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Allgemeine Fundstücke / [R_3]
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... habe ich dir je erzählt von der These, daß die
Fähigkeit, Tränen, salzige Trännen hervorzubringen, ein
Relikt aus unseren Zeiten als Fische ist? Wir tragen
sozusagen noch immer unseren Ursprung in uns, jede
Traurigkeit, die wir durch Tränen zum Ausdruck bringen,
ist eigentlich eine Traurigkeit darüber, nicht mehr im
Paradies, nicht mehr im Meer, nicht mehr zu Hause zu
sein, es ist die große Traurigkeit, die sich in jeder
kleinen manifestiert. Die große, unendliche,
unstillbare Traurigkeit. (Verena Rossbacher: Verlangen
nach Drachen, S. 194)
... was sind Mieze Schindler und Belzsche Bulpe? Klara
steckte sich zwei weitere Erdbeeren in den Mund und
reihte die Blätterkränze vor sich auf dem Tisch, klingt
nach was Ordinärem. So heißen die Erdbeersorten. Mieze
Schindler war die über alles geliebte Frau des großen
Erdbeerzüchters Schindler, sie backte, wenn man seinen
Tagebucheintragungen Glauben schenken darf, die
köstlichsten, sinnenverwirrendsten Erdbeertorten und er
hatte sein Leben quasi diesen Torten und also ihr
verschrieben, hängte seinen Beruf als Seidenhändler an
den Nagel und züchtete fortan nahezu fanatisch
Erdbeeren, Tag und Nacht, sommer wie winters, er
züchtete Erdbeeren sozusagen so geläufig, wie ein
anderer atmet. Mize Schindler ist zweifellos der
gelungendste seiner Versuche, heutzutage leider vom
modernen Markt verschwunden, da kaum transportfähig,
die Früchte sind einfach zu gut, um weite Strecken
überstehen zu können, zu reif, zu weich, zu saftig, zu
süß. (Verena Rossbacher: Verlangen nach Drachen, S.
193)
Und in einem Text ist alles möglich, es ist die eigentliche Welt
des Konjunktivs, weil es Fiktion ist, darf man alles, ausgedacht
kann man alles machen. (...) Sydow angelte sich ein paar Blätter
von der Rückbank, begann zu lesen. Er schaute auf, links, du
Trottel, Stanjic bremste ab, fuhr im Rückwärtsgang zurück, Sydow
hielt sich am Handgriff, wenn ihr bei dir zu Hause alle so Auto
fahrt, wunderts mich nicht, dass ihr mit den Nerven am Ende seid
und als einzigem Ausweg dem Konjunktiv frönt. Wenn ich nicht
ein so schlechter Autofahrer wäre, würde ich gut Auto fahren,
wenn ich nicht so dumm wär, kämen mir die besten Ideen, wenn die
Berge hier nicht so hoch wären, wär das Land schön flach,
wenn – Jaja, Stanjic fuhr an den Rand und stellte den Blinker
ein, er schaute auf die Liste und ging nach hinten zum Kofferraum
und holte die Sandwichpakete raus, wenn du nicht gleich das Maul
hältst, stopf ich’s dir. Indikativ. Auch der Indikativ hat seine
Vorzüge, nicht wahr?
Wir traten aus dem Waldweg heraus auf das Plateau. Ringsum die
Berge, fluoreszierender Schnee auf den Gipfeln, tollende Dohlen,
ein Bussard in nachdenklicher Schraube. (...) Bussarde sind nicht
nachdenklich, sagte mein Lektor streng, das ist Quatsch. Bussarde
schrauben sich womöglich hartnäckig, womöglich eisern, aber ohne
Nachdenken in den Himmel, spähen hinab, sichten eine kleine
Mahlzeit in eifrigem Getrappel, zwecklosem Gehoppel, zögern
nicht, denken keinen Fingerbreit nach und fallen wie Hallodris
immer dem Schnabel nach wieder nach unten, den Kopf
erwartungsfroh gereckt – so viel zu den Bussarden. (Verena
Roßbacher: Schwätzen und Schlachten)
Ich könnte sagen, ich bin ganz schön attraktiv, ich back dir was
back du mir was. Frederik. Ich könnte sagen, willst du dir meine
Plätzchensamlung ansehen? Frederik? Ich könnte sagen, dass ich
Kinder mag, ich könnte sagen, dass ich das Kindermachen mag.
Frederik? Ich könnte sagen, ich bin eher ein Machertyp,
Plätzchen, Kinder, ganz egal, ich bin einfach ein Macher. Frauen
finden Männer attraktiv, die was machen. Frederik! Nicht so diese
Luschen, die denken, bei der ersten Bewegung ist ihre Frisur im
Eimer, und nichts auf die Reihe kriegen, sich die Finger brechen
beim Kekseausstechen. Frauen wollen Männer, die was reißen. Fre-
de-rik. Mehlpackungen aufreißen, Kleider zerreißen, das Herz aus
dem Leib herausreißen und ihnen schenken. Vergiss es einfach,
okay? Hm. Hat sie schon einen Macher? Ja. Ernsthaft? Zeig ihn mir
und ich zerreiß ihn in der Luft, Mehlpackungen oder wen von der
Konkurrenz, ganz egal, um meine Frisur ist mir nicht bange.
Frisur? Haare auf dem Kopf ist noch keine Frisur.
(Verena Roßbacher: Schwätzen und Schlachten)
Woher kennst du Räuber und ihre Frauen, flüchtest du jetzt
mangels Frau in mediale Welten, schaust du jetzt immer Fernsehen.
Das ist sehr gefährlich. Experten warnen dringend vor der Flucht
der Männer in mediale Welten, neulich las ich in der Zeitung,
dass über zwei Drittel aller Zwanzigjährigen noch nie eine
Freundin – Unsinn. Habe ich vielleicht einen Fernseher? Ich bin
schlimmer als meine Oma, wenn ich wo einen Fernseher einschalten
soll, geh ich hin und drück dort den Knopf am Gerät, weil ich die
Fernbedienung immer verkehrt herum halte. Darum schaue ich auch
immer nur einen Sender, bis wer sich erbarmt und mir umschalten
kommt. Ich kenne Räuber nicht aus der medialen Welt, ich kenne
sie noch von Ronja Räubertochter. Wolltest du als Kind auch immer
Ronja Räubertochter heiraten? Nein. Ich wollte Pippi Langstrumpf
heiraten. Weil du ein Masochist bist. Ich wusste, dass du das
sagen würdest. Wollte ich aber gar nicht. Ich wollte, wie alle
vernünftigen Jungs, das Aschenbrödel heiraten, die aus dem Film.
Frühe Flucht in mediale Welten? Ja. Ich bin betroffenes
Zweidrittel, vor mir warnt die Expertenwelt. Ich war zwanzig,
hatte noch nie eine Freundin gehabt und mich in der medialen Welt
verirrt und Aschenbrödel war schon vergeben. Das macht
gefährlich, wegen generellem Triebstau sowieso und nicht
ausgetragenen Konkurrenzkämpfen mangels realem Konkurrenten noch
dazu. (Verena Roßbacher: Schwätzen und Schlachten)
Das wäre dann mit Sicherheit eine, die andauernd Käfer rettet,
damit man nicht auf sie tritt, bei politisch inkorrekten Witzen
anfängt zu weinen und Yogakurse besucht. Es ist nicht
verwerflich, einen Yogakurs zu besuchen. In Kombination mit den
Käfern und dem Weinen bei Witzen schon. Sie besuchen die
Yogakurse. Das sind die, die sich, wenn sie sich auf einen Stuhl
setzen, nicht einfach auf einen Stuhl setzen, nein, sie
zentrieren sich. Suchen mit den Gesäßbacken die richtige
Position, schaukeln und graben sich mit dem Hintern wohlig
zurecht, immer mit diesem ekelhaft verklärten Gesicht der
Yogapraktizierer, sie sagen Sachen wie: Wenn die Traurigkeit
kommt wie eine Woge, betrachte ich sie und gehe mit ihr mit, bis
sie... (Verena Roßbacher: Schwätzen und Schlachten)
Onkel Dagobert konnte sich ein Geschirrtuch um die Hüften binden
und sah keinen Deut albern aus dabei, eher sah er so aus, als
würde er im nächsten Moment lossteppen oder sich einem Segeltörn
anschließen. Er konnte eine Jagdgesellschaft anführen zum
vielfältigen Tieretöten oder auch den Tee aufgießen, wenn die
Jagdgesellschaft ohne ihn lustig gewesen war, seine Autorität
hätte kein Mensch je infrage gestellt, weder als Jäger noch als
Mann. Er sah aus, als würde er gleich lossteppen, dabei war
durchaus möglich, dass dieser Umstand niemals eintreten würde. Er
war ein Stepper und musste das nicht durch unablässiges lästiges
Steppen unter Beweis stellen, er war ein Jäger und ein Mann, bis
hinein in die eleganten Fingerspitzen, so einer muss nicht
andauernd einem Schwein hinterherhechten oder sich per Liane von
einem Baum zum nächsten schwingen. (Verena Roßbacher: Schwätzen
und Schlachten)
Ich ging in Simons Küche. Akkurat quadratisch, die Wände
schulterhoch mit kleinen Mosaiken zu aperiodischen Mustern
gepflastert, frei nach dem Darb-i-Imam-Schrein von 1453 im Iran –
haha! Von wegen. Hier ist das einfach kunterbuntes Chaos, die
Verbrechen gegen die Menschlichkeit aus den dunklen, den
schwärzesten Siebzigern und definitiv keinem Gott zum
Wohlgefallen, aber wenn man sichs mit dem großen Uhrmacher nicht
verscherzen will, puzzelt man besser was aperiodisches, das kann
er dann in der Unendlichkeit herumschieben, wie er lustig ist,
freut sich wie ein Kind. (Verena Roßbacher: Schwätzen und
Schlachten)
Wegen solcher Lappalien, sagte er streng, geht man übrigens nicht
ins regionale Pilzdezernat. Wenn du im regionalen Pilzdezernat
aufkreuzt, um intime Interna über die große, fröhliche Familie
der Boviste geflüstert zu bekommen, nimmt dich da, wenn du später
dann einmal schwer vergiftet vom Pilzragout anwankst und dem
Schnauzbart die Reste auf den Schreibtisch kotzt, kein Mensch
mehr ernst. Wenn du, sagte er bedächtig, nachdem du dich dort
vorher schon mit törichten Fragen zu den Bovisten lächerlich
gemacht hast, schwer vergiftet anwankst und dem Dezernenten auf
den Tisch kotzt, schaut der gar nicht erst hoch von seinem
Pilzmagazin, blättert gemütlich um und sagt: schön, sagt er dann,
nach Hause gehen, sagt der dann nur, weiterkotzen. (Verena
Roßbacher: Schwätzen und Schlachten)
Am Morgen nach dem Frühstück, fuhr Frau von Sydow fort, gings zum
Baumschlag, die Herren möchten diesmal doch bitte einen wählen,
der ins Zimmer passe, sie lege Wert darauf, den noch von ihrem
Großvater höchstselbst bepinselten Engel auf der Spitze zu
platzieren. Sydow bezweifelte, ob dieser Engel der allgemeinen
Hebung der Ästhetik dienlich sein würde. Er war vom Uropa
höchstselbst bepinselt und auch von eigener Hand gedrechselt und
grinste feist, es war ein Engel wie ein versoffener Schwerenöter.
(...) Er würde morgen also auf jeden Fall dabei sein beim
Baumschlag, er würde sagen: Nein nein, der ist nicht zu groß, das
ist haargenau, was meine Oma sich vorgestellt hat, passt perfekt,
jede Wette! (...) Im Übrigen will ich auch den Baum schlagen, ich
werde dort gebraucht, sie schleppen dir sonst todsicher einen an,
der doppelt so hoch ist wie die Decke. Oder, dachte er, wenn er
die fleißig zechenden Onkel betrachtete, sie wissen nicht mehr,
wie eine Tanne aussieht und wir feiern dieses Jahr unter einer
Ulme, kann gut sein. (Verena Roßbacher: Schwätzen und Schlachten)
Wie heute früh mit dem Auto, reinweg gar nichts ist passiert.
Meine Oma hat gesagt, die Leute wären kreischend
auseinandergesprungen und die Bäuerin auf dem Markt hätte mit
entsetztem Blick ihre Kohlköpfe an den Busen gedrückt, als du wie
ein Wahnsinniger auf sie zugerast seist. Das war einmal, weil ich
den Rückwärtsgang verwechselt habe. Sonst lief alles wie am
Schnürchen. Ja, meine Oma meinte bloß, sie frage sich, wo du
eigentlich den Führerschein gemacht hast. In Österreich, da
fahren alle so, sagte Stanjic. Das habe ich ihr auch gesagt, sie
riet mir daraufhin, im Rahmen meiner Gesundheitsvorsorge dieses
Land weiträumig zu umfluren. (Verena Roßbacher: Schwätzen und
Schlachten)
Es herrschte eine Bombenstimmung, und einmal geht noch, rief
Onkel Jodok begeistert nach jedem Stück, er war ein Tanzbär, ein
Salonlöwe, er war das rotnasige Rentier und noch in der
Volltrunkenheit ein Musikfreund vor dem Herrn. (...) Jodok war
ein Salonlöwe und Tante Hildegard eine Partynudel, zusammen waren
sie der Schrecken eines jeden Fetenmuffels, der Leib gewordene
Albtraum eines jeden Festtagverweigerers, sie stupsten sich mit
den Hüften und stoben auseinander, sie hüpften und eierten eifrig
tanzend in die Knie und kamen wieder hoch, und das alles mit
diesen schweren und behäbigen altdeutschen Leibern, die eher auf
ein Bild von Bruegel gepasst hätten. Dazwischen trubelte der
Rest, jeder Sydow konnte feiern bis zum Umfallen, es lag ihnen im
Blut, Jodok und Hildegard mochten der nimmermüde Kern sein des
allgemeinen Spektakelns, aber hier ließ sich niemand lumpen,
Tante Inge vollführte mit konsequent adretter Frisur komplizierte
Schrittkombinationen um sich selbst herum, ein Paar, dessen Namen
Frederik nicht kannte, zog in einer flotten irischen Jig juchzend
diagonal eine Schneise durch den Salon, Onkel Dagobert – Sydow
war sich nicht sicher, es in dem Getümmel richtig auszumachen,
ihm schien, Onkel Dagobert werfe mit hinreißender Leichtigkeit
seine Oma in die Luft. Weihnachten, Fest der Stille und der
Besinnung? Nicht im säkularisierten Osten, hier kann man ohne
sich zu genieren Hotdog mampfend eine Kirche besichtigen und den
Pfarrer ungestraft fragen, ob er unter dem Talar eine Unterhose
trägt, hier kann man zum Lobpreis von Christi Geburt eine
Polonaise veranstalten und keiner findet das bedenklich.
(Verena Roßbacher: Schwätzen und Schlachten)
Die Frau Bernheim hatte neben dem Ehrgeiz, "fürstlich"
zu wohnen und eine "königliche Erscheinung" abzugeben,
auch noch den, eine "bescheidene Frau" zu sein. Wenn
sie vor Weihnachten überflüssige Stickereien an
überflüssigen Decken anbrachte, um irgend jemanden zu
"überraschen", so war sie überzeugt, eines jener Opfer
zu bringen, das die Tugend der Sparsamkeit bestätigt,
und sie bereitete sich einen süßen, angenehmen Schmerz,
der fast so wohltat wie Weinen. "Sieh her, Felix",
sagte sie, "die Frau Lang macht das sicher nicht
selbst." "Du brauchst es ja auch nicht zu tun-"
erwiderte Felix. "Wer soll's denn machen? Willst du ein
Vermögen dafür bezahlen?" "Ich kann überhaupt darauf
verzichten." "Ja, und wenn's nicht da wäre, würdeste du
ein Gesicht machen! "Sieh lieber die Knöpfe an meinem
Winterrock nach - heute ist mir einer
heruntergefallen!" "Gib ihn her!" sagte darauf die Frau
Bernheim erfreut. "Auf die Lisi ist ja doch kein
Verlaß! Alles, alles muß man selber machen!" Und mit
einem heieren Seufzer, der die Arbeit schwerer
erscheinen läßt, soe kostbarer macht und das Gewissen
der Arbeiterin beruhigt, begann Frau Bernheim, den
Knopf zu befestigen. (Joseph Roth: Rechts und Links, S.
20)
Die Mädchen konnten Paul Pernheim keineswegs
einschüchtern. Er wurde mit der Zeit ein flotter
Tänzer, ein angenehmer Plauderer, ein wohldressierter
Sportsmann. Im Laufe der Monate und Jahre wechselten
seine Neigungen und seine Talente. Ein halbes Jahr
galt seine Leidenschaft der Musik, einen Monat dem
Fechten, ein Jahr dem Zeichnen, ein Jahr der Literatur
und schließlich der jungen Frau eines Bezirksrichters,
deren Bedarf an Jünglingen in dieser nur mittelgoßen
Stadt kaum gedeckt werden konnte. In der Liebe zu ihr
vereinigte er alle seine Talente und Leidenschaften.
Für sie malte er Landschaften und weiße Kühe, für sie
focht er, komponierte er, dichtete er Lieder über die
Natur. Schließlich wandte sie sich einem Fähnrich zu,
und Paul versenkte sich, um "sie zu vergessen", in die
Kunstgeschichte. Ihr beschloß er nun sein Leben zu
widmen. Er konnte bald Menschen sehn, keine Straße,
kein Stückchen Feld, ohne einen berühmten Maler und
ein bekanntes Bild zu zitieren. In der Unfähigkeit,
etwas unmittelbar aufzunehmen und einfach zu
bezeichnen, übertraf er schon in jungen jahren alle
Kunsthistoriker von Rang. (Joseph Roth: Rechts und
Links, S. 11f.)
Sie lebte gefangen im Haus. Er schickte ihr Schneider
und Kaufleute, aber nicht einen einzigen Gast. Er
wollte keine Menschen sehn. Die Menschen waren wie
Häuser und Waren. Er handelte mit ihnen, während des
Tages, in seinem Büro. Sie war jung, sie zählte ihre
Jahre. Zweiundzwanzig. Sie warf ihm diese geringe Zahl
vor, als wäre ihre Jugend seine Schuld. Einmal sah er
sie weinen. Er verstand. Aber er saß, ungeschickt und
mächtig, vor dem kleinen Jammer einer kleinen Frau. Er
fürchtete sich vor seinem eigenen Mitleid. Er haßte die
Zärtlichkeiten, die der Trost befahl. Er war nicht
imstande, ein Elend zu ermessen an dem Menschen, der es
im Augenblick empfand. Er konnte niemals verstehn, daß
die geringen Ursachen, die einen Schmerz erzeugen,
weder den Umfang noch die Tiefe des Schmerzes
bestimmen. Er maß das Unglück Lydias an dem absoluten
Unglück der Welt. (Joseph Roth: Rechts und Links, S.
141)
Sie besaß einen animalischen Haus- und
Familieninstinkt, er war die Quelle ihrer Vorsicht,
ihrer Klugheit und auch ihrer Güte, die allerdings ihre
Grenze an dem dichten Drahtgitter des Gartens fand.
Außerhalb des Gitters begann ihre Härte, ihre
Unerbittlichtkeit, ihre Blindheit und ihre Taubheit.
Sie unterschied zwischen Armen, die auf irgendeine Weise
einen Zutritt in ihr Haus bekamen, und den Bettlern,
die sich nur in den Straßen aufhielten. Und sie
verstand ihre Wohltätigkeit dermaßen zu organisieren,
daß ihr Herz nur an bestimmten Stunden betimmter Tage
zu funktionieren brauchte. (Joseph Roth: Rechts und
Links, S. 21)
Als Paul seiner Mutter schrieb, daß er kein Geld geben
könne, da er Theodors wegen schon eine so hohe Schuld
auf sich genommen habe, und es wäre doch einfach, den
Mietpreis für Theodors Zimmer jeden Monat nach Ungarn
zu schicken, erwiderte Fraun Bernheim entrüstet, daß
sie nicht daran denke, noch mehr Opfer für ihre Kinder
zu bringen. "Ich habe Euch meine ganze Jugend
geopfert", schrieb sie. Sie glaubte manchmal wirklich,
daß sie ohne ihre Söhne nur ganz langsam alt geworden
wäre. Blut sei kein Wasser, schrieb sie ferner, und ein
Bruder müssen dem andern helfen. (Joseph Roth: Rechts
und Links, S. 76)
Auch Nikolai Brandeis machte die Erfahrung, daß der
Mensch in einer einzigen Stunde - die ihm gar nicht
wichtig erscheint - imstande ist, was man seinen
"Charakter" nennt, so vollkommen zu verändern, daß er
vor dem Spiegel treten müßte, um sich zu überzeugen,
daß seine Physiognomie noch die alte geblieben sei.
Seit jener Veränderung, die er selbst erlebt hatte,
pflegte Brandeis zu sagen, daß die Menschen sich nicht
entwickeln, sondern inr Wesen wechseln. Er dachte an
einen der Wahnsinnigen seines heimatlichen Dorfes, der
nicht müde geworden war, allen Leuten die sterotype
Frage zu stellen: "Wieviel bist du? Bist du einer?"
Nein, man war nicht einer. Man war zehn, zwanzig,
hundert. Je mehr Gelegenheiten das Leben gab, desto
mehr Wesen entlockte es uns. Mancher starb, weil er
nichts erlebt hatte, und war sein ganzes Leben nur
einer gewesen. (Joseph Roth: Rechts und Links, S. 82)
Er fühlte sich in der neue Zeit wie zuhause, und er
konservierte seine Jugend und seine Gesundheit, nur um
eine noch neuere zu erleben. Wenn er in einer der
populärwissenschaftlichen Zeitschriften, die er
abonnierte und die er mit einer verschwiegenen Geilheit
las, als wären sie Pornographie, die Voraussage einer
totalen Sonnenfinsternis in Mitteleuropa zu Ende des
dritten Jahrtausends sah, so erschütterte ihn die
Unmöglichkeit, tausend Jahre zu leben. (...) Er las mit
Begeisterung am Ende eines jeden Jahres die Bilanz der
Unglücksfälle und hielt alle überfahrenen Fußgänger für
schuldig. Langsam sein und keine Geistesgegenwart haben
hieß für ihn, ein Verbrechen gegen das Tempo begehen,
das er verehrte. (Joseph Roth: Rechts und Links, S.
111)
Haben sie schon einmal darüber nachgedacht, warum ich
so reich geworden bin? Sie halten mich für einen
großen Kaufmann? Nicht wahr? Sie irren sich, Herr
Oberst! Ich verdanke alles der Widerstandslosigkeit und
der Ohnmacht der Menschen und der Einrichtungen. Nichts
in dieser Zeit wehrt sich gegen Ihren Druck. Versuchen
Sie, einen Thron zu erlangen, und es wird sich ein Land
finden, das Sie zum König ausruft. Versuchen Sie, eine
Revolution zu machen, und Sie werden das Proletariat
finden, das sich erschießen läßt. Bemühen Sie sich,
einen Krieg hervorzurufen, und Sie werden die Völker
sehen, die gegeneinander ausziehn. (Joseph Roth: Rechts
und Links, S. 136f.)
Denn es ist in einer Zeit, in der die Wahrheiten
selten werden, nichts so glaubhaft wie ein
Gerücht; und je billiger und abenteuerlicher
es klingt, desto bereitwilliger empfängt es
die Phantasie der romansüchtigen Menschen.
Paul Bernheim gehörte zu den gläubigsten
Empfängern romanhafter Gerüchte. Er
sammelte sie, wie er Anekdoten sammelte, in einem
ledergebundenen Büchlein mit Goldschnitt, in
das er verborgen zu schauen pflegte, bevor er zu
erzählen begann. Sauber geschieden waren in
seinem Gehirn die sogenannten Geschichten von der
sogenannten Wirklichkeit. Aber es machte ihn
glücklich, wenn eine Geschichte in die
Wirklichkeit hineinspielte. (Joseph Roth: Rechts
und Links, S. 143)
Wenn Carl Enders in die Lage geriet, ein Bild zu
kaufen, so achtete er darauf, daß es seinem Verstand
und seinen Sinnen widerspreche. Dann war er sicher, ein
modernes und wertvolles Kunstwerk gekauft zu haben.
Eine lange Übung hatte ihn dazu gebracht, daß seine
Wertschätzung automatisch anfing, wo ein Gegenstand
sein Mißfallen erregte, und daß er ein empörtes
Mißtrauen allem entgegenbrachte, was ihm gefiel. Dieser
Methode verdankte er den Ruf, einen "unfehlbaren
Geschmack" zu besitzen, und also fuhr er fort, seinem
echten Geschmack zuwiderzuhandeln. (Joseph Roth: Rechts
und Links, S. 150)
Am Morgen erwachte er zugleich mit der Langeweile.
E gähnte laut, mit einer schallenden Stimme zuerst,
die wie aus einem Trichter kam, dann einem Heulen
ähnlich wurde und schließlich in eine Art
tremolierendes Winseln ausging. Also schien er den
ersten, furchtbar schmerzlichen Schlag von der
Langeweile erhalten zu haben. Denn sein Gähnen war
nichts anderes als ein herzzerreißender
Schmerzenslaut, ein Urschmerzenslaut, die hilflose
Klage eines tödlich verwundeten Tiers, von einer
grausamen amelodischen Willkür. (Joseph Roth: Die
zweite Liebe. Geschichten und Gestalten, S. 84)
Der Mensch im Nebenzimmer schien zu warten, ob
sich nicht Stimmen von selbst melden würden, ohne
seine Aufforderung. Aber es kamen keine. Die Stille
war noch stiller als zuvor. Da fing der Mensch zu
singen an, falsch, aus seiner unwilligen Kehle, ein
Potpourri aus allen Schlagern der letzten zehn Jahre.
Er sang sie eigentlich gar nicht, er rief sie nur zu
Hilfe. Das, was er sang, verhielt sich zu den
richtigen Melodien nur, wie etwa das Stimmen der
Instrumente zum Konzert. In seinem Gedächtnis
lagen die richtigen Melodien wahrscheinlich zwar
aufgestapelt, aber auf dem Weg durch seine Kehle
verwandelten sie sich in hilflose Hilferufe. Offenbar
dachte er dabei an schöne Abende in der Bar, an
zutunliche Mädchen und alle Vorsichtsmaßregeln, die
in der Welt gegen die Einsamkeit getroffen werden.
(Joseph Roth: Die zweite Liebe. Geschichten und
Gestalten, S. 86)
[Blues hören] ...saß er jetzt auf dem Bettrand mit
leis verträumten Augen. Die fremde, mittels technischer
Vollkommenheit entlehnte Wehmut tat ihm wohl, als
wäre es seine eigene. Vielleicht war er sogar traurig
geworden, vielleicht weinte er sogar. Ja, es ist
möglich, daß die Trauer eines fremden schwarzen
Volkes, an der er selbst nicht unbeteiligt war, ihm
eine eigene, eine Originaltrauer, vortäuschte, deren
er kaum fähig gewesen wäre. Und wie andere
Menschen sich einen Apparat anschaffen, um sich zu
erheitern, so hatte sich der Nachbar Negerplatten
gekauft, um sich sozusagen zu ertrauern. Und ich
glaubte zu verstehen, warum er so rastlos nach
Geräuschen gesucht hatte, einen ganzen Vormittag
lang, und warum die Stille ihn so peinigte. Die
schöne,weiche, stille Abteilung des menschlichen
Herzens, in der sonst die Trauer schlafen soll, war
leer: ausgeräumt. Er war ein Mensch dieser Zeit. Er
genoß das Leben. Es belustigte ihn. Er erzeugte
Geräusche und kostete sie aus. Angst hatte er vor der
Stille. (Joseph Roth: Die zweite Liebe. Geschichten
und Gestalten, S. 87)
Dennoch litt Herr Arnold an einer chronischen und,
wie man sieht, unbegründeten Unzufriedenheit. Er
selbst wußte freilich Gründe genug. Einerseits regten
ihn die Zeitverhältnisse auf. Er hatte von seinen
Ahnen einen ausgeprägten Sinn für Ordnung geerbt,
und ihm war, als gingen die Tendenzen der
Gegenwart dahin, diverse Ordnungen zu stören.
Andererseits näherte er sich jenem Alter eines
Familienvaters, in dem eine weibliche Abwechslung
zur Erhaltung des inneren Gleichgewichts nötig wird.
Dieser Liebesdrang aber verursachte eine gewisse
Unsicherheit, welche die Ordnung des Tags und noch
mehr der Nacht zu sprengen drohte, und teilte sich
allmählich der ganzen Tätigkeit des Herrn Arnold mit,
beeinflußte die große Abschlüsse und sogar die
Erledigung der Korrespondenz. (Joseph Roth: Die
Rebellion, S. 241)
Wenn sie sprach, wurde sie schön. Eine braune Röte
kam in ihr Gesicht, ein goldener Glanz in ihre braunen
Augen, sie bewegte den kleinen Kopf mit so
kunstvoller Heftigkeit, daß ihre Haare in geregelter
Wirre in ihre Stirn fielen und an ihrer Heiterkeit
teilnahmen. So fand sie oft Gelegenheit, ihre
empfindliche Hand, die ein eigenes Gehirn zu haben
schien, an das Haar zu führen - eine Bewegung, die
jede Frau schön macht. Denn es ist eine intime
Bewegung. Sie ist wie der Beginn einer Entkleidung.
(Joseph Roth: Zipper und sein Vater)
Sie paßten nicht zueinander, nein, sie paßten nicht
zueinander. Aber, wie es so ist, man dachte niemals
daran, daß sie zueinander nicht paßten. Es geht uns
gewöhnlich so, wenn wir ältere Ehepaare betrachten.
Sie stellen ein Fait accompli dar, es ist nicht mehr an
ihrer Gemeinsamkeit zu zweifeln. Sie haben schon
Kinder, große Kinder. Nichts mehr ist übriggeblieben
von den Widerständen, die sie in der ersten Zeit ihrer
Ehe gegeneinander zu Felde geführt haben wie
Waffen. Beide haben ihre Schärfen abgewetzt, ihre
Munition verbraucht. Sie sind zwei alte Feinde, die
aus Mangel an Kampfmitteln einen Waffenstillstand
schließen, der aussieht wie ein Bündnis. Und man
weiß nichts mehr von ihrer alten Feinschaft. Aber in
den Augenblicken, die wir fremde Beobachter nicht
kennen, gebrauchen sie noch gegeneinander die
übriggebliebenen Reste der Waffen, oder sie
verwenden andere Geräte, Geräte des Friedens, zum
häuslichen Kampf. Sie haben noch aus der Zeit, als
ihre Feindschaft jung gewesen, verschiedene Mittel
des Hasses, die sich nicht abnützen: ein Lächeln, das
gerade dort einsetzt, wenn es den andern schmerzt;
ein Wort, das an eine längstvergangene wüste Szene
erinnert und das, wieder hervorgeholt, vernarbte
Wunden aufreißt; eine Art, einander anzuschauen, die
beide erstarren läßt, plötzliche Bewegung, die ihre
umnebelte, eingeschlafene Feindschaft jäh erwecken,
wie abgeschossene Rakten eine dunkle Situation im
Krieg erhellen und seine ganze Schrecklichkeit. So war
es mit dem Ehepaar Zipper. Das Angesicht der Frau
Zipper wird mir immer in Erinnerung bleiben. Es lag
hinter einem feuchten Schleier. Es war, als lägen ihre
Tränen, immer bereit, vergossen zu werden, schon
über ihrem Augapfel. Sie trug lange blaue Schürzen,
die sie einer Krankenschwester zweiter Klasse ähnlich
machten. (Joseph Roth: Zipper und sein Vater, S.
441)
Die Träne, die eine Frau aus dem Volk über eine
plumpe Tragik vergießt, hat eine gröbere
Beschaffenheit als jene, die sie im Anblick einer
echten, also stilleren Trauer verlieren könnte. In
diesem Stück war Erna nun unmittelbar die Ursache
der Stimmungen, die das Publikum beherrschten. Sie
spielte ihre Rolle gewiß glaubhafter, als sie der Autor
geschrieben hatte. Aber gerade weil sie so
außerordentlich geeignet war, die plumpen Absichten
eines plumpen Schriftstellers so zu verfeinern, daß
sie fast wie künstlicherische erschienen, erkannte ich
die Erna aus dem Literatencafe, ertappte ich sie
geradezu. Sie besaß etwa die Fähigkeiten einer
geschickten Vorstadtmodistin, mit billigem Material
nahezu vornehme Wirkungen im Schaufenster zu
erzielen. Eine doppelte Möglichkeit zu gefallen. Die
Leute sind von der Billigkeit des Stoffs angezogen
und von dem falschen Beweis, daß er trotzdem
vornehm sein kann. Im Leben war Erna zart. Auf der
Bühne erschien sie gebrechlich, aber mit Grazie. Im
Leben war sie elastisch und widerstandsfähig. Im
Spiel war sie spröde und hilflos. In der Gesellschaft
von Männern benahm sie sich so, daß jeder sich mit
ihr beschäftigen mußte, ja, daß jeder glaubte, sie
hätte ihm ein Amt zugewiesen. Auf der Bühne sah sie
so aus, als würden sie alle Männer verlassen, so, daß
jeder männliche Gast im Parkett ihr zu Hilfe auf die
Bühne hätte eilen mögen. Am Nachmittag sprach sie
mit einer tiefen Stimme, die aus dem Herzen zu
kommen schien. Am Abend mit einer hohen, hellen,
die aus der Angst kam. Die wohlüberlegte Koketterie,
mit der sie sich bei Tag klug und geistreich machte,
verwandelte sich am Abend in eine andere, aus der
eine edle, stille, demütige Einfalt kam. Sprach man
mit ihr und kam die Rede auf einen ihr
unangenehmen Gegenstand, so wich sie aus, mit der
Elastizität eines Gummiballons, der scheinbar
nachgibt und die Luft, das Material seines
Widerstandes, verbergen kann, ohne sich merklich zu
verändern. Spielte Erna aber, so schien es, daß sie
sich mit einer wonnigen Ahnungslosigkeit gerade den
Gefahren aussetzte, die sie am Tag so
vorausschauend abzuwehren wußte. Man hatte Angst
um sie. Man wollte ihr zurufen: Gehen Sie nicht!
Sagen Sie das nicht! Nehmen Sie sich in acht! Lügen
Sie ein bißchen! Ihr, die sich immer in acht nahm und
die meistens log, nicht weil sie so viel zu verbergen
hatte, sondern weil sie genau wußte, daß die Lüge
reizvoller ist als die Wahrheit, auch wenn man diese
kennt und jener nicht glaubt. (Joseph Roth: Zipper
und sein Vater, S. 510f.)
Sie schlug die Augen im Dialog auf wie im Gebet.
Aber es mußte doch schließlich auffallen, daß dieser
Blick, der ewig zum Himmel gewandt war, auch wenn
es im Text hieß: "Ein Glas Wasser, bitte!", aus einer
großen Gleichgültigkeit kam, aus der Seele eines
Menschen, der den Himmel mit einem Gartenzaun
verwechseln konnte. Man mußte doch hören, daß die
Gabe immer flehen zu können, die Fähigkeit des
Betens ausschloß! (Joseph Roth: Zipper und sein
Vater, S. 511)
Es waren ihre Kollegen aus den benachbarten Villen,
lauter Lieblinge des Publikums, dämonische,
sarkastische, lyrische, Verführer - und plebejische
Typen, Schwerenöter und unwiderstehliche Bezwinger
des Schicksals. Ach, wie sahen sie gleichmäßig aus
und harmlos! Sie waren nicht geschminkt, es
leuchteten keine Lampen, es befahl kein Regisseur.
Sie hatten niemanden zu gehorchen als der Sitte, die
ihnen befahl, zweimal innerhalb von fünf Jahren zu
heiraten und dreimal in einem Jahr bestohlen zu
werden. Wenn man sie sah, wie sie Karten spielten,
Buki-Domino, wie sie panierte Schnitzel aßen und
nach den wehenden Blättern des Salats schnappten,
so verstand man nicht, was sie eigentlich dazu trieb,
Schauspieler zu sein, durch weite, von Lärm erfüllte,
wüste Ateliers zu hasten, in merkwürdigen Kostümen,
was sie veranlaßte, Tränen zu vergießen und Throne
aus Pappendeckel zu besteigen, auf Pferden zu
galoppieren und auf Schiffen unterzugehen; weshalb
sie ferner ihr privates Leben in den Glasvitrinen
ausstellten, in den Zeitungen druckten, Biograpen
mitteilten, einen Klatsch um sich selbst erzeugten,
logen und dementierten, sich verliebten - ohne an die
Liebe zu glauben - und sich trennten, ohne an die
Trennung zu glauben. (Joseph Roth: Zipper und sein
Vater, S. 516)
Ich erinnerte mich, daß ich P. immer gemieden hatte
aus Angst vor der Höhe, auf der er sich befand und
von der es eisig auf mich herabwehte. Schließlich lebt
man, ist jung, hat Hoffnungen, möchte zwar ewig
dasein, fühlt sich aber dennoch glücklich innerhalb
des beschränkten Himmelsrunds, das über ein paar
Jahrzehnte menschlichen Lebens gestülpt ist, und will
am liebsten nichts wissen, von der Geringfügigkeit,
der Bedeutungslosigkeit eines Worts, das man
spricht, einer Handlung, die man begeht, eines
Schmerzes, den man erleidet. Es war, wenn man
mit P. sprach, als blickte man in die Milchstraße und
erlebte an hunderttausend Sonnen und an Millionen
Planeten das Schicksal, das unserer Sonne und
unserer Erde einmal beschieden ist. Seine
Unerbittlichkeit war nicht hart und nicht grausam,
denn man fühlte, daß sie notwendig war. Aber man
mußte wahrscheinlich sehr alt geworden sein, um mit
P. überhaupt sprechen zu können. (Joseph Roth:
Zipper und sein Vater, S. 541)
Dieser kaiserliche Uhrensammler befahl eines Tages
seinen Beamten in Galizien, daß sie den Junden
deutsche Namen verpassen sollten. Die Beamten, die
schon von Berufs wegen nicht viel Phantasie
entwickeln durften, behalfen sich bei der
Namensgebung mit sehr einfachen Methoden. Zuerst
kamen Farben an die Reihe; die Juden erhielten
Namen wie Schwarz, Weiß, Grün, Roth; Gelb, Braun
und so weiter. Als schon zu´viele Farben herumliefen,
hängte man noch ein Wörtchen an die Farben an:
Grünstein, Goldstein, Blaustein, Rothstein oder auch
Einstein, Ohrenstein, Ehrenstein oder ähnlich. Dann
verteilte man Sterne: Morgenstern, Sonnenstern,
Glühstern, Unstern oder einfach nur Stern. Man
behängte die Juden auch mit Ortsnamen, unabhängig
davon, ob sie aus den betreffenden Ortschaften
kamen oder nicht. Es entstanden die Familien
Czernowitzer, Kattowitzer, Lemberger, Kracauer,
Lubliner, Warschauer und noch viele andere, quer
durch die Landkarte Galiziens. Manche Beamte
machten sich einen Spaß daraus, den Juden "lustige"
Namen zu geben, die für die Betroffenen weniger
lustig waren. Oder möchten Sie Stuhlgang heißen?
Und nun kam Roths Witz: "In Brody war ein
besonders bösartiger Beamter tätig, der jedoch im
Ruf stand, bestechlich zu sein. Jizchok, der älteste
Sohn der Familie, ging mit Herzklopfen aber
vollgefülltem Beutel ins Gemeindehaus. Als er nach
Hause kam, fragte ihn sein Vater: 'Nun, wie heißen
wir?' 'Schweißloch', antwortete der Sohn, sichtlich
beschämt. Der Vater schlug die Hände über dem Kopf
zusammen. 'Schweißloch? Ein scheußlicher Name!
Habe ich dir nicht gesagt, du sollst den Goj
schmieren? Wozu hast du das viele Geld
mitgenommen?' Der Sohn winkte ab: 'Hast du eine
Ahnung, Tate, wieviel Geld allein das 'w' gekostet
hat?'" (Géza von Cziffra: Der heilige Trinker.
Erinnerungen an Joseph Roth, S. 43)
In dieser Zeit, in den Jahren 1919-1920, entwickelte
sich Roth unter den Fittichen von Egon Erwin Kisch
und vor allem durch die tätige Hilfe eines anderen
Pragers, Karl Tschuppik, zu einem ausgezeichneten
Journalisten, dessen Berichte aber nicht sachlich und
trocken waren, sondern farbig und dichterisch,
manchmal allerdings auf Kosten der Tatsachen. Wenn
man ihm das mal gelegentlich vorwarf, pflegte Roth
sich zu verteidigen: "Es kommt nicht auf die Wahrheit
an, sondern auf die innere Wahrheit." Roth hatte
seinen eigenen Stil. Er ahmte niemand nach, auch
nicht den Kritiker und Essayisten Alfred Polgar,
dessen Art zu schreiben er besonders liebte. Roth
vergötterte Polgar geradezu und konnte manchmal,
seinem Idol zuliebe, ausfallend werden. Sie trafen
sich meistens im 'Central' oder im 'Herrenhof' an
einen Stammtisch, lauter prominente Journalisten und
der 'kleine Roth', der es auch einmal werden wollte.
Dort geschah es, daß ein anderer junger Journalist
sich auf den Stuhl setzen wollte, von dem Alfred
Polgar einige Minuten vorher aufstand. Roth fuhr den
jungen Mann an: "Halt! Auf dem Stuhl saß Alfred
Polgar. Die Sitzfläche muß von seinem Hintern noch
warm sein. Bevor Sie sich setzen, küssen Sie den
Stuhl in tiefer Verehrung !" (Géza von Cziffra: Der
heilige Trinker. Erinnerungen an Joseph Roth, S. 43)
"Sie wissen nicht, Sie wissen nicht", sagte Grünhut. "Sie sind
jung. Glauben Sie vielleicht, daß Sie noch zweimal in die Lage
kommen werden, zu sagen: ich fahre weit weg?
Glauben Sie, das Leben ist unendlich? Es ist kurz und hat ein
paar armselige Situation zu verschenken, und die muß man zu
schätzen wissen. Zweimal können Sie sagen: ich will, einmal:
ich liebe, zweimal: ich werde, einmal: ich sterbe. Das ist alles.
Sehen Sie mich an. ich bin gewiß kein beneidenswerter Mann.
Aber ich will nicht sterben. Ich kann vielleicht doch noch einmal
sagen: ich will, oder: ich werde. Keine große Aussicht
vorhanden, aber ich warte." (Joseph Roth: Der stumme
Prophet, S. 47)
Philipp hatte keine besondere Vorliebe für einen Beruf,
er hatte überhaupt keine Liebe. Am bequemsten war ihm
noch die Theologie. Man konnte Aufnahme finden im
Seminar und hatte vor sich ein behäbiges und
unabhängigges Leben. So glitt er denn, als er das
Gymnasium hinter sich hatte, in die Kutte der
Religionswissenschaft. Er packte seine kleinen
Habseligkeiten in einen kleinen Holzkoffer und
übersiedelte in die engbrüstige Stube seiner Zukunft.
Seine Briefen waren selten und trocken wie Hobelspäne.
(...) Er erzählte von seiner Promotion, zeigte sein
Doktordiplom und stand selbst dabei so steif, daß er
aussah wie die steife Papierrolle und seine Kutte mit
dem Zylinder wie eine Blechkapsel. (...) Zeitweilig
verfiel er in einen näselnden, fetten Ton, den er
seinen Lehrern abgelauscht und für seine Bedürfnisse
zugeölt haben mochte. (Joseph Roth: Barbara)
Barbara war 16 Jahre alt. Sie kam zu einem Onkel, einem
dicken Schweinehändler, dessen Hände wie die
Pölsterchen "Ruhe sanft" oder "Nur ein halbes
Stündchen" aussahen, die zu Dutzenden in seinem Salon
herumlagen. Er tätschelte Barbara die Wange,, und ihr
schien es, als kröchen fünf kleine Ferkelchen über ihr
Gesicht. Die Tante war eine große Person, dürr und
mager wie eine Klavierlehrerin. Sie hatte große,
rollende Augen, die aus den Höhlen quollen, als wollten
sie nicht im Kopf sitzen bleiben, sondern rastlos
spazierengehen. Sie waren grünlichhell, von jener
unangenehmen Grüne, wie sie die ganz billigen
Trinkgläser haben. Mit diesen Augen sah sie alles, was
im Hause und im Herzen des Schweinhändlers vorging,
über den sie übrigens eine unglaubliche Macht hatte.
Sie beschäftigte Barbara, "so gut es ging", aber es
ging nicht immer gut. Barbara mußte sich sehr in acht
nehmen, um nichts zu zerbrechen, denn die grünen Augen
der Tante kamen gleich wie schwere Wasserwogen heran
und rollten kalt über den heißen Kopf der Barbara. Als
Barbara 20 Jahre alt war, verlobte sie der Onkel mit
einem seiner Freunde, einem starkknochigen
Tischlermeister mit breiten, schwieligen Händen, die
schwer und masiv waren wie Hobel. Er zerdrückte ihre
Hand bei der Verlobung, daß es knackte und sie aus
seiner mächtigen Faust mit Not ein Bündel lebloser
Finger rettete. Dann gab er ihr einen kräftigen Kuß auf
den Mund. So waren sie endgültig verlobt. (Joseph Roth:
Barbara)
Er war ein ausgezeichneter, prompter und verläßlicher
Buchhalter. Gabriel Steiglecker liebte seinen Beruf.
Die grüne Tinte bevorzugte er vor der blauen und vor
dieser die rote. Aber am liebsten war ihm die violette.
Alle Buchhalter der Welt schrieben Zahlen in schwarzer
Kaisertinte. Gabriel Stieglecker schrieb grundsätzlich
violette Zahlen. Er behauptete, von der violetten Tinte
bestimmt zu wissen, daß sie dauerhafter sei als die
andere und mit einer unerreichbaren Intensität durch
die Poren des Papiers dringe. Ja, es sei sogar
anzunehmen, daß mit violetter Tinte geschriebene Ziffern
noch lange nach dem völligen Zerfall des Papiers wie
transparante Bilder in der Luft fortbeständen. Was die
von Gabriel Stieglecker geschriebenen Ziffern selbst
betrifft, so ist zu bemerken, daß sie niemals mit
andern zu verwechseln waren. Sie hatten persönliche
Note, einen Charakter, waren Individualitäten. Die 3
hatte keinen Bauch, die 2 keinen Buckel, die 7 keinen
Schwanz. Sondern alle Ziffern hatten 'Linie', waren
zart und schlank wie moderne Frauen und konnten an
künstlerischem Schwung nur von Modellzeichenungen in
den neuesten Modezeitschriften übertroffen werden.
(Joseph Roth: Karriere)
Sicherlich würde ihn der Chef, zumindest Herr Reckzügel
junior, in das Chefzimmer rufen. Und das Zimmer, ja,
das war es, was Gabriel eigentlich fürchtete. Es war
eine Doppeltür. Die erste war aus Holz, und die zweite
war gepolstert. Sie erinnerte so von ungefähr an eine
Kassaschranktür, nur war sie lautlos und vornehm. Wenn
man die Tür nur ansah, fühlte man schon weiche
Müdigkeit. Sitzend auf gepolsterten Lederstühlen, war
man in den vorhypnotischen Zustand versetzt, in den man
unbedingt fallen mußte, wenn der Herr Reckzügel
jemanden anredete. (Joseph Roth: Karriere)
Kein Wunder, daß ganz Massachusetts sie kannte. Die
ältliche Miß Lawrence, die flach war wie ein
Dielenbrett, konnte logisch sein, konsequent und
unerbittlich wie ein algebraisches Lehrbuch. Niemand
wagte mit ihr zu diskutieren. Mit ihrer haarscharfen
Logik spaltete sie jeden Gegner in zwei Hälften von
wunderbarer Ebenmäßigkeit. - Die noch junge, aber
lederne Miß Esther Smith kannte alle Denker dreier
Jahrhunderte auswendig und goß Bottiche von zwingenden
Zitaten über die Köpfe ihrer Feinde, daß sie in die
Knie sanken und um Gnade flehten. - Miß Ethel Fisher,
die Tochter des Wursthändlers Fisher, war gefürchtet
wegen ihrer geradezu übermännlichen Grobheit. Ihre
Worte waren wuchtig und klotzig wie die Hämmer, mit
denen die Arbeiter ihres Vaters die Pferdehäute zu
Wurst faschiertem. Aber was waren sie alle gegen die
übernatürlichen Eigenschaften der Miß Sylvia! Miß
Sylvia war von einer siegverheißenden Glorie umstrahlt.
Von ihrem Wesen ging Sieg aus. Sie atmete Sieg. (Joseph
Roth: Das Kartell)
Rührung überfällt uns in der klaren Nachtluft, wenn die
Sehnsucht aus den blauen Gründen zu uns kommt und am
Fenster der Pfiff einer weitrollenden Lokomotive
hängenbleibt, auf dem Bürgersteig gegenüber
liebesdurstig eine Katze schleicht, in einem
Kellerfenster verschwindet, hinter dem der Kater
lauert. Groß und sternenreich ist der Himmel über uns,
zu hoch, um gütig zu sein, zu schön, um nicht einen
Gott zu erhalten. Die nahen Kleinigkeiten und die ferne
Ewigkeit haben einen Zusammenhang, und wir wissen
nicht, welchen. Vielleicht wüßten wir ihn, wenn die
Liebe zu uns käme; sie ist mit den Sternen verwandt und
mit dem Schleichen der Katze, mit dem Pfiff der
Sehnsucht und mit der Größe des Himmels. (Joseph Roth:
Der blinde Spiegel)
Ich war um jene Zeit, in der ich das Folgende erlebt
habe, nicht reich und nicht arm. Es ging mir nicht so
schlecht, daß ich etwa im Anblick reicher Häuser und
Menschen dem Neid anheimgefallen wäre, den man den
Trost der Armen nennen könnte. Es ging mir andererseits
nicht so gut, daß ich den Anblick des Reichtums
gleichgültig hätte bleiben können. Ich befand mich
vielmehr gerade in jener Situation, in der man die Nähe
des Reichtums freiwillig aufsucht, in einer Art
geheimer uhnd sorgfältig vor sich selbst verschwiegener
Hoffnung, daß man einmal oder sogar bald selbst sich
seiner wird bedienen können. (...) Ich fand ein kleines
Hotel, das sich von all den andern, die ich früher
bewohnt hatte, nur dadurch unterschied, daß es in einem
reichen Viertel stand. Meine Nachbarn waren
herabgekommene Reiche, welche die Nähe des Geldes nicht
aufgeben wollten, weil sie offenbar glaubten, sie
brauchten in einem geeigneten Augenblick weniger Zeit
und Umwege, es wieder zu erreichen. (Joseph Roth: Das
reiche Haus gegenüber)
Es war Sitte in unserem Haus, während des Essens die
Speisen zu loben, auch, wenn sie mißraten waren, und
von nichts anderem zu sprechen. Auch durfte das Lob
keineswegs etwa banal sein, eher schon kühn und weit
hergeholt. So sagte ich zum Beispiel, das Fleisch
erinnerte mich an ein ganz bestimmtes, das ich von
sechs oder acht Jahren, ebenfalls an einem Dienstag,
gegessen hätte, und das Dillenkraut sei geradezu, heute
wie damals, mit dem Beinfleich vermählt. Völlige
Sprachlosigkeit spielte ich vor den Zwetschgenknödeln:
"Bitte, genau die gleichen, sobald ich zurück bin",
sagte ich zu Jacques. "Wie befohlen, junger Herr!"
sagte der Alte. (Joseph Roth: Die Kapuzinergruft, S.
79)
Wir gewöhnten uns alle an das Ungewöhnliche. Es war ein
hastiges Sich-Gewöhnen. Gleichsam ohne es zu wissen,
beeilten wir uns mit unserer Anpassung, wir liefen
geradezu Erscheinungen nach, die wir haßten und
verabscheuten. Wir begannen unsern Jammer sogar zu
lieben, wie man treue Feinde liebt. Wir vergruben uns
geradezu in ihn. Wir waren ihm dankbar, weil er unsere
kleinen besonderen persönlichen Kümmernisse verschlang,
er, ihr großer Bruder, der große Jammer, demgegenüber
zwar kein Trost standhalten konnte, aber auch keine
unserer täglichen Sorgen. Man würde meiner Meinung nach
auch die erschreckende Nachgiebigkeit der heutigen
Geschlechter gegenüber ihren noch schrecklicheren
Unterjochern verstehen und gewiß auch verzeihen, wenn
man bedächte, daß es in der menschlichen Natur gelegen
ist, das gewaltige, alles verzehrende Unheil besonderen
Kummer vorzuziehen. Das ungeheuerliche Unheil
verschlingt rapide das kleine Unglück, das Pech
sozusagen. Und also liebten wir in jenen Jahren den
ungeheuren Jammer. (Joseph Roth: Die Kapuzinergruft, S.
143)
Nach allem, was Menschen voneinander wissen können,
wäre es unmöglich gewesen, Fallmerayer ein
ungewöhnliches Geschick vorauszusagen. Dennoch
erreichte es ihn, es ergriff ihn - und er selbst schien
sich ihm sogar mit einer gewissen Wollust auszuliefern.
Seit 1908 war er Stationschef. Er heiratete, kurz
nachdem er seinen Posten auf der Station L. an der
Südbahn, kaum zwei Stunden von Wien entfernt,
angetreten hatte, die brave und ein wenig beschränkte,
nicht mehr ganz junge Tochter eines Kanzleirats aus
Brunn. Es war eine "Liebesehe" - wie man es zu jener
Zeit nannte, in der die sogenannten "Vernunftsehen"
noch Sitte und Herkommen waren. Seine Eltern waren tot.
Fallmerayer folgte, als er heiratete, immerhin einem
sehr maßvollen Zuge seines maßvollen Herzens,
keineswegs dem Diktat seiner Vernunft. Er zeugte zwei
Kinder - Mädchen und Zwillinge. Er hatte einen Sohn
erwartet. Es lag in seiner Natur begründet, einen Sohn
zu erwarten und die gleichzeitige Ankunft zweier
Mädchen als eine peinliche Überraschung, wenn nicht als
eine Bosheit Gottes anzusehen. (Joseph Roth:
Stationschef Fallmerayer)
Franz Xaver erhob sich. Er sah in der Mitte der
länglichen Bar eine größere, heitere Gesellschaft. Sein
erster Blick verriet ihm, daß alle Typen, die er haßte,
obwohl er bis jetzt keinem einzigen ihrer Vetreter
näher begegnet war, an jenem Tisch vertreten waren:
blondgefärbte Frauen in kurzen Röcken und mit
schamlosen (übrigens häßlichen) Knien, schlanke und
biegsame Jünglinge von olivenfarbenem Teint, lächelnd
mit tadellosen Zähnen wie die Propagandabüsten mancher
Dentisten, gefügig, tänzerisch, feige, elegant und
lauernd, eine Art tückischer Barbiere; ältere Herren
mit sorgfältig, aber vergeblich verheimlichten Bäuchen
und Glatzen, gutmütig, geil, jovial und krummbeinig,
kurz und gut: eine Auslese jener Art von Menschen, die
das Erbe der untergegangenen Welt vorläufig
verwalteten, um es ein paar Jahre später an die no ch
moderneren und mörderischen Erben mit Gewinn abzugeben.
(Joseph Roth: Die Büste des Kaisers)
Dennoch kann ich nicht umhin, zu erzählen, daß ich meine Achtung vor
Alexander Perlefter zum ersten Mal verlor, als ich von dem großen
mazedonischen König Alexander hörte, der den gordischen Knoten mit
dem Schwerte zerhieb, und als ich mir vorstellte, daß der Herr
Perlefter etwas ähnliches niemals getan hätte. Im Gegenteil:
Alexander Perlefter liebte, wie ich schon einmal erzählt habe, nicht
die entschiedenen Handlungen und die unwiderruflichen Entschlüsse.
Er ging nicht gerne in jene Gegenden, aus denen keine geraden und
bequemen Wege zurückführen. Er liebte es, auf den Brücken zu
verweilen, die das Hier mit dem Dort verbinden und demjenigen, der
sie betritt, es gestatten, sich weder für das Hier noch für das Dort
zu entscheiden. Alexander Perlefter ging immer über Brücken. Alles,
was er erreichte, hatte er seiner vorsichtigen Natur zu verdanken.
Er war das Resultat seiner eigenen Erfahrungen. Er blieb vorsichtig.
(Joseph Roth: Perlefter. Fragmente und Feuilletons aus dem Nachlaß)
Die körperliche Größe Perlefters war unbestimmt. Er konnte ganz
klein gewachsen scheinen und wiederum sehr groß. Wenn er unglücklich
war, aber auch, wenn er vorgab, es zu sein, sank er in sich
zusammen, wie ein Körper aus schlaffem Gummi. Er konnte manchmal auf
einem kleinen Kinderstuhl Platz finden und ein anderes Mal einen
großen ledernen Klubsessel ausfüllen. (...) Er hatte einen runden
und kahlen Kopf und über dem Nacken eine kleine glänzende Beule, so,
daß es aussah, als hätte das Gehirn in seiner natürlichen Schale
keinen Platz gefunden und sich eine Art Nebengelaß selbst
geschaffen. (Joseph Roth: Perlefter. Fragmente und Feuilletons aus
dem Nachlaß)
Perlefter besaß trotz allem eine Art Majestät, wie den meisten
Menschen, denen es gut geht. Es war nicht die Majestät der Größe,
aber einfach die des Wohlergehens. Er sah ganz unschuldig aus, wenn
er sich freute, wie ein pauspäckiges Kind. Und dennoch schlummerte
schon die Bitterkeit in seiner Freude. Und ebenso, wie er die
entschiedenen Taten nicht liebte, hatte er keine entschiedenen
Empfindungen. Wenn er sich freute, machte er sich zugleich Sorgen.
Wenn er tief bekümmert war, hoffte er schon. (Joseph Roth:
Perlefter. Fragmente und Feuilletons aus dem Nachlaß)
Der Redakteur Philippi war die letzte Instanz, und er war es mit
Recht. Denn er bekleidete bei einem der größten Blätter die Stelle
eines Handelsredakteur. Niemand konnte ihm etwas nachsagen. Allen
konnte er etwas nachsagen. Dennoch tat er es nicht oft. Er sah sehr
dumm aus und war sehr schlau. Er trug einen kleinen gepflegten
Spitzbart von unbestimmter, ein bißchen grünlicher Farbe. Seine
großen sanften braunen Augen standen wie tote lackierte Kugeln. Er
sprach nur, wenn er gefragt wurde. Sommer und Winter trug er
Gummischuhe. Ein Zwicker baumelte an einem dünnen Bändchen über der
geblümten Weste mit Perlmutterknöpfchen. Er saß gerne am äußersten
Stuhlrand. Es war, als wollte er am Sitz sparen. Er war ein
Junggeselle. Man munkelte etwas von einem intimen Verhältnis mit der
Wirtschafterin und zwei unehelichen Söhnen. Dieser Handelsredakteur
war unbedingt geheimnisvoll. Man hätte ihn bestimmt nicht geliebt,
wenn man ihn nicht so oft gebraucht hätte. Ja, man liebte ihn
wahrscheinlich gar nicht, aber man brauchte ihn sehr oft. Er hatte
"Einfluß". Er war die vornehmste Bekanntschaft Perlefters. Man gab
ihm oft und laut den Titel "Redakteur", der gar kein Titel war. Oder
man tat, als wüßte man nicht, daß er nicht Doktor war und nannte ihn
Herr Doktor. Er lehnte beide Titel ab. Er lächelte dumm, mit seinen
glotzenden Kugelaugen, aber seiner Dummheit war nicht zu trauen. Man
sagte von ihm, daß er ein Ehrenmann sei. Er machte keine Geschäfte.
Er lebte wirklich sehr bescheiden, er trug immer die Gummischuhe, um
Stiefel zu sparen und weil seiner Meinung nach die Straßen so
schmutzig waren. (Joseph Roth: Perlefter. Fragmente und Feuilletons
aus dem Nachlaß)
Ja, es ist sogar mir selbst rätselhaft geblieben, woher Perlefter
den Mut nahm, Vergnügen zu suchen, die eigentlich Gefahren
bedeuteten und, was noch schlimmer ist: sich Gefahren auszusetzen,
die Geld kosteten. Denn sie kosteten Geld. Perlefter war keineswegs
so verführerisch, daß sich ihm die Frauen an den Hals geworfen
hätten, nein! Perlefter mußte alles weit über den Wert bezahlen. Und
dennoch scheint es in der menschlichen Natur begründet zu sein, daß
ihr Trieb zur Liebe stärker ist, als ihr Trieb zur Sparsamkeit.
Wahrscheinlich verlieren selbst so ängstliche Menschen wie Perlefter
jede Angst, wenn die Stunde ihrer Leidenschaft geschlagen hat. Und
gewiß ist die Tugend eines Mannes nicht seine verläßlichste
Begleiterin. Das ganze kunstvolle und mühselige Gebäude der
Sittlichkeit stürzt in einer einzigen Stunde zusammen. Wunderbar ist
nur, wie leicht es sich wieder zusammenfügen und erheben kann.
Perlefter hatte oft jene Stunden, die man "schwache" nennt und die
eigentlich seine stärksten waren. Perlefter hatte Verlangen nach
Frauen. Zum Glück gab es in der Welt Frauen, die Verlangen nach Geld
hatten. Und zum Glück besaß Perlefter Geld. (Joseph Roth: Perlefter.
Fragmente und Feuilletons aus dem Nachlaß)
Die Familie war überzeugt, daß Perlefter schwer arbeitete, daß er
nicht schlief, daß er unaufhörlich um das tägliche Brot kämpfte, daß
ihm jede Ausgabe neue Sorgen machte. Deshalb machte die Familie
keine einzige Ausgabe ohne Sorgen. Es gab in diesem Hause keine
Freude, an deren Seite nicht nicht der Gram stand; kein Fest ohne
Schmerz; keinen Geburtstag ohne Krankheit; keinen Wein ohne Wermut.
Man kochte, buk, schaffte Wäsche und Kleider an, Möbel, Teppiche
und Schmucksachen --, aber nichts von all den Dingen in Ausmaßen,
die wenigstens eine leise Ahnung von Überfluß hätten aufkommen
lassen. Es reichte niemals und nirgends. Es gab einen guten Kuchen,
aber in so dünnen Scheiben, daß man seine Qualität gar nicht
schmeckte. Man kaufte gutes Fleisch und zerhackte es in winzige
Portionen. Man kochte eine Suppe, die Aufsehen erregt hätte, wenn
man dazu gekommen wäre, sie zu kosten. (Joseph Roth: Perlefter.
Fragmente und Feuilletons aus dem Nachlaß)
Die Kurse, zu denen ich mich hingezogen fühlte,
verkörperten in typischer Weise all das, was der Markt
als wertlos verachtete, und da lebte ich nun inmitten
seiner begeistertsten Anhänger - der unrebellischen
Söhne und Töchter des Amerika des Stats quo zu Beginn
der Ära Eisenhower - in der Gewißtheit, daß es der
Geist war und nicht das Geld, was dem Leben Sinn gab,
und studierte mit tödlichem Ernst
Literaturwissenschaft, Modernes Denken, Shakespeare für
Fortgeschrittene und Ästhetik. (Philip Roth: Tatsachen.
Autobiografie eines Schriftstellers, S. 78)
Meine Mutter glaubte, daß sich bei Sandy und mir die
künstlerischen Neigungen aus jener genetischen Anlage
herleiteten, die die einsame Laufbahn meines Onkels
Mickey bestimmt hatte, und soweit ich das beurteilen
kann, hatte sie recht. Als Frau von ausgeprochen
häuslicher Erfahrung und wohltuender Weltfremdheit,
ermutigend selbstsicher bis an die äußersten Grenzen
unserer gesellschaftlicher Welt, jedoch jenseits davon
bei aller Achtbarkeit zunehmend unsicher, war meine
Mutter uneingeschränkt stolz auf meine ersten
veröffentlichten Erzählungen. Sie hatte keine
Vorstellung davon, daß an ihnen etwas ernstlich
Anstößiges sein könnte, und wenn sie in der jüdischen
Presse auf Artikel stieß, in denen angedeutet wurde,
daß ich ein Verräter sein, verstand sie nicht, wovon
meine Verleumder überhaupt sprachen. Als sie einmal im
Zweifel war - nachdem eine herabsetzende Bemerkung sie
erschütterte hatte, die ihr bei einer Hadassah-
Versammlung zu Ohren gekommen war -, fragte sie mich,
ob es möglicherweise wahr sein könne, daß ich ein
Antisemit sei, und als ich lächelte und verneinend den
Kopf schüttelte, war sie völlig zufriedengestellt.
(Philip Roth: Tatsachen. Autobiografie eines
Schriftstellers, S. 143f.)
Trotz alldem, was wir Juden nicht essen durften - außer
im chinesischen Restaurant, wo das Schweinefleisch als
blinder Passagier in der Frühlingsrolle daherkam, und
an der Jersey-Küste, wo die Muscheln sich ungesehen in
den Tiefen der Chowder-Suppe tarnten - trotz all
unserer Tabus und Verbote und der Selbstverleugnung,
der wir uns rühmten, pulsierte durch unser tägliches
Leben doch ein entschieden nicht zu unterdrückendes
Ungestüm, das sogar den quälenden Verdruß, in die
Hebräisch-Schule gehen zu müssen, während man doch "auf
dem Platz" sein und Left End und First Base hätte
spielen können, in ein unvorhersehbar paradoxes Theater
verwandelte. (Philip Roth: Tatsachen. Autobiografie
eines Schriftstellers, S. 146)
Was immer es sonst für meine Generation bedeutet haben
mag, als Jude in Amerika aufzuwachsen - woran ich mich
aus meiner Zeit in der Hebräisch-Schule noch erinnern
kann, ist, daß es meist unterhaltsam zuging. Ich glaube
nicht, daß ein englisches jüdisches Kind unbedingt so
empfunden hätte, und es versteht sich, daß östlich von
England als Jude aufzuwachsen für Millionen jüdischer
Kinder tragisch war. Und das verstanden wir offenbar,
auch ohne daß man es uns hätte sagen müssen. (Philip
Roth: Tatsachen. Autobiografie eines Schriftstellers,
S. 147)
Menschen, die zivilisiert sind, lassen sich immer dazu
bereden, irgendwie zu sein, wie sie gar nicht sein
wollen, und zwar von Menschen, die nicht zivilisiert
sind. Menschen sind schrecklich schwach. Ich weiß, es
ist eine bequeme analytische Formulierung, daß man
nichts tut, ohne es zu wollen. Doch dabei übersieht man
die Tatsache, daß Menschen eben auch schwach sind und
sich von irgendeinem Punkt an Dinge einfach gefallen
lassen. Ich fürchte, ich bin eine Autorität auf diesem
Gebiet. (Philip Roth: Tatsachen. Autobiografie eines
Schriftstellers, S. 224)
"Manchmal glaube ich, daß Männer Frauen gegenüber eine
tiefsitzende Neurose haben", sagte Maria zu mir. "Es
ist eher eine Art von Verdacht, ich würde kein Geld
drauf wetten, aber ich glaube - verzeih den kindischen
Charakter dieser Bemerkung-, aber dadurch, daß ich alle
möglichen Bücher gelesen habe, und aufgrund von
Erfahrung habe ich tatsächlich das Gefühl, Männer haben
vor Frauen ein bißchen Angst. Und daß sie sich deshalb
so verhalten, wie sie sich verhalten." (Philip Roth:
Tatsachen. Autobiografie eines Schriftstellers, S. 227)
Aharon repräsentierte für mich jemanden, der in
seiner Reifezeit von der schlimmstmöglichen
Grausamkeit erschüttert worden war und es trotzdem
geschafft hatte, seine Gewöhnlichkeit
wiederzuerringen, und zwar durch seine
Außergewöhnlichkeit; er war jemand, dessen Sieg
über die Vergeblichkeit und das Chaos und dessen
Wiedergeburt als ein harmonischer Mensch und
bedeutender Schriftsteller eine Leistung darstellten,
die für mich an das Wundersame grenzte, und das um
so mehr, als sie aus einer inneren Kraft erwuchs, die
für das bloße Auge ganz und gar unsichtbar war.
(Philip Roth: Operation Shylock. Ein Bekenntnis, S.59)
Ihre unmittelbare physische Realität war so stark und
erregend - und verwirrend -, daß es fast so war, als
säße man dem Mond gegenüber am Tisch. Sie war
etwa fünfunddreißig Jahre alt, eine sinnlich gesund
aussehende Frau von kreatürlicher Weiblichkeit, und
es wäre nicht unpassend gewesen, ihr um den festen,
rosigen Hals das Band mit dem ersten Preis der
Landwirtschaftsmesse zu legen - das war eine
biologische Siegerin, das war jemand, der gut
beieinander war. (Philip Roth: Operation Shylock. Ein
Bekenntnis, S.97)
Während der Arbeit zu pfeifen, war in seiner Familie
sehr beliebt gewesen, und sein Vater hatte, nachdem
ein Jahrzehnt lang "Bei mir bist du schön" sein
Lieblingssong gewesen war, jahrelang "Zena, Zena"
gepfiffen. "Dieses Lied", erklärte Dr. Zuckerman
seiner Familie, "wird mehr Sympathie für die Sache
der Juden wecken als sonst etwas in der Geschichte
der Menschheit." Sogar die Plattenaufnahme hatte
sich der Fußpfleger besorgt - so ungefähr die fünfte
Schallplatte seines Lebens. Nathan, damals
Collegestudent im zweiten Jahr, verbrachte die
Weihnachtsferien zu Hause, und jeden Abend wurde
nach dem Essen "Zena, Zena" gespielt. "Das ist das
Lied", sagte Dr. Zuckerman, "das den Staat Israel auf
die Landkarte bringen wird." Unglücklicherweise hatte
Nathan in seinem "Humanities"-Kursus gerade etwas
über den Kontrapunkt gelernt, und als Dr. Zuckerman
den Fehler beging, seinen ältesten Sohn jovial zu
fragen, wie ihm denn diese Musik gefiele, erhielt er
die Antwort, Israel Zukunft werde durch die
internationale Machtpolitik bestimmt und nicht
dadurch, daß man die Gojim mit "jüdischem Kitsch"
füttere. (Philip Roth: Zuckermans Befreiung, S. 149)
Henry war der brave Sohn, aber billig war ihn das
nicht zu stehen gekommen - jedenfalls neigte Nathan
zu dieser Meinung. Von allen Männern in der Familie
Zuckerman war Henry der größte, der dunkelste und
der bei weitem attraktivste - ein dunkelhäutiger,
viriler Wüsten-Zuckerman, dessen Gene (was in
dieser Sippe einzigartig war) sich anscheinend
schnurstracks von Judäa nach New York begeben
hatten, ohne den Umweg über die Diaspora zu
machen. (Philip Roth: Zuckermans Befreiung, S. 239)
Mrs. Zuckerman schwankte, als sie am Grab stand,
aber da sie während der Krankheit ihres Mannes
abgemagert war und jetzt nur noch knapp hundert
Pfund wog, war es für Henry und Nathan kein
Problem, sie auf den Beinen zu halten, bis der Sarg
hinabgesenkt worden war und sie alle vor der
Gluthitze in den Schatten fliehen konnten. Hinter sich
hörte Zuckerman Essie zu Mr. Metz sagen: "All diese
Worte, all diese Grabreden, all diese Zitate - ganz
gleich, was sie aussagen, es ist eben doch endgültig
vorbei." Als Essie vorhin aus der Limousine gestiegen
war, hatte sie Nathan ihren Kommentar zu der letzten
Fahrt des Mannes im Leichenwagen gegeben: "Man
fährt spazieren und bekommt nichts von der Gegend
zu sehen." Ja, Essie und er waren diejenigen, die
einfach alles aussprachen. (Philip Roth: Zuckermans
Befreiung, S. 246)
Wie kann mein Verlangen nach diesem Schoß, der da
so aufreizend auf den Mund des heulenden Mobs
zuzuckt, wie kann mein Verlangen nach diesen langen
und knabenhaft kräftigen Beinen, die beim
Brückemachen kaum merklich zittern, während ihr
seidiges Haar (dem sie ihren Spitznamen verdankt)
von hinten über den Boden der Turnhalle fegt - wie
kann mein Verlangen, das auch noch auf die leisesten
Pulsschläge ihres Seins gerichtet ist, 'bedeutungslos'
oder 'trivial', 'unter' meiner oder ihre Würde sein.
(Philip Roth: Professor der Begierde, S. 34)
In diese Richtung gehen auch meine Argumente
gegenüber Silky persönlich, und mit ihrer Hilfe hoffe
ich mit der Zeit (ach, der Zeit! diese stundenlangen
Streitgespräche, die man hätte nutzen können, sich
gegenseitig zu einem ozeanischen Orgasmus
hinaufzusteigen!) den Weg freizumachen für jene
durchdringenden erotischen Freuden, die ich immer
noch nicht kennengelernt habe. Statt dessen muß ich
Logik, Witz, Aufrichtigkeit und - jawohl - auch
literarisches Wissen, muß ich jeden vernünftigen
Überredungsversuch wie letzten Endes auch alle Würde
hintanstellen, muß ich zuletzt erbärmlich und verzagt
wie ein streunender Köter bei einer Hungersnot vor
Silky winseln, bis diese, die vermutlich noch nie zuvor
jemand so unglücklich gesehen hat wie mich, mir
gestattet , Küsse auf ihr nacktes Zwerchfell
herabregnen zu lassen. (Philip Roth: Professor der
Begierde, S. 34)
Obgleich mein Ordinarius, Arthur Schonbrunn, ein
gutaussehender, außerordentlich soignierter Mann
mittlerer Jahre ist, der über einen nie versagenden
Charme und eine stets gleichbleibende
Gewissenhaftigkeit verfügt - das gewandteste und
anmutigste Gesellschaftstier, das ich je erlebt habe -
ist seine Frau Deborah jemand, für den ich mich nie
recht habe begeistern können, nicht einmal, als ich
Arthurs Lieblingsstudent war und sie häufig die sehr
warmherzige und großzügige Gastgeberin spielte. In
jenen ersten Jahren in Stanford verbrachte ich sogar
einen bestimmten Teil meiner Zeit damit, mir
vorzustellen, was einen Mann von so betonter
Liebenswürdigkeit, der so unermüdlich und aus den
hehrsten Prinzipien heraus gegen die sich häufenden
politischen Angriffe auf den Lehrstoff der Universität
Front machte - was nur einen so gewissenhaften
Mann an eine Frau binden könne, deren
Lieblingsbeschäftigung in der Öffentlichkeit es war,
die Rolle einer etwas überkandidelten Dame zu
spielen, deren bestrickender Charme in
rücksichtsloser und frecher 'Offenheit' bestand.
(Philip Roth: Professor der Begierde, S. 149)
Obgleich Claire den Hörer auf der anderen Seite des
Küchentisches ans Ohr hält, kann ich verstehen, was
als nächstes kommt. Das kommt daher, weil mein
Vater an Ferngespräche genauso herangeht wie an so
viele andere Dinge, die über seinen Horizont gehen -
in dem Glauben nämlich, daß die elektrischen Wellen,
die seine Stimme hierhertragen, es ohne seine
rückhaltlose und uneingeschränkte Unterstützung nicht
schaffen würden. Nicht ohne harte Arbeit. (Philip
Roth: Professor der Begierde, S. 276)
Wenn die Kundinnen sie darum baten, legten die Mädchen
probeweise einzelne Schmuckstücke an und führten sie ihnen
vor, und wenn wir Glück hatten, kauften die Frauen am Ende
etwas. Wie mein Vater zu sagen pflegte: Wird ein
Schmuckstück von einer hübschen jungen Frau getragen,
bilden andere Frauen sich ein, sie sähen mit diesem Schmuck
auch so aus. Manche Hafenarbeiter, die bei uns Verlobungs-
oder Eheringe für Freundinnen kaufen wollten, waren so
verwegen und nahmen die Hand einer Verkäuferin, um den
Stein aus der Nähe zu begutachten. Auch mein Bruder hielt
sich gern in der Nähe dieser Mädchen auf, und das schon
lange bevor er auch nur ahnen konnte, was ihm daran so
besonders gefiel. (Philip Roth: Jedermann, S. 15)
Sein Vater war in den letzten zehn Jahren seines Lebens
fromm geworden, und seit er im Ruhestand lebte und seine
Frau verloren hatte, hatte er sich angewöhnt, mindestens
einmal täglich die Synagoge zu besuchen. Lange vor Beginn
seiner letzten Krankheit hatte er den Rabbiner gebeten, die
Beisetzungsfeier auf hebräisch abzuhalten, als sei das
Hebräische die stärkste Antwort, die man dem Tod geben
könne. (Philip Roth: Jedermann, S. 53)
Er hatte Kramer, der in einem Slum bei Neptune
aufgewachsen war, noch gut in Erinnerung: ein stämmiger,
kahlköpfiger, eigensinniger Mann mit einem ausgeprägt
forschen Gang. (...) ... bis ihn ein Hirntumor niederstreckte und
er sich von seiner Frau im Rollstuhl durchs Dorf schieben
lassen mußte. Selbst noch im Ruhestand hatte er das
Gebaren eines allmächtigen Mannes an den Tag gelegt, der
sein ganzes Leben einer wichtigen Mission gewidmet hatte,
doch in diesen elf Monaten vor seinem Tod schien er
vollkommen verwirrt, betäubt von seiner Schwächung, betäubt
von seiner Hilfslosigkeit, betäubt von der Vorstellung, daß der
Sterbende, der da gelähmt im Rollstuhl saß - ein Mann, der
nicht mehr in der Lage war, einen Tennisball zu schmettern,
ein Segelboot zu steuern, ein Flugzeug zu fliegen oder auch
nur eine Seize des "Monmouth County Bugle" zu redigieren -,
seinen Namen trug. (...) Viele Leute kannten Kramer und
bewunderten ihn, wollten ihm auf der Straße hallo sagen und
sich nach seinem Befinden erkundigen, aber oft mußte seine
Frau abweisend den Kopf schütteln, wenn er sich wieder
einmal in der tiefsten Verzweiflung befand - der ätzenden
Verzweiflung eines Mannes, der einst hochgemut im
Mittelpunkt von allem gestanden hatte und sich jetzt im
Mittelpunkt von nichts befand. Der jetzt selbst ein Nichts war,
nichts als eine unbewegliche Null, die zornig auf die Gnade der
absoluten Auslöschung wartete. (Philip Roth: Jedermann, S.
86f.)
Nach allem, was er ihr durch seinen Verrat an Phoebe angetan
hatte, wollte sie ihn immer noch lieben. So war sie schon seit
ihrem zehnten Lebensjahr - rein und vernünftigt, besudelt
allein von ihrem verschwenderischen Edelmut, arglos jedlichen
Kummer vermeidend, indem sie die Fehler aller, an denen ihr
etwas lag, ignorierte und die Liebe über alles stellte. Indem sie
Vergebung zu Ballen packte wie Heu. (Philip Roth:
Jedermann, S. 103)
Als Nancy sich nach seiner Arbeit erkundigte, erklärte er ihr, er
habe "eine irreversible ästhetische Vasektomie" hinter sich.
"Irgend etwas wird dich schon wieder in Gang bringen." sagte
sie und quittierte seine hyperbolische Ausdrucksweise mit
einem absolvierenden Lachen. Sie war durchdrungen vom
freundlichen Wesen ihrer Mutter, von der Unfähigkeit, sich von
den Bedürfnissen eines anderen abzuwenden, von der
tagtäglichen staubgeborenen Lebensfreude, die er
katastrophal unterschätzt und weggeworfen hatte -
weggeworfen, ohne auch nur ansatzweise zu erkennen,
worauf er in der Folge alles verzichten mußte. (Philip Roth:
Jedermann, S. 102)
Sie ist eine von denen, die impressionistische Kunst
überwältigend finden, doch einen kubistischen Picasso
muß sie lange und eingehend - und stets mit einem
Gefühl qualvoller Verwirrung - betrachten und sich die
allergrößte Mühe geben, ihn zu verstehen. Sie wartet
auf die überraschende neue Empfindung, den neuen
Gedanken, das neue Gefühl, und wenn diese sich nicht
einstellen, verurteilt sie sich dafür, daß sie unfähig
ist, daß es ihr mangelt... mangelt an was? Sie
verurteilt sich dafür, daß sie nicht einmal weiß, woran
es ihr mangelt. Beim Anblick eines auch nur entfernt
modernen Kunstwerks ist sie nicht nur verwirrt, sondern
auch enttäuscht von sich selbst. Sie hätte so gerne,
daß Picasso für sie bedeutsamer wäre, daß er vielleicht
ihr Leben verändern würde, doch vor dem Proszenium des
Genies hängt ein Schleier, der ihr die Sicht nimmt und
ihre Verehrung ein bißchen auf Distanz hält. Sie gibt
der Kunst in all ihren Erscheinungsformen weit mehr,
als sie zurückbekommt - eine Ernsthaftigkeit, die nicht
ohne einen gewissen ergreifenden Reiz ist. (Philip
Roth: Das sterbende Tier, S. 12)
Die Eifersucht. Die Ungewißheit. Die Angst, sie zu
verlieren, obgleich ich gerade auf ihr lag. Es waren
Obesessionen, wie ich sie in meinem an Erfahrung
reichen Leben nie gekannt hatte. Bei Consuela geschah,
was bei keiner anderen geschehen war: Mein
Selbstvertrauen sackte beinahe sofort in sich zusammen.
Wir gingen also miteinander ins Bett. Es passierte ganz
schnell, weniger wegen meiner Berauschtheit als
vielmehr wegen ihres Mangels an Komplexität. (Philip
Roth: Das sterbende Tier, S. 35)
Carolyn war noch immer schön: ein strahlendes Gesicht
mit ausgeprägten Zügen, auch wenn ihre ziemlich großen
Tränensäcke unter den blaßgrauen Augen inzwischen
pergamenten und faltig waren, und zwar, wie ich
vermutete, nicht so sehr wegen ihrer chronischen
Schlaflosigkeit als vielmehr infolge jener Häufung von
Enttäuschungen, wie man sie in den Biographie
erfolgreicher berufstätiger Frauen in den Vierzigern,
deren Abendessen meist in Plastik verpackt von einem
Immigranten an die Tür ihrer Manhattaner Wohnung
geliefert wird, nicht selten findet. (Philip Roth: Das
sterbende Tier, S. 55f.)
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