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Allgemeine Fundstücke / [O-Q]
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"Der Teufel persönlich steckt in den Herzen dieser
'ownshucks' vom Stadtrat." "Sie sind nur gedankenlos und
schlecht beraten." "Sie sind ein Haufen dummer,
dickbäuchiger, gotteslästerlicher, geldraffender
Räuber, wahrscheinlich sind sie aus dem Moor entlaufen,
Taugenichtse aus gottverlassenen Orten wie Carlow oder
der Grafschaft Leitrim. Die Söhne von Schweinehändlern
und Kesselflickern. In Gottes Namen, was sollen auch
solche Leute von den Pflichten eines Stadtverordneten
wissen? Ich bin sicher, die hatten, bevor sie achtzehn
waren, keine Schuhe an den Füßen." "Aber konnten die
städtischen Beamten sie nicht beraten? Das sind doch
bestimmt Leute aus Dublin." "Das ist doch wohl nicht
Ihr Ernst, Pater. Diese Drecksäcke würden nicht mal
einem Mann, der in die Badewanne steigt, raten, sich
vorher auszuziehen." (Flann O'Brien: Das harte Leben,
S. 65)
Es war ein Kino für Kinder, die vorher Flaschenpfand
kassiert oder Alteisen verkauft hatten. Ich habe oft
und immer wieder das Zwei-Kilo-Gewicht unserer
Küchenwaage versetzt und mußte es dann wieder auslösen.
Ich habe in Oma Graswalds Kino vielleicht drei- oder
vierhundert Filme gesehen. Der Druck der Sperrholzsitze
unter meinem Hintern war Teil meiner Kindheit. (...)
Ich habe wahrscheinlich mehr Filme gesehen als andere
Kinder in meinem Alter, die nicht so oft ins Kino gehen
konnten, weil sie nicht so viele Flaschen zu Hause
hatten oder nicht soviel Alteisen, oder weil ihre
Eltern keine Küchenwaage mit einem Zwei-Kilo-Gewicht
hatten, oder einfach, weil sie in einer anderen Stadt
wohnten. Die meisten Filme, die ich gesehen habe,
werden heute nicht mehr gezeigt. Sie sind ein paar
Wochen lang gelaufen, und dann sind sie da
verschwunden, wo Filme verschwinden, wenn sie niemand
mehr sehen mag. Ich weiß nicht, wo das sein kann. (...)
Ich ging dreimal in einen Film mit dem Titel "Die
blonde Zigeunerin". Ich habe keine Erinnerung mehr
daran, außer daß ein mexikanisch aussehender Mann mit
Messern warf und daß eine blonde Frau für den Bruchteil
einer Sekunde völlig nackt aus dem Meer aufs Ufer
zuging. Sie hatte sehr lange Beine, und sie überhaupt
sehr groß. Es war einer der Filme, die wahrscheinlich
nur wegen einer einzigen Szene gedreht werden, egal
wieviel Messer durch die Luft fliegen, und die
zehnjährige Jungs dazu bringen, Zwei-Kilo-Gewichte zu
verkaufen, nur damit sie diese Szene noch einmal sehen
können. (Günter Ohnemus: Zähneputzen in Helsinki, En,
S. 46f.)
Wir tranken Wein in einem Zimmer, das keine zehn
Quadratmeter groß war - ein Bett, ein Schrank, ein Stuhl
und ein dreieckiger Tisch - und der Plattenspieler stand
mitten auf dem winzigen Schreibtisch. Der Schreibtisch war
so winzig, und der Plattenspieler nahm soviel Platz auf ihm
ein, daß man nicht einmal ein sehr kurzes japanisches
Gedicht darauf hätte schreiben können. Wahrscheinlich
hatte das Zimmer nicht einmal neun Quadratmeter, aber wir
machten uns nichts daraus. Wir unterhielten uns über
Sachen, die nicht in Quadratmetern ausgedrückt werden.
(Günter Ohnemus: Zähneputzen in Helsinki, S. 43)
Er glaubt, daß alle Leute, wenn sie von jemandem verlassen
worden sind, den sie lieben, monatelang in Cafes
herumsitzen und plötzlich und immer wieder entdeckten,
wieviel Unglück es auf der Welt gibt: alte Leute, die zittrig
sind, daß sie sich jedesmal bekleckern, wenn sie versuchen,
ihre Kaffeetasse zum Mund zu führen, und Leute, die sich
ganze Vormittage lang mit Aschenbechern unterhalten, und
Kinder, die nicht wissen, was sie tun sollen, während sich
ihre Eltern betrinken. (Günter Ohnemus: Zähneputzen in
Helsinki, S. 67)
Bikinis werden selten so alt. Sie verschwinden nach Regeln
und Gesetzen, die nirgendwo aufgezeichnet sind und um die
sich niemand Gedanken macht. Manchmal werden sie
einfach weggeworfen, und manchmal werden sie im
Sommer wie Hunde oder Katzen an Flüssen oder an
abgelegenen Stellen ausgesetzt. Sie liegen dann da wie
zusammengeschrumpfte Luftballons, und die Leute, die sie
finden, fassen sie mit zwei Fingern an oder heben sie mit
einem Stock hoch und werfen sie ins Gebüsch. Niemand will
etwas mit Bikinis zu tun haben, die von anderen Leuten
ausgesetzt worden sind. (Günter Ohnemus: Zähneputzen in
Helsinki, S. 89)
Meine Großmutter kam aus einer sehr reichen Familie, die
irgendwann Anfang des Jahrhunderts durch wirtschaftlichen
Leichtsinn und durch einen betrügerischen Buchhalter in den
Ruin getrieben wurde. Sie ist nie darüber hinweggekommen.
Sie und ihre älteren Geschwister mußten die Schule
verlassen und sich Arbeit suchen, und alles, was ihr vom
Glanz und Reichtum ihrer Familie blieb, war der Teil der
französischen Grammatik, den man mit siebzehn an einer
Klosterschule beherrschen kann, eine Vorliebe für die
klassische deutsche Literatur, für Balladen voller Tod,
Freundschaft, Treue und Freiheitsbegeisterung, für
lateinische Kirchenlieder und für die katholische Version der
Bibel. Schillers Räuber war ihr Lieblingsdrama und die
Französische Revolution die einzige Revolution, die für sie
zählte. Friede den Hütten! Krieg den Palästen! war etwas,
woran sie noch mit über achtzig gerne dachte, und sie
konnte so viele Gedichte auswendig deklamieren, daß die
Lyrik der klassischen deutschen Literatur jetzt für mich so
klingt, als seien die Gedichte bloß Librettos für die Stimme
meiner Großmutter. (Günter Ohnemus: Zähneputzen in
Helsinki, S. 113)
Unser Sohn saß auf dem Fußboden und spielte eine Partie
Mensch-ärgere-Dich-nicht gegen seinen Teddybären. Er ließ
mich nicht mitspielen. Er hatte in letzter Zeit ziemlich oft
verloren und brauchte wohl erst ein paar Aufbaukämpfe,
bevor er wieder kühl und selbstbewußt den Realitäten ins
Auge sehen konnte. Ich legte mich auf die Couch im
Wohnzimmer und las die Zeitung vom Samstag. Während
ich las, endete die Partie mit dem Teddybären
unentschieden 4:4. Ein ziemlich erstaunliches Ergebnis für
ein Mensch-ärgere-Dich-nicht. (Günter Ohnemus:
Zähneputzen in Helsinki, S. 133)
Der Arzt war jung, vollbärtig und aufmerksam. Es ist sehr
beruhigend, wenn an einem verregnetem Nachmittag im
Oktober in einer Klinik jemand Sonntagsdienst hat, dessen
Ausbildung auf dem neuestem Stand ist und der sich sehr
auf die Dinge konzentriert, die auf ihn zukommen. Als er
hörte, daß es erst der sechste Monat war, sah sein Gesicht
noch ein wenig jünger und aufmerksamer aus. Er wirkte
plötzlich sehr ärztlich. Wahrscheinlich ging ihm eine Statistik
durch den Kopf. Die Statistik mit den Überlebenschancen
von Sechsmonatskindern . Er schaute auf den Fußboden.
