Allgemeine Fundstücke  / [S_2]


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Singer, Isaac B.: Ein Tag des Glücks

  Die Toilette hat wie alle Einrichtungen in diesem alten Haus ihre Launen. Manchmal ergießt sich das Wasser in einem Strom, den ich nicht abstellen kann, und ich muß den Hausmeister rufen. Und dann wieder kommt überhaupt kein Wasser. Es quietscht, gurgelt und wimmert, als sei eine lebende Kreatur in den Röhren gefangen. Diesmal fing die Dusche an zu fließen, obwohl ich sie nicht berührt hatte. Während ich auf dem Badewannenrand stand, um die Dusche abzustellen, fiel etwas aus dem Medizinschränkchen - ein Salzfaß, von dem ich mich nicht erinnerte, es dorthin gestellt zu haben (wozu auch?). Leblose Dinge trieben boshafte Späße mit mir. (Isaac Bashevis Singer: Ein Tag des Glücks. Geschichten von der Liebe, S. 292)


Singer, Isaac B.: Verloren in Amerika

  Ich stand auf und sah mir ein Bild an - Jäger zu Pferde und eine Meute Hunde. War das ein Original? Eine Lithographie? Was für eine gräßliche Form des Vergnügens! Erst gehen sie in die Kirche und singen Hymnen zum Lobe Jesu und dann jagen sie einem verhungerten Fuchs nach. Immerhin, große Dichter hatten Oden an die Jagd geschrieben, selbst so ein Meister wie Mickiwicz. Man konnte offenbar hochempfindsam sein und gleichzeitig absolut gefühllos. Sicher gab es auch unter Kannibalen Dichter. (Isaac Bashevis Singer: Verloren in Amerika, S. 301)


Singer, Isaac B.: Old Love [1]

  Der Rabbi hatte eine Frau, Menucha Alte, die nach der Tochter des berühmten Rabbi von Ropczyce benannt war. (...) Menucha Alte war klein und so mager wie eine Schwindsüchtige. Sie lebte von Medizinen und Beschwörungen. Alle paar Monate wurde sie schwer krank. Sie nahm Akte der Frömmigkeit auf sich, die selbst die strenggläubigsten Juden schon lange aufgegeben hatten. Sie hatte drei Küchen - eine für Fleischspeisen, die andere für milchige Mahlzeiten und eine dritte neutrale. Sie trug zwei Hauben, damit auch nicht ein einziges Haar von einem Mann gesehen werden konnte. An Pessach zog sie ihrer Katze Socken an, damit sie - Gott behüte! - nicht eine Krume gesäuerten Brotes unter ihren Krallen hereinbringen würde. (...) Wie erstaunlich, daß diese zerbrochene Scherbe fünf Kinder gebar. (...) Der Rabbi schlief für vielleicht eine Stunde und wachte dann erschrocken von seiner eigenen Lust auf. In der letzten Zeit hatte er sich Menucha Alte überhaupt nicht nähern können. Sie war das Opfer von einem Dutzend Krankheiten. Sie stöhnte und flüsterte Gebete. Sie hatte ihre Leichentücher schon vorbereitet und sie unter das Kopfkissen gelegt, wo sie auch ein Säckchen kreidiger Erde aus dem Heiligen Land aufhob, auf dem ihr Kopf im Grabe ruhen sollte. Sie hatte ihr Testament gemacht und ihre mottenzerfressene Aussteuer Bräuten, die Waisen waren, hinterlassen. Aber die Jahre vergingen und Menucha Alte lebte weiter. Einmal, zu Purim, als der Rabbi ein Gläschen Wein zuviel getrunken hatte, sagte er, Menucha Alte habe nicht die Kraft zu sterben - die Auferstehung würde erfolgt sein, ehe sie noch Zeit gehabt habe, dahinzuschwinden. (Isaac B. Singer: Old Love. Geschichten von der Liebe)


Smollet, Tobias G.: Humphry Clinker [1]

  Der Pöbel ist ein Ungeheuer, das mir von Kopf bis Fuß zuwider ist. Ich verachte ihn, in seiner Unwissenheit, Anmaßung, Bosheit und Brutalität. In diese Verachtung schließe ich ohne Ansehen von Rang, Stellung oder Qualitäten alle die Leute beiderlei Geschlechts ein, die seine Manieren lieben und seine Gesellschaft suchen. (Tobias G. Smollet: Humphry Clinkers denkwürdige Reise, S. 62)


Smollet, Tobias G.: Humphry Clinker [2]

  Was Tabby betrifft, so habe ich dem irischen Baron gegenüber ein paar Bemerkungen über die Höhe ihres Vermögens fallenlassen, die zweifellos die Glut seiner Liebsbezeugungen abkühlen werden. Dann wird ihr Stolz wach werden, und wenn der Zorn abgestandener Jungfräulichkeit gereizt ist, wird Sir Ulie Mackilligut Schimpf und Schande anhängen. (Tobias G. Smollet: Humphry Clinkers denkwürdige Reise, S. 86)


Smollet, Tobias G.: Humphry Clinker [3]

  Kurzum, es gibt keine Rangunterschiede und keine Unterordnung mehr. Die verschiedenen Stände sind untereinander vermischt. Der Mörtelträger, der kleine Mechaniker, der Kellner, der Budiker, der Krämer, der Winkeladvokat, der Städter und der Hofmann - alle treten einander die Hacken ab, angetrieben von den Dämonen der Verschwendung und der Ausschweifung. Sie sind überall da zu sehn, wo man in entsetzlichem Stumpfsinn und ekelhafter Sittenlosigkeit umherschlendert, reitet, sich dreht, drängelt, durcheinanderquirlt, herumspringt, und wo es knallt und kracht. Alles ist Radau und Tempo. Man könnte meinen, es treibt sie irgendeine Verrücktheit, die nicht duldet, daß sie zur Ruhe kommen. Die Fußgänger rennen, als wenn der Büttel hinter ihnen her wäre. Die Dienstleute und Sänftenträger laufen mit ihrer Last im Trab. Leute, die sich eine Epuipage halten, sausen in voller Fahrt durch die Straßen. Auch die Bürger, Ärzte und Apotheker flitzen in ihren leichten Wagen wie der Blitz dahin. Die Mietskutscher treiben ihre Gäule in dampfenden Schweiß, und das Pflaster bebt unter ihnen. Einmal sah ich einen Rollwagen tatsächlich im Handgalopp durch Piccadilly fahren. Mit einem Wort: die ganze Nation scheint wahnsinnig geworden zu sein. (Tobias G. Smollet: Humphry Clinkers denkwürdige Reise, S. 134)


Smollet, Tobias G.: Humphry Clinker [4]

