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Allgemeine Fundstücke / [R_1]
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Als ein unendlich angenehmer, wenn auch etwas verbissener
junger Mann ging ich aus seinem Prozessuarium hervor, alt
an Erfahrung, ein nicht übler Schachspieler, fähig, den
stärksten Punsch zu brauen und zu vertragen. Daß mir sehr
viele Leute aus dem Weg gingen, ergötzte mich mehr, als
es mich kümmerte; ich hatte mir vorgenommen, nicht allzu
zuvorkommend gegen die Menschheit zu sein, und darf mit
gutem Gewissen sagen, daß sich niemand in dieser Hinsicht
über mich zu beklagen haben wird. (Wilhelm Raabe: Drei
Federn, S. 18)
Sie hatte ein Herz voll Liebe und wußte damit nirgend hin;
sie liebte die Blumen, und ihr Vater kaufte dieselben nur
bündelweise, sackweise, getrocknet, zerrieben oder
zerstampft - sie bekam alles im Leben nur in solcher Form:
das Elternhaus, die Liebe, den Ehestand. Sie versuchte es,
ihr volles Herz dem Jugendfreunde zu geben. (das
schwächste Leben hat eine Epoche, wo es der Welt, welche
es noch nicht genug fürchtet, gegenüber wagt) und
zerschellte damit am Felsen. Sie saß machtlos, mutlos in
eintöniger Arbeitsamkeit in ihrem Winkel; sie konnte sich
nicht wehren, als sie ihre erste Liebe aufgeben sollte; sie
konnte nur in ihr Herz hinein weinen, und das ist viel
schlimmer, als wenn es einem erlaubt ist, sich die Augen
auszuweinen. Verwundet im Innersten, im Innersten
verblutend, zurückgestoßen von allen Seiten, von allen
Seiten belächelt und verhöhnt, wußte sie sich keinen Rat,
und als mein Vater zu ihr kam, da war's zu spät, sie zu
heilen. Das Schicksal kann ganz im stillen, ganz leise, leise,
viel grausamer und erbamungsloser sein als in dem Donner,
mit welchem es dann und wann über die Welt hinfährt. Es
kann sogar grausam sein in der Hülfe, welche es in der
letzten, höchsten Not darbietet oder von ferne zeigt.
(Wilhelm Raabe: Drei Federn, S. 61)
Im Verhältnis zu dem langen, strengen, kampfvollen Leben,
welches mein Teil auf Erden gewesen war und welches ich
nicht in diese Bogen legen kann, wie ein junges Mädchen ein
Vergißmeinnicht in ihrem Stammbuch aufbewahrt, war das,
was heute an diesem zweiten November 1861
geschah, wenig bedeutend; aber es jagte mich aus meinem
letzten Versteck. Zum erstenmal gab ich etwas auf das
Urteil der Welt, zum erstenmal fürchtete ich, mich lächerlich
zu machen; ich erhängte mich nicht. Ob ich diese Furcht vor
dem Urteil anderer Leute auch morgen, übermorgen, in vier
Wochen noch haben würde, war freilich eine zweite Frage.
(Wilhelm Raabe: Drei Federn, S. 179)
Die Last aller dieser Titel und Würden, welche alle,
bis auf die Malteserritterschaft und den Papst
Honorius, dem Chevalier ungemein "plausibel"
erschienen, hat nicht in der vorteilhaftesten Weise auf
den Charakter des Fräuleins eingewirkt. Es fühlt sich
selbstverständlich leicht in seiner Würde gekränkt und
ist etwas zänkischer Natur. (...) In den sonnigeren
Momenten seiner Existenz beschäftigt sich das Fräulein
mit allerhand leider meistens vergeblichen Versuchen,
von der Höhe des Daseins herabzusteigen und sich dem
gemeinen Volke, dem Rest der Menschheit, soweit er
durch die Bauern von Krodebeck vertreten wird, zu
nähern und von "wohltätigem Einfluß" auf ihn zu sein.
Adelaide Klotilde Paula von Saint-Trouin hat das
heftige Bedürfnis, gute Lehren zur unrichtigen Zeit und
an dem unrichtigen Orte zu erteilen, wie sie immer noch
imstande ist, eine Stunde nach Mitternacht plötzlich
die Gitarre am blauen Bande umzuhängen und zum
Entsetzen sämtlicher Bewohner des Lauenhofes zu
beginnen... (...) Die gnädige Frau geht so resolut an
ihre Erbauung wie an ihre Arbeit, bringt einen
merkwürdig scharfen und geraden Blick sonntags in die
Kirche mit und hat häufig nach der Predigt ihrerseits
ihrem frommen Seelenhirten den Text gelesen. Der
Chevalier und das Fräulein sind katholischen
Bekenntnisses, wovon jedoch der Chevalier nie Gebrauch
macht, während das Fräulein sich häufig eines etwas
enzyklopädistischen Anhauches nicht erwehren kann, was
nicht immer vollständig zu ihren Verpflichtungen gegen
den Papst Honorius den Dritten paßt. (Wilhelm Raabe:
Der Schüdderump)
Es war ein ziemlich heißer Tag; aber es war ein schöner
und, sozusagen, nahrhafter Tag. Die Harzberge erhoben
sich lachend im blaugrünen Glanz, über den Feldern und
Wiesen lag jenes Flimmern und Zittern, welches auch
über den Werken der großen Dichter liegt und überall
die Sonne zur Mutter hat. Jeder Bauer verspürte den Tag
wie einen Handschlag auf das Versprechen einer guten
Ernte; jede Bäuerin schwitzte mit Behagen in den Abend
hinein. Selbst aus den Ställen erklang das Gegrunz der
Schweine wie ein mit Mühe unterdrückter behaglicher
Jubel über die schönen Würste und fetten Schinken,
welche die lieben Tiere für den Winterkohl des Jahres
mit Selbstgefühl in der Stille heranbildeten. Gutmütig
heiter sprudelten die Dorfbrunnen trotz der Wärme
hervor, in den Baumgärten wälzten sich die Kinder im
hohen Grase; die Hühner und Gänse gackerten und
schnatterten im Schatten der Ackerwagen und der Hecken.