Dann sah er wieder hoch und schenkte unserem Sohn ein
resigniertes Lächeln und einen Es-wird-schon-werden-Klaps.
"Wann gehts denn endlich los?" fragte unser Sohn. "Ich weiß
es nicht", sagte ich. "Es geht gleich los", sagte meine Frau.
Ihr Gesicht war immer noch ein wenig rosig und
verknautscht. Als der Arzt, der jetzt nicht mehr ganz so
jung aussah, die Narkosemaske hervorholte, sagte meine
Frau: "Lassen Sie nur. Ich brauch keine Gasmaske. Das hier
ist eine ganz normale Geburt und kein Stellungskrieg."
Meine Frau hat eine starke Abneigung gegen alles, was in
der Medizin nach Chemie riecht. Ihr Großvater
mütterlicherweits war Vegetarier, und sie nimmt überhaupt
nie Tabeletten, außer gegen Zahnschmerzen. "Ich brauch
das wirklich nicht", sagte sie. Der Arzt lächelte verlegenen
und solidarisch. Die meisten Ärzte halten seien ja für einen
Anarchisten, wenn man bei vollem Bewußtsein Kinder
kriegen will, aber der hier lächelte. (Günter Ohnemus:
Zähneputzen in Helsinki, S. 134f.)
Ich glaube, es lag hauptsächlich an Derek, daß Beryl
nicht viel zu lachen hatte und nur verdammt selten
lächelte. Derek ist einer von den Männern, die Söhne
wollen. Sie heiraten irgendwelche schüchternen, netten
Mädchen, wirklich nette Mädchen so wie Glenda, und dann
erwarten sie, daß diese Mädchen Söhne in die Welt
werfen. Wenn Derek mein Vater wäre, dann wäre er erst
glücklich, wenn ich fünzigmal hintereinander Wimbledon
gewinne, und das wäre noch immer nicht genug, weil
Wimbledon ohne die andern drei Grand Slam nichts ist.
(Günter Ohnemus: Der Tiger auf deiner Schulter, S. 119)
In unserer Familie gibt es einen Spruch, den wir
meistens sagen, wenn wir jemanden besonders langweilig
finden, oder wenn wir jemanden überhaupt nicht
langweilig finden: "Mit dem (oder mir der) möchte ich
nicht im Zug von München nach Wuppertal fahren." Das
waren früher mal siebeneinhalb oder acht Stunden. Oder
wir sagen von jemandem, der sehr interessant ist: "Mit
dem (oder mit der) würde ich jederzeit in einem Abteil
von München nach Wuppertal fahren." Und der Superlativ
heißt dann: "Und zurück!" (Günter Ohnemus: Der Tiger
auf deiner Schulter, S. 155)
Jeder in der Gruppe wußte eine Anekdote über Irabu. Schon
an der Universität sorgte er für Gesprächsstoff, da alles, was
er tat, außerhalb jeglicher Normen war. So malte Irabu etwa
ein künstliches Gerippe mit fluoreszierender Farbe an,
bestellte sich seidene Arztkittel oder fing Katzen, um ihnen
Vitaminspritzen zu verabreichen. Es ging sogar das Gerücht
um, daß alle Karpfen im Teich des Universitätsparks Irabus
Eßlust zum Opfer gefallen waren. (Hideo Okuda: Die
seltsamen Methoden des Dr. Irabu, S. 97)
Morgens ist Nizza zu klein für die Sonne. Das Licht
breitet sich überall aus, es kommt vom Himmel herunter
und legt sich auf die Dächer, die Straßen, das Meer,
die Hügel, es streckt seine Tentakeln aus wie eine
kochend heiße Krake, und dann zieht es sich zusammen,
verdichtet sich, unmöglich, ihm zu entgehen. (...)
hatte sie an diesem Brot getoastet, das retete alles,
der Duft von getoastetem Brot macht Lust, die Fenster
aufzureißen, etwas frische Luft herinzulassen, aber in
Nizza darf man weder Fenster noch Fensterläden
aufreißen, sonst saugt die Sonne in zwei Sekunden den
ganzen Sauerstoff aus der Wohnung, und der Tag ist
verdorben. (Veronique Olmi: Die Promenade)
Die Revolution meiner Großmutter ist eine Geschichte
der Züge. Rußland ist ein riesiges Land, durch das Züge
fahren. Tolstoi reiste dritter Klasse, das verstehe
ich. In der dritten Klasse kommt die Fantasie auf ihre
Kosten, das sehe ich so wie Tolstoi. Abgesehen vom
Geruch nach Erbrochenem und harten Eiern ist die dritte
Klasse vollgestopft mit unglaublichen Leuten, denen
unglaubliche Sachen passieren, die man so einfach wie
möglich erzählen muß, damit sogar diejenigen, denen
niemals was passiert, Lust haben, sie zu lesen. Während
sie bequem in der ersten Klasse sitzen, die nach
Reispuder und französischem Parfum riecht. (Veronique
Olmi: Die Promenade, S. 12).
Ich komme im Unterricht nicht mit. Eigentlich bin ich
nie irgendwo mitgekommen. Abgesehen von bewegten Leben
der Helden von Tolstoi, Puschkin, Pasternak oder
Tschechow, die die Lehrer nicht näher zu kennen
scheinen, habe ich einen ganz schönen Rückstand. Ich
glaube, ich habe nie richtig zugehört; jetzt ist es zu
spät, selbst wenn ich jetzt anfangen würde, wäre es zu
spät. Ich kann zum Beispiel keine Division mit
zweistelligen Zahlen, weil ich meine
Multiplikationstafeln nicht auswendig gelernt habe. In
Rußland, besser gesagt: in der Sowjetunion, zählen sie
mit Rechenbrett, das zeigt doch, daß nur wenige
Menschen auf der Welt mit zweistelligen Zahlen
dividieren können. Es ist auf jeden Fall nicht
menschlich, die Welt so zu verkleinern. Ich brauche
einen weiten Horizont, deshalb beruhigt mich das Meer.
