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Allgemeine Fundstücke / [R_2]
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Seit ich hier war, bekam jedes Gespräch immer gleich
einen erzieherischen Kick, als wollte er angesichts
meiner plötzlichen Volljährigkeit seine ganze verpatzte
Vaterschaft nachholen. Ich konnte mich kaum retten vor
mündlichen, schriftlichen und sogar auf den
Anrufbeantworter gesprochenen, garantiert gutgemeinten
Ratschlägen - bis zum Erbrechen wattiert mit so
verlogenen Behutsamkeiten wie 'Ich schlage vor, daß
du... Vielleicht solltest du... Paß mal auf, wäre es
nicht gut, wenn du...' Und so weiter. Das war wohl sein
pädagogischer Eros, der da mit ihm durchging. (Ralf
Rothmann: Flieh, mein Freund! S.44)
Mein Vater ist ein sogenannter Streß-Esser. Jedenfalls sagt
er das. Wenn anderen angeblich Kreativen nichts mehr
einfällt, brauchen sie Kaffee, Zigaretten, Schnaps oder eine
Nase Kokain. Oder sie toben sich im Rotlicht aus. Mein
Daddy aber braucht einen Keks, und zwar - weil ihm oft
nichts mehr einfällt - ziemlich oft. Und er kriegt ihn, immer,
zu jeder Tages- und Nachtzeit, und sollte ihm der Stoff
einmal ausgehen: Frau Umbreit hat im Keller ein riesiges,
aplhabetisch geordnetes Lager eingerichtet: Von A., gleich
Anis, bis Z, gleich zuckerfrei. Für Reuetage. (Ralf Rothmann:
Flieh, mein Freund! S. 13)
Aber in der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, in dieser
halbtoten Zechensiedlung im Ruhrpott, wo jeder Tag so
grau war wie der andere und kein Abend ohne
Familiendrama oder Besäufnis verging, kaum eine Nacht
ohne Schlägerei - in der Einöde war die katholische Kirche
mit ihrem Ewigen Licht im Weihrauchduft, ihren Silberkelchen
auf weißem Leinen, den üppigen Rosengestecken und
atemberaubenden Priestergewänden das einzig wirklich
Schöne - jedenfalls für mich. Wenn ich nach einer miesen,
schlecht zensierten Woche still im leeren Kirchenraum saß
und ein überraschend tiefes, den ganzen Körper
aufrichtendes Durchatmen mir klarmachte, wie krumm und
gedrückt ich wieder in der Landschaft hing, konnten mir
schon mal die Tränen kommen. Und wenn ich sonntags,
nach einem rotgoldenen Hochamt voller Kerzen, Blumen
und Gesang, auf meinem Bett lag und die Augen schloß,
flackerte die ganze Pracht hinter meinen Lidern in
hauchzarten Nachbildern weiter. Voll geil. Seitdem ist für
mich das Schöne und das, naja, Göttliche ein und dasselbe.
(Ralf Rothmann: Flieh, mein Freund! S. 22.f)
Die Werbebranche ist schließlich nicht das letzte, sie ist das
allerletzte. Wildfremden Menschen irgendwelchen Dreck
unterzujubeln, der einen selbst nicht die Bohne interessiert -
tiefer kann ein Mensch doch gar nicht sinken. Du hast Ideen,
bist kreativ, weißt dich in Worten und Bildern
überdurchschnittlich gut auszudrücken - und dann stellst du
diese Vorzüge, diese Gottesgaben in den Dienst eines
Kühlschrankfabrikanten? Damit der noch mehr Geld verdient
und dir etwas davon abgeben kann? Rattenhaft. Das
einzige, was so einer wie Onkel Umsatz wirklich verkauft, ist
seine Seele. (Ralf Rothmann: Flieh, mein Freund! S. 33f)
Nur Mathematik war seit jeher mein Problemfach - was ich
mir eigentlich als Vorzug anrechnete. Die Mathe-Asse fand
ich nämlich durch die Bank zum Würgen, besonders die
stillen, vornehmen aus gutem Haus, in deren Gesichtern ich
immer eine randlose Brille sah, obwohl sie gar keine trugen.
Mathe war Macht, und du konntest noch so geil Französisch
sprechen, Aufsätze vorlesen, bei denen der ganze Raum die
Luft anhielt, oder Kunstblätter vorlegen, die alle vom Hocker
rissen - nie war der stumme Respekt der Lehrer, das
unausgesprochene "Donnerwetter, aus dir wird was
werden!" so eindringlich wie nach einer überragenden
Mathe-Leistung. Sie war die Krönung, wie Turmspringen
nach einer Stunde Schwimmen, und bezeichnenderweise
waren die Superrechner meistens auch die besten und
elegantesten Springer. Die standen wie eine Eins auf dem
Brett, breiteten die Arme aus und schrieben mit dem ganzen
Körper eine schlanke, zehn Meter tiefe Gleichung voller
Wirbel, Pirouetten und rechtwinkliger Querverweise in die
gekachelte Luft, und wenn sie dann geräuschlos eintauchten
ins Blau, war das die denkbar glatteste, kaum ein Bläschen
oder eine Wasserbewegung verursachende Lösung.
Vollkommenheit. (Ralf Rothmann: Flieh, mein Freund! S.
