegen die Niedergeschlagenheit, die ihren Tom bedrängte.
Sie hielt es für ihre Pflicht, ihm die Verzagtheit vom
Leibe zu halten: "Das weiß doch jeder, daß du noch
einmal ganz, ganz großen Erfolg hast!" Sie selbst hatte
jetzt schon Erfolge, denn sie jagte den Trübsinn zum
Hause hinaus. Aber er drang immer von neuem ein und
quälte Tom, daß er stundenlang vor sich hinbrütete,
während sie ihre lustigen Einfälle aufsteigen ließ.
(John Steinbeck: Die Straße der Ölsardinen, S. 116)
Manchmal, wenn ich schreibe, bin ich einer Art
Bewusstlosigkeit nahe. Dann ändert die Zeit ihren
Charakter, und Minuten verflüchtigen sich ins Gewölk
einer Zeit, die etwas Einheitliches ist, eine einzige
Zeitspanne. Ich habe schon gedacht, wenn wir von
unserem Uhrzeigerdenken loskommen könnten, dann gäbe es
es vielleicht überhaupt keine Zeitspannen mehr. Dann
wäre die Weltgeschichte und alles, was ihr vorausging,
nur ein Aufblitzen wie ein zerplatzender Stern, ewig
und zeitlos. (John Steinbeck, Tagebuch eines Romans)
Senora Teresina Cortez lebte mit ihrer betagten Mutter und ihren
acht Kindern in einem hübschen Häuschen am Rande jener tiefen
Schlucht, die die Südgrenze von Tortilla Flat bildet. Teresina bot
den angenehmen Anblick einer voll entwickelten Frau von nahezu
dreißig Jahren. Ihre Mutter, früh gealtert, vertrocknet und zahnlos,
ein Überbleibsel aus einer vergangenen Generation, war um die
fünfzig Jahre alt. Es war lange her, daß sich jemand erinnerte, daß
ihr Name Angelica war. Während der Woche gab es genug Arbeit für
die Vieja, denn es war ihre Aufgabe, sieben von diesen acht Kindern
zu essen zu geben, sie zu schelten und zu liebkosen, anzukleiden und
zu Bett zu bringen. Teresina war mit dem achten beschäftigt und
stellte sich bereits auf das neunte ein. Sonntags jedoch schlug die
Vieja, gekleidet in schwarze Seide, die noch älter war als sie
selbst, angetan mit einem düsteren, aber unverwüstlichen Strohhut,
auf dem zwei "echte" Kirschen aus emaillierten Gips prangten, ihre
Pflichten in den Wind und ging standhaft zur Kirche, wo sie so
reglos wie die Heiligen in ihren Nischen dasaß. Einmal im Monat ging
sie nachmittags zur Beichte. Es wäre interessant zu erfahren, was
für Sünden sie beichtete und wo sie die Zeit hernahm, sie zu
begehen; denn in Teresinas Haus kroch und krabbelte, stolperte und
schrie es immerfort; bald wurde eine Katze getötet, bald fiel ein
Kind vom Baum, und man konnte sicher sein, daß sich alle zwei
Stunden irgendein Schrecknis solcher Art ereignete. Ist es daher zu
verwundern, daß die Seele der Vieja von irdischen Dingen lösgelöst
war und daß sie Nerven aus Stahl besaß. Jede Seele von anderer
Beschaffenheit hätte ihren Körper zsichend wie eine hochfliegende
Rakete verlassen. (John Steinbeck: Tortilla Flat)
Was ist ein Paisano? Eine Mischung aus spanischem, indianischem,
mexikanischem und erlesenem kaukasischem Blut. Seine Vorfahren haben
seit ein bis zwei Jahrhunderten in Kalifornien gelebt. Er spricht
englisch mit dem Akzent eines Paisanos, und spanisch mit dem
gleichen Akzent. Stellt man ihm eine Frage ob seiner Rasse, so pocht
er entrüstet auf sein spanisches Blut und krempelt den Ärmel hoch,
um zu zeigen, daß die weiche Innenseite seines Armes fast weiß ist.
Wenn seine Hautfarbe einer stark gebräunten Meerschaumpfeife
gleicht, so erklärt er dies damit, daß er sonnenverbrannt sei. (John
Steinbeck: Tortilla Flat)
Ein Restaurant wie die "Manufaktur Orlog" war
Reisiger noch nie untergekommen. Es war ihm sofort
höchst unsympathisch. Nicht nur, weil es sich
offenkundig um eine dieser Anstalten handelte, in
denen man bereits für das Einatmen abgestandener
Luft zur Kassa gebeten wurde und jeder noch so
kleine Handgriff des Personals als übermenschlich
galt, sondern vor allem auf Grund der artifiziellen
Verbindung eines hochgestochenen modernen mit
einem abgründig antiquarischen Stil. Es war somit
dieser kunstgeschichtliche Impetus, der Reisiger
augenblicklich das Gefühl gab, eine gastronomische
Schreckenskammer betreten zu haben. (Heinrich
Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 79)
"Ein Flugticket nach Linz", erklärte Pliska. "Samstag
vormittag. Ich würde Sie von Linz abholen." "Linz?"
fragte Reisiger, wie man fragt: Fieber? "Ja. Bobeck
lebt in Österreich. Ich hoffe, das ist kein Problem für
Sie." "Es ist..." Reisiger konnte nicht recht sagen, was
er von diesen Leuten hielt, die nach Österreich
gingen, wohl in der merkwürdigen Annahme, daß dort
irgend etwas besser sei, die Luft ein wenig luftiger
und die Wiesen mehr nach echter, wirklicher Wiese
rochen, der Zufall des Lebens noch eine Spur
zufälliger vonstatten ging, die Menschen vergnügter
waren als etwa in Hamburg... Aber war das eine
Kunst? Vergnügter als die Hamburger sein? War das
ein Grund, sich in diesem Land niederzulassen, das
von der Geschichte zurechtgestutzt worden war und
aus diesem Zustand des Gestutztseins das Recht auf
idyllische Kleinstaatlichkeit bezog? (Heinrich
Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 59)
Der mächtige und in keiner Weise vertuschte, auch
gar nicht vertuschbare Busen. In dem engen Kleid,
dem engen Netz und dem runden Ausschnitt lag er
schwer und mitteilsam. Diesem Busen mangelte jene
feststehende, kuppelige, gleichmäßige Form, die an
Soldatenhelme erinnerte und entweder auf ein
jugendliches Gewebe oder einen operativen Eingriff
zurückzuführen war. Vielmehr nahm er eine
angelehnte Position ein, die seiner Schwere und
Größe entsprach. Ein solcher Busen mußte auch ein
wenig hängen, um überhaupt ernst genommen zu
werden und nicht bloß als optische Skurrilität zu
fungieren. (Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle,
S. 92)
Für Leo ergab sich der Sinn des Trinkens weniger
dadurch, große Mengen in kurzer Zeit
hinunterzustürzen und einen Zustand der
Benommenheit zu erklimmen (als klettere man
gipfelwärts auf einen auf dem Kopf stehenden
Berg), sondern einfach darin, nie wirklich nüchtern
zu sein. Diese mengenmäßige Beschränkung,
die Art, wie er die Drinks gleich einem herzkranken
Langstreckenläufer geordnet über den Tag
verteilte, wurde ihm als Vernunft ausgelegt.
(Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 250)
Ohne diesen Kugelschreiber wäre Reisiger nicht aus
dem Haus gegangen, so wie er auch schon zuvor
niemals ohne Schreibgerät auf die Straße getreten
war. Alles eine Frage der Sicherheit. Und zwar im
engsten Sinne. Denn aus unerfindlichen Gründen war
Reisiger der Überzeugung, daß irgendwann einmal
eine Situation eintreten werde, in der sich der Besitz
eines Schreibeinstruments als absolut notwendig
erweisen und das Fehlen eines solchen Geräts zur
persönlichen, wenn nicht sogar überpersönlichen
Katastrophe führen würde. Nicht, daß Reisiger auch
nur einen Schimmer davon besaß, von welcher
Katastrophe die Rede hätte sein müssen. Es war die
pure Intuition, die ihn diesbezüglich trieb. Und zwar
von Jugend an. Wobei er wohl nicht der einzige war.