Es ist unberechenbar. Man muß die Welt nicht mit
Divisionen mit zweistelligen Zahlen quälen, man muß sie
flach vor das Meer legen und die wahren
Schlußfolgerungen daraus ziehen: Das Leben dauert
zweieinhalb Sekunden und man hat die Entfernung falsch
geschätzt. (Veronique Olmi: Die Promenade, S. 53)
Ich liebe das Mittelmeer. Es ist das stolzeste aller
Meere. Es gibt nichts her. Es wirft sich nicht an Ufer,
läßt keine Wale stranden und versucht nicht vergeblich,
einen Felsen umzureißen. Es liegt in der Stadt, an der
Schwelle unserer Häuser, es rührt sich nicht, aber ich
glaube, man sollte sich besser vorsehen. In Nizza ist
es gar nicht leicht, ins Wasser zu gehen. Die Steine
zwingen den Badenden, wie ein Kind zu laufen, das seine
ersten Schritte macht, er schwankt, klammert sich mit
kleinen Jauchzern an die anderen; es ist schwierig, den
Helden zu markieren, wenn man beschließt, in Nizza zu
baden, deswegen sonnen sich die Mädchen, die sich
aufspielen müssen, lieber abwechselnd auf dem Rücken
und auf dem Bauch und hören dabei Radio, als auf
Stöckelschuhen ins Wasser zu gehen. (Veronique Olmi:
Die Promenade, S. 54)
Einmal hat sie mich nach meinem Geburtsdatum gefragt.
Ich habe es ihr gesagt. Sie hat es mich wiederholen
lassen, dann hat sie das Gesicht verzogen: "1961! Das
ist doch kein Geburtsjahr!" Ich habe gesehen, wie
wütend sie auf mich war. Ich bin zu spät geboren, ich
habe das Datum überschritten, zu dem man geboren werden
kann, ohne daß es verlorene Zeit wäre. Ich weiß, daß
ich das Wesentliche verpaßt habe, und sicher langweilt
sie sich deshalb mit mir. Manchmal würde ich gern aus
dem College oder vom 'Bon Lait' zurückkommen, mich auf
einen Stuhl fallen lassen, den Kopf nach hinten werfen,
die Augen verdrehen und sagen: "Ich könnte tot sein!
Ja, eigentlich müßte ich tot sein!" Und dann, weil sie
mich händeringend anfleht, würde ich ihr in Andeutungen
erzählen, wie ich die Pläne der Geheimplätze
durchkreuzt hatte und wie viele Leichen im Meer
schwammen: das ganze Grauen, das ich natürlich niemals
verstehen würde, weil ich ihm nie ins Gesicht gesehen
habe, "Du hast niemals dem Tod ins Gesicht gesehen,
Sonjetschka", wie sie zu sagen pflegt. (Veronique Olmi:
Die Promenade, S. 67)
Aber es passiert niemals etwas. Weder mir noch den
Menschen um mich herum. Nizza ist eine sehr ruhige
Stadt, die Leute hier leben sehr lange, die
Lebenserwartung liegt über dem Landesdurchschnitt, und
sogar bei Großmutters Freundinnen würde man wirklich
nicht vermuten, daß es ihnen während der Revolution an
Vitaminen gefehlt hätte. Sie können bei der heiligen
Liturgie stundenlang stehen und sich sogar unzählige
Male hinknien und wieder aufstehen, ohne daß es ihnen
die geringsten Probleme bereitet. Nicht mal bei der
großen strahlenden Ostermesse habe ich sie umkippen
sehen. Der Mittagsschlaf konserviert sie hervorragend.
(Veronique Olmi: Die Promenade, S. 68)
Es war ein richtiger Schock, als ich Mama am Telefon
gehört habe. Vor allem, weil es ihr nicht gutging, das
habe ich sofort gemerkt, sie hatte ihre atemlose
Stimme, obwohl sie nicht gerannt war, das weiß ich.
Wenn sie ihre atemlose Stimme hat, dann hat sie von
irgendwas die Nase voll, aber sie kann nicht sagen,
wovon. Sie wartet, daß ich sie frage: "Was ist los?
Bekommst du keine Luft?", aber ich frage es nicht, so
eine nette Tochter bin ich nicht. Ich tue so, als würde
ich es nicht merken, weil ich weiß, daß die Dinge nur
existieren, wenn man sie sagt oder schreibt. Je mehr
man im Leben heuchelt, desto leichter wird es. Man geht
pfeifend an den größten Katastrophen der 'Geschichte'
vorbei, und man merkt sich die Noten, nicht die
Märtyrer. (Veronique Olmi: Die Promenade, S. 78)
Sie und ihr Mann lebten weit auseinander. Er
erforschte die Pole, sie wartete von Mal zu Mal auf
seine Rückkehr. Er gehörte zu den Seeleuten, die sich
entschieden haben, auf unbewegten Meeren zu fahren
und es mit furchtbaren, aber erstarrten Stürmen
aufzunehmen. Mit anderen Worten, seine Domäne
war das Eis. Er leitete wissenschaftliche Expeditionen
am Südpol. Er bohrte mitten im Weiß tiefe Löcher,
und von den unbefleckten Karotten, die er herauszog,
las er die Geschichte unseres Planeten ab.
Währenddessen langweilte sich die Gattin des
glaziologischen Kapitänleutnants in Frankreich zu
Tode. Aus einer Familie von Fliegern kommend,
verstand sie das Abenetuer. Doch gerade deswegen
brauchte sie selbst auch ihr Teil Erkundung. Und unter
der düsteren Masse von Tagen und Tagen ohne Mann
wollte sie wieder Rhythmus, Sinn, Zyklen finden.
(Gewiß, sie hatte Kinder. Aber genügen sie einer Frau
jemals?) (Erik Orsenna: Inselsommer, S. 52)
An jenem Tag prickelte die Aprilluft wie der Morgen
nach einer Liebesnacht. Man hätte meinen können,
die Insel würde gleich zu pfeifen beginnen. Vielleicht
würde sie sogar einen Tanzschritt andeuten? Im Ort
huschte ein blasses Lächeln über das Gesicht auch
der rauhste Bretonen. Wer diese anziehende Rasse
kennt, weiß, daß sich in diesen Landstrichen so die
überschwengliche Fröhlichkeit manifestiert. Die
Ginsterbüsche an den Straßenrändern waren gelb
gesprenkelt, und der sich aufrichtende Schaft der
Agapanthuslilien nahm eine Haltung an, die die
Kirche verdammt hätte. (Erik Orsenna: Inselsommer,
S. 49)
Als er die Sechzig erreicht hatte, war Senor Jose
Maria Fernandez nicht mehr von der gleichen Raserei
besessen, die seine Jugend zum Leuchten gebracht
hatte. Vierzig Jahre lang war fast keiner seiner Tage
zu Ende gegangen, ohne daß ein Abenteuer, wild oder
zärtlich, zwielichtig oder gutartig, aber immer
unvorhergesehen, ihn erfreut hätte. Allerdings wohnte
er in jener glücklichen Zeit in Buenos Aires. Diese
Metropole mit zwölf Millionen Einwohnern,
Zufluchtsort und Schmelztiegel aller Rassen,
Endstationen aller Irrfahrten, bietet unendliche
Möglichkeiten für die Kombination der Körper und,
zuweilen, der Seelen. (Erik Orsenna: Inselsommer, S.
