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Allgemeine Fundstücke / [S_1]
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Am nächsten Morgen fand ich mich mit meinen Geschwistern
in einem kleinen Drahtkäfig wieder. Der stand in einem kargen,
fensterlosen Raum auf einem Holztisch, direkt neben einem
Computer, der seine besten Jahre Ende der 90er gesehen
hatte. Wir atmeteten Klimaanlagenluft. Es war Alex' neues
Büro in einem ausgelagterten Forschungskomplex am
Stadtrand. Ein trostloser Ort, der jeden Feng-Shui-
Spezialisten in den Freitod treiben würde. (David Safier:
Mieses Karma, S. 126)
Nina kam inzwischen richtig in Fahrt. Oder sie tat zumindest
so. Nina hatte mir nämlich in einem stillen Moment gebeichtet,
daß sie öfters mal einen Orgasmus vortäuscht: "Das ist
besser, als dem Mann zu sagen: 'Lies mal ein gutes Buch zu
dem Thema.' Oder: 'Ich mach lieber alleine weiter'. Ich selbst
hatte nach dem Gespräch mit Nina bei meinem nächsten
Frustsex ebenfalls versucht, einen Orgasmus vorzutäuschen.
Es war bei einem Date mit dem Jurastudenten Robert, mit
dem der Sex ungefähr so viel Spaß machte wie eine
Netzhautspülung. Deswegen wollte ich auch lieber fernsehen.
Ein Blick auf die Uhr verriet, daß in zwei Minuten Ally MeBeal
kam, und ein gefakter Orgasmus schien mir das geeignete
Mittel, noch rechtzeitig die Glotze anmachen zu können. Ich
legte mich also voll ins Zeug. Aber ich war anscheinend eine
schlechtere Schauspielerin als Nina, denn Robert fragte mich
bei meinem Gestöhne nur: "Hast du einen Wadenkrampf?"
(David Safier: Mieses Karma, S. 163)
Ich glaube (...), daß Leonis Liebe sich mit nichts vergleichen
läßt, daß die Liebe bei ihm ihre höchste Kraft entfaltet und
den schönsten Ausdruck findet. Den anderen Männern war
er im Bösen wie im Guten überlegen. Seine Sprache war
anders, seine Blicke waren anders, und er hatte auch ein
anderes Herz. Ich hörte einmal eine Französin sagen, ein
Blumenstrauß in seiner Hand verbreite einen betörenderen
Duft als in der Hand eines anderen, und so war es mit allem.
Er verlieh den alltäglichsten Dingen Glanz und ließ alles
Abgelebte in neuem Licht erstrahlen. Ein unwiderstehlicher
Zauber umgab ihn, und ich konnte und wollte mich dieser
Macht nicht entziehen. Ich liebte ihn von ganzer Seele. (...)
Um mich noch mehr zu befügeln, brachte er mir Bücher.
Meine Mutter hatte nur Augen für den vergoldeten Einband,
für das feine Velinpapier und die kunstvollen Stiche. Die Titel
der Werke, die mir Kopf und Herz in Verwirrung stürzen
sollten, beachtete sie wenig. Es waren schöne und keusche
Bücher. Fast alle waren von Frauen geschrieben und
schilderten das Leben von Frauen: Valeria, Eugenia von
Rothelin, Mademoiselle von Clermont, Delphine. Diese
ergreifenden und leidenschaftlichen Erzählungen, der Blick in
eine Welt, die in meinen Augen die höchsten Ideale
verkörperte, ließen meiner Seele Flügel wachsen, aber sie
entfachten auch eine verzehrende Glut in ihr. Ich wurde
romantisch - das größte Unglück, das einer Frau
widerfahren kann. (George Sand: Leone Leoni, S. 32)
Wir Spanier geraten manchmal in einen
Seelenzustand, der uns, wie ich glaube, ganz
eigentümlich ist: Eine träge, feierliche Ruhe hält uns
in ihrem Bann, die aber gar nichts gemein hat mit
teutonischem Stumpfsinn oder dem Kaffeerausch der
Orientalen, denn sie verhindert keineswegs das
Denken. Unser Verstand ist klar, während man uns in
solcher Entrücktheit findet. Wir wandern stundenlang
auf ein und demselben Mosaikboden umher, in
Zigarrenrauch gehüllt und gemessenen Schrittes,
ohne auch nur um Haaresbreite von der Linie
abzuweichen, und währenddessen vollzieht sich
mühelos eine Arbeit, die ich unsere geistige
Verdauung nennen möchte. In solchen Augenblicken
reifen große Entschlüsse heran, die Wogen der
Leidenschaft glätten sich, und kühne Taten werden
ins Auge gefaßt. Nie ist ein Spanier ruhiger, als wenn
er über einem Plan brütet - sei es in finsterer oder
edler Absicht. (George Sand: Leone Leoni, S. 5)
Die Natur erschafft ihre verschiedensten Kreaturen mit
bewunderswerter Rücksichtslosigkeit. Sie erwägt, wer
tot und wer verkrüppelt sei, und es gibt genug, die
davonkommen, um die Resultate ihrer Geschäftsführung zu
garantieren, so, auf doppelte Weise gesichert, sind das
Zeugen und das Erhalten ihre Hauptaufgabe, und mit
jenem reich bemessenen Spielraum der Ungenauigkeiten
produziert sie die Abweichungen von dem, was man sagt,
was man tut und was man ist. Die Natur zieht keine
Grenzen, aber sie bedient sich ihrer. Wenn nach der
Ernte Tausende von Ameisenvölkern nicht mehr dieselben
Möglichkeiiten der Ernährung haben wie vordem, so gehen
eben die Gewinne und Verluste alle zu Lasten der großen
Buchführung des Planeten, keine einzige Ameise wird
ohne ihren statistischen Anteil an Nahrung bleiben. Bei
der Aufstellung des Saldos interessiert es wenig, daß
sie millionenfach in Wassern ertranken, unter die Hacke
kamen oder dem Wettpissen zum Opfer fielen: wer lebte,
aß, wer starb, ließ seinen Teil dem anderen. Die Natur
zählt keine Toten, sie rechnet mit Lebenden, und wenn
es ihr zu viele werden, arrangiert sie ein neues
Sterben. Das alles ist sehr einfach, ist sehr klar und
gerecht, niemand im großen Reich der Tiere, ob Ameise
oder Elefant, der dagegen anginge. (Jose Saramago:
Hoffnung im Alentejo, S. 35f.)
Zu jener Zeit war eine angesehene Familie es sich schuldig,
wenigstens ein Kind von zarter Gesundheit zu haben. Ich
war dazu sehr geeignet, denn bei meiner Geburt wäre ich
beinahe gestorben. Man beobachtete mich, fühlte mir den
Puls, maß meine Temperatur, ließ mich die Zunge
herausstrecken. "Findest du nicht, daß er ein bißchen blaß
aussieht?" - "Das liegt an der Beleuchtung." -"Er hat
bestimmt abgenommen." - "Aber Papa, wir haben ihn erst
gestern gewogen." Unter diesen prüfenden Blicken fühlte
ich, wie ich ein Gegenstand wurde, eine Topfblume.
Schließlich steckte man mich ins Bett. Ich erstickte vor
Wärme, kochte langsam unter meinen Betttüchern und
verwechselte meinen Körper und sein Unbehagen.
Schließlich wußte ich nicht mehr, wer von den beiden
eigentlich unerwünscht war. (Jean-Paul Sartre: Die Wörter,
S. 52)
Das Jahr begann jetzt. Die Juniruhe war endgültig
vorbei, die Zeit der brütenden Hitze und nackten
Oberarme. Die Sonne knallte durch die Glasfront und
verwandelte das Klassenzimmer in ein Treibhaus. In
leeren Hinterköpfen keimte die Sommererwartung. Die
bloße Aussicht darauf, ihre Tage nichtsnutzig zu
verschwenden, raubte den Kindern jede Konzentration.
Mit Schwimmbadaugen, fettiger Haut und schwitzigem
Freiheitsdrang hingen sie auf den Stühlen und dösten
den Ferien entgegen. Andere täuschten wegen des
nahenden Zeugnisses Unterwürfigkeit vor und schoben
ihre Bio-Leistungskontrollen aufs Lehrerpult wie Katzen
erlegte Mäuse auf den Wohnzimmerteppich.
(Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe)
Inge Lohmark gehörte nicht zu den Lehrern, die am Ende
des Schuljahres einknickten, nur weil sie bald ihr
Gegenüber verlieren würden. Sie hatte keine Angst
davor, so ganz auf sich gestellt in die
Bedeutungslosigkeit abzurutschen. Einige Kollegen
wurden, je näher die Sommerpause rückte, von geradezu
zärtlicher Nachgiebigkeit heimgesucht. Ihr Unterricht
verkam zum hohlen Mitmachtheater. Ein versonnener Blick
hier, ein Tätscheln da, Kopf-Hoch-Getue, elendiges
Filmeschauen. Eine Inflation guter Noten, der
Hochverrat am Prädikat 'Sehr gut'. Und erst die
Unsitte, Endjahresnoten abzurunden, um ein paar
hoffnungslose Fälle in die nächste Klasse zu hieven.