(Wilhelm Raabe: Der Schüdderump)
Die Frau Adelheid von Lauen war eine kluge Frau, und
wer das bisher nicht merkte, dem wird kaum zu helfen
sein. Sie war vielleicht das klügste Weib auf viele
Meilen in der Runde, jedenfalls aber sämtlichen
Bewohnerinnen Krodebecks und des Lauenhofes doppelt
gewachsen in Hinsicht auf Verstand und den guten
Willen, bemeldeten Verstand zu gebrauchen. Wenn wir sie
nicht stets und überall zuerst hervortreten und frisch
ihre Meinung sagen ließen, so handelten wir dabei ganz
nach ihrem Sinne; denn sie pflegte im Leben keineswegs
eher auf der Bühne zu erscheinen, als bis es Zeit und
ihr Stichwort gefallen war. War dann aber ihre Zeit
wirklich gekommen, so kannte sie jedesmal ihre Rolle
durch und durch, griff munter und tapfer mit beiden
Händen in die jedesmalige Komödie oder Tragödie des
Tages ein und wußte Hindernisse, vor denen andere Leute
ratlos stillstanden, ungemein schnell aus dem Wege zu
räumen. (Wilhelm Raabe: Der Schüdderump)
... erhalten wir leider vor allen Dingen die Gewißheit,
daß der Junker von Lauen nicht der Mann war, um dem
dunkeln Fuhrmann in die Zügel zu fallen und die
Speichen der schwarzen Räder rückwärts zu drehen. Seine
Erziehung hatte ihn nicht fähig gemacht, einer Welt,
wie sie ihm jetzt entgegenstand, mit Aussicht auf
Erfolg den Kampf anzubieten; und unklare Gefühle haben,
selbst in Verbindung mit dem besten Willen, stets sehr
wenig gegen die offenkundigen Geheimnisse des
Erdenlebens ausgerichtet. (Wilhelm Raabe: Der
Schüdderump)
Eine Blume, die sich erschließt, macht keinen Lärm dabei (...).
Auf leisen Sohlen wandeln die Schönheit, das wahre Glück und das
echte Heldentum. Unbemerkt kommt alles, was Dauer haben wird in
dieser wechselnden lärmvollen Welt voll falschen Heldentums,
falschen Glücks und unechter Schönheit. (...)
Viel Glück habe ich wohl nicht gehabt, aber doch dann und wann
mein Behagen, meine Belustigung und meine Ergötzlichkeiten; und
das alles ist gleichfalls ganz natürlich und ziemlich unbemerkt
gekommen und gegangen - so daß es heute in den gegenwärtigen
stillen, nachdenklichen, überlegenden Stunden nichts
Erstaunenswürdigeres für mich gibt als mein unleugbar vorhandenes
Wohlgefallen nicht nur an der Welt, sondern auch immer noch an
mir. (Wilhelm Raabe: Alte Nester)
Ist es möglich, daß die Sonne so hell und der Mensch so sorglos
sein kann? (...) Unser Behagen an dem guten Tage, an der guten
Stunde war wieder einmal auf das Höchste gestiegen, als Jule
Grote den Kopf in die Tür steckte und uns benachrichtigte: "Es
steht ein Mann draußen, der will die jungen Herrschaften
sprechen; und hier ist ein Brief für dich, Just. Der
Landbriefträger von Bodenwerder hat ihn auch eben gebracht; aber
er hatte es eilig, und was darin steht, wußte er nicht." "Hurra!"
riefen Just, Ewald und ich, die Mädchen sahen lächelnd auf und
nach der Tür. Daß uns da etwas Unangenehmes oder gar noch etwas
viel Schlimmeres kommen könne, fiel uns nicht in den Sinn. Die
ganze Welt: die Erde, dieser treffliche Bau, dieser herrliche
Baldachin, die Luft, dies wackere umwölbende Firmament, dies
majestätische Dach, mit goldenem Feuer aufgelegt, - war alles in
zu guter Ordnung, als daß wie uns auch nur den allergeringsten
Riß durch es hätten vorstellen können. (...) "Was ist denn?"
fragten die beiden Mädchen immer noch lachend; doch schon im
nächsten Augenblick hatten sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf den
Vetter Just Everstein zu richten, der mit seinem jetzt geöffneten
Briefe in der Hand wortlos und mit offenem Munde dasaß, dann sich
über die Stirn strich wie einer, dem der kalte Angstschweiß
ausbricht, wieder das Geschreibsel ansah, aber doch nur, als ob
er den Inhalt desselben träume, dann die Hand schwer auf den
Tisch und auf seinen Teller fallen ließ, daß die Scherben davon
nach allen Richtungen hin auseinanderflogen, und zuletzt aufstand
und starr dastand und in jenen Riß blickte, der einem jeden zu
irgendeiner Stunde mehr oder weniger durch sein Universum
gegangen ist.