112)
Seine Ferien verliefen wie vorhergesehen, träge und
reich an Jod, mit jenem Gehalt an Langweile in der
Atmossphäre, der angeblich ausgezeichnet für die
Gesundheit ist. Etwas quälte ihn jedoch. Wenn er
nachmittags, hinter dem Busch türkisblauer
Hortensien vor dem Westwind geschützt, in seinem
Liegestuhl lag, erging er sich in Mutmaßungen über
die erotischen Gewohnheiten der Eingeborenen. Er
wußte es, er spürte es: Der Sex trieb sich überall auf
der Insel herum. Und doch, trotz unentwegter
Spaziergänge, hartnäckigem Auf-der-Lauer-Liegen,
nächtlichen Stehen mit an die geschlossenen
Fensterläden gepreßten Ohr, bekam er nichts mit.
Weder ein visuell festgestelltes flagrantes Delikt
noch audititv aufgenommene Indizien. Nur gewisse
duftende Dunstwolken konnten den Gedanken nähren,
daß sich in der Gegend gerade ein Coitus abgespielt
hatte. Aber unterscheiden Sie mal, ohne sich zu
vertun, zwischen diesen menschlichen Wohlgerüchen
und dem Moschus eines modrigen Herbariums im
flachsten Meer... Er verbohrte sich nicht in seine
Nachforschungen, da er wußte, daß der Sex sich am
Ende immer enthüllt. Man brauchte nur zu warten.
(Erik Orsenna: Inselsommer, S. 113)
Er hatte eine Karriere als Pianist begonnen.
Schumann, Chopin... Sein Anschlag fand Anklang.
Wäre er ohne den Unfall vom 18. Juni 1965 zu Ruhm
gelangt? An jenem Tag war er über den schlecht
befestigten Läufer einer Hoteltreppe gestolpert und
gestürzt. Mit nach vorn gestreckten Händen gestürzt,
also ohne sich schwer zu verletzen. Das gleiche,
genau das gleiche Mißgeschick war im Bahnhof von
Brüssel-Mitte seiner Lehrerin zugestoßen, der
unbezwingbaren, zarten, mythischen Clara Haskil.
Aber sie, die echte Musikerin, hatte, als sie das
Unglück kommen sah, ihre Hände nach hinten
gestreckt, um sie zu schützen. Daraufhin war ihr Kopf
auf eine Stufe aufgeschlagen, und sie war an den
Folgen gestorben. Während sich die Pagen in ihren
zum Anbeißen hübschen Uniformen - rote Westen mit
Goldknöpfen und enge, die Nüsse abzeichnende
Hosen - um ihn bemühten -"Ist alles in Ordnung,
mein Herr? Sollen wir einen Arzt rufen?" -, sagte er
sich wieder und wieder: Alles ist klar, ich bin nicht
würdig, ich habe meine Finger nicht geschützt! Sobald
er wieder auf den Füßen stand, annulierte er alle
seine Engagements, verbrannte sein stummes Klavier
und wurde Photograph. (Erik Orsenna: Inselsommer,
S. 122)
Die beiden durchnäßten Liebenden unterhalb des
Argentiniers hatten sich wieder erhoben, standen sich
gegenüber und sahen einander an. Unser Freund
schloß die Augen. Er hatte seine Moral: So schamlos
man alle Zustände der Körper observieren darf, so
ungestört muß man die Seelen miteinander sprechen
lassen. Aber sein Entschluß hielt nicht lange vor. Sehr
schnell machte er die Augen wieder auf. Die Frau
hatte den Kopf des Mannes in die Hände genommen.
Ein verzweifelter Ernst war über sie gekommen. "Bis
zum nächsten Jahr", sagte die Frau. "Paß auf dich
auf", sagte der Mann. Sie rissen sich voneinander los,
kehrten sich den Rücken zu und gingen allzu
entschlossenen Schritts auf etwas zu, was aller
Wahrscheinlichkeit ihre jeweilige Ehe war. (Erik
Orsenna: Inselsommer, S. 134)
Ganz ähnlich, dachte ich weiter, ist es ja mit dem Sex,
wie oft war ich einer Frau einen Abend lang näher
gekommen, wie oft hatten wir uns gut verstanden, ein
wunderbares Einverständnis, ein Sich-Tragen, hatte
gleichsam aus dem Nichts begonnen und endete dann oft
ganz unsinnig wieder dort, spätestens nach Mitternacht
spukte die Trennung im Kopf, und es ging bergab, ein
andermal, vielleicht sieht man sich wieder. Ich war
immer der Meinung gewesen, daß ein solcher Abend nach
Sex verlangte, die gegenseitige Anziehung lief doch auf
natürliche Weise darauf zu, wer würde schon auf den
Gedanken kommen, ein köstliches Gericht stundenlang
vorzubereiten und zu kochen, um es am Ende dann nicht
zu verzehren? Statt aber dem Einfachsten, der
natürlichen Anziehung, zu folgen, brach man die Sache
meist auf jämmerliche Weise vorzeitig ab, so etwas,
fand ich, gehörte in eine frühere Epoche, es war
einfach nicht auf der Höhe der Zeit. Mit dem jähen
Abbruch des erotischen Austauschs folgte man
jahrhundertalten Ritualen, die den Sex und die
gemeinsame Nacht mir Bedeutung aufgeladen hatten, jede
noch so kleine Geste war früher Teil eines solchen
Rituals gewesen, hinter jedem abgeworfenen
Kleidungsstück hatte gleichsam schon ein Paragraph
eines juristischen Kontrakts gelauert, Ehen, Kinder,
Familien waren die Folge gewesen. Längst waren diese
Zeiten vorbei, die Rituale aber hatten ihre Kraft nicht
verloren. (Hanns-Josef Ortheil: Die grosse Liebe, S.
84)
Ich glaubte nichts mehr, statt dessen begann ich, meine
Nachhilfestunden zu nehmen, ich traf mich mit Mädchen
ausschließlich, um mit ihnen Sex zu haben, ich machte
Kurse in sexueller Gewandheit. Ich hatte es bald nicht
mehr nur auf die Schöneren, Attraktiveren abgesehen,
mir ging es ums Studium, ich studierte die Details der
Körper und wie er reagierte, ich wollte ein Profi, wie
Rudolf gesagt hätte, werden, mein sexuelles Praktikum
zog sich in die Länge und dauerte Jahre, ich konnte
nicht aufhören damit. (Hanns-Josef Ortheil: Die grosse
Liebe, S. 106f.)