  Der Zeitvertreib entspricht dem Publikum genannten Genius dieses widerspruchsvollen Ungeheuers. Man gebe den Leuten nur Lärm, Gewühl, Glanz und Flitter; denn sie kennen ja Eleganz und Anstand nicht. Womit vergnügt man sich in Ranelagh? Die eine Hälfte der Gesellschaft läuft dort wie blinde Esel in einer Ölmühle ständig hintereinander im Kreise herum. Sie können sich dabei nicht unterhalten, sich nicht erkennen, noch erkannt werden. Die andere Hälfte dagegen trinkt bis neun oder zehn Uhr abends heißes Wasser, das sie Tee nenne, um sich wachzuhalten. Was das Konzert betrifft, insbesondere die Vokalmusik, so ist es ein Glück für die Ausübenden, daß man sie nicht genau hören kann. Vauxhall ist eine Spielzeugschau, mit wertlosem Zierat überladen, schlecht erdacht und armselig, ohne klare Linie des Dessins oder richtige Verteilung gebaut. Es ist eine abscheuliche Anhäufung von Dingen, die in einem wahrhaft phantastischen Licht erscheinen. All das ist anscheinend erdacht, um das Auge zu blenden und die Phantasie der Menge anzuregen. Hier ist ein hölzerner Löwe, dort eine steinerne Statue, da eine Art überdachter Kaffeehausnischen; an anderer Stelle mehrere Bierbänke; an einer dritten ein Zinnwasserfall wie aus einem Marionettentheater; an einer vierten eine düstere, kreisrunde Höhle, wie ein halberleuchtetes Grabgewölbe, an einer fünften ein winziges Rasenstück, das nicht einmal einem Eselsfüllen genügend Weide bieten würde. Die Spazierwege, auf denen man eigentlich Erholung, Schatten und Stille finden sollte, sind mit lärmenden Menschen, die sich in der Abendkühle den Schnupfen holen, dicht bevölkert; und einige Lampen beleuchten, billigen Wachskerzen gleich, diese fröhliche Treiben. (Tobias G. Smollet: Humphry Clinkers denkwürdige Reise, S. 134f.)


Smollet, Tobias G.: Humphry Clinker [5]

  Aus dem sorglosen, indolenten und liederlichen Burschen, den wir in Oxford kannten, ist ein geschäftiger und geschwätziger Politiker geworden, der sich wie ein Stutzer kleidet und wie ein Höfling steif-formelle Manieren hat. Er besitzt nicht genügend Bosheit, um sich vom Parteihader zu gemeinen Schmähreden hinreißen zu lassen. Seitdem er aber eine Stellung erhalten hat, ist er ein eifriger Parteigänger der Minister geworden, der alles durch eine rosarote Brille sieht. Mir, der ich Gott sei Dank keiner Partei angehöre, ist das einfach unbegreiflich. Die Parteiränke beeinträchtigen zweifellos nicht nur die Denkfähigkeit, sondern behindern auch die Sinnesfunktionen. Ich wette hundert zu zehn, wenn Barton einerseits und der überzeugteste Patriot als Gegner andrerseits nach bestem Wissen und Gewissen das Bild des Königs und der Minister malen sollten, so würdest Du und ich, die wir noch nicht angesteckt und noch unparteiisch sind, feststellen, daß beide Maler von der Wahrheit gleichweit entfernt sind. (Tobias G. Smollet: Humphry Clinkers denkwürdige Reise, S. 143)


Smollet, Tobias G.: Humphry Clinker [6]

  "Dort ist das andere große Phänomen, der Großpensionär von Holland, der Wetterhahn des Patriotismus, der sich in jede Richtung des politischen Kompasses einspielt und jetzt noch den Wind der Popularität in seinem Schwanz verspürt. Auch er ist ein gewaltiger Komet, der über dem Horizont des Hofes wieder aufgestiegen ist! Wie lange er aber zu sehen sein wird, läßt sich schwer voraussagen, da er zu exzentrisch ist. Wer sind die beiden Satelliten, die seinen Bewegungen folgen?" Als Barton ihm die Namen nannte, bemerkte Mr. Bramble: "Über deren Charakter kann ich Auskunft geben. Einer von ihnen hat zwar keinen Tropfen roten Blutes in seinen Adern, dafür aber einen kalten, berauschenden Dunst im Kopf und genug Haß im Herzen, um ihn der ganzen Nation einzuimpfen. Der andere soll, wie ich höre, in die Regierung berufen werden, und der Pensionär bürgt für die entsprechenden Fähigkeiten. Den einzigen Beweis seines Scharfsinns, den er erbrachte, war das Imstichlassen seines früheren Wohltäters, als er merkte, daß es mit dessen Macht abwärtsging und er beim Volk in Ungnade fiel. (Tobias G. Smollet: Humphry Clinkers denkwürdige Reise, S. 146)


Smollet, Tobias G.: Humphry Clinker [7]

  In Wahrheit glaubt H....t an keine andere Religion als an die Allmacht der Natur. In diesem Falle aber fühlte er sich angesprochen, zur Ehre seines Landes Partei zu ergreifen. Als er vor einigen Jahren auf dem Campidoglio in Rom war, ging er auf die Büste des Jupiter zu, machte eine tiefe Verbeugung und rief auf italienisch aus: "Ich hoffe, Herr, du wirst daran denken, wenn du deinen Kopf mal wieder über Wasser kriegen solltest, daß ich dir in deinem Unglück meine Verehrung bezeugte." Die lose Bemerkung wurde dem Kardinal Camerlengo hinterbracht, der sie dem Papst Benedikt XIV. weitererzählte. Der konnte nicht anders, als über die verrückte Huldigung lachen, und meinte zum Kardinal gewendet. "Diese englischen Ketzer glauben das Vorrecht zu haben, auf ihre eigene Manier zur Hölle fahren zu können." (Tobias G. Smollet: Humphry Clinkers denkwürdige Reise, S. 268)


Spark, Muriel: Mädchen mit begrenzten...

  "Ich habe es satt, die paar Fleischstückchen aus der Pastete herauszufischen und dabei noch mit der Gabel von den Kartoffelstückchen zu trennen. Sie haben keine Ahnung, was es heißt, wenn man versucht, gerade genug zu essen, um am Leben zu bleiben und dabei Fett und Kohlehydrate zu vermeiden." Nicholas küßte sie zärtlich. Er spürte, daß vielleicht selbst Jane eine gewisse Süße innenwohnen mochte, denn nichts enthüllt eine geheime Süße so sehr wie persönlicher Kummer, der aus einem sonst phlegmatischen Geschöpf hervorbricht. (Muriel Spark: Mädchen mit begrenzten Möglichkeiten, S. 92)


Spark, Muriel: Mädchen mit begrenzten... [2]

  "Dort ist die Bombe niedergegangen, sie hat nur eben das Haus verfehlt." "Waren Sie damals im Hause?" fragte Felix. "Ja", sagte Greggie. "Ich lag im Bett. Und im nächsten Augenblick lag ich auf dem Fußboden. Alle Fenster waren zerbrochen. Ich habe den Verdacht, daß noch eine zweite Bombe heruntergekommen ist, die nicht explodierte. Ich sah sie fallen, als ich mich vom Boden aufrichtete. Aber das Räumkommando hat nur die eine Bombe gefunden und entfernt. Nun, gleichviel, wenn da noch eine zweite Bombe war, muß sie inzwischen eines natürlichen Todes gestorben sein, denn ich spreche vom Jahr 1942." (Muriel Spark: Mädchen mit begrenzten Möglichkeiten, S. 110)


Spark, Muriel: Treibhaus am East River

  In einem früheren Lebensabschnitt hat sie sich tagaus, tagein nach einer halbwegs schlanken Figur gesehnt und verzehrt; sie ist voll Unternehmungslust umhergereist und hat schließlich einen alternden Exilrussen geheiratet, der soeben seine Stelle als Pianist in einem Nachtlokal verloren hatte. Sie hat ihn mit nach London genommen und dort eine Stellenvermittlung speziell für ausländische Exilanten eröffnet, die ihre Klienten überall dort unterbrachte, wo eine fremde Zunge oder eine exotische Fertigkeit benötigt wurde. Nach dieser Heirat fraß die Fürstin sich fett und fetter und war zehn Jahre später, als man Fürst Xavier begrub, groß und stattlich und voller Liebe und vielgeliebt. Einst war sie als elternlose Miss Copplestone aus Neuseeland gekommen, und allzu leicht hätte sie da auf die falsche Nummer Sicher gehen und als schrumplige Dienststellenleiterin in einer Telefonvermittlung enden können. Elsa hat sie nie anders gekannt, denn sie hat die Fürstin erst kennengelernt, als sie schon erhaben und dick und frei war, selbst 1944 schon, damals, in der Welt der Kriegsgeheimnisse. (Muriel Spark: Das Treibhaus am East River, S. 42f.)