Als ob damit irgendjemandem geholfen wäre. Die Kollegen
kapierten einfach nicht, daß sie nur ihrer eigenen
Gesundheit schadeten, wenn sie auf die Schüler
eingingen. Dabei waren das nichts als Blutsauger, die
einem jede Lebensenergie raubten. Sich vom Lehrkörper
ernährten, von seiner Zuständigkeit und der Angst, die
Aufsichtspflicht zu verletzen. Unentwegt fielen sie
über einen her. Mit unsinnigen Fragen, dürftigen
Eingebungen und unappetitlichen Vertraulichkeiten.
Reinster Vampirismus. Inge Lohmark ließ sich nicht mehr
auslaugen. Sie war dafür bekannt, daß sie die Zügel
anziehen und die Leine kurz halten konnte, ganz ohne
Tobsuchtsanfall und Schlüsselbundwerferei. Und sie war
stolz darauf. Nachlassen konnte man immer noch. Hier
und da ein Zuckerbrötchen aus heiterem Himmel. (Judith
Schalansky: Der Hals der Giraffe, S. 9)
Neuerdings sollte es nicht mal mehr Menschenrassen
geben. Wer das leugnete, war blind. Daß ein Neger
anders als ein Eskimo aussah, war ja wohl
offensichtlich. Wenn es Rinderrassen gab, dann gab es
auch Menschenrassen. Selbst Mendels Gesetze waren heute
nur noch Regeln. Alles nur noch Syndrome, nach ihren
Entdeckern benannt. Wie bei Inseln. Gehißte Fahnen in
kranken Körpern. Durch Diagnosen unsterblich werden.
Down, Marfan, Turner, Huntington. Ohne Hinweis mehr
darauf, wie schlimm das alles war: Schwachsinn,
Zwergenwuchs, Plattfüße, Unfruchtbarkeit. Der erbliche
Veitstanz. Früher Tod. Das Leben mit vierzig vorbei.
Als ob es sonst anders wäre. Das galt ja für alle.
Zumindest für jede Frau. Ein Drittel der gesamten
Lebensspanne für nichts und wieder nichts.
Postreproduktives Überleben. Das gab es auch nur beim
Menschen. Die Gene überwinterten in unserem Körper und
warteten auf bessere Zeiten. Auf den Ausbruch,
irgendwann. Herumgeschleppte Defekte. Genetik war
dramatisch. (Judith Schalansky: Der Hals der Giraffe,
S. 112)
Ein Ferkel mit lustigem Schwänzchen rennt in der Küche
umher. Ich spiele mit ihm, wir sind Freunde geworden.
Es grunzt so ansteckend! Bald grunzen wir im Duett,
quietschen vor ferkeliger Lust. Dann sehe ich es auf
dem großen Teller im Eßzimmer wieder, mit immer noch
lustig geringeltem Schwanz. Ich heule und möchte am
liebsten aus dem Zimmer rennen. Am schrecklichsten war,
das weiß ich noch, als man mir das abgeschnittene
Schwänzchen auf den Teller legen wollte - zur
Beruhigung! (Michail Schischkin: Venushaar)
Bei Tisch darf man weder zappeln noch albern, die Hände
gehören keinesfalls auf die Knie, sondern auf den
Tisch, und das nicht irgendwie, sondern so, daß beide
Zeigefinger den Tellerrand berühren. Seine Majestät tun
es genauso, heißt es. Mama sagt, daß jeder Mensch im
Leben ein Mal einen Baum pflanzen und einen Brunnen
graben muß. Jedes Kind hat in unserem Vorgarten sein
Streifenbeet, da pflanzen wir etwas und gießen fleißig.
Ich komme jeden Tag und sehe nach, wie meine Erbslein
sich ans Licht kämpfen, wie die grünen Sprösslinge
wachsen. Eines Nachts klettern irgendwelche Lausbuben
aus Temernik über den Zaun und zertrampeln alles. Mama
will uns überreden, neu anzupflanzen, aber ich mag
nicht mehr. Morgens trägt Mama den Mantel mit den
weiten Ärmeln, in die hinein den Kopf zu stecken Spaß
macht. Nach dem Frühstück trinken die Erwachsenen
Kaffee, und wir Kinder kriegen von Mama ein Stück
Zucker auf dem Löffelchen kredenzt, eingetunkt in den
schwarzen Kaffee in ihrer Tasse. Ich versuche Mama die
Hand abzulecken, denn sie nennt mich immer eine
Schmeichlerin, ich verstehe: Speichlerin und will dem
gerecht werden. ich mag es, wenn Mama Briefe schreibt,
dann darf ich manchmal am Zeilenende das Ausrufezeichen
setzen. (Michail Schischkin: Venushaar)
Heute habe ich Mama endlich gesagt, daß ich
Schauspielerin werden will und nach dem Gymnasium an
die Moskauer Schauspielschule gehe. Zuerst war sie
sprachlos, dann brach es aus ihr hervor. Ich solle ja
nicht glauben, daß sie mich gehen lasse, brüllte sie,
die Strudel des Bohemelebens würden mich verschlucken,
so drückte sie sich aus. Daraufhin erklärte ich ihr,
daß ich das geruhsame bürgerliche Leben, bestehend aus
Lug und Trug und Langeweile, für weitaus schlimmer
halte - und daß ich mein Leben der Kunst weihen möchte.
Sie stürzte zum Büfett, ihre Tropfen holen. "Was weißt
du schon vom Theater! Alle träumen davon, eine
Jermolowa oder Sawina zu werden, und was geschieht? Sie
werden die Mätressen gut betuchter Mäzene und spielen
arme Bauersfrauen mit Tausendrubelringen im Ohr. Oder
Theaterschindmähren mit vierzig Rubeln Gnadenbrot!"
(Michail Schischkin: Venushaar)
Ich empfand eine unsaubere Mischung aus
beruflichem Ehrgeiz, Respekt für den Gegner,
keimender Eifersucht, klassischer Rivalität zwischen
Jäger und Gejagtem, Neid auf Mischkeys Jugend. Ich
weiß zwar, daß dies die Unsauberkeit der Welt ist,
der nur die Heiligen entrinnen und die Fanatiker
meinen, entrinnen zu können. Gleichwohl stört sie
mich manchmal. Weil so wenige sie sich eingestehen,
denke ich dann, nur ich litte unter ihr. Auf der
Universität in Berlin hatte mein Lehrer Carl Schmitt
uns Studenten eine Theorie vorgetragen, die reinlich
zwischen dem politischen und dem persönlichen Feind
unterschied, und alle waren überzeugt und fühlten
sich in ihrem Antisemitismus gerechtfertigt. Schon
damals hatte mich beschäftigt, ob die anderen die
Unsauberkeit ihrer Gefühle nicht aushalten konnten
und bemänteln mußten oder ob mein Fähigkeit,
zwischen Persönlichem und Sachlichem gefühlsmäßig
eine klare Grenze zu ziehen, unterentwickelt war.
(Bernhard Schlink: Selbs Justiz, S. 83)
Es war die Zeit der Schulferien. Die Geschäfte und
Straßen waren leerer, mein Autofahrerblick entdeckte
an den unwahrscheinlichsten Stellen freie Parkplätze,
und über der Stadt lag sommerliche Stille. Ich hatte
aus den Ferien jene Leichtigkeit mitgebracht, die
einen nach der Rückkehr die vertraute Umgebung
zunächst neu und anders erleben läßt. Dies alles gab
mir ein Gefühl des Schwebens, das ich noch
auskosten wollte. Den Gang ins Büro verschob ich auf
den Nachmittag. Bang spazierte ich zum 'Kleinen
Rosengarten': Würde er wegen Betriebsferien
geschlossen sein? Aber schon von weitem sah ich
Giovanni mit der Serviette überm Arm im Gartentor
stehen. "Du wiedär zurück von Griechän? Griechän nix
gut. Komm, ich dich machän Gorgonzolaspaghetti."
"Si, Ittaker prima." Wir spielten unser Deutscher-
unterhält-sich-mit-Gastarbeiter-Spiel. (Bernhard
Schlink: Selbs Justiz, S. 9)
Die Vorstellung, daß sich jemand selbst das Bein
brach, war mir entsetzlich. Als ich ein kleiner Junge
war, erzählte mir meine Mutter zur Illustration
männlicher Willensstärke, Ignatius von Loyola habe
sich das Bein, als es nach einem Bruch falsch
zusammengewachsen war, selbst mit dem Hammer
wieder gebrochen. ich habe Selbstverstümmler immer
verabscheut, den kleinen Spartaner, der sich vom
Fuchs den Bauch zerfleischen ließ, Mucius Scaevola
und Ignatius von Loyola. Aber eine Million hätten sie
meinetwegen alle kriegen können, wenn sie dadurch
aus den Schulbüchern verschwunden wären. (Bernhard
Schlink: Selbs Justiz, S. 100)
Mein alter Freund bei der Heidelberger Polizei ist
Hauptkommissar Nägelsbach. Er wartet auf seine
Pensionierung; seit er mit fünfzehn als Bote auf der
Staatsanwaltschaft Heidelberg angefangen hat, hat er
zwar schon den Kölner Dom, den Eiffelturm, das
Empire State Building, die Lomonossow-Universität
und das Schloß Neuschwanstein aus Streichhölzern
gebaut, aber den Nachbau des Vatikans, der sein
eigentlicher Traum und ihm neben dem Polizeidienst
nur zuviel ist, hat er auf den Ruhestand verschoben.