Ich suchte die Taschenbücher nach mir bekannten
Titeln ab, und ich kann mich wirklich keines
bestimmten Grundes entsinnen, warum ich nach "Brief
an den Vater" von Franz Kafka griff. Ein vergilbtes
Fischer-Taschenbuch aus dem Jahr 1975. Auch in
fremden Bücherregalen suche ich peinlicherweise
immer nur nach dem, was ich schon kenne. "Brief an
den Vater" hatten wir in der Schule gelesen, und als
ich Paps fragte, ob er es kenne, hielt er mir einen
kleinen Vortrag darüber, daß es sich dabei "um ein
glänzendes Stück Literatur" handle. Er sagte wörtlich,
der "Brief" beschreibe seine Beziehung zu seinem
Vater, wie er selbst sie nicht besser hätte
beschreiben können. Die mehrfach unfreiwillige Komik
dessen, was er da sagte, entging ihm wieder mal
völlig. Als ob irgendjemand angenommen hätte,
Markus König könne auch nur im Entferntesten mit
Kafka konkurrieren. So ist er eben. Man kann vieles
über meinen Vater behaupten, aber nicht, daß er von
Selbstzweifeln zerfressen wäre. (Georg M. Oswald:
Im Himmel, S. 89)
Er behauptete, Hochzeiten träten epidemisch auf, so
wie zu anderen Zeiten Todesfälle. Jahrelang geschehe
nichts, und dann treffe es alle möglichen Leute, die
man kennt, binnen weniger Monate. Die
Zusammenhänge seien nicht zu durchschauen. Gerade
habe man, während einer Todesfallphase, nach der
Beisetzung einer weiteren Großtante den schwarzen
Schlips gelöst, schon erfahre man, der Nachbar, ein
emeritierter Professor, dessen robuste Natur man
stets bestaunt habe, liege auf der Intensivstation.
Zwei Wochen später, der Emeritus sei inzwischen
unter der Erde, treffe den frisch pensionierten
Arbeitskollegen des Vaters, bei dem man als Kind auf
den Knien gesessen habe, beim Segeln der Schlag.
Frei Tage später rase ein ehemaliger Schulfreund nach
einem Streit mit seiner Ehefrau besoffen gegen einen
Baum und sei sofort tot. Und so weiter und so weiter.
Und dann herrsche wieder ein paar Jahre lang Ruhe.
Kein Mensch begreife, warum. (Georg M. Oswald: Im
Himmel, S. 150)
Philomena Heckler war die einzige Tochter eines
Philosophieprofessors und einer Musikerin. Aufgewachsen
in schöngeistigen, beinahe großbürgerlichen
Verhältnissen, war sie von Haus aus mit den Gaben des
Reichtums und des Verstandes bedacht und, als wäre das
nicht schon genug gewesen, auch mit jener der
Schönheit. Eine andere hätte, so ausgestattet,
vielleicht einen weisen und sanften Charakter
entwickelt, doch Philomenas Wesen strebte nicht nach
Ausgleich, ihr Reichtum machte sie arrogant, ihre
Intelligenz aufsässig, ihre Schönheit hochmütig. Sie
glich ein wenig den bösen Prinzessinen im Märchen, und
weil ihr das nicht entging, trug sie Haar und Kleidung
gerne schwarz. (Georg M. Oswald: Vom Geist der Gesetze,
S. 81)
Schellenbaum und seine Frau Lea saßen auf der Rückbank
seines Wagens, Raab, wie immer in seinen dunkelgrauen,
billigen Fahreranzug gekleidet, am Steuer. Mit
laufendem Motor warteten sie vor einem zwei Meter
hohen, weißlackierten, kugelsicheren Stahltor, das sich
langsam zur Seite schob, wobei ein elektrisches Summen
ertönte, in dem er die Kälte und Verachtung seines
Schwiegervaters zu hören fürchtete - eine absurde
Empfindung, und doch war sie da, ergriff Besitz von ihm
und manifestierte sich im Anblick des schwiegerelterlichen
Anwesens, diesem "Traum in Gelb und Weiß", wie es Leas
Mutter Irma einmal begeistert genannt hatte, protzig
und von einer unbekümmerten Stillosigkeit, die jeden,
der sich zum krittelnden Ästheten aufschwingen wollte,
entmutigen mußte. (Georg M. Oswald: Vom Geist der
Gesetze, S. 135)
Schellenbaum informierte Heckler, und Heckler reagierte
professionell. Er legte Einspruch gegen den Strafbefehl
ein und arbeitete mit Spring eine Strategie aus, durch
die Schellenbaum wie eine Festung in verschiedenen
Ringen verteidigt werden sollte: ein System aus
Verfahrens- und Beweisanträgen, das es dem Gericht so
schwer wie möglich machen würde, zur Sache zu kommen -
und was diese selbst betreffe, versicherte Heckler
seinem Mandanten, hätten sie ein paar besondere
Spezialitäten in petto. Doch auch das Gericht zeigte
Kampflust, indem es schon sehr bald den Termin zur
Hauptverhandlung bestimmte. (Georg M. Oswald: Vom Geist
der Gesetze, S. 257)
Mit dem Betreten des Appartements hatte sie alles Impulsive
gegen eine artifizielle Behrrschtheit eingetauscht, als müßten
sich innerhalb dieser Wände ihre Gefühlstemperaturen dem
kühlen Design anpassen. Das nackte Interieur mit seinem
abgedimmten blauen Licht hätte als Kulisse für einen
Longdrinkspot dienen können, in dem Marie als
unnerreichbare Diva eine unentschiedene Mischung aus
Erotik und Kälte ausstrahlt. (Karl-Heinz Ott: Endlich Stille, S.
171)
Zwischen Streit und Schweigen können unsere miteinander
verklebten Seelen kein Maß, keine Ruhe, keinen
Ausgleich finden. Wenn sie behauptet, keine einzige
Minute geschlafen zu haben, lügt sie nicht wirklich.
Sie wähnt sich schlaflos, und das genügt. Dösend,
grübelnd, träumend liegt sie halbwach und schrickt
immer wieder auf und spinnt wirre Gedanken und fühlt
sich beim ersten Morgenlicht an Leib und Seele
erschlagen. Im Dunkeln kommt sie nie auf den Gedanken,
das Fenster zu öffnen und so lange in den Nachthimmel
zu schauen, bis ihre epileptische Seele sich beruhigen
und ihr tobender Geist sich ernüchtern würde. Tief in
ihrem Inneren sucht eine dunkle Gier die gehetzten
Gefühle und erregt die fiebernde Sinne. Immerhin
übertönen die von allen Seiten einstürzenden
Durcheinandergedanken eine unerträgliche Stille und
Leere: Keiner atmtet neben ihr, keiner fragt etwas, und
keiner legt ihr im Bett einen Arm um die Brust. (Karl-
Heinz Ott: Ins Offene, S. 36)
Dagegen wirkt jene lichtdurchflutete, von keinem
gottesgerichtlichen Wahngebilde befleckte Kirche in
unserer Gegend wie das Dokument einer fremden Kultur.
Ihre Fresken, die das irdische Dasein preisen, passen
nicht zu einem Landstrich, der von einem düsteren Gott
überwacht wird. Den Hiesigen, die sich nach den
Schaudern von Golgotha sehnten, war das Rühmen der
diesseitigen Welt fremd. Am sterbensschweren Karfreitag
und novemberdunklen Allerseelen fühlten sie sich
zutiefst bei sich. Erhöhung erlebten sie in der
Erniedrigung und Rechtfertigung im Leiden. Herr, ich
bin nicht würdig, riefen sie inbrünstig und
schlugen sich dabei dreimal an die Brust und stöhnten
in jubelnder Selbstanklage: Herr, ich habe
gesündigt. Als Bedürftige wollten sie vor ihrem
Richter erscheinen, um einst im Jenseits wollüstig mit
ihrem Gott zu verschmelzen. Die irdischen Freuden
verboten sie sich aus Kalkül. (Karl-Heinz Ott: Ins
Offene, S. 74)
Warte. Wir sind noch nicht fertig. Du hast und wirst
nämlich Michel niemals das Wasser reichen können.