38)
Sie roch nach Wein und Rauch und Veilchenparfüm und
hatte bekiffte Pupillen, und so ein Kuß stand ihr überhaupt
nicht zu. Blitzschnell, als hätte sie geahnt, daß ich die Tür
öffnen würde, griff sie mir in die Haare, drängte sich an mich
und schnappte, die Augen fast schon geschlossen, nach
meinem Mund. Sie sog die Unterlippe etwas ein, wobei sie
einen kleinen, wohligen Laut von sich gab, und natürlich
hätte ich sie sofort wegstoßen müssen; doch diese
Zärtlichkeit hatte etwas Autoritäres, wie Aprikosen, und ich
fühlte, wie mir die Herzränder schmolzen. Nur mühsam
konnte ich den Kopf wegdrehen, denn sie hielt mich fest
umklammert, sogar mit einem Bein, rieb den Stoppelschopf
an meinem Hals, und ich zischte "He! Hör auf! Du bist meine
Mutter!" "Ah ja?" - Sie trat einen Schritt zurück, musterte
mich schmunzelnd und sagte: "Tatsächlich ... Hast du ein
Glück." (Ralf Rothmann: Flieh, mein Freund! S. 41)
Ich bin nicht nur schüchtern; das ginge ja noch. Ich bin
gleichzeitig immer geil. Brandgeil. Eine fatale Mischung. Das
ist wie auf dem Streckbett, damit kommst du in Teufels
Küche. Und dann werde ich melancholisch, weil ich alle
Mädchen haben möchte und keins kriege, verfluche das
Leben und die Liebe, diesen Fleischmarkt, und hoffe, daß ich
bald fünfzig bin und fett, und alles ist vorbei... Also, schräger
kann ein Reh kaum in der Wildnis stehen. Dabei bin ich trotz
aller Geilheit nur ein mäßiger Liebhaber, glaube ich. Nicht,
daß ich Probleme mit der Potenz, mit der Erektion hätte. Im
Gegenteil. Ich kriege zu allen möglichen und unmöglichen
Zeiten einen Ständer, deswegen trage ich auch keine
Boxershorts. Ich kriege einen Ständer, wenn ich aufwache,
ich kriege einen Ständer, wenn ich esse. Ich kriege einen
Ständer, wenn ich mich langweile, und ich kriege eine
Ständer, wenn ich im Streß bin. Sogar beim Scheißen kriege
ich oft einen Ständer, und manchmal werde ich nachts wach
und muß pinkeln und habe gleichzeitig ein Rohr, das sich
partout nicht legen will, auch nicht nach einem kalten Guß.
Dann muß ich mich abknicken vor dem Klo, damit ich mein
Wasser lassen kann; ein pinkelnder rechter Winkel. (Ralf
Rothmann: Flieh, mein Freund! S. 55)
Also, ich weiß nicht, ob das rüberkam, aber meine Mutter ist
nicht gerade ein Hausfrauentyp. Wenn ich ihr damals, fast
noch in ihrer Mädchenzeit, in einem Schlafsack bei Brokdorf
nicht zufällig passiert wäre, hätte sie bis heute keinen
Nachwuchs. Kinder sind nicht ihr Ding. Früher, in der Antike
oder so, wäre sie bestimmt eine gute Priesterin gewesen.
Hätte eine Riesentüte geraucht, sich mit einer Schlange
gegürtet, einen benebelten Tanz hingelegt und den Leuten
das Blaue vom Himmel runterorakelt. Aber die Antike ist nun
mal vorbei, die Priesterinnen tanzen in Peep-Shows, und das
Orakel flimmert in der Ecke und hat vierzig Programme, die
dir alle dasselbe sagen: Krieg dein Leben erfolgreich auf die
Reihe, singe nach, was die da oben vorsingen, bekreuzige
dich vor deiner Slip-Einlage und bring den Hund zum
Einschläfern ins Tierheim, bevor du in die Ferien fährst. (Ralf
Rothmann: Flieh, mein Freund! S. 125f.)
Als die Hähnchen warm waren, wollte Mary plötzlich Tee.
Sie hatte sich bis zum Kinn in das Plaid gewickelt und war
ziemlich maulig drauf. Wie Frauen halt sind, Gefangene ihrer
Befindlichkeit. - Kurz bevor Vanina ihre Tage kriegte, war
immer Tränenstufe eins angesagt. Dann brauchtest du nur
zu knurren, weil sie den Schlüssel wieder nicht fand oder
dauernd die CD-Regler verwechselte, schon heulte sie los.
Oder einfach so, grundlos. Oder sie brach einen Streit vom
Zaun wegen irgendwelcher Vorfälle in der Steinzeit - nur
damit sie hinterher weinen konnte. Also auch grundlos. Und
am nächsten Tag war alles bloß prämenstrual. Arme
Miezen. Manchmal denke ich wirklich, die kritischen Jahre
einer Frau beginnen mit der Geburt. (Ralf Rothmann: Flieh,
mein Freund! S. 205)
Der leckt sich die Lippen, während er andächtig
abschreitet, was nur profane Abstinenzler Regal
nennen würden. In Wahrheit ist es natürlich ein
Heiligtum, ein Tabernakel der Trunksucht; voll von
Geist, von Erleuchtung in Flaschen, und ordentlich
aufgereiht nach dem Preis, also dem Alkoholgehalt,
scheinen die verschiedenen Sorten die Karriere eines
leidenschaftlichen, noch bürgerlichen Trinkers zu
illustrieren. Leichte, spritzige Sektsorten oder
Designer-Weine mit frühlingsfarbenen Etiketten,
abgelöst von blumigen oder kräftigen oder
charaktervollen Traditionstropfen für den Sommer des
Erfolgs, dem rasch - oh Hanglage! - die eine oder
andere herbstlich-melancholische Sherrystunde
schlägt, ehe dann - ach Umsatzstief! - den ersten
Hieben des frostigen Schicksals mit Whisky in
kantigen Flaschen begegnet wird. Und am Ende des
langen Scherbenwegs glüht siebzigprozentiger
"Stracks"-Rum wie Höllenfeuer. (Ralf Rothmann: Flieh,
mein Freund! S. 241)
"Wir nehmen uns zu wichtig, weißt du. Wir sind eitel
noch in der Demut. Denn sobald du Zuneigung oder
Anerkennung willst, bist du schon der Falsche. Du
steckst fest in deinem kleinen Ego wie ein Frosch im
Einmachglas, hälst das für die Welt und wirst nie
erfahren, welche Wunder auf dich warten, draußen.