Möglicherweise rüsteten sich Hunderttausende von
Menschen Tag für Tag mit Kugelschreiben oder
Wäscheklammern oder Teebeuteln oder einer ganz
bestimmten Art von Schraubenschlüsseln aus, in
Erwartung einer Konstellation, deren fatale
Auswirkung sich etwa nur durch eine Wäscheklammer
verhindern lassen würde. Es mochte Leute geben,
welche die Vision in sich trugen, eines Tages mittels
einer solchen Wäscheklammer die gesamte
Menschheit zu retten. Und wer kann schon sagen, wie
oft die Welt bereits von ihrem Untergang bewahrt
worden war, weil solche Spinner existieren. (Heinrich
Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 15)
Er war das, was man wohl einen "gut" gekleideten
Mann nennt. Nicht mehr und nicht weniger. Seine
Anzüge und Hemden und Krawatten paßten, aber
auch nicht so sehr, daß es jemand verblüfft hätte. Es
gibt solche Leute, die dadurch verblüffen, daß sie
eine Krawatte oder ein Turnschuh oder eine simple
Kappe in einer Weise tragen, als wäre jenes
Kleidungsstück gleich einer Blüte oder einem Geweih
aus ihnen herausgewachsen. Zu denen gehörte
Reisiger nicht. (Heinrich Steinfest: Der Umfang der
Hölle, S. 15)
... war dann aber in jenes mittelgroße Unternehmen
eingetreten, dessen Plattenspieler und Radiogeräte
und CD-Player und Lautsprechersysteme es sich
eigentlich verbaten, genau so, nämlich als
Radiogeräte und Plattenspieler et cetera bezeichnet
zu werden. Zu vollkommen waren sie gestaltet, zu
sehr beruhte ihre Fähigkeit, ein bestimmtes
Geräusch, einen bestimmten Klang an ein ganz
bestimmtes williges Ohr heranzuführen, auf dem
Prinzip der totalen Vereinnahmung und der totalen
Hingabe. Es ging also nicht bloß um die
originalgetreue Wiedergabe, was ohnehin kein
Mensch ernsthaft zu beurteilen verstand, sondern um
die radikale Konzentration, um das vollständige
Eingespanntsein eines Zuhörers in den Klang und in
das Geräusch wie in ein Ei. Man könnte sagen: Es
ging um die Vernichtung des ganzen Menschen zu
Gunsten seines Gehörs. (Heinrich Steinfest: Der
Umfang der Hölle, S. 18)
Pliska rief also nicht etwa "Struppi" oder "Nero" oder
"Churchill", sondern tatsächlich "Vier!", woraufhin ein
eher kleiner Hund, den kurzen Schwanz hoch
aufgerichtet, hinter dem Schreibtisch hervorkam. Er
besaß ein schmales Gesicht, eine längliche Schnauze,
stehende, blattartig spitze Ohren und offenbarte den
für kleingewachsene Mischlingshunde typischen
unmenschlich treuherzigen Blick. Ein Blick gleich einer
devoten Anklage. Einer Anklage gegen eine Welt, in
der das beste Essen auf hohen Tischen landete..
(Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 54)
Steinfest, Heinrich: Der Umfang der Hölle [9]
"Die Natur ist eine Illusion", postulierte Marzell. "Ein
bloßer Hintergrund, wenn Sie so wollen. Großartig
gestaltet, keine Frage, aber sicher nicht von
fundamentaler Bedeutung. Ein Bühnenbild kann nicht
das Stück ersetzen. Kostüme nicht die Figuren.
Anders als mein verehrter Freund Bobeck, halte ich
die Natur für auswechselbar. Wenn es Gott gefallen
hätte, hätte er genausogut dumme Schimpansen und
hochintelligente Meerschweinchen schaffen können.
Ich bin mir sicher, der Mensch hätte in diesem Fall
eine eingängie Beweislage geschaffen, die seine
Abstammung vom Meerschweinchen begründet.
(Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 172)
"Was machen Ihre Kinder?" "Die Tochter lebt in
Toronto ... nein, in Vancouver, ich bringe diese Städte
immer durcheinander. Sie brauchen nicht zu glauben,
meine Tochter sei mir gleichgültig, nur, weil ich ein
paar kanadische Dörfer nicht auseinanderhalten kann.
Susanna war früher in Toronto, jetzt ist sie in
Vancouver. So! Sie arbeitet als Stylistin. Ich weiß
nicht wirklich, was ich mir darunter vorstellen muß. Es
klingt immer, als bestünde ihr Job darin, aus
Menschen erst richtige Menschen zu machen, wie in
diesen Frauenmagazinen, wo man Waschweiber in
Fotomodelle verwandelt." "Sind Waschweiber keine
Menschen." "Ich weiß nicht", sagte Reisiger. "Wenn
Sie's denn sind, wieso müssen Sie sich dann
verwandeln?" Susanna seufzte. Sie schien ihre Frage
zu bereuen. Weshalb sie wieder nach Reisigers
Tochter fragte. "Ich weiß wenig von ihr", gestand
Reisiger. "Sie lebt mit einem Mann zusammen, den
sie ernsthaft ihren Verlobten nennt. Unglaublich. Zu
meiner Zeit dachte man, die letzten Verlobten seien
nach dem zweiten Weltkrieg ausgestorben."
(Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 168)
"Aber Sie sind ja auch ein kräftiger Mann. Karate?
Boxen?" "Ein wenig Boxen", gestand Reisiger, wie
man Krampfadern gesteht. "Eine Sportart, die wieder
in Mode gekommen ist", urteilte die Dame an seiner
Seite, so eine Art in die Jahre gekommenes Modell.
"Ich dachte", meinte Bobeck, "Frauen mögen das."
"Männer denken das", antwortete die Frau, "immer
dann, wenn sie schwitzen." (Heinrich Steinfest: Der
Umfang der Hölle, S. 154)
Diese Leute konnten als Punks oder Ladys auftreten,
Haute Couture erstehen oder Billigware, schlank sein
wie Cindy, fett wie Rosanne oder verkifft wie Kate, es
ging ihnen so gut wie immer um das Erstehen einer
Ware, um die Lust, ein Bankkonto zu leeren, Schulden
zu machen, Bestellscheine auszufüllen, mit dem
Finger auf Dinge zu zeigen und ihren Erwerb zu
fordern, Verkäuferinnen und Verkäufern Beine zu
machen, Stunden und Tage in Kaufhäusern, und noch
lieber, in Einkaufszentren zuzubringen. Sie waren
somit viel eher gute Konsumenten als jene Leute, die
sich einbildeten, über einen eigenen Geschmack zu
verfügen und also ewig auf der Suche waren nach
einem bestimmten Stück, einem bestimmten
Gegenstand, solcherart Unordnung schufen, Nerven
strapazierten und Fußböden abtraten. Dabei blieben
sie genaugenommen unproduktiv, da sich die
Produktivität eines Konsumenten natürlich aus
seinen Investitionen ergibt, und zwar aus einer
raschen Folge derselbigen. Die Proleten , ob nun
arme oder reiche, waren mit Sicherheit die besseren
Konsumenten. Und die moderneren Menschen.
(Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 176)
Susannas Verlobter war ein humorloser Mensch, der
scheinbar immer nur sprach, wenn er etwas wirklich
Wesentliches zu sagen hatte. Sein Kopf schien allein
aus gescheiten Büchern zu bestehen. Er zitierte mehr,
als daß er eine Meinung besaß. Er argumentierte wie
mit einem Hammer, der sich aus den Namen großer
Denker und großer Querdenker zusammensetzte.
Gerade die Sparsamkeit, mit der er diesen Hammer
einsetzte, besaß eine zermürbende Wirkung.
(Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle, S. 261)
Reisiger betrat das Schiff mit einem unguten Gefühl,
nicht etwa, weil dieses schwimmende Hotel einen
schlechten Eindruck machte, ganz im Gegenteil. Auch
sicher nicht deshalb, da man eine Route fuhr, die in
etwa jenen Punkt kreuzte, an dem die Titanic
untergegangen war, konnte niemand einen Schrecken
einjagen. Umso mehr, als man seit damals in
kleinmütiger Weise daran ging, das Abenteuer zu
unterbinden und Eisbergen auszuweichen. Das war es
also nicht. (Heinrich Steinfest: Der Umfang der Hölle,
S. 264)
"Meine Frau behauptet, Sie wären Ehremitglied der
republikanischen Partei." "Mir ist jede andere Partei
genauso unsympathisch. Aber ich sagte ja schon, wer
im Ölgeschäft arbeitet, verhält sich eingleisig. In
meiner Position gehört es einfach dazu, Republikaner
zu sein. Diesem Haufen unmöglicher Leute
anzugehören. Vulgäre Menschen, darunter viele
Schwule. Die von der schrecklichen Sorte, die vor
lauter Angst, entlarvt zu werden, sich markig geben
und gegen alles Schwule wettern. (Heinrich Steinfest:
Der Umfang der Hölle, S. 274)
Alles bestand nun mal aus unglaublichen
Verkettungen, und es war allein Unwissenheit,
mitunter glückliche Unwissenheit, dies nicht zu
erkennen. Was freilich am Resultat nie etwas
änderte. Ob man sich nun auskannte oder nicht.
Orakel etwa waren ausschließlich dazu da, bewußter
als andere in sein Unglück zu stolpern. In Löcher fiel
man, weil man anderen Löchern auswich. Wobei sich
nachträglich immer herausstellte, daß das Orakel
genau dieses Loch gemeint hatte, in das man
gefallen war. Und nicht das, dem man ausgewichen
war. Logisch. (Heinrich Steinfest: Der Umfang der
Hölle, S. 295)
In der schräg gegenüberliegenden Ecke des Tresen hatte
soeben eine Frau auf einem der hohen Hocker Platz
genommen. Und zwar mit einer Bewegung, die an das virtuose
Erreichen eines Ziel erinnerte. Wie ein Pfeil, der einen anderen
spaltet, um im Mittelpunkt zu landen. Die Frau war alleine, und
man konnte spüren, daß sie es auch bleiben wollte. Sie besaß
ein merklich breites Gesicht, das dieser Breite wegen
unnatürlich groß erschien. Dieses physiognomische
Übergewicht wirkte weit weniger irritierend als anziehend. Der
slawische Typ, dachte Mortensen und meinte damit wohl
eine gewisse bäurische Herbheit, als würden alle Slawen direkt
aus dem Kartoffelacker herauswachsen. Und tatsächlich
besaß ihr Gesicht eine strenge, wenn man so will eine
landschaftliche Kontur. Aber als herb konnte man es wirklich
nicht bezeichnen. Und noch weniger als bäurisch. Es war ein
Gesicht, in dem eben alles Feine auch einen groben Anteil
besaß und umgekehrt. Keines von den
Kleinmädchengesichtern, aber auch keine von den Visagen,
die allein von ihrer Fahlheit lebten. (Heinrich Steinfest: Ein
sturer Hund, S. 33)
War Moritz Mortensen ein Lügner? Nun, so konnte man das
eigentlich nicht sagen. Er tat das, was die meisten Menschen
taten, die angesichts eines wenig bedeutsamen Lebens das
Gegebene mit leichter Übertreibung zu dramatisieren
versuchten. Wer konnte oder wollte darauf verzichten? Wer
machte nicht aus zwei Überstunden drei? Wer unterließ es,
eine koventionelle Sauferei zu einem ultimativen Besäufnis
umzudeuten? Wer versuchte nicht, den üblichen Unbill einer
Urlaubsreise als abenteuerlichen Ritt durch die Fremde zu
verkaufen? Wer erzählte nicht überall herum, einmal in einer
Rockband gespielt zu haben? (Heinrich Steinfest: Ein sturer
Hund)
Die Frau trat gerade eben ins Freie. Sie hatte die Türe so weit
aufgestoßen, daß auch Mortensen noch hindurchkam. Einen
kurzen Moment standen sie nebeneinander, wie hingewürfelt,
und als wüßten beide nicht, was sie eigentlich vorhatten. Als
erste brach die Frau aus ihrer Unschlüssigkeit aus, bewegte
sich nach rechts, die ansteigende Straße aufwärts. Mortensen
sah ihr hinterher, betrachtete den hellen Mantel, der oberhalb
der Kniekehlen endete. Betrachtete die Beine in den dunklen
Strümpfen und fühlten sich bestätigt. Der
Turmspringerinnentyp. Kräftig und schlank zugleich. Muskulös,
aber nicht zu muskulös. Und derart elegant in der Art des
Gehens, wie etwa Schwimmerinnen dazu niemals in der Lage
waren. Für Mortensen war überdeutlich zu erkennen, daß
diese Frau sich viele Jahre ihres Lebens über Trampoline und
die Plattformen der Sprungtürme bewegt hatte. Jeder ihrer
Schritte wirkte wie die Vorbereitung zu einem Abheben.
(Heinrich Steinfest: Ein sturer Hund, S. 38)
Im Gang stand eine etwa achtzigjährige Person, ein echtes
Fräulein, nicht im Sinn einer unverheirateten Jungfer, sondern
im Sinn einer überaus resoluten Person. Auch war der Begriff
des Fräuleins in seiner ursprünglichen Bedeutung zu
verstehen, als eine Verkleinerung von 'Herrin'. (...)
Ihr dominantes Auftreten entsprach vielmehr der
Überzeugung, daß es ohne eine gewisse Herbheit, Schärfe
und Strenge für eine Frau nicht möglich gewesen wäre, das
zwanzigste Jahrhundert seelisch wie köperrlich unbeschadet
zu überstehen. (Heinrich Steinfest: Ein sturer Hund, S. 59/60)
Wenn man einem Mann beim Putzen zusah, behauptete Frau
von Wiesensteig, vergesse man mit einem Mal das Mindere
dieser Arbeit, wobei dieses Mindere ja bloß historisch bedingt
sei. Männer verstünden es, mit Würde an eine solche Tätigkeit
heranzugehen. Ein Mann, sagte sie, der ein Fenster putzt,
putzt ein Fenster. Eine Frau hingegen verwandelt diesen
Vorgang in einen Akt der Selbstgeißelung. (Heinrich Steinfest:
Ein sturer Hund, S. 64)
Es existieren, ob maßgeschneidert oder nicht, immer zwei
Arten von Anzügen. Jene Anzüge, die aussehen, als
bestünden sie seit Anbeginn der Welt, ohne ihren stofflichen
Reiz eingebüßt zu haben. Wogegen also der jeweilige Träger
lang nach ihnen kommt, und dessen Ehrgeiz darin besteht,
seinen Körper diesem Anzug anzupassen. Und andererseits
gibt es die Mehrheit der Anzüge, die als zweite kommen und
deren Aufgabe es eigentlich wäre, sich dem Träger
anzugleichen. Was natürlich nicht funktioniert. Anzüge sind
keine Chamäleons, ganz gleich, wieviel an ihnen
herumgeschneidert wird. Ein Anzug paßt, oder er paßt nicht.