Die stille Hochachtung, Alek, die verschämte,
glühende Dankbarkeit, die sein Geist meinem Körper
vor und nach der Liebe zollt, der verträumte Glanz,
der sich nachts über sein Gesicht legt: wie ein
bescheidener Stehgeiger, dem man erlaubt hat, eine
Stradivari zu berühren. Jeden Abend, als sei es das
erste Mal in seinem Leben, tasten seine Finger über
meinen Körper, gleichsam überrascht über den
ausbleibenden Peitschenhieb. Und beim Licht der
Nachttischlampe, wenn er aufsteht, um mir das
Nachthemd zu holen, sagen seine kurzsichtigen
Augen mir in stummem Glühen, daß die königlichen
Gnaden, mit denen ich ihn unverdient überschüttet
habe, größer und erhabener als er selber seien. Ein
verhaltener, geistiger Schimmer, wie ein Gebet,
erleuchtet von innen her seine Stirn. (Amos Oz: Black
Box, S. 114f.)
Überhaupt, Boas, kannst Du von mir aus tun, was Du
willst, meinetwegen verwandel Dich in einen Araber,
wenn Du auf ihrer Seite bist. Nur tu mir den Gefallen
und fang nicht an mir zu erklären, was ein Araber ist.
Ich bin unter ihnen aufgewachsen und kenne sie sehr
gut: Du wirst Dich vielleicht wundern, von mir zu
hören, daß der Araber im Grunde sehr positiv ist, sich
durch viele edle Merkmale auszeichnet, und in seiner
Religion gibt es einige schöne Dinge, die unmittelbar
aus dem Judentum übernommen sind. Aber das
Blutvergießen ist bei ihnen tief in ihrer Tradition
verwurzelt. Was kann man machen, Boas, das ist
eben, wie es Tora es uns von Ismael sagt: "Es wird
ein wilder Mensch sein. Seine Hand gegen alle, die
Hände aller gegen ihn." Bei ihnen steht im Koran:
"Der Glaube Mohammads durch das Schwert."
Demgegenüber heißt es bei uns in der Tora: "Zion
wird durch das Recht gerettet." Das ist der
Unterschied. Jetzt kannst Du allein entscheiden, was
besser für Dich paßt. (Amos Oz: Black Box, S. 148f.)
Ich glühe vor Begierde, ein für allemal zu beweisen,
daß weder die Eigensucht noch die Niedertracht oder
die Grausamkeit in unserem Wesen uns zu einer
selbstzerstörerischen Spezies macht. Daß wir uns
selber vernichten (ja demnächst endlich unsere
sämtlichen Artgenossen auslöschen werden), liegt
gerade an den "edlen Sehnsüchten", die uns
innewohnen: an der religiösen Krankheit. An dem
brennenden Verlangen, "errettet zu werden". Am
Erlösungswahn. Und was ist dieser Erlösungswahn?
Doch nur eine Tarnung für den allgemeinen Mangel an
elementarer Lebensbegabung. Einer Gabe, mit der
jede Katze begnadet ist. Während wir - ähnlich den
Walen, die sich im Drang zum Massenselbstmord auf
den Strand werfen - an fortgeschrittenem
Lebensbegabungsschwund leiden. (Amos Oz: Black
Box, S. 305)
Die Reisenden waren sich einig, daß die finnische
Gesellschaft knallhart war. Es herrschten raue Sitten.
Die Finnen waren grausam zueinander und von
gegenseitigem Neid verzehrt. Habgier war allgemein
verbreitet, verbissen wurde Geld gerafft. Die Finnen
waren mißgünstig und finster. Wenn sie lachten, dann
weniger aus Freude als vielmehr aus Schadenfreude. Groß
war die Anzahl der Betrüger, Falschspieler, Lügner. Die
Reichen beuteten die Armen aus, ließen sie
schwindelerregende Mieten zahlen und preßten ihnen
horrende Zinsen ab. Die Armen randalierten und
schlugen alles kaputt, und sie erzogen auch ihre
Kinder nicht zu besseren Menschen, denn diese waren
eine regelrechte Landplage, sie beschmierten Häuser und
Gegenstände, Züge und Autos, zerschmissene Fenster,
kotzten die Fahrstühle voll und verrichteten ihre
Notdurft darin. Finnlands beamtete Herren erdachten um
die Wette neue Antragsformulare, um das Volk zu
demütigen und es zu zwingen, von Schalter zu Schalter
zu rennen. Die Einzel- und Großhändler zogen den armen
Leuten auch noch die letzten Groschen aus der Tasche.
Die Spekulanten bauten die teuersten Wohnungen der
Welt. Wurde man krank, behandelten einen hochmütige
Ärzte wie einen alten Gaul, der geschlachtet werden
sollte. Ertrug man all das nicht und bekam einen
Nervenzusammenbruch, steckten einen rüde Pfleger in der
Nervenklinik in die Zwangsjacke und jagten einem eine
Spritze in die Adern, die einem auch noch die letzten
klaren Gedanken trübte. Im lieben Heimatland beuteten
Industriekonzerne und Waldbesitzer unbekümmert das
Nationaleigentum aus, und was übrig blieb, fraßen die
Borkenkäfer kahl. Vom Himmel regnete es bittere Säure,
die den Boden vergiftete und unfruchtbar machte. Die
Landwirte bestreuten ihre Felder so dick mit Dünger,
daß in den Flüssen, Seen und Meeresbuchten giftige
Algen wucherten. Aus den Schornsteinen und Abflußrohren
der Fabriken rieselte Schmutz in die Augen der Menschen
und in die öffentlichen Gewässer. Die Fische starben,
und aus den Eiern der Vögel schälten sich klägliche
Frühgeburten. Auf den Landstraßen tobten sich
dummdreiste Tempoidioten aus, mit deren unglücklichen
Opfern sich die Friedhöfe und Intensivstationen der
Krankenhäuser füllten. In den Fabriken und Büros wurden
die Beschäftigten gezwungen, mit den Maschinen um die
Wette zu arbeiten, und wenn der Mensch ermüdete, wurde
er aussortiert. Die Vorgesetzten verlangten
ununterbrochene Leistungsfähigkeit, demütigten und
erniedrigten ihre Untergebenen. Die Frauen wurden
bedrängt, immer fand sich ein selbstgefälliger Kerl,
der es für sein Recht hielt, ihnen an den Hintern zu
grabschen, der ohnehin schon von Cellulite geplagt war.