Ich bin gespannt. Mit Interesse habe ich die
künstlerische Entwicklung meines Freundes verfolgt.
Bei seinen früheren Arbeiten sind die Streichhölzer
alle etwas kürzer. Damals haben seine Frau und er
die Schwefelköpfchen mit der Rasierklinge
abgetrennt; er wußte noch nicht, daß die
Zündholzfabriken auch kopflose Streichhölzer
abgeben. Mit den längeren Streichhölzern haben die
späteren Bauten etwas gotisch Ragendes bekommen.
Weil seine Frau ihm mit den Streichhölzern nicht mehr
helfen mußte, begann sie, ihm bei der Arbeit
vorzulesen. Sie fing mit dem Ersten Buch Mose an
und ist gerade bei der 'Fackel' von Karl Kraus.
Hauptkommissar Nägelsbach ist ein gebildeter Mann.
(Bernhard Schlink: Selbs Justiz, S. 107)
Hesseler saß an seiner Schreibmaschine und tippte
mühsam. Ich werde nie verstehen, warum man
Polizisten nicht richtig Schreibmaschine schreiben
beibringt. Es sei denn, die Verdächtigen und Zeugen
sollen durch den Anblick des tippenden Polizisten
gefoltert werden. Es ist eine Folter; der Polizist
bearbeitet die Schreibmaschine hilflos und
gewaltsam, sieht dabei unglücklich und verbissen
aus, ist zugleich ohnmächtig und zum äußersten
entschlossen - eine brisante und beängstigende
Mischung. Und wenn man nicht zur Aussage bewogen
wird, dann wird man jedenfalls davon abgehalten, die
einmal gemachte, vom Polizisten in Form und Schrift
gebrachte Aussage zu ändern, mag der Polizist sie
noch so sehr verfremdet haben. (Bernhard Schlink:
Selbs Justiz, S. 108)
Natürlich kann ich nicht wissen, ob ich nicht
auch jetzt ein falsches Leben führe, weil meiner
Zeit für das, was ich eigentlich bin, noch die
Vorstellung fehlt. Wie jemand, der nie erfahren wird,
daß er der Erfinder der Hängematte sein
könnte, weil er in einer Gegend lebt, in der die
Bäume nicht nah genug beieinanderstehen.
Wenn ich uns am Abend in den Verkehrsmitteln sah,
wo wir nicht das Recht genossen, uns wenigstens in
den Kurven aneinanderzulehnen, kam es mir
manchmal vor, als seien wir Geiseln, um deren
Auslösung sich niemand mehr bemüht. Ich
begrüße es natürlich, wenn die
Menschen zu erschöpft sind, mich zu beachten,
mit allem anderen habe ich schlechte Erfahrungen
gemacht. (Jochen Schmidt: Abschied aus der Umlaufbahn)
Jens gab in kürzester Zeit den gesparten Sold für Essen und Alkohol
aus und begann danach, sich seine Brötchen von den Paletten zu
klauen, die damals noch nachts vor der Kaufhalle abgestellt wurden.
Er wollte an der Kunsthochschule Malerei studieren, aber ein
Selbstbildnis beim Onanieren überzeugte seine Eltern nicht davon,
daß sie ihn unterstützen mußten, sondern daß es Zeit für ihn war
auszuziehen. Er schaffte seine ganze Habe in eine besetzte Wohnung,
es war ja nur eine Matratze und viele Kassetten. Von seinen 100
Begrüßungsgeld kaufte er sich Schallplatten, aber nicht solche, die
jeder gekauft hätte, sondern solche, auf deren B-Seite eine halbe
Stunde lang die Geräusche von Fledermäusen zu hören waren. (Jochen
Schmidt: Müller haut uns raus)
Ich kannte ja ihr hohes Menschenideal, dem nur die Indianer gerecht
wurden, die weisesten, schönsten, edelsten und friedlichsten
Menschen auf der Welt, mit denen sie lieber gemeinsam verhungern
wollte, als eine unphilosophische, korrumpierte Existenz im
europäischen Denkgefängnis zu führen. Schon in den indianischen
Sprachen hätten sich im Gegensatz zu allen anderen Sprachen die
Wörter nicht von den Dingen entfremdet. Man könne in ihnen deshalb
eigentlich nur beten und singen. Das indianische Denken stehe im
Einklang mit der Welt, wir könnten kaum eine Ahnung davon bekommen.
Alles drehe sich in diesem Denken um den Kreis, deshalb sei es auch
nicht den Irrweg des europäischen Denkens gegangen, sondern immer
wieder zu sich zurückgekommen. "Der Kreis", sagte sie, "im Kreis ist
die Wahrheit." "Welche Wahrheit?" "Die des Kreises." "Und was ist
mit dem Quadrat?" "Mach dich nicht lustig, das steht dir nicht zu."
Sie borgte mir ein Buch mit Reden eines indianischen Medizinmannes,
in denen tatsächlich viel vom Kreis die Rede war: Ernährungskreis,
Lebenskreis, Tierkreis, Tipikreis, nur das Buch selbst war
viereckig. (Jochen Schmidt: Müller haut uns raus)
... hatte sich die Katechetin damals in der Christenlehre redliche
Mühe gegeben, uns die Bibel näherzubringen. Um uns zu ködern, las
sie uns wochenlang aus den "Kindern von Bullerbü" vor, natürlich
nicht aus dem Originalbuch, das niemand besaß, sondern aus einer mit
Durchschlagpapier abgetippten, zerfledderten Version. Sie war sehr
tolerant und sah großzügig darüber hinweg, wenn wir den Mädchen an
den Haaren zogen, nur lutschen durften wir nichts, und wenn sie doch
einmal bei jemandem einen Drops vermutete, mußte er ihr alles, was
im Mund hatte, in die Hand spucken. Sie brachte uns auch bei, daß
man beim Beten die Augen schloß. Sie konnte allerdings nicht
kontrollieren, ob wir statt dessen heimlich Fratzen schnitten, weil
sie sich als einzige daran hielt. (Jochen Schmidt: Müller haut uns
raus)
Wenn ich Klara eine Freude machen will, reicht es, ihr einen Tee zu
kaufen. Die Sorten werden inzwischen nicht mehr nach dem Inhalt
klassifiziert, sondern nach emotionalen Zuständen oder seelischen
Entwicklungsschritten, die der Tee unterstützen soll. "Erleuchtung",
"Klarer Geist", "Ruhige Seele", "Loslassen", "refresh", "Einklang",
"Hier & Jetzt", "Zeit zum Ankommen", "move on", "Frauen Balance" und
"Frauen Power". Mir ist diese Einteilung noch viel zu ungenau. Ich
hätte gerne ein Teesortiment für feinere Gefühlsnuancen: "Nicht
abwarten können, was der Partner vom Geburtstagsgeschenk halten
wird"-Tee "Dem Kind nachwinken, wenn es zum erstenmal alleine zur
Schule geht"-Tee "Nach Wochen endlich wieder die Wohnung geputzt und
sogar den Kühlschrank ausgewischt haben"-Tee "Plötzlich Angst
bekommen, ohne seinen Partner nicht mehr leben zu können"-Tee "Sich
auf eine neue Staffel der Lieblingsserie freuen, aber dann will der
DVD-Player sie nicht abspielen, weil der Ländercode nicht stimmt"-
Tee "Nicht vergessen können, wie jemand seinen Hund am Halsband
gezerrt hat"-Tee. (Jochen Schmidt: Zuckersand)
"Was wär dir denn peinlich?" "Zum Beispiel mit einer Melone in der
Hand U-Bahn zu fahren." "Das fände ich gar nicht peinlich." "Oder
wenn man so strauchelt auf der Straße. Aber nicht, wenn man richtig
hinfällt." "Wo wachsen eigentlich Melonen?" "An Bäumen? Aber dann
müßte man sie pflücken, bevor sie runterfallen, weil sie sonst
kaputtgehen." "Vielleicht pflanzt man die Melonenbäume in
Sumpfgebieten, wo der Boden weich genug für die Landung ist?" "Aber
dann wäre es eine geradezu unmenschliche Arbeit, die Früchte
einzusammeln." "Nicht, wenn man spezielle, aus Palmwedeln
geflochtene Sumpfschuhe benutzt." "Ich denke eher, daß die
Melonenbäume im Wasser stehen wie Reispflanzen und die Melonen durch
die Strömung zu einem Sammelpunkt getrieben werden." "Dafür könnte
man auch dressierte Delphine verwenden. Die sind teilweise
intelligenter als wir." "Dann würden sie das aber nicht machen."
"Man muß es ihnen eben vorleben, Sanktionen bringen nichts."
"Wichtig ist, daß man authentisch bleibt. Nur wer 'Ja' zu sich sagt,
kann auch 'Nein' zu anderen sagen." (Jochen Schmidt: Zuckersand)
Damals hatten sie Friesisch miteinander gesprochen,
eine klangvolle, dabei eigenartig kantenlose Sprache,
anders als das Deutsche. Seine Mutter-, nein
Großelternsprache. Eine Sprache, die es eigentlich gar
nicht mehr geben durfte, die vergessene
Zwillingsschwester des Englischen. Das Friesische
hatte nicht wie das Angelsächsische vornehm
geheiratet. Es war ledig geblieben und dämmerte nun
in diesem entlegenen Winkel seinem Ende entgegen.
Allerdings war schon vor Jahrhunderten sein baldiges
Aussterben vorausgesagt worden. Aber es war zäh,
das alte Tantchen. (Olaf Schmidt: Friesenblut, S. 24)
Olufs Vater war dagegen von dem unausstehlichsten
Geize besessen, geradezu die fleischgewordene
Mesquinerie. So soll eines Tages Brar das Kochbuch
seiner Frau kurzerhand ins Feuer geworfen haben,
weil ihm die darin empfohlenen Mengen an Butter und
Eiern zu reichlich erschienen waren. Alle Tage gab es
nichts als Graupenbrei mit Milch zu essen, dabei
durfte der Brei nur wenig gesalzen werden, da der
Hausvater Salz für giftig hielt. Nur am
Weihnachtsabend war Reis zugelassen. Seinen
Kindern gewöhnte Brar Braren eine sorgfältige, dabei
außerordentliche kleine und zierliche Schrift an, um
Papier und Tinte zu sparen. Aber als Kardinalsünde
und unübertrefflichen Gipfel der Verschwendung
verabscheute er das Rauchen von Tabak. Das
Rauchen besorgt der Schornstein! Für seine Söhne
bedeutete dieser Spruch, den der Alte bei jeder
Gelegenheit anzubringen niemals müde wurde, die
unerbittliche Verdammung zur Abstinenz. Nach Brar
Brarens Hinscheiden sollen sich seine zahlreichen
Söhne und Enkel indes dem Tabakgenuß mit geradezu
pathologischer Passion ergeben und sich mit einem
solchen Eifer ins Grab gepafft, geschnupft und
gepriemt haben, daß ihr ziemlich synchroner Abgang
eine Altonaer Tabaksfabrik, welche sich ganz auf die
Belieferung der Utlande verlegt hatte, geradewegs in
den Bankrott gestürzt haben soll. (Olaf Schmidt:
Friesenblut, S. 40)
Vor nichts in der Welt habe ich einen so gewaltigen
Respekt wie vor jenen Männern, die hinter Schaltern
thronen. Es ist merkwürdig damit! Solche Männer mögen
uns in der elektrischen Bahn gegenübersitzen oder am
selben Tisch ihr Bier trinken oder im Dampfbad neben uns
schwitzen - ihre harmlosen Gesichter werden uns nicht
beunruhigen oder auch nur den geringsten Eindruck auf
uns machen. Wir werden ihnen vielleicht mit dem
Ellenbogen in die Seite rennen oder ihnen auf die Füße
treten oder ihnen mit der brennenden Zigarre in das
Gesicht laufen und uns nur matt entschuldigen. Unsere
Ehrfurcht ist gering. Aber es wird anders, wenn diese
Menschen hinter ihrem Schalter sitzen. Sie erscheinen
uns jetzt wie die Priester eines starren Prinzips, einer
kosmischen Institution, die hinter der Schalterwand wie
in heiligen Tempelnischen sitzen, abgesondert von der
Welt. Nach ihrem ewig weisen Dünken lüpfen sie ab und zu
ein wenig den Vorhang, der sie den fürwitzigen Augen der
profanen Menge entzieht, um der Herde Begehr, die sich
an dem geweihten Orte drängt, zu erkunden. Es gibt
trotzige Menschen, die selbst vor Assessoren und
Leutnants unbedingte Hochachtung haben, sich der
Autorität der Schaltermänner aber demütig beugen.
(Hermann Harry Schmitz: Von Männern, die an Schaltern sitzen)
Vor nichts in der Welt hat der Mensch einen so
unbedingten heiligen Respekt wie vor der Notbremse.
Sie erscheint ihm wie eine geheimnisvolle unbekannte
Kraft, die, von tollkühner Menschenhand gelöst, mit
schwerer Vergeltung den übermütigen Täter trifft. Eltern
weisen Kindern mit erhobenem Finger bedeutsam den
geheimnisvollen Hebel, warnen sie, ihn zu berühren oder
auch nur anzuschauen. Lepra oder Cholera oder die
Pest erscheint den Menschen als leichter Schnupfen im
Vergleich zu der Katastrophe der Auslösung der
unheimlichen Gewalt der Notbremse. Die schreckliche
Furcht basiert im Urgrunde auf einer atavistischen
Veranlagung oder einer Infektion mit dem
Respektbazillus, der uns schon von Jugend auf im Blute
gärt, sich mit den Jahren fortgesetzt vermehrt und diese
hektische Subordination und zitternde Scheu vor der
amtlichen Verodnung hervorbringt. Protokoll! Amtliche
Sistierung! Diese Worte sind Keulenschläge. Diese
Worte lassen die Menschen mit Schauder überlaufen.
(Hermann Harry Schmitz: Die Diva und die Notbremse)
Es gab Suppe mit langen Fadennudeln. So lange Nudeln
hatte ich noch nie gesehen. Die Dinger mit einer gewissen
Grazie zu verschlingen, das ist nicht ganz leicht. Vom
Löffel flutschten sie zurück in die Suppe oder auf das
Tischtuch oder auf meine Rockaufschläge, viele blieben
auch am Kinn und an den Backen hängen und bildeten
einen wallenden Bart. Ich wurde nervös. Die Leute guckten
schon. Der Junge mir gegenüber lachte laut und stopfte
sich mit den Fingern die Nudeln klumpenweise in den Mund.
Seine Mutter sagte, das sei ein echtes süddeutsches
Gericht. Jetzt war mir ein Nudelwirrwarr auf den Boden
gefallen, meine Füße verwickelten sich darin. Ich
strampelte mit den Beinen, um mich aus der glitschigen
Umschlingung zu befreien, trat dabei unter den Tisch, daß
die Teller hochsprangen. Ich wurde immer nervöser. Jetzt
hing mir eine lange Nudel zum Mund heraus, ich sog, sie
hatte sich um einen Knopf verschlungen. Plötzlich sprang
der Knopf ab, und das Ende der Nudel schnellte mir ins
Gesicht. (Hermann Harry Schmitz: Die Taufe und andere
Katastrophen, S. 110)
Ich schätze Dickens ganz enorm, kann aber seine
Verehrung für den altenglischen Kamin, dem er als
Stimmungsstimulans in jedem seiner Romane ein
begeistertes Lob singt, nicht teilen. Ich betrachte, seitdem
meinem alten Freunde Dlany Trainenteer aus dem Staate
Illinois am Kamin des Hotels Gletsch am Rhonegletscher die
seltsame Sache passiert ist, jeden Kamin mit einem
gewissen Grauen. Dem guten, sehr zertreuten Dlany waren
nämlich die Beine, mit denen er ganz in Gedanken in den
glimmenden Holzscheiten herumgestochert hatte,
angekohlt. Als er sich dann endlich, durch den merkwürdig
brenzlichen Geruch aufmerksam gemacht, erhob, war er
drei Köpfe kleiner geworden. Er konnte einem leid tun, der
brave Bursche; alle Hosen mußte er kürzen lassen.
(Hermann Harry Schmitz: Die Taufe und andere
Katastrophen, S. 115)
Im Familienrat machte man eines Tages Ernst und beschloß
definitiv, Onkel Bogumil in eine Trinkerheilanstalt zu
schaffen. Das konnte so nicht weitergehen, Onkel Bogumil
trank täglich zwanzig Flaschen Rheinwein und zwei Pullen
dreisternigen Kognak. Das tat er nun schon seit vielen
Jahren. Seine Nase bekam dabei das Aussehen eines
Glühstrumpfes. Der Datterich am Morgen wurde chronisch;
und wenn ihn der alkoholhafte Stumpfsinn überkam, konnte
es schon sehr schlimm werden. Dann mochte es ihm
gefallen, plötzlich an die Hängelampe zu springen und sich
hin- und herzuschaukeln oder die Bilder von der Wand zu
nehmen und die Farben abzuschlecken. Auch versuchte er,
auf Schränke zu klettern. Stundenlang hüpfte er auf einem
Bein im Zimmer herum, oder er war bemüht, sich auf den
Kopf zu stellen. Sah er eine Fliege, so konnte er unbändig
lachen. Er trieb noch anderes irres Zeug. (Hermann Harry
Schmitz: Die Taufe und andere Katastrophen, S. 131)
"Ich hab nämlich die Absicht weiter zu fahren, nach
Ägypten, nach Syrien, wahrscheinlich auch nach
Palästina. Ja, vielleicht ist es nur, weil man älter
wird, vielleicht weil man soviel vom Zionismus liest
und dergleichen, aber ich kann mir nicht helfen, ich
möcht Jerusalem gesehen haben, eh ich sterbe." Frau
Ehrenberg, zuckte die Achseln. "Das sind Sachen", sagte
Ehrenberg, "die meine Frau nicht versteht, - und meine
Kinder noch weniger. Was hast du davon, Else, du auch
nicht. Aber wenn man so liest, was in der Welt vorgeht,
man möcht selber manchmal glauben, es gibt für uns
keinen andern Ausweg." "Für uns?" wiederholte
Nürnberger. "Ich habe bisher nicht die Beobachtung
gemacht, daß Ihnen der Antisemitismus auffallend
geschadet hätte." "Sie meinen, weil ich ein reicher
Mann geworden bin? Wenn ich Ihnen sagen möcht, ich mach
mir nichts aus dem Geld, würden Sie mir natürlich nicht
glauben, und Sie hätten Recht. Aber wie sie mich da
sehen, ich schwör Ihnen, die Hälfte von meinem Vermögen
gäb ich her, wenn ich die ärgsten von unsern Feinden
am Galgen säh." "Ich fürchte nur", bemerkte Nürnberger,
"Sie würden die Unrichtigen hängen lassen." "Die Gefahr
ist nicht groß", erwiderte Ehrenberg, "greifen Sie
daneben, erwischen Sie auch einen." (Arthur Schnitzler:
Der Weg ins Freie)
Sie sei doch eigentlich keine lyrische Natur. Georg
fragte sie zum Scherz, ob sie nicht vielleicht die
geheime Absicht habe zur Bühne zu gehen. "Mit dem
bissel Stimme!" sagte Else. Nürnberger stand neben
ihnen. "Das wäre doch kein Hindernis", bemerkte er.
"Ich bin sogar überzeugt, daß sich sehr bald ein
moderner Kritiker fände, der Sie gerade deswegen als
bedeutende Sängerin ausriefe, Fräulein Else, weil Sie
keine Stimme besitzen, der aber dafür irgend eine
andere Gabe, zum Beispiel die der Charakteristik bei
Ihnen entdeckte. So wie es heutzutage namhafte Maler
gibt, die keinen Farbensinn haben, aber Geist; und
Dichter von Ruf, denen zwar nicht das geringste
einfällt, denen es aber gelingt zu jedem Hauptwort das
falscheste Epitheton zu finden." (Arthur Schnitzler:
Der Weg ins Freie)
Heinrich stand am Klavier im Gespräch mit Nürnberger
und bemühte sich, wie er es oftmals tat, ihn zu einer
neuen Arbeit oder zu einer Herausgabe älterer Schriften
zu bestimmen. Nürnberger wehrte ab. Der Gedanke, seinen
Namen wieder in die Öffentlichkeit gezerrt zu sehen, im
literarischen Wirbel der Zeit mitzutreiben, der ihm
widerlich und albern zugleich erschien, erfüllte ihn
geradezu mit Schaudern. Er hatte keine Lust, da mit zu
konkurrieren. Wozu? Cliquenwirtschaft, die sich kein
Mäntelchen mehr umnahm, war überall am Werke. Gab es
noch ein tüchtiges, ehrlich strebendes Talent, das nicht
jeden Augenblick gefaßt sein mußte, in den Kot gezogen
zu werden; war noch ein Flachkopf zu finden, der sich
nicht ausweisen konnte, in irgend einem Blättchen als
Genie erklärt worden zu sein? Hatte Ruhm in diesen
Tagen noch das geringste mit Ehre zu tun? Und
übersehen, vergessen werden, was das auch nur ein
Achselzucken des Bedauerns wert? Und wer konnte am Ende
wissen, welche Urteile sich in der Zukunft als die
richtigen erweisen würden? Waren nicht die Tröpfe
wirklich die Genies und die Genies die Tröpfe? Es war
lächerlich, sich mit dem Einsatz seiner Ruhe ja seiner
Selbstachtung in ein Spiel einzulassen, in dem auch der
höchstmögliche Gewinn keine Befriedigung versprach.
(Arthur Schnitzler: Der Weg ins Freie)
"Den letzten Akt lesen Sie mir morgen vor, Heinrich",
sagte Nürnberger. "Ich denke nicht daran", erwiderte
Heinrich lachend. "Wenn die zwei ersten Akte im Theater
so durchgefallen wären, wie jetzt vor Ihnen, lieber
Nürnberger, so könnte man das Ding doch auch nicht zu
Ende spielen. Nehmen wir an, Nürnberger, Sie seien
entsetzt aus dem Parkett ins Freie gestürzt. Den
Hausschlüssel und die faulen Eier erlaß ich Ihnen."
"Donnerwetter!" rief Georg aus. "Sie übertreiben wieder
einmal, Heinrich", sagte Nürnbgerer. "Ich habe mir nur
erlaubt, einige Einwendungen vorzubringen", wandte er
sich an Georg, "das ist alles. Aber er ist ein Autor!"
"Es kommt alles auf die Auffassung an", sagte Heinrich.
"Es ist schließlich auch nichts andres als eine
Einwendung gegen das Leben eines Mitmenschen, wenn man
ihm mit der Hacke den Schädel einschlägt, nur eine
ziemliche wirksame." Er deutete auf sein Manuskript und
wandte sich zu Georg. "Wissen Sie, was das ist? Meine
politische Tragikkomödie. Kranzspenden dankend
verbeten." (Arthur Schnitzler: Der Weg ins Freie)
Unvergeßlich jene Tage, an denen man ein altes,
vergriffenes Buch findet oder eine neue Frau
kennenlernt. Würde man öfter und systematischer die
Antiquariate durchforsten, wäre die Privatbibliothek
schon wesentlich reichhaltiger, wäre man weniger
schüchtern, würde man gut und gern doppelt so viele
Frauen kennen als man kennt, hätte man sich mit doppelt
so vielen Frauen zerstritten, könnte man auf eine
farbigere Biografie zurückblicken. Oft sieht man in der
Kneipe eine Frau, allein sitzend, vielleicht sogar
alleinstehend, deren Bekanntschaft zu machen man
äußerst geneigt ist, man bestellt noch ein paar Bier,
trinkt sich Mut an, und ist man schließlich beherzt
genug, sich der Dame zu nähern, verfügt man gerade noch
über genügend Vernunft, um sich zu erinnern, daß der
erste Eindruck von entscheidender Bedeutung ist, in
anderen Worten, die Frau, die da an dem Tisch sitzt und
ihren dritten Kamliientee trinkt, sieht nicht so aus,
als sei sie verrückt nach schwankenden, lallenden
Männern. (Michael Schulte: Zitroneneis, S. 7)
Manchmal kommt man nicht umhin festzustellen, daß die
Schöpfung alles andere als vollkommen ist. Aber man
darf nicht ungerecht sein, manches ist durchaus
gelungen. Der beste Einfall des Schöpfers war
vielleicht, jedes Lebewesen mit der Fähigkeit des
Schlafens auszustatten. Da hätte er ruhig mehr ins
volle greifen sollen. Wenn die Menschen statt acht
Stunden täglich zweiundzwanzig Stunden schlafen müßten,
würden sie weniger Unheil anrichten. Es bliebe ihnen
gerade Zeit, sich zu waschen, zu essen, abzuspülen und
das Bett zu machen. (Michael Schulte: Zitroneneis, S.