Dann bist du einer wie alle in deiner synthetischen
Generation, wo man das Jungsein mit Autoschlüsseln
und Handy am Gürtel und geiler bunter Mitgliedskarte
so trostlos professionell betreibt, daß einem angst
werden kann. Kaum ein wirklich freudvolles Gesicht
sieht man in euren Clubs, auf euren Love-Parades."
(Ralf Rothmann: Flieh, mein Freund! S. 262)
Kaum bringe ich etwas zur Sprache, bringt mich meine
Sprache zum Schweigen, und was ich beim Namen
nenne, heißt meistens ganz anders. Meine Notizen
bersten vor Einfällen, die beim zweiten Lesen nichts
als Reinfälle sind, intellektuelle Teppichfransen,
Gänseblümchen-Reflexionen. Völlig verirrt in meinen
Gedankengängen, gelingt mir kein einfacher Satz
mehr. Schreib, sagte mir neulich ein älterer Kollege,
ein guter Gast, schreib von deiner Generation, erzähl
mir, was sie bewegt, was sie lähmt, diese Video-Brut.
Gut, habe ich gesagt, gib mir mal die Telefonnummer
meiner Generation. So einer redet auch immer davon,
eine Spur zu hinterlassen; er will eine Spur
hinterlassen mit seinem Werk. Als ich ihm vorschlug,
Baggerführer zu werden, verließ er wortlos mein
Lokal. - Wenn ich überhaupt noch Vorstellungen habe,
dann Honorarvorstellungen. Und nicht gegen die
Phantasielosigkeit anzukämpfen ist das Schwierige,
sondern dagegen, vor Phantasielosigkeit moralisch zu
werden. In dem Maß, in dem mir die Felle
davonschwimmen, lasse ich kein gutes Haar an den
anderen. Früher hatte ich immer Angst, nicht auf der
Höhe der Zeit zu sein - und sei es, um von dort auf
andere hinabzusehen. Heute weiß ich, daß diese
Angst die Höhe der Zeit ist. (Ralf Rothmann: Messers
Schneide, S. 65f.)
Wie eine Verhöhnung von irgendwoher kam es ihm
vor, daß diese mittlerweile so vertraute Frau wieder
zum Geheimnis werden sollte unter seinen Augen. Er
hatte sehr gut ohne sie gelebt, solange er sicher sein
konnte, daß sie ihn begehrte. Ihre vermeintliche
Abkehr aber riß ihn aus einem ungeahnten Element,
brachte sein Chaos durcheinander. Wo gestern noch
ein umsichtiger Verkehrsteilnehmer ging, stolperte
jetzt das geborene Unfallopfer. Ein Lastwagenfahrer,
den Oberkörper weit zurückgereckt, trat auf die
Bremse, die Ladung unter der Plane schlug um. Ein
Schuhverkäufer, den er versehentlich anrempelte, ließ
einen Stapel Kartons in die Auslage eines Obstladens
stürzen. Entschuldigungen stammelnd, sammelte
Assen alles ein, der Mann verschränkte die Arme vor
der Brust und musterte ihn wortlos. Eine Frau in einer
weiten Satin-Bluse, unter der er die Brustwarzen sah,
streckte ihm die Zunge heraus. Durch die
automatischen Glastüren der Einkaufshallen traten
vollbepackte Menschen und spähten, nichts als
Kaufwut im Gesicht, bereits nach einer nächsten
Gelegenheit. Daß jedem irgendeine Krankheit
anzusehen war, Herzbeschwerden,
Kreislaufschwächen, Geld, fand er auch wieder
tröstlich; um sich an ihnen aufzurichten, erklärte er
sie kurzerhand zu Krüppeln. Unvorstellbar, eine
zärtliche Sehnsucht hinter diesen Mienen. Haßfratzen,
dachte er und sah im nächsten Augenblick, in einem
Schaufensterspiegel, sein eigenes, haßverzerrtes
Gesicht. (Ralf Rothmann: Messers Schneide, S. 73f.)
Nach dem nächsten Cognac hatte er das Gefühl,
ihnen auf die Schliche gekommen zu sein, doch das
mußte geheim bleiben. Die Stirn geneigt,
beobachtete er sie wie einer, der mehr wußte, als gut
für ihn war. Er benahm sich betont unauffällig, das
heißt, er stierte nach wie vor auf seine
Lieblingsstellen. Und tatsächlich: wie sie
schimmerten unter seinem düsteren Blick, schienen
die Frauen sich überhaupt nicht vorstellen zu können,
daß man sie anders als begehrlich betrachtete: Hexen
in Engelsgestalt, die ihn ins Dunkle, Dröge drücken
wollten mit ihren Hüften, in eine Hölle aus Heim und
Herd. (Ralf Rothmann: Messers Schneide, S. 86)
Ich frage mich, ob dieser Rudi eigentlich eine Seele
besaß, und hatte Schwierigkeiten, mir etwas, das ich
mir so hauchzart wie Perlmutterglanz dachte, in
diesem blutunterlaufenden Fettklops vorzustellen.
Besonders an den Montagen, in den Pausen, wenn er
sich furzend auf der Bank neben dem Ölofen
ausstreckte und die Brotdose unter den Kopf legte,
um eine Viertelstunde zu schlafen, wenn sich sein
zweites Kinn über das erste schob und ich den
schurkischen Kindermund, die geplatzten Äderchen,
das ganze durchsoffene Wochenende in seinem
Gesicht betrachtete, wurde mir Rudi zum Inbegriff
dessen, was ich nicht sein und werden wollte, eine
panierte Schweineseele. (Ralf Rothmann: Stier, S. 80)
Ihre Mutter aß nichts, hatte aber sehr rasch sehr viel
getrunken; auf Stirn und Wangen lag ein unguter
Glanz. Die Hände im Nacken verschränkt und das
Becken wiegend, als säße sie auf einem
Wasserkissen, blickte sie in die Menge der essenden,
tanzenden, plaudernden Gäste und sah ihnen
offenbar nach, daß sie nie die Klasse besitzen
würden, ihr, Irene Sommers, Format auch nur zu
ahnen. Doch sobald irgendein Mann den Blick
erwiderte, bekamen ihre Züge etwas Strenges,
Schneidendes, und das Augenblau wurde zur eisigen
Mitte eines Kreises, in dem Unerwünschten Kränkung
und unsterbliche Blamage drohten. (Ralf Rothmann:
Stier, S. 210)
... und lächelte dann, wie nur er es konnte: Jenes
Lächeln, bei dem man unwillkürlich dachte, es sei die
Lösung für alles, die Goldader seines Wesens. Etwas
von der Essenz aller Menschlichkeit lag darin, und
man atmete augenblicklich freier, als wäre es ein
stärkendes, ein herzstärkendes Mittel - auch wenn es
eigentlich nicht wahr sein konnte, dieses Lächeln,
auch wenn es eine Lüge war, und zwar die
großartigste, die es gibt: Die weiße Lüge, daß leben
leicht sei. (Ralf Rothmann: Stier, S. 186)
Ich arbeitete nicht ungern in dem Krankenhaus, mein
Vertrag sah fünfundzwanzig Wochenstunden bei
passabler Bezahlung vor, und der Milieuwechsel ging
ohne größere Schwierigkeiten oder nennenswertes
Befremden vonstatten. Zunächst wunderte ich mich
natürlich darüber, wie wenig Wesen hier vom Sterben
gemacht wurde, wie alltäglich der Tod war; die Ärzte
unterschrieben den Schein und gingen dann essen.
Und am Anfang brachte ich noch Pflegepläne und
Dienstabläufe durcheinander in der Meinung, hier
würden Menschen behandelt, Leidende, denen man in
ihrer Not auch einmal eine Viertelstunde zuhören
sollte. Bis man mir beibrachte: Irrtum. Hier wurden
keine Menschen, sondern Krankheiten behandelt,
Krankheiten mit zeitraubenden, sperrigen und
möglichst ruhigzustellenden Personen drumherum,
und es war unkollegial und verdächtig: Wollte man
sich vor der übrigen Arbeit drücken? Ich begann zu
verstehen, warum Ärzte und Pfleger wenigstens
ebensoviel Alkohol tranken wie zum Beispiel Maurer,
wenn auch feineren, Sekt, Cognac, Wein, und daß der
Unterschied zum Bau womöglich gar nicht so groß ist.
Auch hier wurden oft nur Gewichte bewegt, Drainagen
gelegt und Schäden kostengünstig ausgebessert;
auch hier arbeitete man mit Meißel und Säge, schnitt
auf, riß ab, warf weg, hatte laufend Termine,
Labortermine, Operationstermine, Revisionstermine
im Nacken und wußte nichts mehr von Zeit, die
einmal alle Wunden heilte. Und schließlich betrat
auch ich die Zimmer mit jenem Ausdruck im Gesicht,
der die Patienten von vornherein abschrecken sollte,
Extrawünsche zu äußern, blickte auf die Uhr und
sagte: Wie geht es uns denn... Dann wollen wir
mal... Was haben wir da..., zack. ich wusch die
Kranken, wie es alle taten, "wie man Bänke wäscht";
und wie alle sah auch ich eines Tags keine Leidenden
mehr in den Betten, sondern den Herzinfarkt, den
Ulcus oder das Carzinom, und hatte ich einen Toten
in die Pathologie zu schieben, war das nicht mehr
Frau Grimm oder Herr Sander, es war ein Exitus. - Kai,
bring den Ex weg! (Ralf Rothmann: Stier, S. 362f.)
Mag es heute in vielen Hospitälern üblich sein, daß
Ärzte und Pflegekräfte einander beim Vornamen rufen
und duzen; zu meiner Zeit gab es noch eine
Trennungslinie zwischen diesen Klassen des
Personals, so fein wie das Profil von Oberarzt Voigt -
und bei näherem Hinsehen konnte man nur froh
darüber sein. Denn dieses Krankenhaus war ein
Karrierepferch, in dem ein Schwein dem anderen die
Ohren abbiß, und die Erfolgsleitern, die aus allen
Fenstern in den Himmel wuchsen, wurden aus den
Knochen der Patienten gezimmert. Wenn Dr. Voigt
zum Beispiel sagte: Und bitte vergessen Sie nicht,
meine Herren, die Frau liegt privat!, dann hieß das:
Schleift sie durch, was es auch kostet. Und wenn sie
hundertmal sterben will: Schleift sie durch, Jungs,
jeder Tag, den sie hier liegt, bringt
soundsovieltausend Mark; und falls die Leber nicht
mehr mitmacht, baut ihr eine Ziegenleber ein, ihre
Kasse zahlt den vierfachen Satz! Denkt an meine
Bilanz, dann denke ich an eure... Und schon drängte
man einander mit immer neuen Therapien und
notfalls mit den Hüften von der Bettkante weg, und
ich staunte, wie gemessen es dabei zuging; noch die
Schweißausbrüche wirkten dezent. (Ralf Rothmann:
Stier, S. 266)
Wenn man die Operierten auch kaum ausmachen
konnte unter den Schläuchen und Kabeln - hinter
jeder Glaswand ging es um Leben oder Sterben. Und
sah man die ruhig konzentrierten Handgriffe der
Pflegekräfte, konnte man glauben, alles sei
tatsächlich nur eine Frage des guten Willens und der
Technik, ja mehr: Angesichts der hochaufgetürmten,
fiependen, blinkenden Geräte - und mit einem Schluck
"Amaretto" in den Adern - bekam man den etwas
respektlosen Eindruck, daß hier nicht mit dem Tod
gerungen, sondern geflippert wurde. (Ralf Rothmann:
Stier, S. 277)
Auch in den anderen Häusern aß man zu Abend oder
sah fern. Hier wohnen junge Menschen mit Kindern,
und vor den Türen parken schnittige Kleinbusse und
einige von den runden Dingern, die aussehen, als
wären sie zum Lutschen. Ich werde immer etwas
kleinlaut vor dem Lebensstil dieser Leute, genauer,
vor ihrer Sorglosigkeit, was das Schuldenmachen
betrifft. Das Dachgebälk kracht unter der Zinslast,
und sie winken strahlend aus Chrom und Glas heraus
und biegen um die Ecke, Richtung Sylt. Sogar die
Hunde und Katzen, die sie uns manchmal zur Pflege
bringen, kommen mir wie Designerware vor und sehen
jedenfalls so aus, als hätten sie irgendwo im Fell
eine Kreditkarte stecken. (Ralf Rothmann: Ein Winter
unter Hirschen, S. 62)
Meine erste Frage war: "Wo ist der Fernseher." Nur
noch unser Philodendron stand da, neben einem
niedrigen, mattschwarz lackierten Tisch mit dem
erwähnten Teegeschirr darauf. An den beiden
Rundkissen hingen noch die Preisschilder, und meine
Frau hielt mir einen bunten Computer-Ausdruck hin,
ein sogenanntes Feng-Shui-Gutachten samt
Zeichnung, auf der unsere Räume wie nach einer
Pfändung aussahen. Wozu auch ein Sofa? Sitzen ist
Schwäche. Oder ein Sideboard? Man würde sein Glas
einfach auf einen dieser unsichtbaren, das Zimmer
durchziehenden Kraftströme stellen und zusehen, wie
es sanft aus dem Raum glitt, in die Spülmaschine.
Lesen konnte ich nichts auf dem Blatt, jedenfalls
nicht die Schriftzeichen. Die Zahlen wohl. "Feng-Shui?"
brüllte ich. "Feng-Shui?! Was heißt das! Fernseher
weg?!" (Ralf Rothmann: Ein Winter unter Hirschen,
S. 63)
Cordula, Ende dreißig, war Leiterin des
Behindertenheims, unverheiratet und meistens allein.
Obwohl eine Schönheit mit ihren goldblonden Haaren,
den grünen Augen im sommersprossigen, von starken
Wangenknochen dominierten Gesicht und diesem
beunruhigenden Mund, konnte sie keinen Geliebten lange
halten - was außer an ihrer orgiastischen Häuslichkeit
(man hatte immer etwas Angst, in einen Kuchen
hineingebacken zu werden) sicher auch an ihrer
überüppigen Figur lag. Cordula war nicht nur schön; sie
war gut dreißig Kilogramm zu schön, und jeder normal
gebaute, durchschnittlich eitle Mann sah verschwindend
neben ihr aus, wie ein Hemd. (Ralf Rothmann:
Wäldernacht, S. 28f.)
Die elementare Grammatik hatte wenig Chancen in einer
Gegend, in der man "Erna, nimm dich schomma der
Kaffee!" sagte. Oder, auf dem Fußballfeld: "Waller,
schick mich die Kirsche! Schick se mich her! Steh doch
frei, du lahme Ente!" Oder wenn unsere füllige, soeben
erst von ihrem vierten Kind entbundene Nachbarin "Ker,
Ker!" durch den Supermarkt rief. "Der Olle hat mich
schon wieder ein angedreht. Getz is Schluß mit die
Popperei, dat glaubse wohl!" - Hochsprache war hier
Balanceakt, mancher geriet ins Wanken... (Ralf Rothmann:
Wäldernacht, S. 43)
Unter dem Baldachin, umhüllt von einem cremefarbenen,
schwer mit Brokat bestickten Gewand, dessen
Scharlachfutter manchmal herausblitzte, humpelte Pastor
Maaßen in seinen orthopädischen Schuhen. Steinalt, die
tränenden Augen stier und den gereckten Kiefer fest im
Ewigen verkeilt, trug er die Monstranz wie eine goldene
Fliegenklatsche vor sich her und würde zweifellos jeden
damit niederhauen, der auch nur irrtümlich in seinen
Weg träte. Immer noch gab er Religionsunterricht und
trieb den Schülern allen Glauben an höhere
Gerechtigkeit mit seiner Kasernenhofstimme aus. -
Leichte Schläge auf den Hinterkopf fördern das
Denkvermögen! hatte er stets behauptet und auch mir den
Katechismus an den Schädel gedonnert, bis dunkle Punkte
vor den Augen tanzten. (Ralf Rothmann: Wäldernacht, S.
115f.)
Ohnehin gehörte er zu den Menschen, die immer irgendwie
tätig sind, und wenn er nicht gerade von Sozialfall zu
Sozialfall hastete, im Altenheim Sylvesterschwänke
inzensierte oder an Manövern der freiwilligen
Katastrophenwehr teilnahm, stand er in seinem Keller
vor der Aluminiumstaffelei und malte Aquarelle oder
"kleine Arbeiten auf Holz". Dazu kam die Familie, und
es war ihm unbegreiflich, daß jemand vierundzwanzig
Stunden am Tag auf dem Sofa liegen und nichts anderes
tun konnte, als rauchend in die Luft zu gucken, ein
Glas Wein nahebei. Er glaubte mir das nie. Sein Respekt
vor Kunstschaffenden schien grenzenlos. Allein, daß sie
Maler, Bildhauer oder Schriftsteller waren oder genannt
wurden, machte sie geheimnisvoll in seinen Augen:
Feuerköpfe, vogelfrei, Engel der Einbildungskraft, die
noch schöpferisch sind, wenn sie Socken waschen. Und
wer wollte ihm angesichts seines Alltags Vorwürfe
machen aus dieser Romantisierung. (Ralf Rothmann:
Wäldernacht, S. 22)
Du kommst mich besuchen? Ich nickte vage. - Vielleicht
später. Muß noch was abliefern. Inwzischen kannst du
dich ja schon rasieren... Sie stand auf, schüttelte den
Kopf, blickte mir drohend in die hintersten Gedanken
und ließ ein halblautes Schweinigel! hören. Wobei sie
ihre Hüfte etwas vorschob und den Busen durch tiefes
Atmen betonte: Relief der Torschlußangst, die sich,
abgesehen von ihrer Häuslichkeit, am deutlichsten im
Sexuellen zeigte. - Das ödete sie zwar an; trotzdem zog
sie jede Menge Tricks vom Leder, nahte ein möglicher
Gatte. Das Studium entsprechender Literatur war kaum
auszuschließen, denn was sie einem bot, von der
Nebelwäsche über stets gebräunter Haut bis hin zu
exorbitanten Fingerfertigkeiten, fand man sonst nur in
eingeschweißten Magazinen. (Ralf Rothmann: Wäldernacht,
S. 215)
Der Wein war selbstverständlich ein Bio-Wein und die
Lasagne, niemand hätte das erwähnen müssen, eine
vegetarische. Alles in diesem Haushalt kam mir
furchterregend gesund vor. An den Wänden klebten
Reisstrohtapeten, Vorhänge und Teppiche, aus der Wolle
natürlicher Hochlandschafe, waren mit Naturfarben
getönt und die meisten Möbel biologisch abgebeizt und
aufbereitet; vermutlich würden sie bald Zweige treiben.
Wir aßen von toscanischen Steinguttellern, benutzten
ungebleichte Recyclingservietten, und mein radioaktiver
Hintern ruhte auf einem körpergerechten Roßhaarpolster
mit Haltbarkeitsgarantie. (Ralf Rothmann: Wäldernacht,
S. 220)
Darum möchte ich einmal von dir wissen, warum du
hier... Er schraffierte etwas im Hintergrund. So
vielleicht, diese rote Fläche eingefügt hast, blutrot.
Da war ich doch verblüfft. Das ist mir, um ehrlich zu
sein, bis heute nicht klar. Abgesehen davon, daß es
keine "Ohne Titel"-Bilder von mir gab: Die Rührung, die
ich für Hiller in solchen Momenten empfand, machte mich
auch wütend auf ihn. Sein treuer Glaube fing an, mich
zu kränken. Diese Hochachtung sogenannter Künstler, da
glich er dem belächelten Rutenkolk, entwuchs zu
offenbar dem schlechten Gewissen einer Begabung, die
aus Angst vor den Untiefen des Metiers, vor Alleinsein,
Existenznot, Mißerfolg, einen planen Angestelltenweg
gegangen war, der mit Sicherheit zum Rentenanspruch
führte: Während die Sehnsucht Fett ansetzte und der
Dämon im Bratrohr verkam. (Ralf Rothmann: Wäldernacht,
S. 226)
Mein Vater nickte, zog etwas Knorpel zwischen den
Zähnen hervor. "Die Sauce schmeckt". "Deftig, kräftig!"
sagte Herr Karwendel. "Mit Gewürzen könnt ihr umgehen,
was? Und mit Weibern." Seine Frau schwitzte. "Mein
lieber Mann!" Sie lehnte sich zurück und blies die
Backen auf. Der Kopf war rot. "Des ist so scharf...
Ziagt dirs Hemd ins Möserl nei." Meine Mutter ließ die
Gabel fallen. "Maria!" schrie sie, lachend. "Du altes
Ferkel. Hier sitzt ein Kind!" "Ach wo". Sie wischte
sich die Stirn. "Des hat a schon wos erlebt. Ge, Bua?"
Meine Mutter, das Glas an den Lippen, sah mich rasch
an. Herr Streep setzte sich wieder neben das Aquarium
und öffnete die Bierflaschen. "Laß die Finger von dem
Frauen, Simon. So viele Scheidungsgründe, wie die in
petto haben, kannst du dir gar nicht ausdenken. Sogar
die Liebe ist denen ein Scheidungsgrund." (Ralf
Rothmann: Milch und Kohle, S. 61)
"Ja mei, sag amol, Liesel: Twist - wo hast'n du
des glernt?" "Ach, das ist leicht, das muß man nicht
lernen. Kannst du auch." "I? Na! Nimmer." "Doch, Marie.
Schau her!" Zigarette im Mundwinkel, schob meine Mutter
ihren Sessel zurück und stand auf. "Du stellst einen
Fuß vor und tust, als würdest du mit der Schuhspitze
eine Kippe ausdrücken, so. Und die Arme und Hände
bewegst du, als würdest du dir mit einem Handtuch den
Rücken abfrottieren, so. Das ist alles. Dabei gehst du
runter, runter, und wieder hoch. Und dann den anderen
Fuß vor, Kippe ausdrücken, Kreuz frottieren, runter,
hoch, und immer schneller." (Ralf Rothmann: Milch und
Kohle, S. 41)
In den geblümten Siebzigern war es eine Zeitlang
besser, nicht nur weil er Geld verdiente und notfalls
ins Bordell gehen konnte. Er probierte einiges aus in
den qualmenden Lagern der Subkultur, ohne wirklich
dazuzugehören; seine Freundin, die von ihren früheren
Liebhabern Feuerchen genannt wurde, weil sie so
sprühend kam, wollte auch von ihm Feuerchen genannt
werden und trat dann bald zum Feminismus über. Und
plötzlich war er wieder ein Problem, sein Schwanz,
plötzlich gab es den Orgasmus nicht mehr, den er ihr so
lange bereitet hatte; seine Zärtlichkeit sollte
überdacht werden, und er machte den Fehler, mehr
feministische Literatur zu lesen als jede Frau. Denn es
half nichts. Wie einfühlsam er auch war, er blieb ein
Mann und würde Frauen nie verstehen, wie sie verstanden
werden wollten. Und wenn er sie doch so verstand,
wollten sie eben anders verstanden werden. Sie waren
ihm stets ein Lächeln voraus. (Ralf Rothmann: Feuer
brennt nicht, S. 40)
... meldet sich der Körper. Die üblichen
Rückenschmerzen, die brennenden Augen, der Magen.
Nicht, daß er wirklich krank wäre, es ist es nie
gewesen; offensichtlich gute Gene, die Freude an
Bewegung und reinem Essen und nicht zuletzt sein
hypochondrisches Naturell haben ihn davor bewahrt. Aber
nicht krank zu sein fühlte sich früher schwereloser an.
Oder, genauer: Er hat weniger beachtet, daß er gesund
war. Zudem ist ihm aus der Zeit, in der er unter
anderem als Pfleger in einem Universitätsklinikum
gejobbt hat, neben der Erinnerung an eine leichte
Hepatitis auch eine fatale medizinische Halbbildung
geblieben, die immer noch bewirkt, daß er jedes Ziehen
oder Jucken für das erste Symtpom einer Krankheit hält,
und zwar der schlimmstmöglichen, mit dem denkbar
kompliziertesten Verlauf. Sich ein Fieber einzureden,
bis das Quecksilber im Thermometer steigt, gehört zu
seinen leichteren Übungen. (Ralf Rothmann: Feuer brennt
nicht, S. 83)
Als wäre seine Seite im Buch des Universums die einzige
ohne Wasserzeichen, verdächtigt er sich nach wie vor,
das Wesentliche im Leben nicht begriffen zu haben; in
schwachen Momenten, und besonders unter Menschen,
kommt er sich dann durchaus haltlos vor, ohne rechte
Kontur, und vielleicht ist das ein Grund dafür, daß er
die Veranstaltungen des Alltags immer ernster nimmt und
manchmal sogar zuläßt, daß sein Denken und Sprechen
von einem Hintergrundgeräusch verzerrt wird, das ihn
bei anderen stets befremdet oder gar angewidert hat,
dem Knarren eines Standpunkts. Je absehbarer seine
Zukunft wird, desto mehr Raum gibt er der Sorge um sie
und entweiht jeden glücklichen Augenblick mit dem
kleinlichen Wunsch nach einem noch schöneren nächsten.
Während er ißt, überlegt er bereits, was er am nächsten
Tag kochen wird. (Ralf Rothmann: Feuer brennt nicht, S.
188)
Lebenstüchtigkeit, auch so ein Wort. Selbst wenn die
poetische Sicht der Dinge zwangsläufig eine gewisse
Ineffizienz mit sich bringt, der Alltag will gemeistert
werden und läßt ihn nicht selten schräg dastehen, auch
und gerade vor seiner Frau. Was für ihn komplexe
Probleme sind - Bankangelegenheiten, Behördengänge,
Verhandlungen mit den Vermietern oder das Umtauschen
von Fehlkäufen -, erledigt Alina mit einer
Beiläufigkeit, die ihn immer wieder kleinlaut macht.
(Ralf Rothmann: Feuer brennt nicht, S. 8)
Als sie noch miteinander umgingen, wechselte der die
Geliebten fast vierteljährlich, was der Jüngere aus dem
Verlies seiner Schüchternheit heraus nicht ohne Neid
beobachtete. Richard war einer jener klassischen
Charmeure, für die das Wort Verführung trotz der
muffigen moralischen Aura nichts Problematisches hat
und die Zierlichkeiten oder Komplimente anbringen wie
Konditoren süße Kringel auf den Torten. Ohne je
wirklich in Leidenschaft zu geraten, schrieb er
Liebesgedichte am Fließband und war alles in allem
davon überzeugt, daß zu einer fachgerechten Verführung
nichts weiter als eine Flasche Wein, Kerzenlicht und
ein Kaminfeuer gehören. Hauptvoraussetzung allerdings:
Die Betreffende mußte große, am besten riesige Brüste
haben. Der Blick konnte gemein oder das Lächeln falsch
sein, ihr Wesen berechnend oder geldgierig, die Hüften
durften mehr versprechen, als der Hintern schließlich
hielt, doch wehe, der Schatten der Oberweite reichte
nicht bis an sein Glas heran; ihre Silhouette war das
Kronenrund seiner Sehnsucht, und wenn die Schöne kein
Gehirn hatte, machte das auch nichts; er stopfte
Blumen, Seidentücher und Konfekt in die Lücke und
drückte sie, unablässig Schmeicheleien flüsternd,
Richtung Bett. Im Übrigen gehörte er zu der Sorte
Männer, die Frauen vergötterten und auf einen Sockel
heben, damit sie nicht dauernd im Weg stehen. (Ralf
Rothmann: Feuer brennt nicht, S. 241)
Doch selbst wenn er wie Charlotte den fast schon
physikalischen Charakter ihrer Beziehung sieht - bei
einer gewissen Distanz ist eine große Anziehung da, bei
zu großer Nähe eine gewisse Abstoßung -, wünscht er
sich manchmal mehr Zuwendung und ausschließliche
Hingabe, als er auszusprechen wagt, und sei es nur
jenes bißchen, das bewirkt, daß sie ihre Uhr abnimmt im
Bett und nicht doch das Display des klingelnden
Telefons checkt, während er schon in sie eindringt; daß
sie ihn ebenfalls einmal massiert oder ihn kommen läßt
ohne Gegenleistung und ihn zärtlich flüsternd bittet,
noch nicht zu gehen, nicht gleich. Aber das hat sie
bisher nie getan. Zu ihrem Sonntags-Ritual gehört es,
nach dem Sex einen "Tatort" zu sehen. (Ralf Rothmann:
Feuer brennt nicht, S. 259)
"Gratuliere", sagte DeLoo, der die Box entdeckt hatte.
Er zog sie aus dem Gepäcknetz über dem Küchenschrank
und griff in die Tasche, legte das Obst auf den Tisch.
"Hier ist übrigens Ihr Dessert." Der Mann hörte auf zu
kauen. Er schluckte hart, seine Augen wurden groß,
quollen hevor, und die Gesichtshaut lief so rot an, daß
die gewölbten Brauen silbern erschienen. (...) "Wollen
Sie mich umbringen?! (...) "Wieso? Was erschreckt Sie
denn an Kiwis?" "Haun Sie bloß ab!" krächzte der Alte,
hustete wieder und griff nach dem Bier. "Von wegen
Nachtisch. Ich wer mich nie an diesen elenden Westen
gewöhnen. Sogar die Früchte sehen aus wie Handgranaten.
(Ralf Rothmann: Hitze, S. 52)
Im übrigen, und das ist wohl für niemanden ein
Geheimnis, sind die Dinge dieser Welt so oft erzählt,
beschrieben, untersucht, zur Schau gestellt und von
allen Seiten beleuchtet worden, daß man sich schon
nicht mehr die Mühe macht, sie zu betrachten. Man
bildet sich ein, sie in- und auswendig zu kennen. Man
summt ein heiteres Liedchen und schwört guten
Glaubens, so sei Paris, wo Paris doch schon nicht
mehr so ist, jedenfalls nicht ganz so, sondern bereits
etwas anderes. Paris müßte in Trümmer gelegt,
verwüstet, dem Erdboden gleichgemacht werden,
bevor man auf die Idee käme, eine wehmütige
Strophe hinzuzufügen, und das auch nicht gleich.
(Jean Rouaud: Die ungefähre Welt, S. 23)
Wir achten auf unsere Worte, wie wir es zu seinen
Lebzeiten getan haben, und wenn wir uns früher
einen sprachlichen Ausrutscher leisteten, dann nur,
wenn wir Gewißheit hatten, daß er uns nicht hören
konnte. Kein einziger Fluch in seiner Gegenwart,
keine unpassenden Bemerkungen, keine zotigen
Ausdrücke, kein Argot. Er selbst ist stets darauf
bedacht, ein gutes Beispiel zu geben und sich nicht
gehenzulassen. Er muß sich schon mit dem Hammer
aus Versehen kräftig auf den Finger hauen, damit
er außer sich gerät und eine donnernde
Schimpfkanonade losläßt, in der es sich Gottes
geheiligter Name gefallen lassen muß, mit der
ganzen Palette von Lästerungen bedacht zu werden.
(Jean Rouaud: Die ungefähre Welt, S. 74)
War ich allein und drückte die Nase am Spiegel platt,
hatte ich, sofern man selbst sein bester Richter sein
kann, den Eindruck, daß mein Äußeres eher gewann,
wenn ich die schreckliche Brille mit den dicken
Gläsern nicht aufsetzte, und ich folglich mehr Trümpfe
in der Hand hielt, wenn ich sie wegließ, ich meine mit
Blick auf die quälende Frage: Wird sich je ein
Mädchen für mich interessieren? Dies ist die einzige,
die alleinige Frage, im Vergleich zu der alle anderen
unbedeutend erscheinen, sogar das Los dieses
Planeten, vorausgesetzt natürlich, daß letzteres an
der Antwort der Frage nichts ändert. (Jean Rouaud:
Die ungefähre Welt, S. 121)
Im vergangenen Jahr, dem letzten in Saint-Cosmes,
hast du die Lockerung des Reglements genutzt (die
Internen der oberen Klassen durften vom Schlafsaal
in Einzelzimmer umziehen), um heimlich mit dem
Gitarrenspiel anzufangen, wie neunzig Prozent deiner
Altersgenossen (die restlichen zehn Prozent haben im
Rahmen ihrer Erziehung Klavierstunden erhalten). Die
mäßigen Noten, die du im Verlauf jenes Jahres
geerntet hast, künden davon, wie teuer dich deine
Klampfe, dieser Ersatz für das Studium der
Mathematik, zu stehen gekommen ist. Allzuteuer
letztlich doch wieder nicht, wenn man das paradoxe
Glücksgefühl berücksichtigt, sich so einzigartig wie
alle Welt zu fühlen, seinem inneren Exil entrinnen
und aus sich herausgehen zu können. Davon hattest
du schon früher einmal ein klein wenig gekostet, als
deine ironischen, gleichsam in einem unerschrockenen
Samisdat verbreiteten Alexandriner, in denen du die
Macken und Marotten der Lehrkräfte aufs Korn
nahmst, hinter den hochgeklappten Pultdeckeln die
Runde machten und dir unter deinesgleichen einen
Sonderstatus einbrachten, nämlich den des offiziellen
Möchtegernpoeten. (Jean Rouaud: Die ungefähre
Welt, S. 149f.)
Das Laken hatte bereits seinen Dienst getan, und wie
es da aufgespannt und hell erleuchtet über dem
Podium hing, waren sogar gewisse Flecken
auszumachen, aber Gyf befand, es sei die schönste
Leinwand, die er je gesehen habe, und sie lasse ihn
an einen chinesischen oder koreanischen oder
siamesischen Maler aus wer weiß welcher Dynastie
denken, der den Pinsel in die Tränen seiner Geliebten
getaucht habe. Dank des feinsinnigen Vergleichs und
angesichts des ungeschönten Objekts begriff man
schlagartig, daß Kunst allem voran ein Liebesakt ist.
Übrigens bringe ihn das auf die Idee, eine
Gemeinschaftsausstellung zum Thema "Die Wunder
des Lebens" zu veranstalten, zu der jeder sein -
ungewaschenes - Bettlaken mitzubringen hätte als
Beweis dafür, daß das Schöpferische, von der
besitzenden Klasse und ihrem verlogenen
Kunsthandel vereinnahmt, in Wirklichkeit in
jedermans Reichweite liege. (Jean Rouaud: Die
ungefähre Welt, S. 259)
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