Die Männer standen unter dem Zwang, permanent Kompetenz
zeigen zu müssen, wovon sie sich nicht einmal während
ihres kurzen Urlaubs befreien konnten. Fiese
Arbeitskollegen belauerten einer den anderen und
mobbten die Schwächeren an den Rand des
Nervenzusammebruchs und noch weiter. Wenn man trank,
ruinierte man sich die Leber und die
Bauchspeicheldrüse. Wenn man anständig aß, stiegen die
Cholesterinwerte des Blutes. Wenn man rauchte, nistete
sich in der Lunge der tödliche Krebs ein. Was man auch
tat, immer war es verkehrt. Manch einer joggte, was das
Zeug hielt, und brach vor Überanstrengung auf dem Pfad
zusammen. Wer nicht lief, nahm von den Fetten in der
Nahrung zu und bekam Gelenkschäden und Rückenprobleme
und starb schließlich an Herzschlag. (Arto Paasilinna:
Der wunderbare Massenselbstmord, S. 165f.)
Natürlich kenne ich die Bilder von Vera und Tamas. Es sind
Aufnahmen, die Anfang der Vierzigerjahre in einem Budapester
Fotoatelier gemacht wurden; handkoloriert, sagt meine Mutter.
In Hannahs Wohnung hängen zwei Abzüge zusammen mit dem
berühmten Joschi-wirft-einen-Schatten-Foto und zahlreichen
anderen Familienbildern neben dem Eßtisch. Bei uns zuhause
findet man sie erst nach längerem Suchen und auch nur dann,
wenn man das komplizierte Ablagssystem meiner Mutter versteht.
Bilder müssen reisen, sagt sie. Also sind
die Bilder in unserer Wohnung ständig unterwegs, sie wandern von
Wänden in Schubladen hinein und auf Regale und von dort aus wieder
zurück an eine andere Wand. Meine Mutter illustriert Bücher, und
auch ihre Zeichnungen müssen erst mal einen langen Weg zurücklegen,
bevor sie in einem Buch erscheinen dürfen. Sie sagt, sie habe in
ihrem ganzen Leben noch nie ein Bild verloren. Es gibt auch eine
große Kiste für müde Bilder, die schon viel herumgekommen sind. Dort
habe ich Vera und Tamas das letzte Mal gesehen. (Susann Pasztor: Ein
fabelhafter Lügner)
Wahrscheinlich sind die Geschmacksverirrungen der achtziger
Jahre eines der düstersten Kapitel der
Menschheitsgeschichte. Jede Wiederholung von Formel eins
in irgendeinem Nachtprogramm deprimiert mich über die
Maßen, und vielleicht sollte mabn in therapeutischen
Sitzungen Bänder von solchen Sendungen abspielen, anstatt
nach Vati und Mutti zu fragen, vielleicht hätte das kathartische
Effekte. (Ulrich Peltzer: Teil der Lösung, S. 162)
Hier bin ich in alten Zeiten immer mit meiner Tochter
Samantha zur Messe gegangen. Meine Frau, ein ehemals
episkopälisches Mädchen aus Virginia, hat unsere Tochter
Samantha genannt in der Hoffnung, daß dieser dunkle
grazile heidnische Name irgendwie die Gestalt des Kindes
bilden würde, aber oh Jammer für Doris, Samantha entpuppte
sich als mollig, blond, picklig und fromm, eine von
denen, die nach den Stunden noch gern in der Schule
herumlungern und den Schwestern helfen, die trockenen
Schwämme auszuklopfen. (Walker Percy: Liebe in Ruinen)
Was nun mich betrifft, so war ich ein gescheiter Junge, und im Alter
von sechsundzwanzig habe ich zu der Hoffnung Anlaß gegeben, der
Familie wieder Glanz zu verleihen, zum erstenmal seit Sir Thomas
More, dieser großen Seele, dem liebsten besten edelsten fröhlichsten
unter den Engländern. Mein Beitrag, beeile ich mich hinzuzufügen,
war auf dem Gebiet der Wissenschaft, nicht der Heiligkeit. Warum
kann ich nicht Mores Beispiel folgen, mich selbst weniger lieben,
Gott und meinen Nächsten mehr und die Finger vom Whisky und den
Frauen lassen? Sir Thomas More war fröhlich im Leben und im Tode,
und er hat alle geliebt und wurde von allen geliebt, selbst von
seinem Henker, mit dem er Witze riß. Im Gegensatz dazu bin ich in
den Fängen von Grauen und Begierde und lebe ein einsames Leben. Mein
Leben ist eine Sehnsucht, Sehnsucht nach Frauen, nach dem
Nobelkreis, nach dem scharfen waldigen Beißen von Bourbon Whisky und
andere große herzzerreißende Sehnsüchte, die keinen Namen haben. Sir
Thomas hatte natürlich recht, und ich habe unrecht. Aber auf der
andern Seite haben wir seltsame Zeiten... (Walker Percy: Liebe in
Ruinen)
Rosario war ein zartes, zierliches Mädchen mit
einer leichten Neigung zu dem, was die Portugiesen
Saudade, Schwermut, nennen. Ihr feingeschnittenes,
reines Gesicht hatte den sanften Glanz, den die
meisten Dichter ihren Heldinnen zuschreiben und
ohne den offenbar keine Enriqueta und keine Julia
interessant sein kann. Rosaios Züge verrieten eine
derartige Sanftmut und Bescheidenheit, daß man die
Vorzüge, die ihr abgingen, gar nicht vermißte, wenn
man sie ansah. Damit soll nicht gesagt sein, daß sie
häßlich war, aber ebenso sicher wäre es eine
Übertreibung, wollte sie jemand schön im strengen
Sinn des Wortes nennen. (Benito Perez Galdos:
Dona Perfecta, S. 35)
Leute wie meine alte Dame, die immer mit einem
Auge darauf achten, daß deine Wunde nicht zuheilt,
verbringen ihre Tage tatsächlich damit, Scheiße zu
einem gigantischen Netz zu knüpfen. Wirklich wahr.
Sie nehmen sich jedes beschissene Wort im
Universum und verwenden es dazu, in deiner Wunde
zu wühlen. Völlig egal, was du sagst, du kriegst es
mit der Klinge zu spüren. Nur mal als Beispiel: "Wow,
guck mal, das Auto dort!" "Ja, genau, das ist
dasselbe Blau wie von der Hose, auf die du dich bei
der Weihnachtsaufführung übergeben hast, weißt du
noch?" Mir ist klargeworden, wie Eltern das
hinkriegen, daß sie immer gewinnen: Sie verwalten
die Datenbank deiner Blödheiten, inklusive des
ganzen Schleims, den du angesammelt hast. Immer
kampfbereit. Im Bruchteil einer Sekunde bist du
erledigt, ganz im Ernst - das geht schneller, als du
die Artillerie benutzen könntest, von der du die ganze
Zeit träumst. Und wenn ihr mich fragt: In
langweiligen Momenten, wenn beim Nachwuchs so
langsam der erste Lack abblättert, machen sie es aus
reinem Spaß an der Sache. (DBC Pierre: Jesus, von
Texas, S. 59)
Wir reden hier über eine Gegend, in der die
Unterwäsche ziemlich ausgebeult an den Beinen
baumelt. Ol'Mr. Deutschman zum Beispiel wohnt hier
draußen, der früher mal ehrbar und anständig war.
Wenn man früher mal weniger schlimm war, dann
landet man in Crockett's. Hier leben Typen, die sich
gegenseitig die Fresse polieren und ihre Vergaser
eigenhändig reinigen. Es ist anders als da, wo ich
wohne, näher an der Stadt, wo die Leute alles
totschweigen und in sich reinfressen. Das machen sie
so lange, bis mal jemand explodiert, weshalb man die
ganze Zeit gespannt darauf wartet, bei wem's als
nächstes knallt. Wahrscheinlich ist es so ne' Art
streng riechende Ehrlichkeit, die man hier in
Crockett's findet. Streng riechende Ehrlichkeit und
saubere Vergaser. (DBC Pierre: Jesus, von Texas, S.
132f.)
Das ist die Situation, in der mich der entscheidende
Schlag des Tages trifft, der, den ich nicht erwartet
hab: Das Schicksal teilt Taylor ein Lied zu. Es gibt
diesen Punkt, wo man denkt, jetzt ist man schon so
übel zugerichtet worden, mehr geht nicht, mehr
erlauben die Naturgesetze nicht. Und genau an
diesem Punkt passiert dann immer noch was, womit
man nicht gerechnet hat. Ich weiß schon, wie's jetzt
weitergeht. Wenn sich ein Schicksalslied erst mal
eingenistet hat, auch wenn's nicht jeder zugeben
würde. Schicksalslieder sind wie Herpes, verdammt -
einfach nicht totzukriegen. Man hat nur eine einzige
Chance: Man kauft das verdammte Lied und hört es
sich Tag und Nacht an, bis es jede Bedeutung
verloren hat. Das kann höchstens vierzig Gazillionen
Jahre dauern. Jeder weiß das, aber trotzdem kann ich
mich nicht erinnern, in der Schule jemals was über die
zerstörerische Kraft von Schicksalsliedern gehört zu
haben. Diese kleine Perle der Weisheit haben sie uns
verheimlicht. Ich meine, ich laß mich da gerne
berichtigen, vielleicht war ich ja nicht da an diesem
Tag, oder es war der Tag, an dem ich den Schulfhof
fegen mußte, weil ich die Frösche aus dem
Biologieraum befreit hab. Aber so, wie ich mich an die
Sache erinnere, waren wir viel zu beschäftigt damit,
Surinam zu assimilieren, um irgendwas von
bleibendem Wert zu lernen. Schicksalslieder zum
Beispiel. (DBC Pierre: Jesus, von Texas, S. 226)
Bepy und Ada hatten das Gefühl, die Welt sei ihnen
etwas schuldig. Das ist alles. Gewöhnlich entwickeln
die Leute, die knapp am Tod vorbeigekommen sind, in der
Folge des Traumas eine Umsicht, die sich als Albtraum
bei Nacht oder Vorahnung am Tag verbrämt. Die Sonninos
dagegen erteilten sich eine besondere vollkommene
Immunität, die einerseits von der Überzeugung getragen
wurde, daß, wer den Mut gehabt hatte, ein so riesiges
Unglück durchzustehen, auch dazu ausgerüstet sei,
darauf folgende Schläge von gewiß geringerem Ausmaß zu
verschmerzen, und die andererseits vom Bewußtsein des
Rechts auf Wiedergutmachung getragen wurde, das
jegliche monotheistische Religion und jegliche liberale
Gesetzgebung (so offensichtlich im Widerspruch zu den
Gesetzen des menschlichen Schicksals) garantiert. Die
Geschichte sollte ihnen zeigen, daß es besser ist, mit
fünfundzwanzig Jahren von den Nazis verfolgt zu werden,
in der Hoffnung davonzukommen, als mit sechzig
plötzlich ohne Geld in der Tasche dazustehen und im
Herzen einer grausam gleichgültigen westlichen
Demokratie der öffentlichen Mißbilligung ausgesetzt zu
sein. (Alessandro Piperno: Mit bösen Absichten, S. 18)
Die Homosexualität ist nämlich kein Scherz. Oder
zumindest ist sie keiner in der äußerst laizistischen,
äußerst offenen, äußerst freizügigen Familie. Wenn mein
Vater berufshalber mit einem jener delikaten
angelsächsischen Schwulen - fruchtiger Wein und Kunst
der Renaissance - zu tun bekommt, ergeht er sich in
ekstatischem Gejubel: "Ich habe einen faszinierenden
australischen Designer kennen kennen gelernt, einen
Schwulen comme il faut..." Ja, kurz, die
Homosexualität ist ein großes Ding, wenn sie die Söhne
der anderen trifft. Aber unsere eigenen? Na, sagen wir,
daß man hierzulande die Schwulheit eher ästhetisierend
betrachtet: Sie kann schön sein wie ein Kleid von
Valentino, nur darf es keiner von uns tragen. Nehmen
wir den Tag, an dem ich knapp zwölfjährig an das Bett
des sterbenden Bepy trete und ihn, beinahe ohne zu
überlegen, frage: "Opa, und wenn ich ein Gay wäre?...",
um zu sehen, wie sein Gesicht vorübergehend die rote
Farbe der Wut und des Lebens wiedergewinnt.: "Um Gottes
willen, Daniel, unser Herrgott hat dir einen
ordentlichen Schwanz zum Ficken gegeben, und nicht, um
dich verarschen zu lassen." Wortwörtlich. (Alessandro
Piperno: Mit bösen Absichten, S. 65)
Nehmen wir den Tag, an dem Großvater bei einem
Aufenthalt im Hotel Cristall in Cortina d'Ampezzo nach
einem prächtigen Frühstück im Zimmer - mit all dem
glitzernden Hotelkleinkram, auf den er nicht verzichten
kann - meinen Bruder Lorenzo und mich, noch Kinder, zur
Darmentleerung ins Bad einschließt und uns, gereizt
durch unsere Proteste: "Wir müssen jetzt nicht!"
zurechtweist: "Das ist mir scheißegal!" "Opa, ich flehe
dich an, mach die Tür auf!" "Ich verbiete euch, die
Strippe zu ziehen, ich möchte etwas sehen! Das ist eine
Frage der geistigen Ordnung!" Nun gut, er tut nichts
anderes als uns zu zeigen, daß eine gewisse,
martialische Strenge die richtige Medizin ist gegen das
kindliche Getue unserer Generation und unserer Zeit.
(Alessandro Piperno: Mit bösen Absichten, S. 20)
Denn heutzutage ist es ein Vergnügen, Jude zu sein.
Bemitleidet, versorgt, hoch gepriesen: Mit diesen drei
Wörtern ist die Lebensbedingung des zeitgenössischen
Juden definiert. Es gibt Leute, die entgegen jeder
Logik Nachforschungen anstellen, um sich ihre
Abstammung nicht etwa von einem Perücken tragenden
Grafen oder Marquis, sondern von einem frommen
Israeliten aus dem sechszehnten Jahrhundert beglaubigen
zu lassen. Von einem Männchen à la Montaigne, Hauswesen
und Familie zugetan. Unglaublich. Ein Jude im
Stammbaum: der große Traum, der das einundzwanzigste
Jahrhundert kennzeichnet. Die Heraldik des neuen
Jahrtausends. