|
Allgemeine Fundstücke / [S_1]
A
B
C
D
E
F
G
H
I
J
K
L
M
N
O
P
Q
R
S
T
U
V
W
X
Y
Z
[^]
Die Vorstadthäuschen schwammen zugleich mit den
Fenstern versunken im üppigen und verworrenen
Blühen der kleinen Gärtchen. Vergessen über dem
großen Tag wucherten üppig und still allerhand
Grünzeug, Blüten und Unkraut, froh der Pause, die sie
hinter der Gemarkung der Zeit, an den Rändern des
unvollendeten Tages verträumen konnten. Eine
riesige Sonnenblume, aufgepflanzt auf einem
mächtigen Stengel und gleichsam an Elephantiasis
erkrankt, harrte in gelber Klage der letzten, traurigen
Tage ihres Lebens und beugte sich unter der Wucht
ihrer scheußlichen Korpulenz. Doch die naiven
Perkalblümchen standen ratlos in ihren gestärkten
rose und weißen Hemdchen da und hatten kein
Verständnis für die große Tragik der Sonnenblume:
(Bruno Schulz: Die Zimtläden und andere Erzählungen, S. 10)
In diesem selten besuchten Paradezimmer - von
Adela mit Wachs und Bürsten gepflegt - herrschte
seit Vaters Verschwinden eine mustergültige
Ordnung. Die Möbel waren mit Schonbezügen
bedeckt; alle Einrichtungsgegenstände unterwarfen
sich der eisernen Disziplin, die Adela in diesem
Zimmer eingeführt hatte. Nur ein Büschel
Pfauenpfedern, die in einer Vase auf der Kommode
standen, ließ sich nicht in Zucht halten. Es war ein
mutwilliges und gefährliches Element von unfaßlicher
Revolutionsfreudigkeit wie eine Klasse zügelloser
Gymnasiastinnen: ins Gesicht hinein voller
Frömmigkeit und ausgelassenem Mutwillens hinter
dem Rücken. (Bruno Schulz: Die Zimtläden und
andere Erzählungen, S. 100)
Ein anderer Duft, eine ganz andere Farbe der
Finsternis kündete schon das Nahen des Morgens an.
Von dem vergifteten Fermenten des neuen Tages
gärte die Finsternis, wuchs wie mit Hefe versetzt ihr
phantastischer Teig, formte sich zu exzentrischen
Figuren, rann durch alle Tröge und Zuber, schwoll in
aller Eile und voller Panik, um bei dieser
ausgelassenen Fruchtbarkeit nicht vom Morgengrauen
ertappt und für alle Zeiten festgenagelt zu werden
mit diesen kranken, mißgestalteten Kinder
verhängnisvoller Sinnenlust und Selbstzeugung, den
Brottrögen der Naxcht entstiegen wie jene Dämonen,
die in den Dämpfen der Kinderwannen baden. Es ist
der Augenblick, da selbst den nüchternsten,
schlaflosesten Kopf einen Augenblick lang die
Dämmerung des Schlafes überkommt. Die Kranken,
zutiefst Betrübten und Zerrisssenen haben dann ihr
Stündchen der Erleichterung. Wer weiß, wie lange
dieser Moment dauert, in welchem die Nacht ihren
Vorhang über das breitet, was in ihrer Tiefe
geschieht, aber diese kurze Pause genügt zum
Wechsel des Bühnenbildes, zur Beseitigung der
gewaltigen Apparatur, zur Liquidation der großen
Impression der Nacht mit ihem ganzen dunklen,
phantastischen Pomp. Du erwachst, bestürzt, mit dem
Gefühl, etwas versäumt zu haben, und bemerkst in
Wirklichkeit einen hellen Streifen am Horizont und
die schwarze, sich konsolidierende Masse der Erde.
(Bruno Schulz: Die Zimtläden und andere Erzählungen,
S. 170)
Die Tante jammerte. Das war der grundsätzliche Ton
ihrer Unterhaltung, die Stimme dieses weißen und
fruchtbaren Fleisches, das gleichsam schon außerhalb
der Grenzlinien ihrer Persönlichkeit schäumte, kaum
locker in Spannung, in den Fesseln einer individuellen
Form gehalten, und selbst in dieser Spannung schon
vervielfältigt und bereit, zu zerfallen, sich zu
verästeln und in der Familie aufzulösen. Es war eine
schier selbstgebärende Fruchtbarkeit, eine
Weiblichkeit, ledig aller Zügel und Hemmungen und
krankhaft wuchernd. Es schien, als ob schon das
Aroma der Männlichkeit, der Duft des Tabakrauches
oder ein Herrenwitz dieser entflammten Weiblichkeit
den Impuls zu wollüstiger Jungfernzeugung geben
könnte. Und eigentlich waren alle ihre Klagen über
den Mann und über die Dienstboten und ihre Sorgen
um die Kinder nur Laune und Schmollen einer
unbefriedigten Fruchtbarkeit, eine Fortsetzung dieser
barschen, zornigen und weinerlichen Koketterie, mit
der sie vergeblich ihren Mann heimsuchte. Onkel
Marek saß - klein und buckelig, mit sterilem,
geschlechtslosem Gesicht - in seinem grauen
Bankrott, ausgesöhnt mit dem Schicksal und im
Schatten grenzenloser Verachtung, in dem er
auszuruhen schien. In seinen grauen Augen glomm
die ferne Glut des Gartens, der sich vor den Fenstern
entfaltete. Von Zeit zu Zeit versuchte er mit einer
schwachen Bewegung irgendwelche Vorbehalte zu
machen und Widerstand zu leisten, aber die Woge
selbstherrlicher Weiblichkeit stieß solche Gesten als
bedeutungslos beiseite, ging triumphierend an ihm
vorbei und überflutete mit ihrer breiten Strömung die
schwachen Zuckungen der Männlichkeit. (Bruno
Schulz: Die Zimtläden und andere Erzählungen, S.
14f.)
Herein kam Lucja, die mittlere Tochter, mit einem
allzu aufgeblühten und überreifen Kopf auf dem
kindlichen und lockeren Köroer aus weißem und
delikatem Fleisch. Sie reichte mir ihr puppenhaftes,
gleichsam jetzt erst knospendes Händchen und blühte
auf einmal mit dem ganzen Gesicht auf wie eine vor
rosiger Fülle überlaufende Pfingstrose. Unglücklich
wegen ihres Errötens, das schamlos von den
Geheimnissen der Menstruation erzählte, schlug sie
die Augen nieder und entflammte noch heftiger unter
der Berührung der gleichgültigen Fragen, als ob jeder
eine heimliche Anspielung auf ihre überempfindliche
Jungfräulichkeit enthielte. (Bruno Schulz: Die
Zimtläden und andere Erzählungen, S. 16)
Damals lernte ich verstehen, warum die Tiere Hörner
haben. Sie enthielten alles Unverständliche, das in
ihrem Leben nicht unterzubringen war, die wilde und
zudringliche Laune, den geistlosen und blinden
Starrsinn. Eine Art idee fixe war über die Grenze ihres
Daseins und Wesens hinausgewachsen, höher als ihr
Kopf emporgeschossen und - plötzlich in Licht
getaucht - zu einer fühlbaren und harten Masse
erstarrt. Dort nahm sie eine wilde, unberechenbare
und unglaubliche Form an, wand sich zu
phantastischen Arabesken, unsichtbar für ihre Augen,
doch bestürzend: ein unbekanntes Monogramm, unter
dessen Drohung sie lebten. ich begriff, warum diese
Tiere zur unsinnigen und wilden Panik neigten, zur
störrischen Raserei: befangen von ihrem Wahnsinn,
vermochten sie sich aus dem Geflecht und Gewucher
dieser Hörner nicht mehr zu befreien, zwischen dem
sie - den Kopf gesenkt - traurig und wild
hindurchblickten, als suchten sie nach einem
Fluchtweg aus dem hörnernen Dickicht. Diese Tiere
hatten es noch weit bis zur Erlösung und trugen das
Stigma ihres Fehltritts traurig und ergeben auf dem
Kopf. (Bruno Schulz: Die Zimtläden und andere
Erzählungen, S. 154)
Die Julinächte lernte ich zum erstenmal im Jahr
meiner Matura während der Ferien kennen. Unser
Haus, durch welches tagsüber das Wehen, Sausen
und Funkeln der heißen Sommertage zu den offenen
Fenstern hereindrang, bewohnte ein neuer Mieter, ein
winziges, greinendes, quietschendes Geschöpf, das
Söhnchen meiner Schwester. Er brachte eine Art
Rückkehr zu primitiven Verhältnissen über das Haus
und schraubte die soziologische Entwicklung auf die
Nomaden und Haremsatmossphäre des Matriachats
zurück. Ein Lagerleben mit Betten, Windeln und
ewigem Waschen und Trocknen von Wäschestücken
griff um sich, ein Nachlassen der weiblichen
Toilettensuch, die plötzlich nach ausgiebigen
Entblößungen von geradezu vegetativ unschuldigem
Charakter verlangte, machte sich bemerkbar; der
säuerliche Geruch des Säuglingszeitalters und
mildgeschwollener Brüste stand im Raum. (Bruno
Schulz: Die Zimtläden und andere Erzählungen, S.
163)
"Warum hast du dir dann das Kondom gekauft? Wenn nichts
passiert ist? Männer kaufen sich für gewöhnlich
Kondome, weil sie sich berechtigte Hoffnungen machen,
zum Schuss zu kommen." "Was heißt hier ‹zum Schuss
kommen›!? In Amerika besitzen siebzig Millionen
Menschen eine Waffe. Aber nicht, um damit
herumzuballern, sondern um sich zu schützen. Ich habe
das Kondom gekauft, weil ich mich, dich, sie, w eil ich
uns alle schützen wollte." "This is not America." Wir
kamen nicht weiter. In dieser Welt rannten Milliarden
Männer herum mit kurzen Erwägungen sexueller Abenteuer,
allesamt instabil wie künstliche Elemente, nach zwei
Nanosekunden wieder zerfallen. Wenn Fickwünsche
leuchten täten, würden sich alle dauernd die Augen
verblitzen. Warum musste gerade ich mich dafür
rechtfertigen? (Stefan Schwarz: Das wird ein bisschen wehtun)
Die Hotline vom Seniorenservice war zunächst ein
automatisch eingesprochenes und Ja/Nein-gelenktes
Entscheidungsbaumsystem der dritten Ordnung. Man musste
nacheinander seine Zustimmung/Ablehnung zur
Aufzeichnung der Gespräche und zur
Rufnummernspeicherung zum Zwecke von
Informationsanrufen ins Telefon sprechen und sich dann
durch eine etwa zwanzigteilige Auswahl von
Artikelrubriken wie Anziehhilfe n, Mobilitätshilfen,
Sanitärergänzungen, Notrufsysteme, Dekubitusprophylaxe,
Inkontinenzhilfen usw. navigieren. Kein Wunder, dass
meine Mutter sich in die Irre geantwortet hatte.
Dagegen war die Dante’sche Hölle eine übersichtlich
gegliederte Angelegenheit. Mitschuldig war sicher auch
die schwerzüngige Phonetik der Abfragen. Die Stimme
klang wie die eines Mannes, der sich mit Hilfe eines
Langwellenempfängers einen dem Deutschen
nachempfundenen Walgesang selbst beigebracht hatte.
Sicher das Werk rumänischer
Telefonberatungsmodulanbieter des alleruntersten
Preissegments. (Stefan Schwarz: Das wird ein bisschen
wehtun)
"Senioservice, wie kann ich Ihnen helfen?", fragte ein
junger, hörbar inländischer Mann. "Ich brauche …",
sagte ich mit einer kurzen Pause, in der ich überlegte,
ob ich Nergez dieses Gespräch zumuten könne, "Windeln!"
"Welche Größe?" "Keine Ahnung. Ist nicht für mich. Was
gibt es denn so für Größen?" "Small, Medium, Large –
hängt vor allem vom Bauchumfang ab." "Large", sagte
ich, ohne nachzudenken . "Fassungsvermögen?"
"Fassungsvermögen?" "Ja, es gibt Windeln mit
unterschiedlicher Saugkraft. Kennen Sie nicht die
Werbung, wo jemand eine blaue Flüssigkeit auf die
Babywindeln schüttet und dann drauf drückt, ohne dass
was ausläuft? Das ist das sogenannte Fassungsvermögen.
Das reicht bei Seniorenwindeln von 0,8 bis 3,7 Liter."
"3,7 Liter. Das ist fast ein kleines Bierfass. Ich kann
ein kleines Fass Bier in der Windel versenken, ohne
dass es rausläuft? Wer braucht denn so was?" "Ja, wenn
Sie sich zum Beispiel mal eine Zeitlang weniger
intensiv um die Pflegeperson kümmern können." "Weniger
intensiv? Bei 3,7 Liter muss ich ja das Wasser in
meinem Aquarium eher wechseln als die Windel. Da kann
ich doch zwischendurch in den Sommerurlaub fahren."
(Stefan Schwarz: Das wird ein bisschen wehtun)
Die halbe Party über hockte ich im Wohnzimmer auf der
Couch, als hätte mir jemand den Stecker gezogen. (...)
Ich sah so abwesend und verloren aus, dass keiner der
Gäste sich traute, das Wohnzimmer zu betreten, aus
Furcht, der Raum sei mit schlimmer Schwermut
kontaminiert und sie würden hier in einen Strudel
partyfeindlicher Grundsatzfragen gerissen werden. Der
Einzige, der es schließlich wagte, w ar Viktor. Aber
Viktor war aus beruflichen Gründen heiter und
furchtlos. Weil Psychologe aus Heidelberg. Er ging, wie
viele Menschen aus Westdeutschland, ganz
selbstverständlich davon aus, dass seine Meinung
relevant, sein Engagement unverzichtbar und seine Hilfe
überall nötig war. Unfähig zur Depression. Immer heiß
auf Anteilnahme. (Stefan Schwarz: Das wird ein bisschen
wehtun)
Eine Ausbildung zur Krankenschwester? Die fette Vroni?
"Ja, die haben ja ein paarmal telefoniert, der Doktor
und die Vroni. Und denn hattse gesagt, dasse da ihre
Hilfe brauchen, inner Klapsmühle." "Sie ist in der
Psychiatrischen? Als Krankenschwester?" "Davon rede ich
doch die ganze Zeit. Sie sind keiner von die Schnellen,
wie?" Das fand ich frech. Wenn man im vorderen
Perzentil der Glockenkurve zu Hause ist, sollte man mit
Zweifeln an fremder Intelligenz vorsichtig sein.
(Stefan Schwarz: Das wird ein bisschen wehtun)
Bert Stern hatte doch alles erreicht. Erfolg und
Anerkennung. (...) Außer (...) der Möglichkeit, sich
nur ein paar Sekunden auszuknipsen. Mit einem Witz, mit
einem Weib, mit einem Schnaps. Einmal nicht anwesend
sein im eigenen Leben. In dieser Espressowelt, in der
es immer um Präsenz und volle Konzentration ging, hatte
sich Stern eine Zerstreuungsstörung ersten Ranges
eingehandelt. Gezwungen, immer zu handeln, immer zu
sprechen, immer im On zu sein. (Stefan Schwarz: Das
wird ein bisschen wehtun)
"Liebe ist doch wirklich das Letzte", sagte ich wütend.
"Seit Tausenden von Jahren geht das jetzt schon so.
Alles ist immer wegen der Liebe. Väter verlassen ihre
Frauen und Kinder aus Liebe. Kinder verlassen ihre
Mütter und Väter aus Liebe. Aus Liebe bleiben Frauen
bei irgendwelchen Schurken! Alles geschieht aus Liebe.
Ich kann es nicht mehr hören. Was ist denn die Liebe?
Ein Grund, wenn einem keine Gründe mehr einfallen! Eine
Ausrede für Wahnsinn und Egoismus! Ein Marketingvehikel
von Zweiraumwohnungsvermietern und Last-Minute-
Reiseagenturen!" (Stefan Schwarz: Das wird ein bisschen
wehtun)
Die Liste der kurzfristig erreichbaren C-Promis war damit
erschöpft. "Was ist mit Gorbatschow?", fragte Chef. Der neuen
Praktikantin fiel der Unterkiefer runter. Aber Gorbatschow war
nur der interne Spitzname von Atze Hollmann, dem Sieger über
vierhundert Meter von 1956. Ein ehemaliger Spitzensportler,
dessen rote Wangen und abgezehrte Erscheinung sich nicht
fortdauernder Verausgabung an frischer Luft, sondern einem
Flachmann in seiner Brusttasche verdankten. Sein vollständiger
Spitzname Wodka Gorbatschow war das Ergebnis eines kollektiv
veranstalteten Riechversuchs gewesen, bei dem die halbe Redaktion
unter allerlei Vorwänden in die Atemluft des Altstars
eingedrungen war, um das Geheimnis seiner Spritmarke zu knacken.
Atze Hollmann hatte sich das Alkoholproblem im Zuge seiner schon
länger zurückliegenden Popularität erworben, hielt sich aber
ausgesprochen gut und wirkte oberflächlich ansprechbar. (Stefan
Schwarz: Hüftkreisen mit Nancy)
Als ich nach dem Training aus der Dusche kam, wurde die Tür zur
Umkleide aufgestoßen, und ein Mann kam herein. Er trug eine
schwarze Lederjacke, darunter ein schwarzes T-Shirt und eine
weite schwarze Hose. In der einen Hand hielt er eine schwarze
Sporttasche, in der anderen eine lange schwarze Taschenlampe, wie
sie amerikanische Motorrad-Cops benutzen, um nachts bei steif
nach vorn blickenden Serienmördern im Fahrgastinnenraum
herumzuscheinwerfern, natürlich nur, um sie dann wieder fahren zu
lassen. Der Mann ging auf meine Bank zu, schob mein Sportzeug gut
zwei Meter zur Seite und warf seine Tasche auf den Platz. Nackt
und fassungslos stand ich hinter ihm. Es war ein Akt so
beiläufiger, so unbegründeter Aggression, dass selbst Mahatma
Gandhi ins Hyperventilieren geraten wäre. (Stefan Schwarz:
Hüftkreisen mit Nancy)
Die Kinder hatten schon dazu geführt, dass Dorit sich von einer
anbetungswürdigen Frau in eine sehr viel weniger anbetungswürdige
Mutter verwandelt hatte, die sich zudem ihre Dosis Anbetung
lieber von abhängigen Wesen wie dem Goldlöckchen Mascha oder dem
mittlerweile allerdings nur noch sekundenweise verkuschelten
Konrad holte. "Du meinst, der Kapitalismus hat uns am Arsch, weil
wir uns fortgepflanzt haben? Müssen wir jetzt vor jedem Drecksack
mit Budget-Hoheit den Buckel krumm machen, nur damit unsere
Kinder nicht die Wohnung, die Schule und den Freundeskreis
wechseln müssen?" Dorit verscheuchte meinen Einwand wie ein
Insekt. "Was ich jetzt überhaupt nicht brauchen kann, sind
irgendwelche marxistischen Macho-Sprüche. Jetzt ist gleich wieder
das System schuld, wenn du dich nicht zusammenreißen kannst!
Weißt du, wie viele Kinder deinem Karl Marx gestorben sind? Weißt
du das?" Ich entdeckte beiläufig, dass Streit unter ehemaligen
Teilnehmern sozialistischer Schulungsseminare noch einen ganz
anderen Spin bekommt. Karl Marx liebte seine Kinder, und er
weinte bitterlich wochenlang, als sein Söhnchen starb. Aber was
Dorit hier ablieferte, war unterster Bundestag. (Stefan Schwarz:
Hüftkreisen mit Nancy)
Es klingelte. Mechthild und Thoralf kamen. Mechthild war durch
ein Zeitloch in die Gegenwart gefallen, entstammte aber
tatsächlich den Goldenen Zwanzigern, schlank bis zur Auszehrung,
in selbstgeschneiderte Futteralkleider eingepasst, immer einen
Hauch zu entzückt, fehlte nur noch die lange Zigarettenspitze.
Sie war Textilgestalterin. Filzen mit Kindern und so was. Thoralf
war hauptsächlich behaart. Bergungstaucher der christlichen
Seefahrt. Sie hatten sich im Kirchenchor kennengelernt. Sie
Sopran, er Bass, ihr Blick fand seinen, und beim nächsten Einsatz
dröhnte er sie an quer über den Altarraum, dass ihr ganz
blümerant wurde. Die Ehe zwischen den beiden funktionierte schon
Jahre durch diese rein animalische Anziehung. Sie war sein
blondes Weibchen, er King Kong. Es war zum Neidischwerden, auch
deshalb, weil sogar Dorit in Thoralf den unverquasten Macher
anschwärmte, der schnell mal beim Austreten die Wasserspülung
reparierte oder wortlos quietschende Türen aushob, ölte und
wieder einhängte. Ein Mann, der immer sein Multitool am Gürtel
hängen hatte. Sie hing an seinen Lippen, wenn er mit kargem
maskulinem Grundwortschatz davon erzählte, wie er bei Windstärke
acht irgendwelche Bohrinseln antüderte. "Wir also rein, erst die
Kette, dann die Welle, ich gegen Ponton, aber mit Karacho ..."
Einmal war sie sogar beim Baden mit großem Hallo zu ihm
rübergekrault, als er nur mal so quer durch den See getaucht war,
und hatte mich faden Brustschwimmer allein zurückgelassen.
(Stefan Schwarz: Hüftkreisen mit Nancy)
Dorit stellte die Tasche auf den Tisch und packte ihr Handy aus,
das schon drinnen mit einem absaufenden Dreiklang um Akkuladung
gebettelt hatte, sowie einen neuen Krimi. Dorits Lektüre bestand
eigentlich nur noch aus Krimis, und ich versuchte, mich zu
erinnern, wann sie mit dem Krimilesen angefangen hatte.
Vergeblich. Meine Erinnerung war peinlich beschränkt. Hunderte
von Dorits Ankleideszenen konnte ich memorieren, aber ich konnte
mich nicht erinnern, was sie früher gelesen hatte. Zu meiner
Entschuldigung muss ich allerdings anfügen, dass die Art, wie
Dorit den Slip hochzog, sich den Büstenhalter über die Brüste
schob, ihren Pullover überstreifte, in den Rock stieg und den
Reißverschluss mit Zack schloss, etwas vom Anlegen einer Rüstung
hatte. Eine forsche Sachlichkeit, die ihren Griff ins Wäschefach
wie den Griff in einen Waffenschrank aussehen ließ. (Stefan
Schwarz: Hüftkreisen mit Nancy)
Es ist nicht wahr, sagte Marie, daß wir die Abwesenheit
und die Einsamkeit brauchen. Es ist nicht wahr. Nur du
bist es, der sich ängstigt, ich weiß nicht, vor was.
Immer hast du dich ja ein wenig entfernt gehalten, ich
habe es wohl gesehen, aber nun ist es, als stündest du
vor einer Schwelle, über die du nicht zu treten wagst.