Was ich dann trieb? Ich war stark im Griechischen und
Lateinischen. Einer Lieblingsneigung wegen hatte ich mich auf das
Auffinden und Nutzbarmachen mittelalterlicher Geschichtsquellen
geworfen, und man hat mich draußen eine Zeitlang
schändlicherweise im Verdacht gehabt, Doktordissertationen aus
vielerlei Fächern im Vorrat anzufertigen, auf Lager zu halten und
sie bei sich bietender Gelegenheit gegen jedes Honorar unter dem
Siegel der Verschwiegenheit (Diskretion selbstverständlich) zu
verschleißen. (...) Aber es nennen sich manche Leute
Geschichtsforscher und edieren Monographien, Volk- und
Völkerhistorien und haben seltsamerweise vor den Quellen gerade
eine so groß Scheu wie vielleicht in ihrer Jugend vor dem
Quellwasser, wenn es am Sonnabendabend zu einer gründlichen
Reinigung ihrer Person verwendet werden sollte. (...) (Wilhelm
Raabe: Alte Nester)
"Die könnte Geschichten aus ihrer Seele erzählen, gegen die wir
beide, Fritz, alle unsere Erlebnisse still zusammenpacken
könnten", flüsterte mir einmal der Vetter zu, mit dem Daumen über
die Schulter auf die soeur ignorantine an dem Fenster hindeutend.
"Was meinst du, wenn die am Jüngsten Gericht ihre auf Erden
verschluckten Tränen auf einmal fließen läßt?!" "Ja, Just", sagte
ich, "aber es läuft alles in einen Strom. Ich kann es dir nicht
sagen, was für einen Damm das letzte Tribunal dagegen aufbauen
wird, um nicht mit Sessel, Bank und grünem Tisch weggeschwemmt zu
werden." (Wilhelm Raabe: Alte Nester)
Wie hülflos die Mehrheit der Menschen eigentlich den
Lebensgeschäften gegenübersteht, erfährt sie dann und wann auch,
wenn sie's mal versucht, anderen zu helfen. Das ist die
ungemütliche Wahrheit, die einem jeden, der von sich selber
schreibt, ganz von selber aus der Feder läuft, wenn er sich nicht
recht zusammennimmt, das heißt mit gehaltenem Nachdruck lügt.
Dachstuben-Philosophen und Wüsten-Anachoreten sollen aber
nichtsdestoweniger auch in Zukunft berechtigt sein, über die
tägliche Witterung und deren Einfluß auf ihre Konstitution zum
allgemeinen Besten so genau als möglich Buch zu führen, um
heiklen persönlichen Kriminationen dadurch schlau aus dem Wege zu
schleichen. (Wilhelm Raabe: Alte Nester)
Suppe zu essen, hatte Frank immer schon als unangenehm
empfunden, man konnte soviel falsch machen dabei, und
wenn man nicht schlürfen durfte, und bei seiner Mutter
durfte man nicht schlürfen, und die Suppe außerdem heiß
war, und bei seiner Mutter war sie immer sehr heiß,
dann mußte man dauernd pusten und das wiederum nicht zu
stark und nicht zu schwach, und den Mund verbrannte man
sich schließlich doch, und das machte ihn immer
aggressiv, das Schlürf-Verbot ist eine der dümmsten
Erfindungen der bürgerlichen Gesellschaft, dachte er,
das macht aggressiv, wiewohl er sich nicht sicher war,
ob es nicht einfach bloß eine Erfindung seiner Mutter
war, da müßte man sich mal erkundigen, dachte er,
während er pustete und löffelte und sich den Mund
verbrannte und sich zugleich mit seiner Mutter
anschwieg, obwohl das vielleicht sowieso in eins
zusammenfällt, die bürgerliche Gesellschaft und die
eigene Mutter. (Sven Regener: Neue Vahr Süd, S. 628)
Die Großmutter blätterte in einem Prachtband, Hitler in
Berchtesgarden, zeigte nur in einer Mundkrümmung das pikierte
Erstaunen eines Laien, der unterm Mikroskop ein ekelerregendes,
wenngleich interessantes Insekt betrachtet: Führer im Berghof,
Führer mit Wolfshund Prinz, Führer mit blondem Dirndl auf dem
Arm, immer vor der Hochzeitsreisen-Landschaft, immer
landesväterliches Lächeln unterm Schnurrbärtchen, Sendungsblick
unter der humoristischen Haartolle. "Wat et nit all jibt", sagte
sie. "Er soll in Berlin gefallen sein", sagte Linkerhand.
(Brigitte Reimann: Franziska Linkerhand)
Nachts erwachte sie von einem unbekannten Schmerz, der stumpfe
Nadeln in ihren Kinderrücken bohrte, und fand einen Blutfleck im
Laken. Zuerst, mit einer Regung von Stolz, dachte sie, daß sie
nun dem Verheißenen Land der Erwachsenen nähergekommen sei; dann
fiel ihr ein, sie müßte es ihrer Mutter sagen, weil es sich,
Familienknigge, so gehörte, sah schon nönnisch gesenkte Lider und
Runzeln angewiderter Dezenz auf der Nase, müßte sich anvertrauen
- auch so ein Wort aus dem Mutter-ist-die-beste-Freundin-der-
Tochter-Katechismus - anvertrauen einer Frau, die noch das
sündige Fleisch ihres Halses hinter Stehbündchen zwängte,
Franziskas Schulmappe nach verräterischen Zettelchen durchsuchte,
keinen zweideutigen Scherz duldete und sich ihren Kindern stets
tadellos gekleidet zeigte, zugeknöpft und gepanzert gegen
Gedanken über ihre anstößig diesseitige Existenz... (Brigitte
Reimann: Franziska Linkerhand)
Auf einmal sah ich Django. Mein Schreck. Der tanzt nicht mehr mit
hochgekrempelten Hosen und barfuß auf dem Pflaster, der geht
nicht mehr in die Kneipe von Dame Pia Maria, Fischbrötchen
fressen, muß er auch nicht, ich sag ja nicht, daß die alten
Fischbrötchen und aufgekrempelte Hosen Jugend ausmachen - ach,
Django, mein Zigeuner, mein Spießgesell, der Hindemith glatt an
die Wand komponieren wollte, er hat Fett angesetzt, in der Art,
wie hagere Leute verfetten, locker, schwammig, nicht
durchwachsen, und über der Stirn ist sein schwarzes krauses Haar
ausgegangen, das sah ich, als er den Hut abnahm. Django mit Hut,
das ist einfach das Letzte! Er war elegant, von der soliden
Allerweltseleganz einer mittleren Gehaltsstufe. Er zog den Hut,
er lächelte höflich und unsicher, er hatte mich nicht erkannt.
"Django -", sagte ich und wurde rot, weil mir auf einmal zumute
war, als hätte ich was unpassend Vertrauliches gesagt - so sah er
mich an, weißt du, indigniert, wie ein Erwachsener, der von einem
anderen, fremden Erwachsenen mit dem albernen Spitznamen aus der
Schulzeit angeredet wird.
Sie kramte in ihrer Handtasche und warf ein Päckchen Pall Mall
auf den Tisch. "Mögen Sie so was?" Nach dem ersten Zug wurde
Franziska schwindlig, sie mußte sich an der Tischkante
festhalten, das ganze Lokal drehte sich um sie. "Gut?" fragte
Gertrud. "Die haut den dicksten Eskimo vom Schlitten." Gertrud
schob die Zigaretten über den Tisch, Franziska zu, die errötete,
pikiert war, ich nehme kein Trinkgeld, unglaublich, von einem
Tippmädchen, dann aber begriff, daß Gertrud ihr Versöhnung anbot,
daß sie ein uraltes Ritual wiederholte, mit einer Geste, die
mühelos die tausend Jahre zusammenraffte zwischen einer
indianischen Friedenspfeife und dem Päckchen Pall Mall. (Brigitte
Reimann: Franziska Linkerhand)
Die Pension, Rosenthaler Platz, Wilhelm-Pieck-Straße,
Reinhardtstraße etwa, und das Waschbecken, unterm Spiegel den
feierlichen Aufmarsch von Rasierpinsel, Zahnbürste, Mundwasser,
Seifenbüchse aus gelbem oder grauem Kunststoff, und die
Tischdecke, kariert, von der Farbe einer Brandmauer im
Herbstregen, den schweren Glasascher, in dem ein
Zigarettenstummel liegt, das Kerngehäuse eines Apfels, ein
Zellophankügelchen, die zerknüllte Hülle einer
Tablettenschachtel, und dem Fenster gegenüber das Bett, von dem
er die Decke zurückgeschlagen hat, und ihn selbst, auf der
Bettkannte sitzend, in leichten Lederpantoffeln, Protokolle oder
ein hektografiertes Hauptreferat lesend... (Brigitte Reimann:
Franziska Linkerhand)
Er sah sie ungläubig an. Soviel Unwissenheit. Sie standen ein
paar Schritte hinter Schafheutlin, mitten in der Menge, die
unaufhörlich kreiste und schwankte wie von einem Schneebesen
durcheinandergequirlt, aber als Schafheutlin den Kopf drehte,
fiel sein Blick sofort, ohne suchen zu müssen, auf Franziska, als
wäre sie allein hier, der letzte Gast in einem Wartesaal nach
Mitternacht. (...) Die Unschuld der weißen Schlehenbüsche, deren
Dornen ihm die Hände zerkratzt haben. Die Unschuld der Steine, an
denen er sich die Füße blutig gerissen hat. Die Unschuld der
Ägypterin, deren Blick ihn jetzt aus den Augen ihrer tausend
Jahre jüngeren Schwester trifft. (Brigitte Reimann: Franziska
Linkerhand)
Joan richtete sich auf. "Ravic", sagte sie. "Du weißt,
daß es nicht wahr ist, daß man nur einen Menschen
lieben kann. Es gibt Menschen, die können nur das. Sie
sind glücklich. Und es gibt andere, die durcheinander
geworfen werden. Du weißt das." Er zündete sich seine
Zigarette an. Ohne hinzusehen, wußte er, wie Joan
aussah. Blaß, die Augen dunkel, still konzentriert,
fast flehend fragil - und nie umzubringen. Sie hatte
ebenso ausgesehen an dem Nachmittag in ihrer Wohnung -
wie ein Engel der Verkündung, voll von Glauben und
schwebender Überzeugung, der vorgab, einen retten zu
wollen, während er einen langsam ans Kreuz zu schlagen
versuchte, damit man ihm nicht entkam. (Erich Maria
Remarque: Arc de Triomphe, S. 282/83)
Die Sonne scheint in das Büro der Grabdenkmalsfirma
Heinrich Kroll & Söhne. Es ist April 1923, und das
Geschäft geht gut. Das Frühjahr hat uns nicht im
Stich gelassen, wir verkaufen glänzend und werden
arm dadurch, aber was können wir machen - der Tod
ist unerbittlich und nicht abzuweisen, und
menschliche Trauer verlangt nun einmal nach
Monumenten in Sandstein, Marmor und, wenn das
Schuldgefühl oder die Erbschaft beträchtlich sind,
sogar nach dem kostbaren, schwarzen schwedischen
Granit, allseitig poliert. Herbst und Frühjahr sind die
bestens Jahreszeiten für die Händler mit den
Utensilien der Trauer - dann sterben mehr Menschen
als im Sommer und im Winter -; im Herbst, weil die
Säfte schwinden, und im Frühjahr, weil sie erwachen
und den geschwächten Körper verzehren wie ein zu
dicker Docht eine zu dünne Kerze. (Erich Maria
Remarque: Der schwarze Obelisk, S. 7)
Georg Kroll ist knapp vierzig Jahre alt; aber sein Kopf
glänzt bereits wie die Kegelbahn im Gartenrestaurant
Boll. Er glänzt, seit ich ihn kenne, und das ist jetzt
über fünf Jahre her. Er glänzt so, daß im
Schützengraben, wo wir im selben Regiment waren,
ein Extrabefehl bestand, daß Georg auch bei ruhigster
Front seinen Stahlhelm aufbehalten müsse - so sehr
hätte seine Glatze selbst den sanftmütigsten Gegner
verlockt, durch einen Schuß festzustellen, ob sie ein
riesiger Billardball sei oder nicht. (Erich Maria
Remarque: Der schwarze Obelisk, S. 9)
Ich reiße die Knochen zusammen und melde:
Hauptquartier der Firma Kroll und Söhne! Stab der
Feindbeobachtung. Verdächtige Truppenbewegungen
im Bezirk des Pferdeschlächters Watzek." "Aha!" sagt
Georg. "Lisa bei der Morgengeymnastik. Rühren Sie,
Gefreiter Bodmer! Warum tragen Sie vormittags keine
Scheuklappen wie das Paukenpferd einer
Kavalleriekapelle und schützen so Ihre Tugend?
Kennen Sie die drei kostbarsten Dinge des Lebens
nicht?" "Wie soll ich sie kennen, Herr
Oberstaatsanwalt, wenn ich das Leben selbst noch
suche?" "Tugend, Einfalt und Jugend", dekretiert
Georg. "Einmal verloren, nie wieder zu gewinnen! Und
was ist hoffnungsloser als Erfahrung, Alter und kahle
Intelligenz?" "Armut, Krankheit und Einsamkeit",
erwiderte ich und rühre. "Das sind nur andere Namen
für Erfahrung, Alter und mißleitete Intelligenz." (Erich
Maria Remarque: Der schwarze Obelisk, S. 9)
Alles, was Niebuhr angerichtet hat, ist durch den Tod
weggewischt. Er ist ein Ideal geworden. Der Mensch,
der immer ein erstaunliches Talent zur
Selbsttäuschung und Lüge hat, läßt es bei
Todesfällen besonders hell glänzen und nennt es
Pietät. Das erstaunlichste aber ist, daß er das, was er
dann behauptet, selbst bald so fest glaubt, als hätte
er eine Ratte in einen Hut gesteckt und gleich darauf
ein schneeweißes Kaninchen herausgezogen. (Erich
Maria Remarque: Der schwarze Obelisk, S. 21)
Die Pfarrer beider Bekenntnisse haben morgens in der
Kirche zelebriert; jeder für seine Toten. Der
katholische Pfarrer hat den Vorteil dabei gehabt;
seine Kirche ist größer, sie ist bunt bemalt, hat bunte
Fenster; Weihrauch, brokatene Meßgewänder und
weiß und rot gekleidete Meßdiener. Der Protestant
hat nur eine Kapelle, nüchterne Wände, einfache
Fenster, und jetzt steht er neben dem katholischen
Gottesmann wie ein armer Verwandter. Der Katholik
ist geschmückt mit Spitzenüberwürfen und umringt
von seinen Chorknaben; der andere hat einen
schwarzen Rock an, und das ist seine ganze Pracht.
Als Reklamefachmann muß ich zugeben, daß der
Katholizismus Luther in diesen Dingen weit überlegen
ist. Er wendet sich an die Phantasie und nicht an den
Intellekt. Seine Priester sind angezogen wie die
Zauberdoktoren bei den Eingeborenenstämmen; und
ein katholischer Gottesdienst mit seinen Farben,
seiner Stimmung, seinem Weihrauch, seinen
dekorativen Gebräuchen ist als Aufmachung
unschlagbar. Der Protestant fühlt das; er ist dünn und
trägt eine Brille. Der Katholik ist rotwangig, voll und
hat schönes, weißes Haar. (Erich Maria Remarque:
Der schwarze Obelisk, S. 93)
"Ich bin fromm erzogen worden", seufzt Bambuss.
"Ich bin mit der Angst vor der Hölle und der Syphilis
groß geworden. Wie kann man da bodenständige Lyrik
entwickeln?" "Du könntest heiraten." "Das ist mein
dritter Komplex. Angst vor der Ehe. Meine Mutter hat
meinen Vater kaputtgemacht. Durch nichts als
Weinen. Ist das nicht merkwürdig?" "Nein", sagen
Hungermann und ich unisono und schütteln uns
darauf die Hand. Es bedeutet sieben weitere Jahre
Leben. Schlecht oder gut, Leben ist Leben - das merkt
man erst, wenn man gezwungen wird, es zu riskieren.
(Erich Maria Remarque: Der schwarze Obelisk, S. 171)
Frau Kroll steckt ihren grauen Kopf heraus. "Wollt ihr
einen frischen Rollmops und eine Gurke dazu?"
"Unbedingt! Mit einem Stück Brot. Das kleine
Dejeuner für jede Art von Weltschmerz", erwidert
Georg und reicht mir mein Glas. "Hast du welchen?"
"Ein anständiger Mensch in meinem Alter hat immer
Weltschmerz", erwidere ich fest. "Es ist das Recht der
Jugend." "Ich dachte, man hätte dir die Jugend beim
Militär gestohlen?" "Stimmt. Ich bin immer noch auf
der Suche nach ihr, finde sie aber nicht. Deshalb habe
ich einen doppelten Weltschmerz. So wie ein
amputierter Fuß doppelt schmerzt." Das Bier ist
wunderbar kalt. Die Sonne brennt uns auf die
Schädel, und auf einmal ist, trotz allen Weltschmerz,
wieder einer der Augenblicke da, wo man dem Dasein
sehr dicht in die grüngoldenen Augen starrt. ich trinke
mein Bier andächtig aus. Alle meine Adern scheinen
plötzlich ein Sonnenbad genommen zu haben. "Wir
vergessen immer wieder, daß wie nur kurze Zeit
diesen Planeten bewohnen", sage ich. "Deshalb
haben wir einen völlig irrigen Weltkomplex. Den von
Menschen, die ewig leben. Hast du das schon
gemerkt?" "Und wie! Es ist der Kardinalfehler der
Menschheit. An sich ganz vernünftige Leute lassen
grauenhaften Verwandten auf diese Weise Millionen
von Dollars zukommen, anstatt sie selbst zu
verbrauchen." (Erich Maria Remarque: Der schwarze
Obelisk, S. 157f.)
Die Damen begrüßten sich wie lächelnde
Kriminalpolizisten. "Welch hübsches Kleid, Gerda",
gurrte Renee. "Schade, daß ich so etwas nicht tragen
kann! Ich bin zu dünn dazu." "Das macht nichts",
erwidert Gerda. "Ich fand die vorjährige Mode auch
eleganter. Besonders die entzückenden
Eidechsenschuhe, die du trägst. Ich liebe sie jedes
Jahr mehr." Ich sehe unter den Tisch. Renee trägt
tatsächlich Schuhe aus Eidechsenleder. Wie Gerda
das im Sitzen sehen konnte, gehört zu den ewigen
Rätseln der Frau. Es ist unverständlich, daß diese
Gaben des Geschlechts nie besser praktisch
ausgenützt worden sind - zur Beobachtung des
Feindes in Fesselballons bei der Artillerie oder für
ähnliche kulturelle Zwecke. (Erich Maria Remarque:
Der schwarze Obelisk, S. 182)
"Da sehen Sie es", sagte Heinrich bitter zu
Riesenfeld. "Dadurch haben wir den Krieg verloren.
Durch die Schlamperei der Intelektuellen und durch
die Juden." "Und die Radfahrer", ergänzt Riesenfeld.
"Wieso die Radfahrer?" fragt Heinrich erstaunt.
"Wieso die Juden?" fragt Riesenfeld zurück. Heinrich
stutzt. "Ach so", sagt er dann lustlos. "Ein Witz."
(Erich Maria Remarque: Der schwarze Obelisk, S. 193)
"Haben Sie schon beobachtet, daß Priester und
Generäle meistens steinalt werden?" frage ich
Wernicke. "Der Zahn des Zweifels und der Sorge nagt
nicht an ihnen. Sie sind viel in frischer Luft, sind auf
Lebenszeit angestellt und brauchen nicht zu denken.
Der eine hat den Katechismus, der andere das
Exerzierreglement. Außerdem genießen beide größtes
Ansehen. Der eine ist hoffähig bei Gott, der andere
beim Kaiser." (Erich Maria Remarque: Der schwarze Obelisk, S. 119)
"Die Flieger sind fort. Sie haben die Stadt bombardiert." "Das
hast du nun schon oft genug gesagt", knurrte jemand aus dem
Dunkel. Ahasver blickte auf. "Vielleicht werden sie ein paar
Dutzend von uns zur Strafe dafür erschießen." "Erschießen?"
Westhof kicherte. "Seit wann erschießen sie hier?" Der
Schäferhund bellte. Ahasver hielt ihn fest. "In Holland
erschossen sie nach einem Luftangriff gewöhnlich zehn, zwanzig
politische Gefangene. Damit sie keine falschen Ideen bekämen,
sagten sie." "Wir sind hier nicht in Holland." "Das weiß ich. Ich
habe auch nur gesagt, daß in Holland erschossen wurde."
"Erschießen!" Westhof schnaubte verächtlich. "Bist du ein Soldat,
daß du solche Ansprüche stellst? Hier wird erhängt und
erschlagen." (...) "Glaubt ihr, daß wir heute Abend Essen
kriegen?" fragte Ahasver. "Verdammt!" antwortete die Stimme aus
dem Dunkel. "Was willst du noch? Erst willst du erschossen werden
und dann fragst du nach Essen?" (Erich Maria Remarque: Der Funke
Leben)
Der Teufel Beremoalbo, das war ein ganz widerlicher
Teufelskerl, einer von den Schlimmsten, die hier je
aufgetaucht sind, außerdem hat der hier schändlich
gehaust, und dann stieß er so ein Pfeifen aus und ein
höllisches Lachen hohohoho, mit einem Teufelshauch,
als ganz, ganz anders. Er kam zu den Leuten an die
Tür, und auf seinen Lippen explodierte jeder
Buchstabe: "Guten Abend. Mein Name ist
Beremoalbo." Und dann gute Nacht Matilde, da kam
nur noch eine Scheußlichkeit nach der andern, in
Windeseile. Die Milch wurde sauer, Frauen hatten
Fehlgeburten, Kinder bekamen Durchfall, die Rinder
kriegten Würmer, das Wasser faulte in den
Tonkrügen, Nagelgeschwüre, alte Jungfer entehrt,
Dach vom neuen Haus geweht, alles, was nur denkbar
ist. Der Kerl hatte eine scheußliche Stimme, eine
dunkle Grabesstimme, es hörte sich schauerlich an so
mitten in der Nacht, "mein Name ist Beremoalbo",
man muß sich das vorstellen. (Joao Ubaldo Ribeiro:
Der Heilige, der nicht an Gott glaubt, S. 94)
Vor einigen Jahren hörte ich bei einer Tagung der
Katholischen Akademie in München zum Thema "Frau und
Priestertum" einen hinter mir sitzenden jungen Kleriker
zu seinen beiden Amtsbrüdern ziemlich laut sagen: "Pfui
Teufel, eine menstruierende Frau am Altar". Ich wandte
mich um und wies ihn darauf hin, daß es Frauen noch nie
in den Sinn kam, öffentlich zu sagen: Pfui Teufel, ein
Mann am Altar, der nachts eine Pollution hatte. Wie
unheimlich tief wir noch in Atavismen stecken. Wie
unheimlich mächtig das Patriarchat noch ist, auch wenn
der Mann noch so abgewirtschaftet hat. (Luise Rinser:
Kriegsspielzeug. Tagebücher 1972-1978)
Streitgespräch mit einem Erzkonservativen. Es geht um den
Begriff des Sozialismus heute. Schon mischen sich Emotionen
in unsre Diskussion, da fährt, mitten im Satz, ein Blitz auf
mich herunter: die Erkenntnis von der profunden Torheit
dieses Streits. Was wollen wir denn erreichen? Daß der
andre auf gleiche Art das Gleiche denkt? Sollten alle gleich
denken? Das wäre schrecklich: das Leben stünde still vor
Langeweile, vor Spannungs-Mangel. Leben ist, wo Spannung
ist, und Spannung ist zwischen Spruch und Widerspruch. Der
Spruch heißt: beharren, der Widerspruch: Weitergehen.
(Luise Rinser: Kriegsspielzeug. Tagebuch 1972-1978, S.
38)
Platons 'Gastmahl' wieder einmal gelesen. (Zum ersten Mal
las ich es 1929 in einer Reclamausgabe, die ich noch
besitze, Name und Jahreszahl sind darin vermerkt. Ich war
achtzehn.) Jedesmal bin ich von einer andern Stelle
betroffen. Dieses Mal ist es der Satz Albikiades in seiner
Lobrede aus Sokrates: "Von ihm wurde ich oftmals in eine
Stimmung versetzt, in der mir das Leben unerträglich
schien, wenn ich so bliebe, wie ich bin." Ich kenne keine
größere Qual, als zu erfahren, daß ich einen Rückschritt
gemacht habe, und keine heißere Angst als die,
"stehenzubleiben." (Ich spreche nicht von meiner
literarischen Arbeit, obgleich sie mit dem andern
zusammenhängt.) (Luise Rinser: Kriegsspielzeug. Tagebuch
1972-1978, S. 162)
Ich habe mich der schwierigen Gnade, "geistige Unruhe"
genannt, ausgesetzt. Konkret heißt das: ich habe alles
Neue, auch wenn es mir nicht gefiel, aufgenommen, es
intensiv durchlebt, aber nicht eingenistet, sondern bin
hindurchgegangen, immer bereichert. (...) Es ist bequemer,
sich ein für allemal irgendwo einzunisten und zu sagen: so,
ich bin angekommen, und da bleibe ich. Aber das zu tun,
bedeutet sich der Sünde der geistigen Trägheit schuldig
machen und sich vom wirklichen Leben abschneiden. (Luise
Rinser: Kriegsspielzeug. Tagebuch 1972-1978, S. 97f.)
Lernen wir nur unter äußerstem Druck die Liebe?
Geschieht die Mutation des Menschengeschlechts nur
durch Katastrophen? Warum erschrecke ich bei dem
Gedanken, daß Katastrophen notwendig sind? Weil ich ein
Bild sehe: in wenigen Jahren vielleicht sitzen die paar
Überlebenden so beisammen in Höhlen unter den
radiumverseuchten Trümmern der alten Welt. Nicht
erschrecken: die Überlebenden leben. Sie lernen die
Liebe. Äußerste Not als die große Chance für die
Evolution. Man muß in die Ferne denken dürfen. Ins
Grenzenlose. In neue Geist-Räume muß man sich vorwagen,
damit man den Schmerz des Augenblicks erträgt. (Luise
Rinser: Winterfrühling. 1979-1982, S. 100)
Was ist Phantasie? Der Blick hinter den Vorhang der
plumpen äußeren Wirklichkeit, das Sehen der In-Bilder,
denen die äußeren Dinge nachgebildet sind und die nur
bestehen, weil sie in der Phantasie vorgebildet sind.
Sagen Sie: Leben Sie nur mit greifbar nützlichen
Gegenständen? Wissen Sie, daß der Mensch sterben muß,
läßt man ihn nicht träumen? Die Seele verhungert in der
puren Faktizität, die Menschheit verhungert an ihrem
Mangel an Mythen und Phantasie, an echten Utopien und
Religionen. (Luise Rinser: Winterfrühling. 1979-1982,
S. 108)
Unser aller geheimer und offener Wunsch, der
Eigenverantwortung enthoben zu sein, einem Kollektiv-
Gewissen gehorchen zu dürfen, zu dienen ohne zu denken,
aufgehoben zu sein in der Ordnung, nicht so entsetzlich
frei zu sein, so fehlbar durchs eigene Gewissen, so
scharf gefordert zu einsamen Entscheidungen, so dem
Zweifel hingeworfen. Einen Führer wollen wir, einen
Papst, einen Guru, einen guten Diktator. Was wir
wollen, das ist der Messias, der uns zurückführt
ins Paradies, in den Erden-Mutterschoß, in die
frühe Kindheit. (Luise Rinser: Winterfrühling.
1979-1982, S. 177)
Sie konnte wunderbar erzählen, sie liebte es, ihre
Geschichten auszuschmücken mit allen Einzelheiten, sie
war die geborene Erzäherlin. Das Talent hat sie mir
vererbt. Sie hat es mir später mißgönnt, als ich mir
damit einen Namen machte. Sie fand meine Bücher nie
lobenswert. Sie ignorierte sie, auch wenn sie sie las.
Nun, das Schicksal hat ihre Gene mir so gebündelt
übergeben, daß ich Schriftstellerin werden mußte. Eben
sagt mir mein Vatter, daß meine Mutter später mit mir
und meinen Büchern schier geprahlt hat. Später, ja
später, als ichs nicht mehr brauchte. (...) (Luise
Rinser: Den Wolf umarmen, S. 56)
Offenbar fehlte meinem Vater doch etwas in dieser Ehe:
Wärme. Manchmal sagte er zu meiner Mutter: "Du kalte
Sailer", und das schnappte das Kind auf. Vaters Mutter
war die Wärme in Person. Suchte er in seiner Ehefrau
die Mutter? Die fand er nicht. Das einzige, was sie
nicht geben konnte: naturhaft mütterliche Wärme. Meine
Mutter war nicht gefühlsarm, das nicht, aber das Gefühl
saß in ihrem Gehirn, es setzte sich ohne Umweg über das
Herz in Tat um: sie hätte sich in Stücke zerreißen
lassen für ihren Mann. Wenn er seine Depressionen
hatte, kochte sie ihm seine Lieblingspeisen und redete
ihm die Schatten weg. Aber mitgelitten hat sie nie. Das
konnte sie nicht. das war meine Sache: ich litt, wenn
er litt. Und er litt viel. Nicht nur an seinem Buckel.
Er war im Zeichen der Fische geboren: in der dunklen
Meerestiefe. Sein Reich war undurchschaubar. Das
Himmelslicht drang nur gebrochen bis dort hinunter, wo
der Fisch sich zwischen Steinen und Algen verbarg. Ein
stummer Fisch. Oft sagte der Vater: "Trappist hätte ich
werden sollen." Ich meine, er hätte es werden können:
er war schweigsam, still, fromm, ein Beter, ein
Einsamer. (Luise Rinser: Den Wolf umarmen, S. 57)
Mein Vater und ich hatten außer dem Interesse für
Politik noch etwas gemeinsam: die Musik. Daß wir sie
gemeinsam hatten, schloß uns immer wieder einmal ab
gegen die stock-unmusikalische Mutter. Er gab mir früh
Klavierstunden. Wozu braucht sie das? sagte die Mutter.
Sie soll mir lieber im Haushalt helfen und kochen
lernen, ein Mädchen muß kochen können. Sie mochte auch
nicht, wenn der Vater mit Kollegen musizierte. Es gab
einmal eine junge Lehrerin im Haus, die gut sang. Mein
Vater begleitete sie am Klavier. Die mit ihrer
Singerei, sagte die Mutter. Einen Seitensprung in ein
fremdes Bett hätte sie vielleicht verziehen, aber daß
ihr Mann sich mit dieser Singperson am hellen Tag bei
offener Zimmertür in ein Reich begab, das ihr
verschlossen war, das konnte sie nicht dulden. Da
entglitt er ihr. Das war ein Ehebruch. (Luise Rinser:
Den Wolf umarmen, S. 79f.)
"Wer die Magenfrage löst, der hat das Problem der
Demokratie gelöst", so hatte der Münchner
Polizeipräsident gesagt. War er ein Zyniker oder nur
einfach ein Realist oder ein Pessimist durchs
Berufserfahrung? Auf jeden Fall: er hat recht behalten.
Und Adenauer, der erste Bundeskanzler, dachte nicht
anders. So begann das neue alte Leben. Das Kriegsende
war ein Graben, der ganz rasch zugeschaufelt,
glattgewalzt und überbaut wurde mit Kasernen,
Warenhäusern, Fabriken, Banken, Kirchen und
Reihenhäusern für zufriedene mürrische Bürger. Die
vertane Chance. Die nicht-gelernte Schicksalaufgabe.
Kein radikaler Neubeginn, sondern nur ein weiterer Akt
im bürgerlichen Trauer-Lustspiel. (Luise Rinser: Den
Wolf umarmen, S. 404)
Wofür müssen Kinder ihren Eltern eigentlich dankbar
sein? Nicht das Kind ist verantwortlich für sein
Dasein. Kann es dafür, daß ein Mann und eine Frau den
Beischlaf vollziehen, bei dem sie, meist wenigstens,
nichts denken und nur ihre Lust haben? Dafür
Dankbarkeit fordern? Oder dafür, daß diese Eltern dann
das Gezeugte und Geborene ernähren? Das ist ihre
Pflicht, staatlich geregelt. Mir ist es nie in den Sinn
gekommen, von meinen Kindern Dankbarkeit zu verlangen.
Wofür auch. Vielleicht hätte ich sie um Verzeihung
bitten müssen, daß ich sie einer bösen Zeit ausgesetzt
habe. (Luise Rinser: Den Wolf umarmen, S. 58)
Als Kind mußte ich Kohlweißlinge jagen und die Raupen
vom Kohl zwischen zwei Brettchen zerquetschen. Eine
häßliche Arbeit. Ich drückte mich, wo ich konnte. Heute
rette ich jeden Falter in meinem Garten. Immer weniger
gibt es. Die schönen großen, Pfauenauge und
Trauermantel und andre mittelmeerische, gibt es nicht
mehr. Überlebt haben bis jetzt die Kleinen und
Kleinsten. Klein sein, damit das Schicksal einen
übersieht. (Luise Rinser: Wachsender Mond. 1985-1988)
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