Und Chengs Anzug paßte nun mal. Derart, daß man nicht
umhin kam, den Mann bewundernd anzusehen, wie er da auf
eine leichtgewichtige Art an der Theke stand, mit seinem
vorhandenen Unterarm gegen die Kante gelehnt, während der
Ärmel seines fehlenden Körperstücks so formvollendet in die
Anzugstasche mündete, daß eben genau der Eindruck
entstand, Markus Cheng habe seinen linken Unterarm einfach
nur deshalb verloren, um sich derart makellos in diesen
wunderbaren, tiefschwarzen Antug einzufügen. (Heinrich
Steinfest: Ein sturer Hund, S. 118)
"Ich höre praktisch jeden Tag damit auf", sagte der Kriminalist
und gab Cheng Feuer. Während er die eigene Zigarette in
Brand setzt, redete er am Filter vorbei: "Wenn ich in der Früh
huste und das Waschbecken vollspucke und mir der Ekel
kommt, höre ich damit auf. Und wenn ich abends mit den
Nerven am Ende bin, fange ich wieder an. Ich bin also
Raucher und Nichtraucher in Personalunion. " (Heinrich
Steinfest: Ein sturer Hund, S. 210)
"Meine Mutter im Vorzimmer", wie man sagt: meine
Schraube im Knochen. Eine pummelige, kleine Person Ende
Siebzig trat ein. Goldbesticktes Kostüm. Zapfenartige
Broschen. Die Perücke etwa in der Art eines
Storchenhorstes. Lippenstift auch am Hals. Glatte Haut.
Dicke Brille, Augen wie Saugnäpfe. Eine von diesen
netten, betagten Damen, die mit den Backen lächelten,
deren Münder aber aussahen, als hätte ihnen Gott mit
einem stumpfen Schweizermesser die Bosheit ins Gesicht
geschnitzt. Ihre Stimme hatte einen künstlichen,
weichen Ton: eine lyrische Scharfrichterin. (Heinrich
Steinfest: Tortengräber, S. 40)
Die Dame lächelte Cerny aus ihrem braungebrannten, im
Gegensatz zum Körper etwas rundlichen Gesicht an, als
hätte er Hauptrollen zu vergeben. Und daß sie dies tat,
auf diese verfüherische Art zu lächeln, war mit ein
Grund dafür, warum sie hier saß, tatsächlich auf dem
Weg von einem Skiurlaub in den nächsten, und auf ihren
Analytiker wartete: Sie litt unter einem gesteigerten
Geschlechtstrieb. Das mag zwar den meisten, vor allem
männlichen Menschen - die in bezug auf ihre
Attraktionen sich etwas anderes als weibliche Tollheit
auch gar nicht vorstellen wollen - nicht als
psychisches Leiden erscheinen, aber Frau Resele hatte
durchaus ihre Probleme. Einerseits, da die Eroberung und
der rasche Verschleiß an Partnern, die sie im Vorfeld
kaum einer kritischen Betrachtung unterzog, nur selten
zu einer echten Befriedigung ihrer sexuellen Wünsche
führten - was sie nicht weniger deprimierte als
monogame Geschlechtsgenossinnen -, und sie andererseits
aufgrund ihres Geburtsdatums, 1945, langsam in ein
Alter kam, in dem, ob das nun gerecht war oder nicht,
das Werben um Männer jüngeren Datums zur Lächerlichkeit
und zur Ausnutzung führen konnte. (Heinrich Steinfest:
Tortengräber, S. 105)
Auf jeden Fall waren Könner am Werk gewesen, vermutlich
Ausländer, zumindest Gastarbeiter. Hiesige Killer gab
es wenige, die älteren waren zufrieden mit Sparbuch und
Gartenpflege oder zurückgekehrt in den mäßig bezahlten,
aber weniger aufreibenden Polizeidienst, der Nachwuchs
kaum der Rede wert, kleine Neonazis, die in Bosnien und
Kroatien das Töten gelernt hatten, wie man lernt,
Pflaumen zu entkernen. Wer sichergehen wollte, der
bestellte im Ausland oder orderte bei einer der
örtlichen mafiosen Dienstleistungsbetriebe, von
türkisch bis ungarisch. Sparmeister, die dennoch
Qualität forderten, begaben sich ins Amerikanisch-
Polnische Institut, wo einige angegraute, in Österreich
hängengebliebene Ostküstler unerwünschterweise
herumlungerten, wehmütig den Schülerinnen nachsahen,
ins nahegelegene Cafe M umzogen, wo sie - bekannt als
Schnitzlerfraktion - eine Lesegruppe bildeten und sich
der impressionistischen Stimmungsschwere der
Jahrhundertwende hingaben. (Heinrich Steinfest:
Tortengräber, S. 115f.)
Wiese hatte nicht gerade zu jenen Analytikern gehört,
welche eine strenge Grenze zwischen Berufs- und
Privatleben zogen und sich ihren Analysanden als
blutleere, emotionsresistente, durch und durch
geheilte, gefaßte sowie nicht faßbare Persönlichkeiten
präsentierten, ein wenig wie Internisten, die bei ihren
Patienten gerne den Eindruck hinterließen, selbst nie
zu erkranken. Wiese, eher burschikos, draufgängerisch,
mitteilsam, hatte es vermieden, als unbefleckter
Zuhörer aufzutreten. Er besaß sogar die Chupze, während
der Analysegespräche seine eigenen Eßstörungen aufs
Tapet zu bringen, belog die Leute also nicht nur um ihre
teuer bezahlte Zeit, sondern auch um ihre Rolle. Doch
der zufriedene Teil seiner Kundschaft verließ die
Praxis mit dem angenehmen Gefühl, die für exklusiv
gehaltene persönliche Katastrophe könne nicht so
schlimm sein, wenn der eigene Therapeut sich mit
ähnlichen Schwierigkeiten herumplage. (Heinrich
Steinfest: Tortengräber, S. 179)
Der Nichtwiener mag sich fragen: Wie ist das möglich?
Wie kann einer sich als Anwalt ausgeben, in die mit
Hafträumen ausgestattete Abteilung eines Spitals
marschieren und dann auch gleich in die Zelle eines so
wichtigen Verdächtigen, dort getrost seine Arbeit
verrichten und wieder von der Bühne verschwinden, als
hätte er nie existiert? Nun, wenn einer sich als Dr.
Irgendwas ausgibt und dabei nicht aussieht wie ein
Bademeister, kann er alles. Nicht wie ein Bademeister
auszusehen - das ist die Schwierigkeit, an der so viele
scheitern. (Heinrich Steinfest: Tortengräber, S. 196)
Damals, im Wohnzimmer Liepolds, hatte er in der Zeitung
ihr Bild gesehen. Darauf hatte sie eine Sonnenbrille
getragen. Eine solche trug sie auch jetzt. Was trotz
Jahreszeit und fortgeschrittener Stunde nicht weiter
auffiel. Sie entsprach diesem unterkühlten Typus, dem
man in jeder Situation eine Sonnenbrille zugestand,
weil nicht modische Gründe den Ausschlag gaben, sondern
quasi hygienische - ein Atemschutz für die Augen. Sie
war die Art Frau, die immer ein wenig nach eleganter
Witwe aussah, welche soeben ein Imperium übernommen
hatte. Sie war die Art Frau, von der behauptet wurde,
sie kastriere Manager, auch wenn sie bloß die
Pfündewirtschaft behob. (Heinrich Steinfest:
Tortengräber, S. 222)
Ingrid Liepold jedoch hatte keine Sekunde gezweifelt,
daß es sich bei der leicht vergammelten Gestalt um
Graham Wedekind handelte, auch wenn sie ihn nie
ungepflegt gesehen hatte, das war nicht seine Art
gewesen. Seine Art war es gewesen, durchschnittlich und
langweilig zu sein, Krimineller hin oder her.
Vielleicht erkannte sie das einzig Markante an ihm,
sein Kinn, obwohl ein Bart es verdeckte. Sein
Wurmfortsatz im Gesicht, wie sie oft gesagt hatte. Oder
seine Art, beim Gehen die Schultern heftig
mitzubewegen, weshalb sein Gang maschinell anmutete.
Sie hatte ihn geliebt, allerdings ohne große
Begeisterung. Seine Bescheidenheit war ihr beizeiten auf
die Nerven gefallen, seine Zurückhaltung, seine Unart,
ihr in jeder Hinsicht den Vortritt zu lassen - aus
Faulheit, so ihre Vermutung. Gutmütig waren Männer
immer nur dann, wenn sie zu bequem waren, um etwas
anderes als gutmütig zu sein. Gerne hatte er sie reden
lassen. Aber sie war überzeugt gewesen, daß er nicht
zuhörte, daß solche Mäner nur Beziehungen eingingen, um
eben eine Stimme als Stimme um sich zu haben, natürlich
auch, um nicht alleine vor dem Fernseher sitzen zu
müssen, Männer, die nach einiger Zeit begannen, ihre
Frau "Mama" zu rufen. Und ab dann auch keinen Sex mehr
haben wollten, nicht mit einer Frau, die sie für ihre
Mutter hielten. (Heinrich Steinfest: Tortengräber, S.
266)
Liepold redete wie aufgezogen, hauptsächlich von ihrer
Mutter, die eigentlich nur noch atmen könne, indem sie
stöhne und seufze und referiere, und der nichts
leichter falle, als grundlos zu heulen. An manchen
Tagen sei sie eine Kettenheulerin, an anderen nur noch
belehrend. Solange Tante Mikl am Leben gewesen sei,
habe ihre Mutter über ein ideales Opfer verfügt, eine
gelähmte, alte Frau, die kaum noch hatte reden können,
der aber das beste aller Hörgeräte besorgt worden war,
um sich nicht entziehen zu können, wenn die Schwester
ihr die Welt erklärte und den Marsch blies. Aber die
Tante hätte es hinter sich. (Heinrich Steinfest:
Tortengräber, S. 62)
Der Hundeausführer besaß die Gestalt eines Trinkers,
der das Trinken so weit im Griff hatte, daß es ihn zwar
umbringen würde, jedoch nicht wie ein irrer Schlächter
jemanden umbringt, sondern wie ein gutmütiger
Quacksalber, der auf die Wirkung seiner Medikamente
vertraut. Der Mann trug eine kurze Stoffhose. Gehörte
wohl zu denen, die mit der Eröffnung der Bäder am
zweiten Mai - obwohl sie selbst nie ein Bad besuchten -
in ihre kurze Hosen hinein - und so schnell nicht
wieder herausstiegen. Er hatte dünne Beinchen, dünne
Ärmchen, eine Fallgrube von einem Brustkorb, Haut wie
feuchte Pappe und einen beträchtlichen sogenannten
Bierbauch, einen wahren Knödel, der als der zentrale
Ort dieses Menschen erschien, nicht weil dieser Mensch
dumm war, sondern sich ehrlicherweise zwischen Geist
und Körper entschieden hatte. (Heinrich Steinfest:
Tortengräber, S. 272)
Als Cheng am nächsten Morgen erwachte, konnte er sich zunächst
einmal kaum rühren. Woran sicher nicht die Kartoffelzunge von Herrn
Stefans Kaspreßknödel schuld war, eher die harte Matratze von
Bertram Umlaufs japanischem Gästebett. Daß man neuerdings die
Vorteile derartiger Matten in Frage stellte, wunderte Cheng gar
nicht. Auch wenn es hieß, Millionen Japaner könnten nicht irren.
Konnten sie doch. Ununterbrochen irrten Millionen. Das Irren von
Millionen schien geradezu das Gesetz in der Welt zu sein. (Heinrich
Steinfest: Ein dickes Fell)
Hinter dem Park ragte das Hilton in die Höhe, das mit Abstand
häßlichste Hilton der Welt, welches dennoch sehr gut an diese Stelle
paßte, diesen ganzen Ort erst komplett erscheinen ließ. Vergleichbar
einem wirklich schlechten Schauspieler, der aber in einer ganz
bestimmten Rolle einen perfekten Eindruck vermittelt. Man denke an
sämtliche Darsteller der ersten Star-Trek-Generation. (Heinrich
Steinfest: Ein dickes Fell)
Als Armbruster öffnete und Lyssa erblickte, zuckte er zusammen.
Lyssa hingegen lächelte wie über einen gelungenen Trick ihrerseits
und marschierte an ihrem Noch-Gatten vorbei in den Flur, schleuderte
ihren Pelzmantel achtlos in den Müll, und wechselte sodann in den
Wohnraum, wo sie sich eine Zigarette anzündete. Armbruster beeilte
sich, einen Aschenbecher herbeizutragen. Er kannte die Unart seiner
Frau, Asche zu verstreuen, wenn denn kein Behälter in unmittelbarer
Nähe plaziert war. Da konnte ein Parkettboden noch so flehend
glänzen. Lyssa Hiller war nicht einmal eine hübsche Frau. Eine
Derbheit lag in ihrem Gesicht wie vergessenes Gemüse in einem
Gefrierfach. (Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell)
... faßte nach Ginette Rubinsteins Hand, die er in der Art eines
Okkultisten betrachtete. Ohne freilich im Sinn zu haben, aus dieser
Hand zu lesen. Er hielt derartiges für absoluten Schwachsinn. So
besiegelt die Zukunft auch sein mochte, sie offenbarte sich nicht.
Darin bestand nämlich ihr ganzer und einziger Sinn: sich nicht zu
offenbaren. Nur darum konnte sie überhaupt bestehen. Eine
offenbarte, eine in Innenhandflächen eingeschriebene Zukunft, wäre
dann bloß noch eine noch einzulösende Gegenwart gewesen. Als ginge
man ins Kino, aber nicht um den Film zu sehen, den man ja schon
kannte, sondern allein, um sich die Eintrittskarte abreißen zu
lassen. Was schön blöd wäre. (Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell)
"Ich verspreche Ihnen zu kommen und meinen Hund abzuholen", sagte
Cheng und senkte seinen Blick. Allerdings ersparte er sich und
Lauscher eine spezielle Verabschiedung, eine Zeremonie. Lebewesen,
die von Anbeginn der Zeit füreinander bestimmt waren, bedurften
keiner Zeremonie. Etwa im Unterschied zu Leuten, die heiraten, und
die ja nie und nimmer füreinander bestimmt sind, schon gar nicht bei
Anbeginn der Zeit. geheiratet wird immer das Falsche. Das ist das
Gesetz. Und die Zeremonie bestätigte den Fehler. (Heinrich
Steinfest: Ein dickes Fell)
"Mein Liebling", sagte Ginette, als Cheng die Innenfläche seiner
Hand langsam über die beiden Brustwarzen führte, die hart und
glühend aus den Mitten zweiter Plätze aufragten, welche
unpassenderweise als Höfe galten. Mehr als dieses "Mein Liebling"
sagte sie nicht. Und das genügte ja auch. Ihr Stöhnen kam
gleichmäßig und ohne einen Anflug von Bühnengeschrei. Erstens
schlief gleich nebenan ihre Tochter. Und zweitens widersprach es
Ginettes Stil, die Welt in Trümmer zu legen, nur um einen Orgasmus
zu kriegen. (Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell)
In den Futternäpfen, in denen winzige Überreste getrockneten
Fleisches klebten, saßen Fliegen. Fliegen im Winter? Cheng dachte
nach. Er hatte keine Ahnung von Fliegen. Wann sie da waren und wann
nicht, wann und wo und weshalb, außer natürlich, daß man sie im
Sommer häufig sah und sie eine bestimmte Funktion in der Bereinigung
von Verderblichem spielten. Weshalb sie zu den Lieblingstieren von
Gerichtsmedizinern zählten. Und von Kriminalschriftstellern und
Detektiven, und von Leuten, die all diese Funktionen in einem
dümmlichen Hobby vereinten, Leute, die eine Fliege nur anzusehen
brauchten und wußten, in welchem Zustand sich dieses Aas befinden
mußte und wie das Aas mit Vornamen hieß. (Heinrich Steinfest:
Ein dickes Fell)
Mir wurde bald klar, daß ich das Gesicht des Läufers kannte. Wer
nicht? Der Mann war eine Berühmtheit. Ein Geist der Zeit. Ein junger
Schriftsteller als wilder Hund. Ein wilder Hund als Bestsellerautor,
dem man die größtmögliche Zukunft voraussagte. So ein hübscher Kerl
mit langem, glattem Haar von der Farbe eines Rehkitzes sowie dem
Gesicht eines verrotteten Erzengels. Ein Erzengel mit Zigarette, was
ja heutzutage anmutet, als würde jemand einen Knochensplitter seines
amputierten Raucherbeins im Mund spazierenführen.
(Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell)
Eine elegante Greisin im grauen, nadelgestreiften Hosenanzug.
Jugendlich, ohne sich lächerlich zu machen. Eine schlanke, große
Neunzigjährige, ein Dior-Mannequin von Rentnerin, eine Kombination
aus Coco ein Chanel, Lauren Bacall, russischer Krankenschwester,
durchtriebener Laborantin und der bereits erwähnten Touren-
Skifahrerin Leni Riefenstahl, deren Name allein Beweis wäre
dafür, daß die Wirklichkeit eine Persiflage auf etwas sein muß,
das wir nicht kennen. (Heinrich Steinfest: Ein dickes Fell)
Von allen den abscheulichen Nachwirkungen der
Revolution empfand die Herzogin nichts
unangenehmer als die Sucht der Mädchen aus dem
Volke, sich als "Damen" zu spreizen. Amiele war viel
zu lebendig und bewegungslustig, als daß sie ihren
Gang verlangsamt und mit gesenkten Augen
einherstolziert wäre. Die Ermahnungen der
Kammerfrauen fruchteten nicht viel. Amiele ging zwar
langsamer, aber wie eine Gazelle an der Leine:
tausend kleine Gesten verrieten ihre ländliche
Herkunft. Die Gehweise der guten Gesellschaft, der
die Gemessenheit ein Ideal ist, vermochte sie sich
nicht anzueignen. Sobald sie sich nicht unmittelbar
von den strengen Blicken der Frauenzimmer bewacht
sah, flog sie wie der Wind durch die Flucht der
Gemächer bis zu dem, wo die Gebieterin weilte.
(Stendhal: Amiele, S. 50)
Gideon und Julia schossen mit erstaunlicher
Behendigkeit auseinander; letztere bemerkte zu
ihrem Verdruß, daß man, obschon man sich seit dem
Niedersetzen nicht mehr gerührt hatte, nun ganz
nahe nebeneinander saß; und zwei hochrote Gesichter
boten sich den Blicken von Mr. Edward Hugh
Bloomfield dar. Dieser Herr war in seinem Boot den
Fluß hinaufgekommen, hatte das durchgebrannte
Beiboot eingefangen, erraten, was sich zugetragen
hatte, und beschlossen, Miß Hazeltine ein
Schnippchen zu schlagen und sie beim Zeichnen zu
überraschen. Ganz unerwartet hatte er nun zwei
Fliegen auf einen Streich erwischt; und als er nun auf
die beiden errötenden und atemlosen Sünder blickte,
brachte die allgemein menschliche Freude am
Ehestiften sein Herz zum Schmelzen. (R.L.
Stevenson: Die falsche Kiste, S. 171f.)
Ich muß unablässig an die Vernunft denken, wie ein
Idiot, der sie längst verloren hat und ihr trübe
nachsinnt. Wir sind Idiot, wenn es hochkommt. Wenn es
hoch kommt, tief gefügig geistesschwach, Hörigkeit und
blindes Verfallensein an die ichstarken Naturen,
Nachäffung des Vorgesetzten, die Sucht, die Wut, sich
Bindung zu verschaffen um jedweden Preis, und sei es um
den der Selbstaufgabe, diese Krankheit greift jetzt bei
uns in erschreckendem Maße um sich. (Botho Strauß:
Rumor, S. 12f.)
Die Ichstarken werden täglich stärker. Die, denen sie
folgen dürfen, Geniegeschmeiß, gefräßige Wracks,
sprechen sie Größe um Größe zu, weil ja niemand eines
unsicheren Wackelkopfes Diener sein mag. Mich
Normbruder dagegen lassen sie hübsch beiseits stehen.
Unter meinen kurzsichtigen Pupillen kann keiner sein
Strahlbad nehmen. Wenn ich spreche, denken die Leute
gern an etwas anderes... Ach ja, durchschau nur,
durchschau die ganze lächerliche Szenerie, wie deine
Freunde sich verwickeln und alle anderen auch. Es ist
nur das Durchschauen so vollkommen unnütz! Solange du
selbst überhaupt nirgendwo drinsteckst und ewig kalt
beiseite stehst, da hast du leicht durchschauen und
sehnst dich doch nach der kleinsten Träne einer
Hingabe, die wenigstens ein Rändchen Trübung ins Auge
brächte. (Botho Strauß: Rumor, S. 14)
Joseph, an der Landesbildstelle Archivar, ein ewig
dämmernder, unersättlicher Plattenhörer, hatte sie
ermüdet binnen eines Jahres, einfach durch zuviel
Frieden. Er war gelind und weich, gab nie Widerstand,
höchstens mal ein Achselzucken, wenn ihm was nicht
paßte. Obschon älter als Grit, wirkte er doch auf
eigentümliche Weise zurückgeblieben. Er hatte sich fest
eingemummelt in seinem weinrote Samthose, seine mit
bunten Seidenblumen und allerlei Flicken bestickte
Jacke, in die schulterlangen, aufgelockten Haare, in
die ganze selige Gutmütigkeit der frühen Jahre. Ein
stiller, aber eben doch ein wenig unheimlicher
Wiedergänger einer verflossenen Jugendbewegung, der
sich unberührbar eingenistet hat in sein zwangzigstes
Jahr und bis heute lieber einmal mehr Vanilla Fuge
auflegt, als sich an die neueren LPs eines Ted Nugent
oder der Rainbows zu gewöhnen. (Botho Strauß: Rumor, S.
51f.)
Und doch bleibt nur ein Ort, wenn du den gesamten
Horizont abgehofft hast, ein Ort auf der Welt aller
Sehnsucht wert, kein Haus in der Heide, kein noch so
guter Garten und nicht die Freiheit, sondern allein das
Ganz Andere Gesicht. Ein Mal so angesehen werden, daß
sich alle Schmutzreste von der Seele lösen. Ein Mal den
guten Blick, den zivilisierenden, der uns einen kleinen
Innenhof mit Frieden erfüllte! Oh, muß man sich aber
gut ansehen, muß sich geduldig in den Augen liegen, um
die Gewißheit zu gewinnen, daß man wahrlich nicht Angst
voreinander zu haben braucht. Da genügt nicht nur ein
Stich mit den Augen oder ein klägliches Streifen - das
vermehrt ja nur die bösen Strahlen der Welt! - oder ein
ungezügeltes den eigenen Worten Zuhören der Augen...
Die Liebe wartet aufs Augenlicht. Wenn Augenlicht
scheint, bist du glücklich. Da mögen wir noch so oft
die nassen Bäuche aufeinander klatschen, mit den Leibern
fuhrwerken und zappeln wie die Bisamratte, wir kommen
der Sache doch niemals näher als mit den Augen, die
sich nicht vereinigen lassen... (Botho Strauß: Rumor,
S. 96)
Auf dem Gang liegen Patienten in fahrbaren Betten und
warten darauf, zur Röntgenuntersuchung in den Keller
transportiert zu werden. Zwei Krankenpfleger kommen;
einer in besonders aufgeräumter Laune, der eine alte
Frau mit seinem Gruß so dröhnend anfährt, daß sie davon
noch im tiefen Koma zusammenschrecken müßte. Er grinst
auch, als sie zuckt, so hämisch und droht mit dem
Finger, gleichsam als habe er sie mal wieder beim Leben
ertappt. "Na, Frau Lehmann, wie geht's uns denn heute?"
Die Frau - das Tuch, das Leichentuch reicht ihr schon
bis an Kinn, ihr Gesicht, ihr eingesunkenes, ist nicht
mehr als ein schrumpeliger gelber Fleck auf dem weißen
Kissen, schwach sagt sie bloß: "Och...", als habe sie
weiter nichts zu beklagen. Man muß annehmen, daß so ein
Wärter ständig vor sich selber den Gesunden
herauskehren muß, weniger um die Kranken aufzumuntern
als vielmehr um sich selbst zu stärken und zu wappnen,
damit diese Ghouls und Lebendtoten, die überall aus den
Türen drängen, ihn nicht niederringen. (Botho Strauß:
Rumor, S. 127)
Wenn der Mensch (...) die Wahrheit, diese Wahrheit
seiner Biosphäre annähme, dann müßte er aus dem
tausendjährigen Schlaf aller Ideologien und Religionen
endlich erwachen und seine totale Verlassenheit, sein
totales Außenseiter erkennen. Er muß wissen, daß er
seinen Platz wie ein Zigeuner am Rande des Universums
hat, das für seine Musik taub ist und gleichgültig
gegen seine Hoffnungen, Leiden oder Verbrechen. (Botho
Strauß: Rumor, S. 143)
Der Grill: Der Mensch? Der Mensch steht da mit
offenem Mund. Ausgelaufen. Versiegt. Erschöpft bei
offenem Mund. Der Kaugummi: Soweit mußte es
einmal kommen. Der harte Fall zurück in den Stoff.
Verliert seine Erzählungen, seine Worte, seinen Geist.
Der Grill: Das Menschenkind. Was ist geblieben
von der Nummer Eins? Ein Naturgeräusch, wie der Wind so
durch seinen offenen Mund heult... - Da hören Sie es,
Bongie, die Dinge unter sich. Wir aber stehen steif und
stumm und denken wie Schnee fällt. Der Ordnungen haben
wir schließlich viel zu viele gesammelt und wild
aufeinander getürmt und ein bestürzend Übermaß an Sinn
in die Welt gesetzt. Zuviel der Logiken, Beweise,
Erfahrungen, Vernünfte. (Botho Strauß: Rumor, S. 146)
Fast eine Flucht vor den belebten Straßen und Plätzen,
auch übrigens weil dort gewisse Belästigungen in
letzter Zeit auffallend zugenommen haben. Ich weiß
nicht und namentlich ältere Leute folgen einer
merkwürdigen Zerstreuung oder einem unwiderstehlichen
Gelüst und müssen einem wildfremden Menschen unbedingt
etwas mitteilen oder haben an ihm etwas auszusetzen.
(...) Von manchen möchte ich annehmen, daß sie schon
unter erhöhtem Mitteilungsdrang geraten, sobald ihre
Füße das Pflaster berühren und auf der Straße das
allgemeine Durcheinander sie beduselt. Andere bleiben
vor einem stehen, nur um einmal gründlich
durchzuächzen. Man meint, es sei ihnen in den eigenen
Leib gerückt, wie die Erde unter der Asphaltschmiere
nach Luft ringt. (Botho Strauß: Rumor, S. 149f.)
Man ist ohnehin, wenn man soviel geht, allseits von den
verschiedenartigsten Geschwindigkeiten umgeben. Alles
und jedes hat sein strikt Eigenes an Zeit, der wippende
Ast dauert anders als der fließende Kanal, der
vorüberpolternde Bus anders als der tröpfelnde
Brunnenmund, zu schweigen von den oberen Rasereien des
Lichts, des Schalls, des... man befindet sich sozusagen
in einem chaotischen Trommelfeuer von Zeitgeschossen
und nur eine sehr zielgerichtete, eine sehr
widerstandsfähige Natur wird immer unbeschadet
davonkommen und, trotz allem Gehen, weiterhin fest in
sich zu ruhen vermögen. (Botho Strauß: Rumor, S. 150f.)
Der hier mit einem Ausbruch einstudierter Späße aus
seinem Mantel schlüpfte, war ein Mann mittleren Alters
vom Typ des vor zwanzig Jahren modernen königlichen
Sekretärs mit Schnurrbart und übergangslosem
Backenbart, Mittelscheitel und coup-de-vent. Er war
bleich wie ein Leichnam, schmal wie ein Bahrtuch, nobel
gekleidet, machte aber den Eindruck, als fröre er am
ganzen Leib und hätte insgeheim Kontakt zur Armut.
(August Strindberg: Das Rote Zimmer, S. 74)
Er sollte unselbstständig sein, ein kleines bißchen
dumm, denn im Unternehmen wußte man, daß wahre Dummheit
stets mit konservativer Denkungsart einhergeht sowie
mit jener Tücke, die die Wünsche des Vorgesetzten im
kleinen Finger hat und nie vergißt, daß das Gemeinwohl
Privatsache ist, recht verstanden nämlich; zugleich
sollte er mittleren Alters sein, weil man ihn dann
leichter lenken konnte, und verheiratet, weil die
Kompanie, aus Geschäftsleute bestehend, beobachtet
hatte, daß verheiratete Untertanen sich besser benahmen
als ledige. (August Strindberg: Das Rote Zimmer, S.
187)
Er hebt sein Glas auf Sellen und ist der Ansicht, daß
man sagen könne, was er einerseits auch schon gesagt
habe, Sellen sei ein Erfolg geglückt. Andererseits
wiederum, relativ gesehen, könne man wiederum meinen,
daß dies nicht der Fall sei. Sellen sei unentwickelt,
brauche noch viele Jahre, denn die Kunst sei lang, er,
Ygberg, wisse das, er selbst sei entschieden
gescheitert und könne daher nicht in den Verdacht
geraten, daß er einen, der so anerkannt sei wie Sellen,
irgendwie beneide. Der aus Ygbergs Worten
hervorblitzende Neid blies einen Wolkenstreifen an den
Sonnenhimmel, doch bloß für einen Augenblick, denn all
wußten, daß der Neid durch die Bitterkeit eines längst
verlorenen Lebens gerechtfertigt war. (August
Strindberg: Das Rote Zimmer, S. 208)
Man trennte sich einigermaßen verlegen, die Schritte
verhallten im Treppenhaus, und dem nervösen Knacken,
als die Tür hinter ihnen abgeschlossen wurde, entnahmen
die Abziehenden, daß die arme Gastgeberin sich nach
Einsamkeit sehnte, um den Gefühlen freien Lauf lassen
zu können. Und das tat sie. Allein in ihren großen
Zimmern, vergoß sie heiße Tränen; dies waren aber nicht
die Tränen, die einem Maienregen gleich auf ein
verstaubtes altes Hert herniederfallen, es war das Gift
der Bosheit und des Zorn, das die Spiegel dieser Seele
nun verdunkelte, später tröpfelte, wie Säure die Rosen
und Jugend zerfraß. (August Strindberg: Das Rote
Zimmer, S. 252)
"Ich kann nur sagen: Gott sei Dank ist der verfluchte
Sommer vorbei! Von mir aus kann das ganze Jahr Winter
sein! Nicht genug damit, daß man selber leidet, man
muß auch zuschauen, wie andere sich freuen! Ich bin
nicht einen Schritt zur Stadt hinaus gegangen! Du?"
"Ich habe keinen grünen Zweig gesehen, seit Lundell im
Juni aus Lill-Jans weggezogen ist! Warum auch soll man
ausgerechnet grüne Zweige sehen! So notwendig ist das
nicht! Und so was Besonderes auch nicht! Aber daß man
es nicht kann, ist schon bitter!" (August Strindberg:
Das Rote Zimmer, S. 209)
Der Onkel verlangte nun, daß sich Jonathan unverzüglich
vereheliche, und zwar mit einem Mädchen namens Marie
Baccouche aus dem Nachbarort Lauris, und Jonathan, der
das Mädchen noch nie gesehen hatte, tat brav wie ihm
geheißen, ja tat es sogar gerne, denn wenngleich er nur eine
ungenaue Vorstellung von der Ehe besaß, so hoffte er doch,
in ihr endlich jenen Zustand von monotoner Ruhe und
Ereignislosigkeit zu finden, der das einzige war, wonach er
sich sehnte. Aber bereits vier Monate später gebar Marie
einen Knaben und noch im selben Herbst brannte sie durch
mit einem tunesischen Obsthändler aus Marseille. - Aus alle
diesen Vorkommnissen zog Jonathan Noel den Schluß, daß
auf die Menschen kein Verlaß sei und daß man nur in Frieden
leben könne, wenn man sie sich vom Leibe hielt. (Patrick
Süskind: Die Taube, S. 8)
Das Kostbarste jedoch, was Richis besaß, war seine
Tochter. Sie war sein einziges Kind, gerade sechszehn Jahre
alt, mit dunkelroten Haaren und grünen Augen. Sie hatte ein
so entzückendes Gesicht, daß Besucher jeden Alters und
Geschlechts augenblicks erstarrten und den Blick nicht mehr
von ihr nehmen konnten, ihr Gesicht geradezu leckten mit
den Augen, als leckten sie Eis mit der Zunge, und dabei den
für solch leckende Beschäftigung typischen Ausdruck von
dümmlicher Hingegebenheit annahmen. Selbst Richis, wenn
er die eigene Tochter ansah, ertappte sich dabei, daß er für
unbestimmte Zeit, für eine Viertelstunde, für eine halbe
Stunde vielleicht, die Welt und damit seine Geschäfte vergaß
- was ihm sonst nicht einmal im Schlaf passierte -, sich
vollkommen auflöste in des herrlichen Mädchen Betrachtung
und hinterher nicht mehr zu sagen wußte, was er eigentlich
getan hatte. (Patrick Süskind: Das Parfum, S. 210)
Der Fahrer griff mit weitausholenden Bewegungen in
sein riesiges Steuerrad. Aus seinen kurzen Hosen
ragten dünne weiße Beine mit rötlichen Knien.
"Busfahrer in Shorts", sagte Fabio, "das ist wie
Zugführer, die Kaffee servieren. Es untergräbt die
Autorität." "Ein Busfahrer braucht doch keine Autorität
zu sein." "Im Busfahren schon." "Glaubst du, der fährt
schlechter in Shorts?" "Davon bin ich überzeugt",
behauptete Fabio. "Der verliert auch den Respekt vor
sich selbst. Am besten wäre, er trüge eine Uniform
mit vier goldenen Streifen am Ärmel, wie ein
Flugkapitän. Es wäre ein Beitrag zur
Verkehrssicherheit. Darüber sollte man einmal etwas
schreiben. Die Wirkung der Berufskleidung auf ihren
Träger. Wen, glaubst du, wollen die Ärzte mit ihren
Kitteln beeindrucken? Die Patienten? Falsch. Sich
selbst." Der Bus bremste etwas zu abrupt an einer
Ampel. "Siehst du, das meine ich." (Martin Suter: Ein
perfekter Freund)
Als er das Päckchen herausnahm, wurde dahinter
etwas sichtbar, das aussah wie eine Taschenlampe.
Er zog die Schublade weiter heraus. Es war ein
verchromter Dildo. Fabio schaltete ihn ein. Ein
diskretes Summen ertönte, wie von etwas Teurem,
sorgfältig Verarbeitetem. Die Vibrationsintensität war
stufenlos regulierbar. Selbst auf der Klimax war der
Kunstpenis leiser als Fabios Rasierapparat. Bestimmt
der Rolls-Royce unter den Dildos. (Martin Suter: Ein
perfekter Freund)
Norinas Vater feierte seinen Fünfundsechzigsten im
Seerestaurant Hecht. (...) Die große Seeterrasse war
reserviert. (...) Kurz nach dem Aperitif mußten die
Markisen ausgefahren werden. Während des ganzen
Festes löcherte der Regen den bleigrauen Seespiegel
und trommelte mit der Rhythmusmaschine des
Einmannorchesters um die Wette. Kurt ignorierte das
Wetter und verordnete, daß jede Erwähnung des
Wetters mit einem Kirsch bestraft werde. Nach kurzer
Zeit war die halbe Geburtstagsgesellschaft
betrunken. (Martin Suter: Ein perfekter Freund)
Sonia haßte Dachschrägen. Sie erinnerten sie an die
Zeit, als sie eine Zahnspange trug (was damals noch
kein Modeaccessoire war) und einen Kopf größer war als
alle Jungen, die sie interessierten. Die Dachschräge in
ihrem Zimmer von damals war pistaziengrün gestrichen,
was ihre Mutter, die auch sonst nicht viel von jungen
Mädchen verstand, für eine Jungmädchenfarbe hielt. Die
schiefe Eebene über ihr gab ihr das Gefühl, sie würde
aus dem Zimmer rutschen. Und jetzt hatte ihr neues
Zuhause eine Dachschräge. Keine pistaziengrüne, sondern
eine getäfelte, was fast noch schlimmer war. Es
erinnerte sie an ihr Zimmer in der Ferienwohnung im
Berner Oberland, dessen Wände so dünn waren, daß sie
jeden Streit ihrer Eltern mitbekam. Und jede
Versöhnung.(Martin Suter: Der Teufel von Mailand)
Sonias gute Laune war verflogen. Sie konnte knapp die
Depression auf Distanz halten, die auf sie wartete. Sie
hatte eine gewisse Virtuosität entwickelt im Umgang mit
der Schwermut. Sie wußte, hinter welchen Gedanken sie
kauerte, in welchen Bildern sie sich einnistete und
welche Geräusche sie anlockten. Es fiel ihr leicht,
sich ihr hinzugeben, und auch nicht allzu schwer, sie
wieder abzuschütteln. (Martin Suter: Der Teufel von
Mailand, S. 37)
Auf der Liste der Frauen, denen Geri keine Bitte
abschlagen kann, steht auch der Name Sandra. Als er die
Haare noch länger trug, massierte sie ihm einmal im
Monat die Kopfhaut mit einer Hingabe, die sich nicht
allein mit beruflichem Engagement erklären ließ. Sandra
kümmert sich bei Marcello, Geris Coiffeur, um den
ganzen nichtkreativen Bereich. Waschen, Schamponieren,
Frictions, Haare zusammenwischen, kurz: alles außer
Styling, Schnitt und Preisgestaltung. Wie das meiste in
Geris Leben, was mit Frauen zu tun hat, ist auch diese
Liste eine eher theoretische Angelegenheit. Er gerät
selten in die Situation, einer Frau eine Bitte nicht
abschlagen können zu dürfen. Bei Sandra kommt dazu,
dass er die Wahrscheinlichkeit, dass sie ihn um etwas
bittet, seiner Kurzhaarfrisur geopfert hat. Er geht
zwar immer noch regelmäßig zu Marcello, aber dieser hat
angesichts von Geris Haarlänge das Schamponieren aus
dem Gesamtpaket gestrichen. Und damit auch Sandra von
Geris Liste. (Martin Suter: Richtig leben mit Geri
Weibel. Neue Folge)
Verliebt sich ein wirklich junger Mann, dann löst die
Liebe in seinem Hirn oft Reaktionen aus, die mit seiner
Begierde bald nichts mehr zu tun haben. Wie viele junge
Leute, die auf einem gastlichen Lager in aller Ruhe
Befriedigung finden könnten, stellen nicht wenigstens
ihr Haus auf den Kopf, weil sie sich einbilden, es sei
unbedingt nötig, etwas zu erobern, zu schaffen oder zu
zerstören, ehe man mit einer Frau zu Bett geht. Die
alten Herren hingegen, von denen es heißt, daß sie vor
den Leidenschaften besser geschützt seien, überlassen
sich ihnen mit voller Bewußtheit und begeben sich ins
Bett der Sünde mit der einzigen Vorsicht, sich dabei
nicht zu verkühlen. (Italo Svevo: Der alte Herr und das
schöne Mädchen, S. 12)
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