(...) Heute, sagte Austerlitz, weiß ich, warum ich mich
abwenden mußte, wenn mir jemand zu nahe kam, und daß
ich in diesem Michabwenden mich gerettet wähnte und
zugleich mir vorkam wie ein zum Fürchten häßlicher,
unberührbarer Mensch. (W. G. Sebald: Austerlitz, S. 6)
Hie und da geschah es noch, daß sich ein Gedankengang
in meinem Kopf abzeichnete in schöner Klarheit, doch
wußte ich schon, indem dies geschah, daß ich
außerstande war, ihn festzuhalten, denn sowie ich nur
den Bleistift ergriff, schrumpften die unendlichen
Möglichkeiten der Sprache, der ich mich früher doch
getrost überlassen konnte, zu einem Sammelsurium der
abgeschmacktesten Phrasen zusammen. Keine Wendung im
Satz, die sich dann nicht als eine jämmerliche Krücke
erwies, kein Wort, das nicht ausgehöhlt klang und
verlogen. Und in dieser schandbaren Geistesverfassung
saß ich stunden- und tagelang mit dem Gesicht gegen die
Wand, zermartete mir die Seele und lernte allmählich
begreifen, wie furchtbar es ist, daß sogar die
geringste Aufgabe oder Verrichtung, wie beispielsweise
das Einräumen einer Schublade mit verschiedenen Dingen,
unsere Kräfte übersteigen kann. Es war, als drängte
eine seit langem in mir bereits fortwirkende Krankheit
zum Ausbruch, als habe sich etwas Stumpfsinniges und
Verbohrtsein in mir festgesetzt, das nach und nach alles
lahmlegen würde. Schon spürte ich hinter meiner Stirn
die infame Dumpfheit, die dem Persönlichkeitsverfall
voraufgeht, ahnte, daß ich in Wahrheit weder Gedächtnis
noch Denkvermögen, noch eigentlich eine Existenz besaß,
daß ich mein ganzes Leben hindurch mich immer nur
ausgelöscht und von der Welt und mir selber abgekehrt
hatte. (W. G. Sebald: Austerlitz, S. 178)
Was mich beunruhigte bei ihrem Anblick war jedoch nicht
die Frage, ob sich die von einem leberfarbenen Schorf
überzogenen komplizierten Formen des Kapitells
tatsächlich meinem Gedächtnis eingeprägt hatten, als
ich seinerzeit, im Sommer 1939, mit dem Kindertransport
durch Pilsen gekommen war, sondern die an sich
unsinnige Vorstellung, daß diese durch die Verschuppung
ihrer Oberfläche gewissermaßen ans Lebendige
heranreichende gußeiserne Säule sich erinnerte an mich
und, wenn man so sagen kann, sagte Austerlitz, Zeugnis
ablegte von dem, was ich selbst nicht mehr wußte. (W.
G. Sebald: Austerlitz, S. 316)
Das klärende Gespräch endete mit einem halben
Dutzend Besichtigungen, und als sie zurückkamen,
war das Gesicht meiner Mutter so teilnahmslos, als
sei es gelähmt. "War schön", sagte sie. "Der
Immobilienmakler war sehr nett." Wir hatten den
Eindruck, als stünde sie unter Eid, etwas für sich zu
behalten, und als bereite ihr die Anstrengung
körperlichen Schmerz. "Ist schon gut", sagte mein
Vater. "Du kannst es ihnen sagen." "Nun, wir haben
da dieses Haus gesehen", erklärte sie. "Also, man
muß sich deshalb nicht gleich überschlagen, aber...."
"Aber es ist perfekt", sagte mein Vater. "Ein
Prachtstück, genau wie eure Mutter." Er trat von
hinten auf sie zu und zwickte sie in den Po. Sie lachte
und schlug mit dem Handtuch nach ihm, und wir
wurden Zeuge dessen, was wir später als die
verjüngende Kraft von Immobilien kennen lernten.
Es ist der Weg, den Paare mit Geld gehen, wenn ihr
Sexuallebene brach liegt und sie zu anständig für
eine Affäre sind. Ein Zweitwagen mag ein Paar für ein
oder zwei Wochen zusammenbringen, aber einn
zweites Heim kann einer Ehe bis zu neun Monaten
nach Vertragsabschluß frischen Wind geben. (David
Sedaris: Nachtprogramm, S. 29)
Meine Eltern gehörten nicht zu den Leuten, die zu
festen Zeiten ins Bett gehen. Der Schlaf überkam sie,
aber weder die Zeit noch der Gedanke an eine
Matratze schienen dabei von großer Bedeutung. Mein
Vater bevorzugte einen Stuhl im Keller, doch unsere
Mutter schlief überall ein und wachte auf mit roten
Striemen im Gesicht vom Teppich oder dem Abdruck
des Sofapolsters auf der weichen Haut ihre
Unterarme. Es war in gewisser Weise peinlich. Sie
kam auf ihre acht Stunden Schlaf am Tag, aber
niemals am Stück, und auch ohne die Kleidung zu
wechseln. Zu Weihnachten schenkten wir ihr
Nachthemden, in der Hoffnung, sie würde den Hinweis
verstehen. "Die sind zum Schlafen da", sagten wir,
und sie sah uns nur ungläubig an, als sei der Moment
des Schlafs wie der des eigenen Todes zu
unvorhersehbar, um sich ernsthaft darauf
vorzubereiten. (David Sedaris: Nachtprogramm, S. 37)
Die Verkäuferin hatte die Farbe der Wildlederweste
als "maskulines Kirschrot" bezeichnet, und von der
Schulter fielen Lederfransen herab wie bei einer
Ponyfrisur. Achtzehn Dollar waren viel Geld, aber mit
so einer Weste blieb man nicht unbemerkt. In
Kombination mit einem Rollkragenpulli oder einem
passenden Buttondownshirt konnte man aller Welt zu
verstehen geben, daß man sensibel und ein Kämpfer
für den Frieden war. Die Weste über der nackten
Brust getragen hieß, lange Haare hin oder her, daß
man ein Leben in verwegenen Regionen führte, die
sich am besten mit "da draußen" beschreiben ließen
(David Sedaris: Nachtprogramm, S. 87)
Die Frau arbeitete nachts und ließ ihre Tochter von
vier Uhr nachmittags bis zwei oder drei Uhr früh
allein. Beide hatten hellblonde, fast weiße Haare, und
Augenbrauen und Wimpern waren unsichtbar. Die
Mutter zog ihre mit einem Lidstift nach, aber die
Tochter schien keine zu besitzen. Ihr Gesicht war wie
das Wetter in Regionen ohne erkennbare
Jahreszeiten. Gelegentlich verfärbten sich die Ringe
unter ihren Augen purpurrot. Man sah sie auch mal
mit einer geschwollenen Lippe oder einem Kratzer am
Hals, aber ihr Gesicht verriet nichts. Mit so einem
Mädchen mußte man Mitleid haben. Kein Vater, keine
Augenbrauen und diese Mutter. (David Sedaris:
Nachtprogramm, S. 117)
Wenn man über zehn Jahre zusammen ist, ändert sich
so einiges. Es gibt nur wenige Filme über langjährige
Partnerschaften, und das aus gutem Grund: Unser
Leben ist langweilig. Am Anfang hatte unsere
Beziehung ihre besonderen Momente, doch inzwischen
läuft der wenig überraschende Teil II, für den kein
vernünftiger Mensch Geld ausgeben würde. ("Wow,
sie machen ihre Stromrechnung auf!") Hugh und ich
sind jetzt so lange zusammen, daß wir handgreiflich
werden müssen, um außerordentliche Leidenschaft zu
erleben. Einmal schlug er mir mit einem zerbrochenen
Weinglas auf den Hinterkopf, und ich sank zu Boden
und tat so, als sei ich bewußtlos. Das war romantisch
oder wäre romantisch gewesen, wenn er sich neben
mich gekniet und mir geholfen hätte, anstatt über
mich hinwegzusteigen und das Kehrblech zu holen.
(David Sedaris: Nachtprogramm, S. 148f.)
Meine Schwester gehört zu den Menschen, die
andächtig die auf Angst getrimmten
Augenzeugenberichte im Lokalfernsehen verfolgen
und nichts außer der Schlagzeile behalten. Sie
erinnert sich, das Apfelmus tödlich sein kann, vergißt
aber, daß es dazu direkt in die Vene injiziert werden
muß. Meldungen, daß Gespräche übers Mobiltelefon
von Fremden mitgehört werden könnten, vermischen
sich mit Nachrichten über die steigende Zahl von
Einbrüchen und Hirntumoren, was für sie letztlich
heißt, daß alle Telekommunikation potenziell
lebensbedrohlich ist. Wenn es nicht im Fernsehen
gesendet wurde, hat sie es im Verbrauchermagazin
gelesen oder es aus dritter Hand von der Freundin
einer Freundin einer Freundin erfahren, deren Ohr
beim Abfragen ihres Anrufbeantworters Feuer
gefangen hat. Alles ist allezeit gefährlich, und wenn
es nicht bereits aus dem Handel genommen wurde,
läuft derzeit zumindest eine Überprüfung - noch
Fragen? (David Sedaris: Nachtprogramm, S. 152)
Genau darin bestand der Luxus von Geld sich Dinge
anschaffen zu können, ohne um Rabatte oder
Monatsraten bei möglichst niedrigen Zinsen feilschen
zu müssen. Mein Vater gab unseren alten Kombi in
Zahlung und bearbeitete dann monatelang die
Verkäufer, bis sie alles taten, um ihn loszuwerden. Er
verlangte und bekam tatsächlich auch eine
verlängerte Garantie auf unseren Kühlschrank,
offenbar mit dem Hintergedanken, daß, sollte das
Gerät im Jahr 2020 lecken, er sich aus seinem Grab
erheben und es eintauschen konnte. Für ihn
bedeutete Geld einzelne Dollars, die sich langsam
wie Tropfen aus einem undichten Wasserhahn
ansammelten. Für Tante Monie war Geld eher wie ein
Ozean. Man gab es in hohem Bogen aus, und ehe
noch die Rechnung geschrieben worden war, krachte
auch schon die nächste Woge an den Strand. Das war
das Schöne an Dividenden. (David Sedaris:
Nachtprogramm, S. 65)
"Ich heiße Sharon, kapiert?" Sie gehörte zu der Sorte
von Menschen, die mit jedem ins Gespräch kommen,
nicht in einer der Situation angemessenen klaren und
zielgerichteten Art, sondern allgemeiner, zwangloser.
Hätte man sie zu einem Interview mit Charles
Manson gelassen, hätte sie anschließend vermutlich
gesagt: "Ich wußte gar nicht, daß er Bambus mag!"
Es war zum Verrücktwerden. (David Sedaris:
Nachtprogramm, S. 69)
Während die Hochzeit im Royal Pavillon stattfand,
waren die Gäste nebenan im Atlantis untergebracht,
einem dreistöckigen Motel, das sich seit den frühen
Tagen der Weltraumfahrt kaum verändert hatte. Hier
hatten wir in einem Alter unsere Wochenende
verbracht, als aus Trips zum Strand Trips
am Strand geworden waren. Pilze, Kokain,
Acid, Meskalin: ich hatte noch nie hier eingescheckt,
ohne nicht wenigstens gut zugedröhnt zu sein, und
war deshalb überrascht, als ich ins Zimmer trat und
das Mobiliar tatsächlich stillstand. (David Sedaris:
Nachtprogramm, S. 182)
Zwei Wochen nach der Geburt des Babys flog ich nach
Raleigh, wo mich mein Vater mit einer halben Stunde
Verspätung am Flughafen abholte. Er war unrasiert
und konnte keins seiner achtzig Jahre verheimlichen.
"Entschuldigung, daß ich etwas neben der Spur bin",
sagte er."Ich bin nicht ganz fit, und es hat eine Weile
gedauert, bis ich meine Medizin finden konnte". Er
hatte offenbar eine leichte Erhältung und nahm
dagegen ein Antibiotikum, das der Tierarzt seiner
Dänischen Dogge verschrieben hatte. "Pillen sind
Pillen", sagte er, "ob nun für einen Hund oder einen
Menschen, ist doch alles das gleiche verdammte
Zeug." Ich fand das lustig und erzählte es später
meiner Schwester Lisa, die im Gegensatz zu mir
nichts Humorvolles darin entdecken konnte. "Ich finde
es furchtbar", sagte sie. "Wie soll es Sophie denn
besser gehen, wenn Dad ihre Medizin nimmt?" (David
Sedaris: Nachtprogramm, S. 250)
Mrs. Peacock gab sich wirklich Mühe, eine gute
Gastgeberin zu sein, aber ich wünschte, sie hätte es
bleiben lassen. Meine Meinung von ihr stand fest und
war sogar schriftlich dokumentiert. Eine
Berücksichtigung ihrer kleinen Freundlichkeiten würde
das Bild nur verwässern. Wie jedem Fünftklässler waren
mir Schurken lieber, die durch und durch böse waren und
es auch blieben, als wie Dracula und nicht wie
Frankensteins Monster, das alles ruinierte, indem es
dem Bauernmädchen eine Blume gab. Zwar machte es die
Sache halbwegs wieder gut und ertränkte das Mädchen
einige Minuten später, aber es bliebe trotzdem etwas
davon hängen. (David Sedaris: Schöner wird's nicht, S.
32)
Auf Reisen geraten Hugh und ich uns meisten wegen des
Schritttempos in die Haare. Ich gehe durchaus zügig,
aber er hat längere Beine und hält meistens sieben
Meter Vorsprung. Ein zufälliger Beobachter könnte
glauben, Hugh laufe vor mir davon und flitze um die
Ecken, um mich abzuschütteln. (...) Meine ganze Energie
ist darauf gerichtet, Hugh nicht aus den Augen zu
verlieren, und deswegen verpasse ich alles andere.
(...) Er verfügt über den besten Orientierungssinn, den
ich je bei einem Säugetier gesehen habe. Selbst in
Venedig, wo die Straßen offenbar von Ameisen geplant
wurden, trat er aus dem Bahnhof, sah kurz auf einen
Stadtplan und führte uns schnurstracks zu unserem
Hotel. Eine Stunde nachdem wir eingescheckt hatten,
erklärte er Fremden den Weg, und als wir abfuhren,
schlug er den Gondolieri Abkürzungen vor. (...)
"Solltest du mich einmal vermissen, schaff dir einen
Hund an, ein feistes, altes Tier, das dir nachrennen
muß, dann hörst du auch weiterhin dieses Hecheln hinter
dir, das dir so vertraut ist. Ich jedenfalls bin damit
durch." (David Sedaris: Schöner wird's nicht, S. 18f)
Doch ist das alles nichts gegen das, was Hugh erlebt
hat. Als er acht Jahre alt war und im Kongo lebte,
entdeckte er eines Tages einen roten Fleck auf seinem
Bein; nichts Dramatisches, nur ein kleiner Pips, den er
für einen Mückenstich hielt. Am nächsten Tag juckte der
Fleck noch mehr, und wieder einen Tag später sah er
plötzlich, wie ein Wurm aus seinem Bein kroch. Einige
Wochen danach passierte Ma Hamrick, so nenne ich Hughs
Mutter Joan, das Gleiche, und obwohl der Wurm etwas
kürzer war, dürfte das Erlebnis ungleich traumatischer
gewesen sein. Wenn ich ein Kind wäre und etwas aus dem
Bein meiner Mutter kriechen sähe, würde ich zum
nächsten Waisenhaus gehen und mich auf die
Adoptionsliste setzen. (David Sedaris: Schöner wird's
nicht, S. 8)
Schon als Kind war ich vom Tod fasziniert, nicht im
spirituellen, sondern im ästhetischen Sinn. Starb ein
Hamster oder ein Meerschweinchen, vergrub ich den
Leichnam und buddelte ihn anschließend wieder aus, und
zwar immer wieder, bis zuletzt nur noch ein abgewetztes
Stück Fell übrig war. In dem Alter ist der Tod etwas, das nur Tieren und
Großeltern widerfährt, und die Beschäftigung damit ist
wie ein Projekt im Naturkundeunterricht, aber eins von
der besseren Sorte, ohne Hausaufgaben. Die meisten
Jungen sind dem irgendwann entwachsen, nur bei mir
wuchs die Neugierde mit der Zeit immer mehr. Als
Teenager sparte ich das Geld vom Babysitten und kaufte
mir für fünfundsiebzig Dollar ein Exemplar von
'Rechtsmedizinische Untersuchungen von Toten', eine Art
Bibel für Gerichtspathologen. Darin wird gezeigt, wie
man aussieht, wenn man in einer Pfütze steht und ein
Verlängerungskabel durchbeißt, wenn man von einem
Traktor überfahren wird, einen der Blitz trifft, man
mit einer geringelten oder glatten Telefonschnur
erdrosselt wird, einen Schlag mit dem Tischlerhammer
abbekommt, verbrannt, erschossen, ertränkt,
niedergestochen oder von Wild- oder Haustieren
zerfleischt wird. Die Bildunterschriften lasen sich wie
großartige Gedichttitel. Mein persönlicher Favorit
lautete "Großflächiger Schimmel auf dem Gesicht eines
Einsiedlers". (...) Die Pathologen versuchten mir das
eine oder andere beizubringen, aber ich ließ mich durch
groteske Details immer wieder ablenken. Wie zum
Beispiel die Entdeckung, daß wenn man sich aus großer
Höhe von einem Gebäude stürzt und auf dem Rücken
landet, die Augäpfel aus den Höhlen ploppen und an zwei
Schnüren baumeln. "Wie bei der Scherzbrille mit den
Spiralaugen!", sagte ich zum dem Chef-Pathologen. Der
Mann nahm seinen Job ausgesprochen ernst und reagierte
immer gleich auf meine Feststellungen. "Na ja", seufzte
er, "nicht wirklich". Nach einer Woche in der Autopsie-
Suite konnte ich immer noch keine Speisekarte bei
Denny's aufschlagen, ohne das Gefühl zu haben, mich
übergeben zu müssen. Wenn ich nachts die Augen schloß,
sah ich Eimer voller verschrumpelter Hände, die im
zeiten Kühlraum des Labors aufbewahrt wurden, Sie
hatten dort auch eine ganze Wand mit Gehirnen,
aufgereiht wie Konserven im Supermarkt. Und dann waren
da noch diverse Einzelteile: ein übrig gebliebener
Torso, ein hübscher blonder Skalp, zwei eingelegte
Augen in einem Glas für Babynahrung. Alles zusammen
hätte eine ungemein schlaue Sekretärin ergeben, die wie
der Wind tippen konnte, aber nie ans Telefon ging.
(David Sedaris: Schöner wird's nicht, S. 107f.)
Über Nacht hatte ich plötzlich diese Beule. Ich glaube,
es war eine Zyste oder ein Furunkel, eins dieser Dinge,
die man mit Trollen in Verbindung bringt, und es befand
sich genau am Steißbein, wie ein am oberen Ende meiner
Spalte eingeklemmter Pfirsichkern. Zumindest fühlte es
sich so an. Ich hatte Angst nachzusehen. (...) So
unscheinbar wie er ist, war das Furunkel tatsächlich
eine Verbesserung, eine Art Gesäßpolster, wenn auch mit
Gift gefüllt. Der einzige echte Nachteil war der
Schmerz. In den ersten Tagen behielt ich meine
Beschwerden für mich und dachte die ganze Zeit, was für
ein leuchtendes Vorbild ich abgab. Wenn Hugh einmal
etwas hat, ist das Geschrei gleich groß. Sitzt ein
winziger Spiltter in seiner Hand, behauptet er genau zu
wissen, wie Jesus sich am Kreuz gefühlt haben muß. Er
will bemitleidet werden, wenn ihn ein Insekt gestochen
oder er sich an der scharfen Kante eines Blatt Papiers
in den Finger geschnitten hat, wohingegen ich
mindestens einen Liter Blut verloren haben muß, bevor
er mir auch nur die Hand tätschelt. (David Sedaris:
Schöner wird's nicht, S. 221)
Am ersten Januar klopfte Helen an die Tür, als ich
gerade zu einem Putzjob aufbrechen wollte. "Wer an
Neujahr arbeitet, arbeitet das ganze Jahr", sagte sie.
"Das stimmt. Da kannst du jeden fragen." Ich überlegte
einen Moment, ob sie recht haben konnte, aber dann fiel
mir ihre Binsenweisheit ein: Man bekommt keinen Kater,
wenn man bei eingeschaltetem Fernseher schläft. Außerdem
behauptete sie, man könne sich vor plötzlichem Kindstod
schützen, indem man sich dreimal mit einem Steakmesser
bekreuzigt. "Kann man beim Campen auch ein Schweizer
Taschenmesser nehmen?", fragte ich. Sie sah mich an und
schüttelte den Kopf. "Wer ist so blöd und geht mit
einem Säugling sampen?" (David Sedaris: Schöner wird's
nicht, S. 100)
In 'One Life to Live', wie überhaupt in allen
Seifenopern, machen sich die Mitspieler laufend
Selbstvorwürfe. Der männliche Hauptdarsteller erleidet
einen Autounfall, und während die Ärzte um sein Leben
kämpfen, versammelt sich die Familie im Wartezimmer und
betreibt Selbstanklage. "Es war mein Fehler", sagt die
Exfrau. "Ich hätte ihm schonender beibringen müssen,
daß ich ein Kind erwarte." Sie schlägt ihren Kopf gegen
die Wand, bis der Vater des Verunglückten sie festhält.
"Sei nicht dumm. Wenn sich jemand Vorwürfe machen muß,
dann ich." Als Nächstes meldet sich die Freundin zu
Wort und erklärt, es sei allein 'ihre' Schuld. Am Ende
ist der Einzige, der sich nicht schuldig fühlt, der
fahrer des anderen Wagens. (David Sedaris: Schöner
wird's nicht, S. 103)
Die Mutter meines Freundes war eine echte Nervensäge.
Jedes Jahr vor Weihnachten ging sie zur Mammografie, da
sie genau wissen mußte, sie würde die Ergebnisse erst
nach den Feiertagen bekommen. Der entfernte Gedanke an
Brustkrebs hing so greifbar wie Mistelgrün über den
Köpfen ihrer Kinder und wurde mit Wonne von ihr
eingesetzt. Sobald die Familie versammelt war,
verkündete sie in die Runde: "Ich möchte euch die
festliche Stimmung nicht verderben, aber dies könnte
das letzte Weihnachten sein, das wir gemeinsam feiern."
Zu anderen Familienfeiern, etwa einer Hochzeit oder
einer Schulabschlußfeier, ließ sie eine
Explorationsoperation vornehmen, bloß um sich der
Aufmerksamkeit der anderen gewiß zu sein. Als ich sie
endlich kennenlernte, gab es kein Organ in ihrem Körper,
an dem noch kein Chirurg herumgefummelt hatte. (David
Sedaris: Schöner wird's nicht, S. 222)
Manchmal bat einer der männlichen Stammkunden mit verräusperter
Stimme, einen Blick in die "Lade" werfen zu dürfen. Es war dies eine
unauffällige Schublade unter der Verkaufstheke, die von Otto Trnsjek
immer sorgfältig verschlossen gehalten und eben nur auf besonderen
Kundenwunsch geöffnet wurde. Darin befanden sich die seit Jahren
streng verbotenen, sogenannten "Zärtlichen Magazine"
(beziehungsweise die "Wichsheftln" oder "Hobelbroschüren", wie der
Trafikant sie gegenüber Franz zu nennen pflegte). (Robert Seethaler:
Der Trafikant)
Jakob ließ mich am Küchentisch Platz nehmen, einem
großen, glatten Tisch, auf dem weiße Teller wie
Vollmonde schimmerten, flankiert von funkelndem
Silberbesteck. "Zu Ehren deines Geburtstags", sagte
er. Seine Augen verfolgten meinen Gesichtsausdruck
beim Essen, und ich konnte und wollte meinen Genuß
nicht verhehlen. Mit Zwölf Jahren wußte ich schon,
was ich gern aß und was ich nicht ausstehen konnte,
aber ich hatte nicht geahnt, daß Essen einen derart
tiefen, intensiven Genuß bereiten kann. Nicht nur
Zunge und Gaumen, auch Kehle, Därme und
Fingerspitzen ließen winzige Geschmacksknospen
sprießen. Der Duft kitzelte meine Nase, Speichel
erfüllte meinen Mund, und obwohl ich noch ein Kind
war, wußte ich, daß ich nie und nimmer diese
Mahlzeit vergessen würde, die ich da aß.
Sonderbarerweise begleitete eine zarte Trauer meinen
Genuß, nagte am Glück, am Wohlgeschmack und
Duft, die meinen Leib erfüllten. Ich dachte an die
einfachen Mahlzeiten mit meinem andern Vater,
Mosche Rabinowitz, der sich im allgemeinen mit dem
Kochen von Kartoffeln, harten Eiern und
Hühnersuppe begnügte, wobei er letztere in einem
derartigen Tempo zubereitete, daß man hätte meinen
können, er wollte sichergehen, daß das von ihm
bereits eigenhändig geköpfte, gerupfte und zerteilte
Huhn nicht etwa wieder zum Leben erwache. (Meir
Shalev: Judiths Liebe, S. 24)
Eines Nachts gellte panisches Gegacker aus dem
Hühnerhaus. Jakobi zündete die Petroleumlampe
an und eilte nach draußen. Im Hühnerhaus
angekommen, trat er auf die Kreuzotter, die die
Hennen erschreckt hatte, und die biß ihn prompt
in die Ferse. Es war Frühlingszeit, zu der die
Kreuzottern vor der im Winter angesammelten
Giftigkeit und Bosheit nur so strotzen. Jakobi fiel
der ganzen Länge nach zu Boden, die
Petroleumlampe entglitt seiner Hand, zerbrach und
steckte das Hühnerhaus in Brand. Federn und
Latten fingen Feuer, Gackern und Rauch schlugen
zum Himmel, und die Schlange machte sich auf die
klammheimliche Art, die ihrer Gattung eigen ist,
schnellstens davon. "Husch, und weg", erklärte Jakob,
"was hatte sie dort auch noch verloren?" Die
Nachbarn eilten zu Hilfe, aber in dem ganzen Tumult
begriff kein Mensch, was geschehen war. Anstatt
Jakobi zu suchen, bemühten sich alle, die Flammen
zu löschen und die Legehennen zu retten. Erst als
alles vorbei war, fand Jakoba ihren Mann zwischen
stinkenden Scheiten und verkohlten Hühnerkadavern
liegen. Wundersamerweise hatte er nur an Hand und
Oberschenkel Brandwunden davongetragen, aber der
Rauch war ihm in die Lungen eingedrungen, und das
Schlangengilft hatte ihn beinahe umgebracht.
Körpergröße, robuste Konstitution und einiges Glück
hatten Jakobi vor dem Tod bewahrt. Aber er erholte
sich nicht mehr. Er hatte Kraft und Schwung verloren,
weigerte sich zu arbeiten und summte den ganzen
Tag eine kindische Melodie, deren Monotonie das
ganze Dorf auf die Palme brachte. Jakoba versuchte
in ihrer energischen, fleißigen Art, die Landwirtschaft
mit eigener Kraft weiterzuführen, aber Hundszahngras
und Dornbusch sprossen im Garten, der Hof
verwandelte sich in einen Schweinestall, die vier Kühe
gaben keine Milch mehr und wurde eine nach der
andern an Globermann verkauft, und der Gebissene
ließ seiner Frau keine Ruhe. Das Otterngift pulste
weiter in seinen Adern. Den ganzen Tag lief er Jakoba
nach, sang ihr seine unsinnigen Liedchen und
umschzwänzelte sie mit der Ausdauer und
nervtötenden Penetranz vierjähriger Knaben, die eine
geliebte Kindergärtnerin anhimmeln. (Meir Shalev:
Judiths Liebe, S. 43f.)
Seinerzeit aß man kaum Süßigkeiten. Im Hause
Rabinowitz versüßten wir das Brot nur mit Marmelade,
und beim Teetrinken kauten wir einen Zuckerwürfel.
Bis heute trinke ich so meinen Tee, denn dann
vermischten sich Bitterkeit und Süße nicht, sondern
bestehen nebeneinander. Mosche, für den das
Lechzen nach Kuchen oder Schokolade ein Inbegriff
der Maßlosigkeit war, erzählte mir immer, in seiner
Kindheit habe in seinem Elternhaus so große Armut
geherrscht, daß man beim Teetrinken einen
Zuckerwürfel am Faden über den Tisch gehängt habe.
"Und den habt ihr ins Glas getaucht?" fragte ich
Mosche lächelte mit dem Stolz der Armen. "Nein",
sagte er, "wir haben ihn beim Teetrinken
angeschaut." (Meir Shalev: Judiths Liebe, S. 85)
Er rührte mit einem Holzlöffel, hielt das Gesicht über
den Topf und schnupperte. "Was ist das Geheimnis
des Geschmacks, Sejde? Daß alles frisch ist. Daß
alles dezent ist. Nur ein Hauch. Nur eins neben das
andere stellen. Nur die Nahrung mit ihrem Gewürz
bekannt machen: Sehr angenehm, ich bin eine
Kartoffel. Sehr angenehm, ich bin eine Muskatnuß.
Darf ich bekannt machen, Frau Suppe, sehr
angenehm, Herr Dill. Ein Gewürz, Sejde, ist kein
Ohrfeige, ein Gewürz muß so sein wie ein
Schmetterlingsflügel am Gesicht. Sogar bei einem
einfachen ukrainischen Borschtsch darf der Knoblauch
dir nicht das Gesicht verziehen, er soll dich nur ein
Lächeln spüren lassen. (Meir Shalev: Judiths Liebe, S.
147)
"Essen immer nur auf weißen Tellern servieren, Sejde,
und Getränke - egal, ob Wasser, Tee, Saft oder Wein
- nur in farblose Gläser einschenken", erklärte Jakob
mit Nachdruck, "in diesen Dingen gibt es Regeln.
Wenn du ein Restaurant mit Kerzen siehst, geh nicht
rein. Kerzen sind nicht der Romantik halber da,
sondern ein Zeichen, daß der Koch was zu verbergen
hat. Der Mensch muß sehr genau sehen, was er in
den Mund steckt. (Meir Shalev: Judiths Liebe, S. 114)
"Was hast du da zubereitet, Jakob?" fragte ich. "Ein
armes Lamm. Ein blinder Alter aus dem Dorf Ilut, den
ich mal gekannt hab, hat mir seinen Enkel mit dem
Lamm geschickt. Du wirst es nicht glauben. Plötzlich
klopft ein arabischer Junge bei mir an die Tür und
sagt: 'Das ist für Sie', und geht wieder. Und ich seh
da ein Lamm stehen. Allein hab ich's hinterm Haus
geschächtet, und allein hab ich es an den Baum
gehängt und ihm die Haut abgezogen. Hättest du das
geglaubt? Ein Lamm schlachten und häuten hier in
der Eichenstraße in Kiriat Tivon? Wenn du hier einem
Bonbon auf der Straße das Papier abziehst, starren sie
dich schon an. Aber es hat keiner gemerkt. Nicht mal
das Lamm. Das ist eine interessante Sache. Daß
Schafe und Ziegen es nicht merken, wenn sie zum
Schächter gehen, aber Kühe es sehr wohl merken und
ganz schwach und traurig werden. Ich werd dir
irgendwann mal beibringen, wie man einem Lamm
das Fell abzieht. Das ist wie viele andere Dinge, für
die ein Kind einen Vater braucht, der's ihm beibringt,
denn wenn man weiß, wie's geht, ist es sehr leicht,
und wenn man's nicht weiß, ist es sehr schwer. Ein
unschuldiges Lamm. So was hast du noch nie
gekostet. Läßt sich wahrlich mit dem Teelöffel
essen." (Meir Shalev: Judiths Liebe, S. 197)
Deine Kaffeetasse füllen sie dir auf, sobald du sie
ausgetrunken hast, refill nennen sie das, schreibt
sich mit e, genau wie die Ersatzmine für Globus-
Kugelschreiber, aber aussprechen muß man's 'rifill',
mit i. Ich hab das mal in einem Film gesehen - sitzt
so ein Fahrer im Tankstellenimbiß, streckt die Beine
mit den Stiefeln aus, trinkt seinen Kaffee, und da
kommt eine Kellnerin, eine richtige Frau, nicht
irgendein dummes junges Ding, sondern eine Frau,
die schon was vom Leben versteht, mit weißen
Schwesternschuhen und Tändelschürze, und wenn er
ungefähr bei einer Viertel Tasse angelangt ist, fragt
sie - hör dir das an, Sejde, wie sie sagt: 'Would you
like a refill, Sir?' Nicht wie hier, wo sie mit allem
geizen und dir Kaffee mit Satz geben, 'Kaffee Botz' -
'Schlammkaffee', bei dem schon der Name zum
Kotzen ist, und ein durchgeweichtes Sandwich mit
einer Tomatenleiche drin, und die Toilette starrt vor
Dreck, und das Papier kannst du selber mitbringen.
Denn wer braucht hier schon eine Toilette in der
Tankstelle? Wohin du auch fährst, wo immer du bist -
stets bist du in Pinkelabstand von zu Hause." (Meir
Shalev: Judiths Liebe, S. 269)
Im Haus waren noch ein paar große gelbe Bögen
übrig, die nicht zu Zetteln zerschnitten worden waren.
Ischua fand sie und wies Jakob an, die teils sehr
sonderbaren Regeln und Verbote des Kochens darauf
zu verzeichnen und sie an die Küchenwand zu
hängen: "Man bewahrt das Mehl nicht zusammen mit
den Gewürzen auf." "Das Messer muß länger sein als
der Durchmesser des Kuchens." "Das Korianderkraut
ist die verrückte Schwester der Petersilie." "Das Licht
beim Essen muß genauso stark sein wie beim Lesen."
"Birnen sind so aufzubewahren, daß sie einander
nicht berühren." "Das Vorderteil der Kuh ißt man im
Winter, das Hinterteil im Sommer." "Jedes Getränk,
das man trinkt, hat einen Freund, den man ißt." (Meir
Shalev: Judiths Liebe, S. 342)
In Lioras Wohnung gleicht jedes nächtliche Aufstehen
einer abentuerlichen Seefahrt. Im seichten
Küstengewässer auslaufend halte ich Handkontakt zur
Wand, steche erst dann, mit der jähen Kühnheit großer
Weltenentdecker, beherzt in See. Mit ausgestreckten
Armen taste ich mich vorwärts, stoße an, zucke zurück -
Sandbänke in Form von Möbeln, über Nacht entstandene
Felsenriffs. Mehrmals stieß ich mir Stirn und Zehen
sogar an einem Türrahmen, der den Platz gewechselt
hatte. (Meir Shalev: Der Junge und die Taube, S. 166)
Schwer zu sagen, inwiefern die beiden Frauen einander
glichen; es lag weniger in den Gesichtszügen als im
Ausdruck, vor allem im Typ. Er hatte sich nicht getäuscht,
als er Christine beim Frisieren beobachtete. Beide gehörten
sie dem gleichen Typ an. Und vielleicht hatte auch seine
Mutter, der er so gram gewesen war, ihr Möglichstes getan,
um seinen Vater glücklich zu machen. Auf ihre Art? Sie
konnte es nur auf ihre Art getan haben. Sie war der
allgemeinen Zustimmung sicher, denn ihre Art war die der
Gemeinschaft. Sie konnte in der Kirche ebenso inbrünstig
singen wie Christine, ohne befürchten zu müssen, daß die
Gemeinde sie ausschloß. Sollte er glauben, daß sein Instinkt
ihn getrieben hatte, Christine zu heiraten, gleichsam, um
sich ihrem Schutz, vielleicht ihrem Willen zu unterstellen,
oder gar, um sich vor sich selbst zu schützen. (Georges
Simenon: Bellas Tod, S. 108)
Ich werde Pemal bitten, bei mir vorbeizukommen. Er wird
mir neue Medikamente verschreiben, wird mir wieder einmal
raten, der Maschine nicht zuviel zuzumuten, und wird mir
wiederholen, daß Männer, genau wie Frauen, ihre
Wechseljahre haben. Nach seiner Meinung bin ich mitten in
den Wechseljahren. "Warten Sie ab, bis Sie fünfzig sind. Sie
werden überrascht sein, wieviel jünger und kräftiger Sie sich
dann fühlen." Trotz seiner sechzig Jahre beginnt er seine
Visiten morgens um acht, wenn nicht noch früher, und ist
abends um zehn damit fertig. Und dann läßt er sich auch
noch nachts herausklingeln. Ich habe ihn immer in der
gleichen Stimmung gesehen - ein maliziöses Lächeln auf den
Lippen, als fände er es amüsant, wie sich die Leute um ihre
Gesundheit ängstigen. (Georges Simenon: Im Falle eines
Unfalls, S. 81)
Lulu war immer schamlos, nicht etwa aufreizend, sie
bemerkte es selbst nicht, und ganz sicher war sie
nicht lasterhaft. Einmal war ihr beim Aperitif auf der
Terasse des Beau Dimanche eine fliegende Ameise
unter die Bluse geraten, und ich sehe sie heute noch
vor mir, wie sie mit einer natürlichen und edlen
Geste, wie eine Mutter, die ihr Kind stillt, ihre rosige
Brust hervorholte, um nachzusehen, ob sie nicht
gestochen worden war. Das hatte nichts gemein mit
der gewollten Schamlosigkeit einer Yvonne Simart
zum Beispiel, die ganze Tage lang vollkommen nackt
auf ihrem Bett in der Sonne lag und wenn jemand an
Bord kam, nur ihre Schamgegend mit einem
Handtuchzipfel zudeckte. Ende Juni war sie
gewöhnlich schon brauner als eine Hindufrau.
(Georges Simenon: Der grosse Bob, S. 86)
Seit ein paar Augenblicken beobachtete der Justizbeamte Maigret
mit einiger Neugier. "Sie sehen so merkwürdig aus ...", bemerkte
er plötzlich. Der Kommissar lächelte, schlug einen vertraulichen
Ton an. "Das Morphium!" sagte er. "Wie?" "Keine Angst! Das ist
nicht etwa mein neustes Laster. Eine einfache Spritze in die
Brust ... Die Ärzte wollen mir zwei Rippen wegnehmen, behaupten,
das sei unbedingt notwendig ... Aber das ist eine irre Arbeit!
... Ich muß ins Krankenhaus und wer weiß wie viele Wochen
dableiben ... Ich habe sie um einen Aufschub von sechzig Stunden
gebeten. Alles, was ich dabei riskiere, scheint eine dritte Rippe
zu sein ... Zwei mehr als Adam! ... So ist es! Und nun nehmen
auch Sie das noch tragisch! ... Man sieht, daß Sie die Sache noch
nicht mit Professor Cochet diskutiert haben, dem Mann, der im
Innern aller Könige und Mächtigen dieser Erde herumgestochert hat
... Der würde Ihnen, genau wie mir, erklären, daß Tausende von
Leuten gut leben, obwohl ihnen das eine oder andere Körperteil
fehlt ... Nehmen Sie den tschechoslowakischen Ministerpräsidenten
... Cochet hat ihm eine Niere entfernt ... Ich habe sie gesehen
... Er hat mir alles mögliche gezeigt, Lungen, Mägen ... Und ihre
Besitzer gehen irgendwo in der Welt ihren kleinen Geschäften nach
..." (Georges Simenon: Maigret und Pietr der Lette)
"Sehen Sie sich dieses Foto an!" sagte er plötzlich. (...) "Das
ist in Rußland! Ich mußte im Atlas nachsehen. Nicht weit von der
Ostsee. Da gibt es mehrere kleine Länder: Estland, Lettland,
Litauen ... Begrenzt von Polen und Rußland. Die Landesgrenzen
stimmen nicht mit den Volkszugehörigkeiten überein. Manchmal
wechselt die Sprache von Dorf zu Dorf. Und darüber hinaus gibt es
dort die Juden, die überall verstreut sind, aber dennoch ein Volk
für sich bilden. Hinzu kommen die Kommunisten! An den Grenzen
wird gekämpft, es gibt ultranationalistische Armeen. Die Leute
leben von ihren Kiefernwäldern. Die Armen sind noch ärmer als
anderswo, und manche sterben an Hunger und Kälte. Einige
Intellektuelle verteidigen die deutsche Kultur, andere die
slawische und wieder andere das Land und die alten Dialekte. Es
gibt Bauern mit Gesichtern wie Lappen oder Kalmücken, dann große
blonde Teufel und schließlich ein ganzes Gemisch von Juden, die
Knoblauch essen und die Tiere anders schlachten als die übrigen
..." Maigret nahm dem Richter das Bild wieder aus der Hand, das
dieser ohne sonderliches Interesse betrachtet hatte. "Komische
Kerlchen!" bemerkte er nur. (Georges Simenon: Maigret und Pietr
der Lette)
[Nach oben]
[Allgemeine Fundstücke]
|
|