Spark, Muriel: Übernahme [1]

  Sie machte von allem Listen. Ein Großteil des Morgens wurde täglich mit Listenmachen zugebracht. Sie hatte Einladungslisten und Einkaufslisten. Sie führte Listen über ihre Kleider, ihre Ausgaben und Platten und Möbel in Listen. Sie schrieb sie mit der Hand und tippte sie später in alphabetischer oder chronologischer Reihenfolge, je nach Bedarf. Manchmal legte sie eine Kartei an, wenn es sich um ein komplexes Gebiet handelte, wie zum Beispiel die Dinners der Wintersaison; dann vermerkte sie, mit wem sie gegessen und wen sie eingeladen hatte, was sie angehabt hatte und wann. (Muriel Spark: Übernahme, S. 70)


Spark, Muriel: Übernahme [2]

  Hubert war jetzt fünfundvierzig. Sein im allgemeinen gutes Aussehen wechselte von Tag zu Tag. Manchmal, wenn Pauline nach Rom zum Einkaufen fuhr und mit ihrer Freundin zu Mittag aß, beschrieb sie ihn als "ein bißchen schwul". Wie dem auch sei, Hubert sah zweifellos gut aus, besonders, wenn er Seelenqualen litt. Dank eines Systems von Panikmaßnahmen, das in Kraft trat, sobald er Übergewicht bekam, war es ihm gelungen, sich eine gute Figur zu erhalten. (Muriel Spark: Übernahme, S. 29)


Spark, Muriel: Übernahme [3]

  Mary hatte sich bisher noch nicht an die italienische Nachmittagsruhe gewöhnt. Ihre Zeit war die angesächsische, von acht Uhr morgens bis Mitternacht mit zweistündiger Mittagspause. Die Tatsache, daß Maggie sich zwischen drei und fünf Uhr nachmittags zu Bett legte, schrieb sie Maggies Alter zu. Die Tatsache, daß fast alle Italiener während dieser Tageszeit ruhten, schrieb sie romantischer Faulheit zu. Was ihr Mann in Rom während dieser Stunden tat, hatte sie sich noch nie überlegt, hätte sie es getan, so hätte sie angenommen, daß er regelmäßig nach dem Mittagessen in sein Büro zurückkehrte und in einsamer Rechtschaffenheit die amerikanische Zeiteinteilung einhielt. Tatsächlich hatte Michael in Rom eine Geliebte, in deren Wohnung er die Ruhestunden verbrachte; es war nicht unüblich für italienische Geschäftsleute, die langen, freien Stunden der Mittagszeit und der Nach- Mittagszeit bei ihren Geliebten zuzubringen; doch wenn Mary vermutete hätte, daß Michael diese Gewohnheit schon so früh in ihrem Eheleben angenommen hatte, so hätte sie ihre Ehe als irreparablen Mißerfolg betrachtet. (Muriel Spark: Übernahme, S. 68)


Spark, Muriel: Übernahme [4]

  Geld jeder Art kann in Wirklichkeit nicht ausgegeben und nicht verschwendet werden; es kann nur entweder klug oder unklug oder auch mittels Gewaltanwendung von einer Hand in die andere wandern und ist, selbst farblos, geruchslos und geschmacklos, ein Pfand im Austausch gegen Farben, Gerüche und Gaumengenüsse, gegen Nahrung und Obdach und Kleidung und Darstellungen von Schönheit, je nachdem, wie Schönheit von der Person definiert wird, die sie kauft. Nur dem Schein nach vermehrt das Geld sich selbst; in Wirklichkeit vermehrt es die menschliche Rasse; selbst Geld, das für pompöse Begräbnisse ausgegeben wird, ist nicht verschwendet, da es die Kinder der Kinder des Bestattungsunternehmers nährt, so wie der Kadaver die Erde befruchtet. (Muriel Spark: Übernahme, S. 161)


Spark, Muriel: Das Mandelbaumtor [1]

  Als Joanna sich heiter zu ihnen umdrehte, erkannte Freddy den älteren blauäugigen Ramdez, der von einer dicklichen Frau in mittleren Jahren und zwei Mädchen begleitet wurde, die eine drall und plump, die andere dünn, alle europäisch gekleidet. (...) Sein Herz, das beim Anblick Joannas schneller geschlagen hatte, war plötzlich schwer geworden, als er den alten Ramdez mit seinen Frauen hinter ihr herpoltern sah. So mußte einem zumute sein, wenn man einen unangenehmen Traum gehabt hatte, dessen Höhepunkt das Klingeln eines Telefons war, durch das man erleichtert aufwachte, um festzustellen, daß das Telefon tatsächlich neben dem Bett klingelte, und nun den Hörer aufnahm, um neue Unanehmlichkeiten zu hören. (Muriel Spark: Das Mandelbaumtor, S. 71)


Spark, Muriel: Das Mandelbaumtor [2]

  Sie habe bis spät in die Nacht noch über Miss Vaughans nachgedacht. Sie bereute, Ramdez gegenüber Miss Vaughans bevorstehenden Besuch erwähnt zu haben. Aber sie war daran gewöhnt, sich mit anderer Leute Dilemma zu befassen, selbst wenn sie mitgeholfen hatte, es herbeizuführen, und tatsächlich fiel es ihr schwer, sich vorzustellen, daß irgend jemand außerhalb ihrer unmittelbaren Bekanntschaft keine Probleme haben sollte, die es zu regeln galt. (Muriel Spark: Das Mandelbaumtor, S. 82)


Spark, Muriel: Das Mendelbaumtor [3]

  Woher, dachte sie jetzt mit der alten Erbitterung, nehmen diese Nonnen das Recht, mich einfach nach meinem Gesicht einzuschätzen? Jede Jungfer sollte für schuldig gelten, bis sich ihre Unschuld erwiesen hat, dachte sie. Eine Frage der Höflichkeit, nichts mehr. Die Leute glauben, was sie glauben wollen; ihnen ist alles recht, wenn es nur nicht ihre Vorstellungen durcheinanderbringt. (Muriel Spark: Das Mandelbaumtor, S. 173)


Spark, Muriel: Das Mandelbaumtor [4]

  Die Cartwrights waren an Wochentagen gewöhnlich früh auf den Beinen, so daß sie noch ein paar Stunden lang ihren Hobbies und Lieblingsbeschäftigung nachgehen konnten, bevor sie zur Arbeit in die Klink fuhren. Wie die meisten kinderlosen Ehepaare waren sie am glücklichsten, wenn sie dort eine geregelte Beschäftigung hatten und den ganzen Tag voll eingespannt waren. Montags morgens wurde, ohne daß ihnen dies recht bewußt war, besonders früh aufgestanden und besonders fleißig geschafft - als Buße gleichsam für den verhältnismäßig müßg verbrachten Sonntag. (Muriel Spark: Das Mandelbaumtor, S. 335)


Sparschuh, Jens: Lavaters Maske [1]

  Der Bibliothekar stand an meinem Tisch. Bei ihm war eine junge Frau. Ich sah sie an - und sie mich, augenblicklich verfing ich mich in ihrem Silberblick, der ihre Ausstrahlung wunderbar bündelte, die Strahlen trafen sich genau vor meinem Gesicht, es kribbelte. (...) Wahrscheinlich irgendeine Journalistin, dachte ich. Vielleicht will sie einen Artikel über Lavater schreiben. Sie macht sich vorher in der Bibliothek ein bißchen sachkundig, und bei dieser Gelegenheit macht sie sich auch gleich noch an einen Autor heran, der ebenfalls über Lavater schreibt. Warum nicht. Bisher, fand ich, hatte ich in meinem Berufsleben ja nicht gerade eine Spur der Verwüstung in einsamen Frauenherzen hinterlassen. (Jens Sparschuh: Lavaters Maske, S. 22f.)


Sparschuh, Jens: Lavaters Maske [2]

  Herr Schickedanz trug ausschließlich, geradezu hingebungsvoll Strickjacken. Meist waren es ältere Fabrikate. Anfangs hielt ich das bloß für eine Marotte diese kleingewachsenen rundlichen Mannes. Später verstand ich, daß sich weit mehr hinter dieser Passion verbarg. Die Strickjacken verschafften Schickedanz einen Heimvorteil. Ihre Botschaft war klar und eindeutig, man konnte sie sich gewissermaßen an den fünf Hornknöpfen abzählen: Er, Schickedanz, war hier auf Burg Wühlischheim zu Hause - während man selbst und alle anderen sich als Eindringlinge vorkommen mußten. Insofern war die unvermeidliche Schickedanzsche Strickjacke eine Art Schutzweste gegen die unkontrolliert hereinschießende Welt. (Jens Sparschuh: Lavaters Maske, S. 56)


Stadler, Arnold: Eines Tages, vielleicht auch nachts

  Sie schlug ihn immer wieder und nahm bei den Schlägen das Gesicht eines Edelpiranhas an, das hätte ihr kein Mensch zugetraut, so wenig wie ihm die Organisation von Liebhaberinnen und das Halten und Führen eines Wohnwagens ausschließlich für den einschlägigen Zweck. Den Wohnwagen hatte Franz Joseph in die Ehe eingebracht. Claire hat diese 'mobile Besamungsstation', welches ihr Wort war sowohl für ihren Mann als auch für sein Fahrzeug, nie betreten, wenn sie auch genau wußte, wie es drinnen aussah. Da drinnen lagen Schamhaarbürsten und Abdeckstifte, Nylonstrümpfe und Minischlüpfer herum, Vorlaufmodelle späterer und spätester Zahnseidentangas, kurz bevor die Welt unterging, seine Welt, die schlagartig zu Ende war, per Handschlag eben. An dieses Fahrzeug hätte ein rotes Neonherz gehört, aber draußen sah man nur einen Aufkleber vom ÖAMTC und einen Christophorus. (Arnold Stadler: Eines Tages, vielleicht auch nachts, S. 35)


Stadler, Arnold: Eines Tages, vielleicht auch nachts [2]

  Die Stimme der Stewardeß forderte zum Schließen der Sicherheitsgurte auf, als wollte sie ein Kinderprogramm ansagen. Henry und Mausi waren hochgemut und wohlgestimmt, als hielte das Leben immer noch etwas für sie bereit. Franz auch. Sie machten Gesichter wie Menschen, die 'Im Frühtau zu Berge' noch kennen, aber längst mit dem Singen aufgehört haben. (Arnold Stadler: Eines Tages, vielleicht auch nachts, S. 57)


Stadler, Arnold: Eines Tages, vielleicht auch nachts [3]

  Schließlich sagte Rose: Gehen Sie schlafen, mein Junge. Er versprach ihr, am anderen Morgen und ausgeschlafen wieder in der schönen Halle des Hotels Sevilla zu sein. Und wollte sich schon ohne Umarmung absetzen. Aber Rose ließ das nicht durchgehen, so wenig wie bei ihrem Mann, der nebenher immer Kreuzworträtsel zu lösen versuchte und ein Gesicht machte, als suchte er nach einem Wort mit acht Buchstaben für 'Leben'. (Arnold Stadler: Eines Tages, vielleicht auch nachts, S. 138)


Stadler, Arnold: Sehnsucht [1]

  Geigenmüller hatte nun schon vor Jahren bei mir eine manische Depression festgestellt, worauf ich hier nicht weiter eingehen kann, nur soviel: Das Leben mit mir war eines der schwersten, nicht nur in meinen Phasen endemischen Unglücks. Fast noch schwerer zu ertragen für Hilde war ich in meinen Lach- und Anschaffungsphasen, wenn ich mich von der Welt umarmt glaubte und ich mich für eine solche Umarmung geschaffen hielt und immer wieder die Menschheit, die um mich war, zu Ballonfahrten animierte und einlud. Doch es konnte sein, daß der nächste Tag schon wieder ganz ebenerdig, ja souterrain verlief. (Arnold Stadler: Sehnsucht. Versuch über das erste Mal, S. 33)


Stadler, Arnold: Sehnsucht [2]

  Ohne ein Querulant zu sein, wollte ich dem Deutschen Fernsehen wieder einmal vorschlagen, auf diesen Bericht, der so viele Menschen in eine psychische Zwangslage brachte, zu verzichten, oder nur noch im nachhinein zu bringen, wie das Wetter war, im nachhinein, der psychischen Stabilität Millionen Deutscher zuliebe, die aufgrund des Wetter- Astrologen in einer Dauerdepression waren, denn das tatsächliche Wetter war nie so schlimm wie das prophezeite. Das dauerte lange, bis ich diesen Zusammenhang durchschaut hatte, daß dieser Wetterbericht, der so grob und undifferenziert war, daß er für mich schon gar nicht stimmen konnte (was wußte dieser Fernseh-Fritz vom Himmel über mir!), möglicherweise ursächlich in Zusammenhang mit meiner manischen Depression stand. Zweifellos hatte ich zu viele Wetternachrichten gesehen in meinem Leben, so daß ich schon daran dachte, gegen das Deutsche Fernsehen auf Schadenersatz und Schmerzensgeld zu klagen. Aber ich war ja kein Querulant. (Arnold Stadler: Sehnsucht. Versuch über das erste Mal, S. 51)


Stadler, Arnold: Sehnsucht [3]

  Und wie bei einem Wunder bemächtigte sich innerhalb von einer tausendstel Sekunde wieder einmal die irrsinnig schöne Hoffnung meiner Hoffnungslosigkeit. Es war die Hoffnung von einem, der nur noch auf ein Wunder hofft, ganz gegen den Augenschein; es war die Sehnsucht auf ein Wunder, das Gegenteil vom tatsächlichen Leben: Das war's. Es war zudem die Hoffnung eines Bankrotteurs auf den großen Lottogewinn, dieselbe Hoffnung eines gescheiterten Schriftstellers auf den Nobelpreis, jene Hoffnung oder Sehnsucht eines Zwerges nach der großen Liebe: und so fort. 30 Millionen im Lotto, oder der Nobelpreis - oder vielleicht sogar beides - die Liebe von Prinz William und Samantha Fox, oder zum Papst gewählt werden - oder beides. So lebte ich und wurde immer wieder enttäuscht, wenn auch nie ganz. Von der großen Liebe blieb mir bis zum heutigen Tag die Sehnsucht nach ihr. Mochte meine Hoffnung zumeist auch Lottgewinncharakter haben, lebte ich auch wie ein Spieler, der mit der Hoffnung auf den großen Gewinn lebt und leben muß: Wenn ich auch nie gewann, so war es doch die Hoffnung, die mich am Leben hielt und weiterquälte. Es war dieser Hoffnungsschmerz. (Arnold Stadler: Sehnsucht. Versuch über das erste Mal, S. 174)


Stadler, Arnold: Sehnsucht [4]

  In seinen hohen Fünfzigern hat Knötzele noch einen Englischkurs an der VHS belegt und wollte endgültig auswandern. Nach Amerika. Damals wollten alle, die wegwollten, erst einmal nach Amerika. Ein Stück weit dahin hat er es auch immer wieder gebracht. Die Fahrstunde startete immer Richtung Westen, ich weiß nicht, ob er nur einer inneren Stimme folgte, wenn er, vom Fahrschulhof her kommend, an der Straße angekommen, sagte: "Wir fahren die nächstmögliche Straße rechts!" Das war Richtung Amerika. Und nicht nur ein Fahrlehrerersatz. (Arnold Stadler: Sehnsucht. Versuch über das erste Mal, S. 180)


Stadler, Arnold: Der Tod und ich, wir zwei

  [Im Altersheim] Beim Hinausgehen schlug mir ein Geruch, der auch durch prachtvolle Gebinde im Foyer nicht neutralisiert werden konnte, entgegen. Überall saßen Damen herum, die so aussahen, als ob sie (immer noch) auf eine Einladung zur Fuchsjagd warteten. Es war gegen halb zwölf, die erste Partie machte sich schon zum Mittagessen auf, vorwiegend (strenge) Damen, denen das Leben außer dem Tod nichts mehr anhaben oder bringen konnte. Auf ihn gingen sie ja auch zu. Vorher meinetwegen noch zum Coiffeur, aber immer angemeldet. (Arnold Stadler: Der Tod und ich, wir zwei, S. 125)


Stadler, Arnold: Der Tod und ich, wir zwei [2]

  Kopf- und fristlos habe ich mein Zimmer in der Carl- Kistner-Straße verlassen und an der Schwarzen Tafel des Kollegiengebäudes I nach dem nächstbesten Zimmerangebot gegriffen, es handelte sich um eine nette, kleine 8 qm große Wohnung, Souterrain, Scheffelstraße 51. Ich habe sie auf Anhieb bekommen. Kein Mensch wollte sie haben, obwohl die Miete (kalt) nur hundertfünfzig Mark betrug. Das war auch damals ausgesprochen günstig. Nachts konnte ich kaum atmen, und wenn ich weinend im Dunklen lag, waren die Tränen kalt, noch bevor sie recht über mein Gesicht hinablaufen waren. (...) Niemand fragte nach mir, kein Mensch, wollte etwas von mir wissen, ich konnte gehen, wohin ich wollte, armes Ding! Jetzt fang ich gleich an zu weinen. Und doch: was ich seit der Kinderzeit praktisch verlernt hatte - im richtigen Augenblick zu weinen -, es ging wieder. Ort und Zeit stimmten. Es war Nacht. Es war unter der Bettdecke, drei Meter unter der Erde. Dies mag der Hauptgrund sein, weswegen sich ein Mensch sträubt unter der Erde zu wohnen, auf Ameisen-, auf Wurmhöhe, praktisch schon auf Höhe der Toten. 'Hinabgestiegen in das Reich der Toten', ein Hauptsatz des Credo. Gerade da, vor Ort, sehnte ich mich danach, irgendwo dazuzugehören. Ich war so weit außerhalb oder unten, daß die sogenannte Unterschicht damals schon ein Aufstieg gewesen wäre. Ich träumte nun schon davon, in die Unterschicht aufzusteigen, dabeizusein und dazuzugehören. Ich selbst rechnete mich zum Segment 'vertuschtes Unglück', das in den Statistiken auch nicht vorkommt. (Arnold Stadler: Der Tod und ich, wie zwei, S. 65)


Stadler, Arnold: Der Tod und ich, wir zwei [3]

  Es war eine Zweckreisegesellschaft, neben der sogenannten Erholung war der Hauptreisezweck, daß man sparte: Es mußte, unter dem Strich, billiger kommen, als wenn man zu Hause geblieben wäre. Vermutlich war das Zusammenleben der Finckes auch nichts anderen als eine sogenannte Zweckgemeinschaft: die Lebenskosten halbierten sich. Auch die Befriedigung der Lust kam so noch am billigsten. Ich weiß, daß sich auch Klaus alles ausgerechnet hat und auf das Zweiermodell, die Ehe, als das wirtschaftlichste stieß. 'Das schwäbische Modell' nenne ich es hiermit. (Arnold Stadler: Der Tod und ich, wie zwei, S. 117)


Stadler, Arnold: Der Tod und ich, wir zwei [4]

  Ich hatte nun mehrere Jahre leidlich neben Henry hergelebt. Er war, anstatt rechtzeitig zu sterben, immer älter und schwieriger geworden, hatte ziemlich abgebaut, wie man sagt. Er war nun schon ziemlich alt, ich hatte Angst, daß er nun schon zu alt für ein Altersheim sei, und daß sie ihn nicht mehr nehmen wollten. Allmählich gingen auch seine Reserven, die doch auch meine Reserven waren, zur Neige. Alles zusammengezählt, die Erträge aus den Nebenverdiensten, die kleine Apanage vom Botschafter und das Geld, das mir meine Mutter heimlich zusteckte, wenn ich (war es vor allem deswgen?) ins Rößle fuhr, reichten gerade soweit, daß ich nicht an Selbstmord dachte. (Arnold Stadler: Der Tod und ich, wie zwei, S. 122)


Stanisic, Sasa: Wie der Soldat das ... [1]

  Während er sich gestern die Finger am Motor schwarz reparierte, versuchte ich, meinen Onkeln klar zu machen, daß man mich beim Romme nicht gewinnen lassen muß. Die Zeit der Daumenlutscherprivilegien ist vorbei!, rief ich, ich tue doch nur so, als würde ich keine vierzehn Karten auf einmal halten können, um euch in Sicherheit zu wiegen! Ich warf mein Blatt schwungvoll in die Mitte des Steines, an dem wir hockten, um mich lauter zu machen, ohne daß meine Stimme lauter wurde. Meine Mutter war die Chefgenossin solcher Gesten. Sie konnte den Tisch verlassen, ihren Kopf schütteln, die Arme in die Seiten stemmen und die Augenbrauen so lautstark zusammenziehen, daß ich mir die Ohren zuhalten wollte. Und du, Onkel, - ich tippte Bora mit dem Zeigefinger gegen die Schulter -, wenn du mir schon in die Karten siehst, dann bitte, damit du den Buben, den du übrigens selbst gebrauchen kannst, auf der Hand behälst und nicht, um ihn mir zu servieren, ich bin doch keine Inkompetenz! Das Wort "Inkompetenz" habe ich von meinem Vater. Er benutzt es, wenn im Fernsehen Politik gezeigt wird oder wenn er mit Onkel Miki über die Fernsehpolitik streitet. "Sympathisieren" ist ein anderes wichtiges Wort und hat schon mehrmals zu Michaufmeinzimmerschicken geführt und zu Tagelangmiteinanderkein wortwechseln zwischen den Brüdern. (Sasa Stanisic: Wie der Soldat das Grammofon repariert, S. 34)


Stanisic, Sasa: Wie der Soldat das ... [2]

  Ur-Opa sagt: in der Stadt werden aus Jungen keine Männer und in der Schule aus den Dummen keine Großerherzigen. In der Stadt bekommt man eine schlechte Nase und sieht zwei Meter weniger. Ur-Opa ging nur bis zum Buchstaben "t" in die Schule, weil danach nichts Wichtiges mehr kommt. Nur dreimal verließ er sein Dorf: zweimal, um Krieg zu führen und einmal, um eine Frau zu erobern. Drei Siege erlangte er. (Sasa Stanisic: Wie der Soldat das Grammofon repariert, S. 42)


Stanisic, Sasa: Wie der Soldat das ... [3]

  Das neue Klo wurde mit einem Fest eingeweiht. Im Ausland denken die Leute, daß wir hier immer feiern, sagt mein Gastarbeiteronkel. Das stimmt nicht ganz, wir müssen ja auch irgendwann das Gefeierte aufräumen. Außerdem kostet so ein Fest auch allerhand, also müssen die Eltern tagsüber arbeiten. Meinen Urgroßeltern ist für ein Fest aber tatsächlich jeder Anlaß recht. Einmal haben sie zwei Nächte durchgefeiert, weil Ur-Oma einen faustgroßen Meteoriten zwischen den Karotten gefunden hatte. Das war eine Stunde, nachdem Superman im neuen Fernseher gezeigt wurde. Aus dem Meteoriten, drei Kilo Karotten und sieben Geheimgewürzen kochte Ur-Oma Suppe. Das ganze Dorf, rief sie um Mitternacht mit glasigen Augen und versuchte mit einem Judo-Griff eine Eiche zu entwurzeln, das ganze Dorf riecht nach Kryptonit! (Sasa Stanisic: Wie der Soldat das Grammofon repariert, S. 38)


Stanisic, Sasa: Wie der Soldat das ... [4]

  Ab morgen gehe ich in eine deutsche Schule. Ich werde versuchen, nicht so taubstumm zu sein wie Nena Fatima und habe deswegen die ersten zehn Wörterbuchseiten auswendig gelernt. Onkel Bora sagt, ich sei in Mathe den Deutschen drei Jahre voraus. Wenn man mein mangelndes Mathetalent davon abzieht, bleibt immerhin noch ein Jahr. Die Schulnoten sind hier falsch herum und in unserem Stadtteil gibt es fast nur Türken. In den Kaufhäusern kann man Nintendo spielen, es ist mir noch nicht gelungen, über Nacht in so einem Kaufhaus vergessen zu werden, aber ich habe schon einen Plan. Meine Mutter war letzte Woche krank, konnte dem Arzt aber das Aussehen ihrer Schmerzen nicht erklären und kam noch kränker zurück. (Sasa Stanisic: Wie der Soldat das Grammofon repariert, S. 135)


Stanisic, Sasa: Wie der Soldat das ... [5]

  Mutter hat die Fähigkeit verloren, Dinge schön zu sehen. Sie raucht eine Zigarette nach der anderen, sie qualmt wie die Essener Schornsteine. Vater ist im selben Betrieb wie Onkel Bora. Die beiden sind tagelang unterwegs. Sie arbeiten schwarz. Schwarz heißt: die Arbeit macht dir den Rücken kaputt und dich gleichzeitig zum Verbrecher, obwohl du nicht wirklich klaust. Nena Fatima hält sich am besten. Sie kocht für uns alle und badet lang, und ich sehe ihr keinen Kummer an. Einmal erwischte ich sie beim Pfeifen, was bei dem eigentlich tonlosesten Menschen überhaupt unendlich schön klingt. Sie hat sich mit den Kassierinnen im Supermarkt angefreundet und bringt ihnen jeden Tag Kaffee an die Kassen. Dafür darf sie Dinge klauen, die weniger als fünf Mark kosten, und die Kassiererinnen tun so, als würden sie es nicht bemerken. (Sasa Stanisic: Wie der Soldat das Grammofon repariert, S. 139)


Stanisic, Sasa: Vor dem Fest [1]

  Die Kirche wurde in den Neunzigern renoviert. Seitdem ist alles aus Ziegelsteinen. Ziegelstein sieht irgendwie null kirchlich aus. Mal im Ernst: Ein Kamin aus Ziegelsteinen, okay. Eine Garage, okay. Hamburg, okay (Klassenfahrt letztes Jahr, trotzdem noch Jungfrau). Aber ein Altar? Mu sagt, die Neunziger waren kriminell, was Architektur und Musik angeht, man sollte die alle nachträglich einsperren, außer Nirvana. Apropos Nirvana. In der Kirche steht eine Grüneberg-Orgel. Johann weiß das, weil er es für seine Glöckner-Prüfung lernen musste. Die ist ziemlich super. Nicht, dass er das wirklich beurteilen könnte, aber wenn einem Ding der Name seines Machers vorangestellt ist, so wie Grüneberg der Orgel, dann ist das besser als alles ohne Namen. Ein Ronaldo- Freistoß wird immer grundsätzlich erst mal geiler sein als ein Freistoß. Auch wenn Ronaldo gar nicht trifft. (Sasa Stanisic: Vor dem Fest)


Stanisic, Sasa: Vor dem Fest [2]

  Meine Mu wiegt doppelt so viel wie mein Pa. Sie wiegt 130 Kilo. Im Frühling kommen 30 Kilo schwere Gedanken dazu (Sorgen, Ängste, Scham und generelle Lustlosigkeit). Dann legt sich meine 160-Kilo-Mu in die Narzissen im Garten, weil im Liegen die dunklen Wolken circa hundertsechzig Zentimeter weiter weg sind. Ihre Augen sind zu, wir sollen sie in Ruhe lassen. Da kann man nichts machen, als Ehemann, als Sohn, als Narzisse nicht. Wir kriegen 160-Kilo-Mu nicht auf die Beine, wenn sie das nicht will, wir kriegen sie nicht froh, wenn sie das nicht sein kann. Wird es am Abend kälter, decken wir sie zu. Sitzen bei ihr. Es ist eigentlich fast schön, die Familie macht was zusammen. (...) Mu ist komisch, das auf jeden Fall. Sie geht anders ab als alle, die ich kenne, aber eigentlich genau gleich wie alle: will irgendwie durch den Tag kommen. Sie ist nie fies. Sie mag alle, bis auf die, die sie zu Recht nicht mag. Liest viel. Wählt die Linke. Aber dann kocht sie zwei Wochen lang ausschließlich Sachen mit Roter Beete, was erst mal geil ist, weil Rote Beete geil ist, aber iss mal zwei Wochen am Stück jeden Tag Rote Beete, dann reden wir noch mal. (Sasa Stanisic: Vor dem Fest)


St. Aubyn, Edward: Schöne Verhältnisse [1]

  Als sie David vor zwölf Jahren kennenlernte, hatte sein Aussehen sie fasziniert. Die Miene, auf die man ein Anrecht zu haben glaubt, wenn man aus einem kalten englischen Salon auf seinen Grundbesitz starrt, hatte sich über fünf Jahrhunderte störrisch eingegraben und in Davids Zügen vervollkommnet. Eleanor begriff nie ganz, warum die Engländer es für so vornehm hielten, lange Zeit an ein und demselben Ort nichts getan zu haben, aber David ließ keinen Zweifel daran, daß dem so war. Außerdem stammte er über den Umweg einer Prostituierten von Charles II. ab. "Das würde ich an deiner Stelle nicht so herausposaunen", hatte er ihr das Gesicht auf eine Weise zugewandt, die sie inzwischen verabscheute: mit vorgeschobener Unterlippe und einem Blick, der verriet, wie sehr er sich beherrschen mußte, um nichts Vernichtendes zu sagen. (Edward St. Aubyn: Schöne Verhältnisse, S. 11)


St. Aubyn, Edward: Schöne Verhältnisse [2]

  Laut Victor waren sie "ein und derselbe Jahrgang", ein Ausdruck, den er für jeden benutzte, der ungefährt so alt war wie er selbst und ihn in der Schule nicht beachtet hatte. "Ich kenne ihn aus Eaton" bedeutete meist, daß dieser Jemand ihn damals gnadenlos verhöhnt hatte. Nur zwei andere Gelehrte nannte er Schulfreunde, und mit beiden hatte er keinen Kontakt mehr. Der eine leitete ein College in Cambridge, der andere was Ministerialbeamter und wurde allgemein der Spionage verdächtigt, weil sein Amt zu langweilig war, um echt zu sein. (Edward St. Aubyn: Schöne Verhältnisse, S. 42f.)


St. Aubyn, Edward: Schöne Verhältnisse [3]

  Hatte Eleanors Verletzlichkeit Anne zunächst noch gerührt, so war sie mittlerweile von deren Trunkenheit entnervt. Außerdem mußte Anne sich vor ihrem Drang, andere Menschen zu retten, genaus hüten wie vor ihrer Angewohnheit, deren moralische Defizite bloßzustellen; zumal sie sehr gut wußte, daß nichts Engländer nervöser machte als eine Frau mit festen Überzeugungen, höchstens eine Frau, die diese auch noch verteidigte. (Edward St. Aubyn: Schöne Verhältnisse, S. 44)


St. Aubyn, Edward: Schöne Verhältnisse [4]

  Victor war siebenundfünzig, sah aber jünger aus. Nur eine leichte Schlaffheit der Haut, ein Verlust der Spannung um Kinn und Mund und die ungeheuer tiefen Querfalten auf der Stirn verrieten sein Alter. Seine Zähne waren gerade, stark und gelb. Er wünschte sich zwar ein aerodynamischeres Modell, doch seine Nase blieb eine freundliche Kartoffel. Frauen schwärmten immer von seinen Augen, denn ihr helles Grau hob sich leuchtend von seiner leicht narbigen, olivbraunen Haut ab. Alles in allem waren Fremde meist überrascht, wenn seine schnelle, leicht lispelnde und sehr gepflegte Stimme aus diesem Gesicht drang, das gut zu einem sehr feingemachten Preisboxer gepaßt hätte. (Edward St. Aubyn: Schöne Verhältnisse, S. 50)


St. Aubyn, Edward: Schöne Verhältnisse [5]

  "Es kann ja nicht jede einen Liebhaber abkriegen, der reich 'und' schön ist", sagte Bridget und glitt unter den Laken auf ihn zu. "Och, laß gut sein, Süße, laß gut sein", sagte Nicholas mit einem mißlungenen Proleten- Akzent. Er rollte sich aus dem Bett, stöhnte 'Tod und Zerstörung' und kroch theatralisch auf allen Vieren über den blutroten Teppich zur offenenen Badezimmertür. Bridget musterte Nicholas' Körper kritisch, als er sich mühsam aufrichtete. Im letzten Jahr war er deutlich dicker geworden. Vielleicht waren ältere Männer auch nicht so vom Heiratsfieber gepackt wie die älteren Schwestern Watson-Scott, die zügig aufs dreißigste Jahr ihres spatzenhirnigen Lebens zustolperten. (Edward St. Aubyn: Schöne Verhältnisse, S. 58)


St. Aubyn, Edward: Schöne Verhältnisse [6]

  Bridgets Schminksortiment war eher beschränkt, wie auch ihre bisweilen absolut unerträgliche Garderobe. Man konnte ja über Fiona sagen, was man wollte (und man hatte seinerzeit einige zutiefst unfreundliche Dinge gesagt), aber sie hatte sich die erstaunlichsten Cremes und Gesichtsmasken aus Paris schicken lassen. Manchmal fragte er sich, ob Bridget nicht (und hier mußte man Zuflucht zu den mildernden Nuancen der fanzösischen Zunge nehmen) 'insortable' war. Letztes Wochenende bei Peter hatte sie sich am Sonntag durchs gesamte Mittagessen gekichert wie eine Vierzehnjährige. (Edward St. Aubyn: Schöne Verhältnisse, S. 60)


St. Aubyn, Edward: Schöne Verhältnisse [7]

  Während die Fuge sich entwickelte, attackierte David das Hauptthema mit frustrierten Wiederholungen, begrub die ursprüngliche Melodie unter einem Erdrutsch grummelnder Bassnoten und störte ihren Fortgang mit gewaltigen dissonanten Ausbrüchen. Am Klavier konnte er bisweilen die ironischen Taktiken abschütteln, die sonst jede seiner Äußerungen durchzogen, und Besucher, die er bis zur Verzweiflung eingeschüchtert und verspottet hatte, waren auf einmal gerührt von der ergreifenden Traurigkeit der Musik, die aus der Bibliothek drang. Anderderseits konnte er das Klavier aber auch auf sie richten wie eine Maschinenpistole und eine so konzentrierte Feindseligkeit in die Töne legen, daß sie sich bald nach der konventionelleren Schroffheit seiner Worte sehnten. Doch selbst dann verfolgte sein Klavierspiel gerade die Leute am meisten, die seinem Einfluß am dringendsten zu entkommen suchten. (Edward St. Aubyn: Schöne Verhältnisse, S. 89)


St. Aubyn, Edward: Schöne Verhältnisse [8]

  "Sein Problem ist, daß er in die Politik gehen wollte", sagte Victor, "seine Karriere aber durch ein Vorkommnis beendet wurde, das vor ein paar Jahren noch als Sexskandal galt, heutzutage hingegen wahrscheinlich 'offene Ehe' genannt würde. Die meisten Menschen warten, bis sie Minister sind, um sich die politische Laufbahn durch einen Sexskandal zu ruinieren, aber Nicholas schaffte das schon als er die Parteizentrale der Torys noch zu beeindrucken suchte, indem er zur Nachwahl in einem todsicheren Labour-Wahlkreis antrat." (Edward St. Aubyn: Schöne Verhältnisse, S. 126)


St. Aubyn, Edward: Schöne Verhältnisse [9]

  War sie schon dem englischen Bedürfnis verfallen, fragte sie sich, ständig witzig sein zu müssen? Sie fühlte sich erschöpft und beschmutzt von einem Sommer, in dem sie all ihre moralischen Reserven kleinen Konversationseffekten zuliebe aufgebraucht hatte. Sie hatte den Eindruck, daß sie sich von den glatten, trägen Manieren der Engländer unmerklich hatte pervertieren lassen, von der Sucht nach vorsorglicher Ironie, der schrecklichen Furcht davor, ein Langweiler zu sein, und den langweiligen Mitteln und Wegen, mit denen sie diesem Schicksal unermüdlich knapp enrannen. (Edward St. Aubyn: Schöne Verhältnisse, S. 131)


St. Aubyn, Edward: Schlechte Neuigkeiten [1]

  Debbies Mutter, deren neurotische Ressourcen sie einer batteriebetriebenen Gespenstheuschrecke ähneln ließen, hatte gesellschaftliche Ambitionen, die zu verwirklichen nicht in ihrer Macht stand, solange Peter an ihrer Seite Bouillabaisse-Geschichten erzählte. Beruflich war sie eine bekannte Partyplanerin und dabei so töricht, die eigenen Ratschläge zu beherzigen. Die steife Vollkommenheit ihrer Geselligkeiten zerfiel zu Staub, sobald menschliche Wesen die luftleere Bühne ihres Salons betraten. Wie ein Bergsteiger, der im Basislager entkräftet aufgibt, reichte sie Debbie ihre Stiefel weiter, und damit eine ungeheure Verantwortung aufzusteigen!


St. Aubyn, Edward: Nette Aussichten [1]

  In den acht Jahren seit dem Tod seines Vaters war Patricks Jugend zu Ende gegangen, ohne daß er irgendwie gereift wäre, es sei denn, man betrachtete die Neigung zu Traurigkeit und Erschöpfung, die sich vor dem Haß und den Wahnsinn geschoben hatten, als Zeichen von Reife. Das Gefühl, vor einer Unzahl von Alternativen und Abzweigungen zu stehen, war der Trostlosigkeit eines Menschen gewichen, der am Kai die lange Liste der verpaßten Schiffe studiert. Er war in mehreren Kliniken von seiner Drogenabhängigkeit befreit worden - geblieben war ihm ein Hang zu Partys und wahllosen Beziehungen, zwei Angewohnheiten, welche sich so mühsam hielten wie Soldaten, die ihren Offizier verloren hatten. Sein von Extravaganzen und Arztrechnungen erodiertes Vermögen bewahrte ihn vor Armut, ermöglichte es ihm aber nicht, sich von der Langeweile freizukaufen. Kürzlich war ihm zu seinem Ensetzen bewußt geworden, daß er einen Beruf würde ergreifen müssen. Daher hatte er sich für Jura eingeschrieben, in der Hoffnung, Rechtsanwalt zu werden und etwas Vergnügen darin zu finden, möglichst vielen Kriminellen das Gefängnis zu ersparen. (Edward St. Aubyn: Nette Aussichten, S. 11)


St. Aubyn, Edward: Nette Aussichten [2]

  Vielleicht entstanden all seine Probleme daraus, daß er das falsche Vokabular verwendete, dachte er mit einer kurzen Aufwallung von Erregung, die es ihm gestattete, die Bettdecke zurückzuschlagen und zu erwägen aufzustehen. Er bewegte sich in einer Welt, in der das Wort "Wohltätigkeit", gleich einer schönen, von ihrem eifersüchtigen Ehemann unablässig bewachten Frau, ausschließlich in Begleitung der Wörter "Essen", "Komitee" oder "Ball" auftrat. Für "Mitgefühl" hatte niemand Verwendung, wogegen "Milde" häufig vorkam, und zwar in Form von Klagen über die Kürze von Gefängnisstrafen. Dennoch wußte er, daß seine Schwierigkeiten grundsätzlicherer Natur waren. (Edward St. Aubyn: Nette Aussichten, S. 7)


St. Aubyn, Edward: Nette Aussichten [3]

 Er entzog sich jeder Anstrengung, verdarb das Nichtstun jedoch durch Rastlosigkeit, er fand Wortspiele verlockend, hatte aber einen Widerwillen gegen das Virus der Zweideutigkeit; er neigte dazu, Sätze in der Mitte mit dem Scharnier eines einschränkenden "aber" zu versehen, sehnte sich jedoch danach, seine Zunge wie eine Eidechse entrollen und eine vorbeisausende Fliege mit unfehlbarer Präzision fangen zu können; er versuchte verzweifelt, der selbstzerrüttenden Ironie zu entkommen und zu sagen, was er wirklich meinte, doch das, was er wirklich meinte, vermochte nur Ironie auszudrücken. (Edward St. Aubyn: Nette Aussichten, S. 8)


St. Aubyn, Edward: Nette Aussichten [4]

 Er entzog sich jeder Anstrengung, verdarb das Nichtstun Es war seltsam, im Februar eine Party zu veranstalten, die nicht im Haus stattfand, aber Sonny war überzeugt, seine "Sachen" seien durch das, was er "Bridgets Londoner Freunde" nannte, gefährdet. In seinem Kopf hallte die ständige Klage seines Großvaters nach, seine Großmutter habe ihm "Parasiten, Schwule und Juden" ins Haus geholt, und obwohl er einsah, daß es unmöglich war, ohne Vertreter dieser drei Kategorien eine gelungene Party zu veranstalten, war er nicht gesonnen, sie an seine "Sachen" zu lassen. (Edward St. Aubyn: Nette Aussichten, S. 41)


St. Aubyn, Edward: Muttermilch [1]

 Er entzog sich jeder Anstrengung, verdarb das Nichtstun "Henry (...) wollte wissen, ob eure Kinder gut erzogen sind. Ich hab ihm gesagt, daß sie bis jetzt noch nichts kaputt gemacht haben. 'Wielange sind sie denn schon da?' wollt er wissen. Als ich sagte, ihr wärt vor zwei Stunden gekommen, sagte er: 'Herrgott, Nancy, wie aussagekräftig ist das? Ich rufe dich morgen noch mal an - dann kannst du mir vollständig Bericht erstatten.' Es hat ja auch nicht jeder die bedeutendste Sammlung Meissener Figuren der Welt." "Er auch nicht mehr, wenn Thomas erst mal dagewesen ist." (Edward St. Aubyn: Muttermilch, S. 252)


St. Aubyn, Edward: Muttermilch [2]

 Er entzog sich jeder Anstrengung, verdarb das Nichtstun Wenn es eines gab, das er der Welt mitzuteilen hatte, dann dies: Man sollte nie, niemals Kinder bekommen, ohne sich zuvor eine verläßliche Geliebte zugelegt zu haben. Und man sollte sich nicht von trügerischen Horizonten täuschen lassen: "Wenn ich nicht mehr stille; wenn er die Nacht in seinem eigenen Bett durchschläft; wenn er studiert." Wie ein Gespann von durchgehenden Pferden schleiften diese leeren Versprechen einen Mann über Geröll und Riesenkakteen, während er darum betete, daß die verhedderten Zügel rissen. Es war vorbei, die Ehe hielt keinen Trost bereit, nur Pflichten und Verbindlichkeiten. (Edward St. Aubyn: Muttermilch, S. 165)


St. Aubyn, Edward: Muttermilch [3]

 Er entzog sich jeder Anstrengung, verdarb das Nichtstun Jemand, der so organisiert war wie er, mit einem äußerst chaotischen Fundament, einem sehr stark entwickelten Intellekt und praktisch nichts dazwischen, mußte unter allen Umständen eine solide mittlere Schicht entwickeln. Ohne verfügte er nur über ein wachsames Tagesbewußtsein, das wie ein Adler über einer Landschaft schwebte, und ein Nachtbewußtsein, das einer Qualle glich, die hilflos auf dem Deck eines Schiffes lag. (Edward St. Aubyn: Muttermilch, S. 255)


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