38)
Wenn ich am frühen Nachmittag aufwachte, war Clarissa
schon längst aus dem Haus, um skizulaufen. Ich aß einen
Teller in Milch eingeweichter Cornflakes, trank eine
Tasse Kaffee und setzte mich dann an das verstimmte
Klavier der Tante, um die Anthologie amerikanischer
Lyrik in Töne zu setzen. Die meisten Lieder waren in
trübem Moll gehalten, zuweilen bediente ich mich der
Zwölftontechnik. Selbst die fröhlichsten Hochzeits- und
Frühlingsgedichte hörten sich mit meiner Musik an, als
wären sie von Käthe Kollwitz auf dem Totenbett vertont
worden. (Michael Schulte: Zitroneneis, S. 128)
Allerdings nervt es mich zuweilen, daß sie mir das
Rauchen und Trinken abgewöhnen und frühes Aufstehen
angewöhnen will. Zudem können wir uns nie am Wochenende
sehen, da sie Freitag abend Frauengruppe hat und dann
zwei Tage unerträglich ist. Angenommen, ich hätte
Montag abend Männergruppe und wäre dann ebenfalls zwei
tage unerträglich, könnten wir uns nur donnerstags
sehen, da ich aber keiner Männergruppe angehöre, können
wir uns immer von Montag bis Freitagabend sehen, das
heißt, friedlich ist es nur mittwochs, denn am Montag
und Dienstag wirkt die Frauengruppe noch immer nach,
und ab Donnerstag heizt sich Charlotte psychisch schon
wieder auf, um in die rechte Stimmung für die
Frauengruppe am Freitag zu geraten. In anderen Worten,
wir schlafen jeden Mittwoch zusammen. (Michael Schulte:
Zitroneneis, S. 173)
Ich sitze in der Küche, schaue aus dem Fenster,
beobachte einen Hahnenkampf im Hof. In Indonesien haben
die Tierschützer durchgesetzt, daß Hahnenkämpfe
verboten wurden, aber in Deutschland hat es nie
Hahnenkämpfe gegeben, darum sind sie auch nicht
verboten. Früher bin ich im Sommer oft nach Spanien
gefahren, um mir Stierkämpfe anzusehen, wie der junge
Hemingway, aber inzwischen mache ich mir nichts mehr
aus Stierkämpfen, wie der alte Hemingway. Ich mache mir
auch nichts mehr aus Hahnenkämpfen, dennoch sehe ich
zu, da ich nicht weiß, was mich sonst abhalten könnte,
endlich meine Wohnung sauberzumachen. (Michael Schulte:
Zitroneneis, S. 200)
Mein Vater ist Bettnässer. Jeden Tag muß ich das
Gummituch wechseln. Mein Vater hat das Zimmer neben dem
Bad, und das Bett steht direkt neben der Badezimmertür.
So verschütte ich am wenigsten, wenn ich das Gummituch
zur Badewanne bringe, um es abzuwaschen. Unangenehm
ist, daß ich jedesmal durch das Zimmer meines Vaters zu
gehen gezwungen bin, wenn ich aufs Klo oder ins Bad
muß. Sobald das Reihenhaus verkauft ist, werden wir
wohl eine Wohnung mit zwei Badezimmern mieten.
Allerdings, wenn mein Vater dann stirbt, brauche ich
keine Wohnung mit zwei Badezimmern mehr. Entweder
vermiete ich dann unter, oder ich ziehe um, oder ich
heirate. (Michael Schulte: Zitroneneis, S. 217)
Ich gehe nach Hause und schreibe einen Brief an den
Bundestagsabgeordneten meines Wahlkreises und einen
gleichlautenden an das Bundespostministerium, in dem
ich vorschlage, die Höchstaufenthaltdauer in
Telefonzellen gesetzlich zu begrenzen. In anderen
Ländern wird diese Höchstaufenthaltdauer nicht durch
Bestimmungen, sondern durch Sitten und Gebräuche
geregelt. Wenn ich mich in Frankreich bei einem
Dauertelefonierer beschwere, reicht dieser mir den
Hörer, sagt: Dann reden Sie halt mit meiner Mutter
weiter, und geht. (Michael Schulte: Zitroneneis, S. 225)
Nichts, außer dem Haupthaar, kann der Mensch an
seinem Körper frei gestalten. Der Herr hat uns mit
langen Haaren oder kurzen oder krummen Beinen
ausgestattet, mit dicken oder flachen Bäuchen, mit
kräftigen oder dürren Armen, mit ausladenden oder
knorpeligen oder schnabelähnlichen Nasen, mit
sehnigen oder fleischigen Ohren, ob es uns paßt oder
nicht, man hat sich damit abzufinden. Und kurz bevor
der Herr mit der Schöpfung des Menschen fertig war,
dachte Er: 'O Gott, die Freiheit!' Und in letzter
Sekunde versah Er den Menschen mit einem Schopf,
den zu formen Er ihm überließ. Und mit Feuereifer
stürzt sich der Mensch auf sein Haar, läßt es
wachsen, schneidet es ab, färbt es, dreht, windet,
stülpt, schnörkelt es um Stirn und Ohren, windet es
zu Zöpfen, schnürt es zu Büscheln, stapelt und steckt
es zu Türmen, oder läßt es verlottern und verfilzen,
um seiner Gleichmut gegenüber der Schöpfung
Ausdruck zu verleihen. (Michael Schulte: Die
endgültige Spülbürste, S. 44)
Im Gegensatz zu den meisten Männern gehe ich
ausgesprochen gerne einkaufen. Der Supermarkt ist
eine Stätte der Begegnung. Wildfremde Menschen
lächeln sich zu und kommen manchmal sogar ins
Gespräch. Wenn mich eine Hausfrau interessiert,
bleibe ich gewöhnlich vor den Salatgurken stehen,
warte, bis die Hausfrau vorbeistreicht, und sage
dann, halb Selbstgespräch, halb ihr zugewandt:
"Schält man diese Dinger eigentlich oder nicht?" Das
wirkt immer - der hilflose Mann, verloren in einer
Welt, in der man nur mit praktischer Küchenerfahrung
überleben kann. (Michael Schulte: Die endgültige
Spülbürste, S. 64)
"Jeden Tag", sagte ich, "wird ein anderes festes oder
flüssiges Nahrungsmittel als krebserzeugend erklärt;
Schweinefleisch ist krebserzeugend, Fisch, Muscheln,
Rindfleisch, Pflaumen, Erbsen sind krebserzeugend,
ebenso Milch, Wein und Cola, aber haben Sie jemals
gehört, daß Bier krebserzeugend sein soll? Bier ist so
gesund, daß es eine Freude ist, vor allem das
deutsche Bier, das nach mittelalterlichen
Reinheitsgesetzen gebraut wird." Noch heute wird das
Bier in gehobenen Kreisen als minderwertiges Getränk
angesehen, nur weil es billig ist und von den
kulturlosen Australiern hektoliterweise getrunken
wird. Nach einer weitverbreiteten Meinung wurde das
Bier von den alten, ebenfalls reichlich primitiven
Germanen erfunden, die einzige Erfindung, neben
einigem Kriegsgerät, dessen sich dieses rauhe Volk
rühmen darf. Doch schon Jahrtausende früher, die
alten Germanen wußten das nicht, hatten die alten
Ägypter das Bier erfunden, eine Gesellschaft von
erlesener Kultur und Lebensart. Die Pharaonen, da
sind sich die maßgeblichen Archäologen, Ägyptologen
und Altertumsforscher einig, bezechten sich mit Bier,
während Wein den Sklaven und dem anderen Pöbel
vorbehalten war. (Michael Schulte: Die endgültige
Spülbürste, S. 113)
Der erste Spaziergang nach einer Krankheit - man
öffnet die Haustür und kommt sich wie ein
Strafgefangener bei wiedererlangter Freiheit vor. In
Filmen scheint immer die Sonne, wenn der entlassene
Gefangene auf die Straße tritt, und meistens eilt ihm
irgendeine Verlobte entgegen, oder ein paar Kumpels
holen ihn lachend in einem schwarzlackierten Citroen
ab, schwärmen von alten Zeiten und weihen ihn ein,
der neue Plan sei eine hundertprozentige Sache,
nichts könne schiefgehen, alles werde wie am
Schnürchen klappen, man habe extra auf ihn gewartet
undsoweiter, doch der gerade entlassene Sträfling hat
sich in der Einsamkeit seiner Zelle ganz fest
vorgenommen, eine bürgerliche Existenz auszubauen,
zu heiraten, sonntags in die Kirche zu gehen, den
schlechten Umgang ein für allemal zu meiden, aber
dann wäre der Film nach 10 Minuten zuende, wäre
langweilig und ohne Zoff, weswegen er noch einmal,
ein letztesmal den Tugendpfad verläßt, um an dieser
todsicheren Sache teilzunehmen... (Michael Schulte:
Die endgültige Spülbürste, S. 114f.)
Hätte mich jemand gefragt, warum ich nach New Old
Silver Creek zurückgekommen sei, ich wäre die
Antwort schuldig geblieben. Ich hasse alle Siedlungen
mit weniger als 1 Million Einwohner, Kleinstädte mit
ihrem Alltagsmief sind mir unerträglich, Kleinstädte
mit ihren Normen und Vorurteilen, was auf dasselbe
hinausläuft, mit ihren Gerüchten und Intrigen, die aus
purer Langeweile gesponnen werden, ich liebe
Großstädte, ich liebe Auspuffgase,
Umweltverschmutzuntg, Verkehrslärm, überfüllte
Straßen, überhöhte Mieten, unfreundliche Verkäufer
und Kellner, streikende Müllabfuhr, Dreck, Gestank,
Lärm, kurz, alle was man unter pulsierendem Leben
versteht. Doch offenbar habe ich mein Schicksal nicht
so recht in der Hand, denn immer weider verschlägt
es mich in Kleinstädte und Marktflecken, von New Old
Silver Creek nach West Orange und zurück, anstatt
von New York nach Hong Kong, wie es mir eigentlich
anstehen würde. (Michael Schulte: Die endgültige
Spülbürste, S. 122)
Abgebrochener Versuch, die Hauptwörter dieses
Buches zu kommentieren... // Der Architekt,
der den Auftrag erhält, eine Satellitenstadt zu bauen,
muß sich verpflichten, mindestens fünf Jahre in der
von ihm geschaffenen Siedlung zu wohnen. // Das
Buch, das meine Karriere am nachhaltigsten
beeinflußt hat, sagte der Dichter, war das Sparbuch
meiner Frau. Da mußte selbst der sonst so ernsthafte
herzhaft lachen. // Der Vegetarier, den nach zwanzig
Jahren fleischloser Kost plötzlich in einem Hotel ein
unüberwindliches Verlangen nach einem Schnitzel
überkam. Während er die Hotelhalle in Richtung
Restaurant durchschritt, rief ihm der Portier mit
gedämpfter Stimme nach: "der typische Gang eines
Vegetariers, der beschlossen hat, endlich wieder
einmal Fleisch zu essen." Diese Geschichte erzählte
mir mein Großvater auf die Frage, was
Menschenkenntnis sei.(Michael Schulte: Elvis Tod.
Szenen aus meinem Leben, S. 87-94)
Egal, wo und in welchem Zustand man anderntags
aufwacht, man weiß nur noch, daß man in den
Stunden, ehe man einschlief, entsetzlich geistreich
war, sich fähig glaubte, Weisheiten zu vermitteln, die
in ihrer Prägnanz nie und nimmer ohne die gnädige
Beihilfe des Alkohols zustandengekommen wären,
daß man Persönliches preisgab, man weiß auch, daß
man sich nicht zu schämen braucht, denn die Freunde
im Trunk waren nicht minder geistreich und persönlich
und unfähig zuzuhören, aber man schämt sich doch.
(Michael Schulte: Bambus, Coca-Cola, Bambus, S. 23)
Wenn Betsy Pope, dieses Bündel aus Energie,
Geldgier, Charme und Größenwahn, in ihrer blonden
Perücke und ihren Cowboystiefeln Main Street
entlangschreitet, gehen die Straßenlaternen
automatisch an und laden sich die Autobatterien auf,
so sagt man wenigstens. Nicht selten ist ihr Ziel auf
Main Street die First Interstate Bank, in der ich oft
bescheiden und untertänig um einen Kleinkredit
nachgesucht habe, um stets mit der Versicherung
tiefsten Bedauerns abgewiesen zu werden. Betsy
ist genauso pleite wie ich, aber ihre Technik
Kreditwünsche zu äußern, unterscheidet sich
wesentlich von der meinen. Wie ein Schneepflug
dringt sie in die Bank, schiebt die niederen
Angestellten zur Seite und walkt zum Schreibtisch des
Direktors: "Honey", sagt sie, "ich brauche einen
20.000 Dollar Kredit. Es genügt, wenn ich die Piepen
um drei Uhr haben." Der Direktor kommt nicht mal auf
die Idee, ihre Forderung abschlägig zu behandeln.
(Michael Schulte: Bisbee, Arizona, S. 92)
Der zweite Brief der Hausverwaltung - den ersten hatte er
unbeantwortet gelassen - war eine Sammlung syntaktischer
Drohgebärden, eine unmißverständliche Aufforderung, sich des
Tiers hurtig zu entledigen, andernfalls... Herr Moltke
unterbrach, genauer gesagt, beendete die Lektüre. Das Wort
"andernfalls" rief Erinnerungen an seine Berufsjahre wach.
Wie oft hatte er dieses Wort in den letzten Absatz seiner
Schreiben fließen lassen, um behördlich gestützten
Forderungen mit erfolgversprechendem Gewicht auszustatten!
"Andernfalls" ist die wichtigste staatliche
Verwaltungsvokabel, sie verbrieft weitgehend ein
reibungsloses Zusammenleben, ertrotzt Recht und Ordnung,
setzt Heerscharen von Juristen und Beamten in Lohn und Brot,
verhindert und provoziert Kriege. Soziologisch gesehen und
auf die menschliche Gesellschaft beschränkt, bedeutete
Darwins Theorie vom Überleben der Stärksten und dem
Untergang der Schwachen nichts anderes als der Umgang mit
"andernfalls". Wer diesem Begriff die Stirn zu bieten
vermag, wird seinen Platz behaupten. (Michael Schulte:
Das Angebot der Woche. Katzengeschichten, S. 23)
Brian lag auf der Wiese hinter dem Haus und stellte fest, daß er die
Schule haßte. Miss Ferguson, die Mathematiklehrerin, war offenbar
nur zur Welt gekommen, um ihm das Leben schwer zu machen.
Jedesmal, wenn es ein Gewitter gab, hoffte er, daß ein Blitz Miss
Fergusson erschlagen möge. Er malte sich aus, wie sie auf der am
Apfelbaum gelehnten Leiter stand, das Obst pflückte und in einem
Korb schichtete, als plötzlich ein gewaltiger Blitzstrahl aus den
Wolken fuhr und die Pädagogin zielsicher in zwei Hälften teilte. Man
hat auch schon von übel ausgehenden Lebensmittelvergiftungen
gehört, von tödlichen Stromschlägen während der Hausarbeit und
von Lawinenunglücken; in der Halbwüste Südarizonas allerdings
eher unwahrscheinlich. (Michael Schulte: Das Angebot der Woche.
Katzengeschichten, S. 37)
Im Grunde meines Herzens bin ich Musiker, und welche
Naturerscheinung böte akustisch etwas annähernd
Großartiges! Und welche Naturerscheinung ist von solcher
Gleichförmigkeit und Vielfalt in einem! Welche
Naturerscheinung ist chemisch banalaer, doch zugleich
rästselhafter, erotischer. Selbst wenn alle Rätsel des Lebens
und des Kosmos erforscht sind, das Meer wird sein Geheimnis
nicht preisgeben. (...) Die äußere Gestalt des Meeres läßt
keine menschlichen Eingriffe zu. Jeden Wald kann man
abholzen, jede Landschaft, jeden Garten verschandeln. Doch
auf das Meer, Madame, kann niemand Gartenzwerge stellen.
(Michael Schulte: Die Flaschenpost des Herrn Debussy, S. 40)
Dieses Land ist nichts für Miesepeter. Zu gerne würden die
Immigrationsbeamten einen Blick in die Zukunft werfen, ein
Futurugramm erstellen. Wenn die Genforschung mal weiter ist,
wird sich jeder Einwanderer einer Untersuchung unterziehen
müssen, um feststellen zu lassen, welche Erbanlagen er
nach Amerika einschleppt, da möchte man ordentlich auf den
Busch klopfen. Ich werde morgen ein blau-weiß-rot gestreiftes
T-Shirt tragen und vom Betreten der Gangway an Kaugummi
kauen, und ganz oben in meinem Koffer wird eine Bibel liegen.
Das sollte genügen, um alle Zweifel zu zertreuen. (Michael
Schulte: Die Flaschenpost des Herrn Debussy, S. 43)
Oft genug hatte ich unter hellhörigen Wohnungen zu
leiden gehabt. Fernseher von oben, Ehestreit von
nebenan, Violine von unten. Manchmal getrennt, oft
gleichzeitig. Am schlimmsten war der Walddorflehrer
Boris, der sein Töchterlein nur bei geöffneter
Wohnungstür auf der Geige quietschen ließ. Als ich mich
beschwerte, meinte er: "Das Kind muß sich entfalten."
Jedes Mal, wenn sich das Kind entfaltete, ging ich die
Treppe hinunter und knallte die Wohnungstür zu, was nur
zu einer kurzen Unterbrechung der Bemühungen auf der
Sperrholzstradivari führte. Der Boris grüßte mich nicht
mehr, ich hielt einen Trinkhalm an sein Schlüsselloch
und blies ihm schwangere Ameisen in die Wohnung. Das
Verhältnis zu den anderen Mitbewohnern war nicht viel
besser. Wenn die über mir den XY-Zimmermann volle Pulle
verfolgten, legte ich meine übelsten Stockhausen-
Platten auf. (Michael Schulte: Die Flaschenpost des
Herrn Debussy, S. 30)
...erreichte schließlich Timbuktu, ein widerliches
Kaff, schlimmer als Puteaux vor den Toren von Paris,
doch immerhin gab es Wasser da, weswegen Suzanne
sofort den Aquarellkasten öffnete und mehrere
afrikanische Impressionen in ihren Block malte,
Marktszenen, die aus Kamelmist errichtete Häuser,
Stillleben mit Melonen, die bei ihr wie grüne Fußbälle
aussahen. Die Bilder wurden nach ihrer Rückkehr in
einer Pariser Galerie ausgestellt und noch während der
Vernissage allesamt zu gesalzenen Preisen verkauft,
obwohl sie, wie in den Kritiken zu lesen stand, die
schlechtesten seit Erfindung des Dachshaarpinsel waren.
(Michael Schulte: Die Flaschenpost des Herrn Debussy,
S. 35)
Mitte Oktober eines jeden Jahres fing meine
Hannoveraner Großmutter an, Weihnachtsplätzchen zu
backen. In der Zeit zwischen Frühstück und Mittagessen
und zwischen Mittag- und Abendessen stand sie in der
Küche, schleppte Mehl, Zucker, Butter und Eier aus der
Vorratskammer, knetete Teiggebirge durch, walzte den
Teig flach und stach mit Blechförmchen Sterne,
stilisierte Tannenbäume und Engel aus. Sie schob die
Kuchenbleche in den vorgeheizten Backofen und wandte
sich wieder den Teigmassen zu. In der Küche herrschten
bald Temperaturen schlimmer als in der Hölle. Die
Großmutter war rot abgelaufen und schwitzte wie ein
Dampfkessel, aber je mehr Plätzchen fertig wurden,
desto mehr geriet sie in Fahrt, räumte Bleche leer,
schob Bleche nach, schichtete das Gebäck in Blechdosen,
in alte Schuhkartons und Koffer. Vom ersten Advent an
mußten Hilfskräfte eingestellt werden, Studentinnen,
arbeitslose Bäckerinnen, Flüchtlingskinder aus der DDR,
die Produktion war allein nicht mehr zu bewältigen. Die
Küche glich einer sowjetischen Fabrik, in der man in
letzter Minute den Fünfjahresplan zu erfüllen
trachtete. Kurz vor Weihnachten wurden die Kekse in
Schachteln gefüllt und an Verwandte, Freunde und
Bekannte verschickt. Doch niemand erhielt nur eine
einzige Sendung, der Gebäckstrom ergoß sich weltweit
bis in den Juni des folgenden Jahres, obgleich die
Plätzchen seit Anfang Januar steinhart geworden waren
und allenfalls mit einem Vorschlaghammer hätten
zerstrümmert werden können. (Michael Schulte: Der
Frühstücksdirektor, S. 17)
Bei manchen Frauen, wenn sie so selbstbewußt über die
Brücke gehen, denke ich, die könnte es sein. Aber dann
traue ich mich nicht, sie anzusprechen. Es hätte ja
doch keinen Sinn, denn würde die Frau mich abweisen,
einfach weitergehen, wäre mein Annäherungsversuch
umsonst gewesen, und ließe sie sich mit mir ein, wäre
sie ein Flittchen und käme für mich nicht in Frage.
Eine Heiratsanzeige aufzugeben, kommt für mich
ebenfalls nicht in Frage. Ich bin gewarnt. Ein
Bekannter von mir hat es auf diese Weise versucht. Er
veröffentlichte eine Annonce, die etwa so lautete: Mann
in mittleren Jahren, mittelgroß, ledig, in krisenfester
Position, möchte eine Dame heimführen, die, wie ich,
einfühlsam, gemütlich und treu ist. Gibt es das noch?
Die Annonce war ein ungeheurer Erfolg. Der Mann erhielt
über vierhundert Zuschriften. Nächtelang sortierte er
die Briefe aus, immer störte ihn etwas, das Bild, die
Schrift, der Beruf, das Alter. Am Ende blieb ein
einziger Brief übrig. Bild, Schrift, Alter, Beruf,
Wohnort, Körpergröße, Haarfarbe, Hobbies, Religion -
alles stimmte. Diesen Brief wollte er beantworten. Er
entwarf ein Schreiben nach dem anderen. Drei Monate
lang. Schließlich hatte er einen Brief zuwege gebracht,
der in Ton und Inhalt seinen Vorstellungen entsprach.
Als er ihn abschicken wollte, mußte er feststellen, daß
die Dame vergessen hatte, ihre Adresse anzugeben. Der
Mann ging daraufhin nicht mehr zur Arbeit, ihm wurde
gekündigt, er griff zur Flasche, trat in die
kommunistische Partei ein und endete in der Gosse.
(Michael Schulte: Goethes Reise nach Australien.
Erzählungen, S. 17)
Slawata: In meinem Leben, ehrwürdiger Pater, habe ich
unablässig die sieben Todsünden in vollen Zügen
genossen. Es gibt keine Rettung für mich. Martinitz:
Der Herr in seiner unendlichen Güte wird eine stinkende
Ratte wie dich in Gnade aufnehmen, sofern du reuig bist
und ein besseres Leben gelobst. Also erzähl, was du
ausgefressen hast. Slawata: Ich bin von Anbeginn
verderbt. Meine Eltern lebten in Sünde, und also bin
ich eine uneheliche Liebesfrucht. Da ist sowieso Hopfen
und Malz verloren. Martinitz: Sag das nicht, mein Sohn.
Fahre fort. Slawata: Wie soll es Rettung geben für
einen, der sich regelmäßig an Meßwein betrinkt und das
Blut des Herrn nur nach dem Jahrgang beurteilt?
Martinitz: Fahre fort, mein Sohn. Slawata: Schon als
Kind habe ich die Kirche geschändet, wo ich nur konnte.
Ich habe meine Gummiente im Taufbecken schwimmen
lassen. (Michael Schulte: Goethes Reise nach
Australien. Erzählungen, S. 70)
Bis heute liebe ich bayrische Blasmusik und somit auch Marschmusik -
obwohl ich weiß, daß das Zeug grauenhaft ist. Ich kann mich sogar
für Ernst Mosch und seine Original Oberkrainer begeistern. Mir fiel
ein Stein vom Herzen, als ich las, daß Gustav Mahler und Alban Berg
ebenfalls alpenländischen Weisen zugetan waren. Gelänge es
Biografen, das erste Musikerlebnis großer Komponisten zu ermittlen,
würde sich manche Interpretationsfrage von selbst erledigen.
Vermutlich sind Johann Sebastian Bach bereits kurz nach der Geburt
wütende Orgelakkorde in die Säuglingsohren gebraust, und bei
Bruckner wagt man sich gar nicht auszudenken, auf welchen
Wirtshausbänken er strampelnd lag, während die Eltern sich
biertrinkend an deftigen Polkas erfreuten. (Michael Schulte: Ich
freu mich schon auf die Hölle. Szenen aus meinem Leben)
Meine Mutter bat um eine Abtreibung, was ich ihr nie übel genommen
habe. Auf Abtreibung stand im "Dritten Reich" die Todesstrafe, und
der Arzt war wohl der Meinung, es sei das geringere Übel, ein Leben
zu retten, statt zwei auszulöschen. "Wer ist der Vater?", fragte er.
"Ein Wehrmachtsoffizier." "Mogsdn?" "Ja." "Dann heiratst eam."
Merkwürdigerweise gehorchte meine Mutter, die sich sonst nie etwas
sagen ließ. Mein Leben verdanke ich also einem Gewitter in Salzburg
und einem österreichischen Frauenarzt - eins. In Tiefenbach bin ich
einmal vom Heuwagen gefallen, als er gerade in den Hof einbog,
und der Wiggerl, der Sohn der Buchners, sprang in letzter Sekunde
herbei und zerrte mich fort, mein Kopf war nur noch zehn Zentimeter
vom rollenden Hinterrad entfernt - zwei. Als ich fünfzehn war, wäre
ich um ein Haar im Mittelmeer ertrunken - drei. Also dreimal dem Tod
knapp entronnen, das färbt auf die Lebenseinstellung ab, da darf man
hemmungslos rauchen und berauschende Getränke in sich hineinkippen
und wabbelnde, in fettäugigen Soßen schwimmende Schweinebraten
verdrücken. (Michael Schulte: Ich freu mich schon auf die Hölle.
Szenen aus meinem Leben)
... sich in eine Frau aus feineren Kreisen verliebt, die er zu
ehelichen gedachte, und seine Ersparnisse in ein Blütengebinde
investiert, das ausgesehen haben muß wie ein Blumenstrauß für eine
Mafiabeerdigung. Botanisch solcherart ausgerüstet, hielt er beim
Vater der Frau um die Hand der heiß Begehrten an. Der Vater beschied
ihm, seine Tochter werde nur einen Mann heiraten, der Abitur habe
und ein Musikinstrument beherrsche, und war sicher, die Hürden hoch
genug angelegt zu haben. Aber der Bauernlümmel aus dem Böhmerwald
machte sein Abitur nach und erlernte das Mundharmonikaspiel, hielt
erneut um die Hand der Tochter an, dem Vater fiel keine Ausrede mehr
ein und er erteilte seinen Segen. (Michael Schulte: Ich freu mich
schon auf die Hölle. Szenen aus meinem Leben)
Beide Großväter zählten zu jenen Typen, wie man sie in Deutschland
selten findet - aufgeklärte Konservative. Beide waren
leidenschaftliche Büchersammler, hoch gebildet und sehr belesen,
beiden wäre es nie eingefallen, sich ohne Schlips mit diamantener
Krawattennadel zu zeigen. Ich glaube, selbst wenn das Haus in
Flammen gestanden hätte, sie wären ohne diese Attribute
großbürgerlicher Kleiderordnung nicht auf die Straße getreten.
Beider geistige Heimat war das neunzehnte Jahrhundert. (Michael
Schulte: Ich freu mich schon auf die Hölle. Szenen aus meinem Leben)
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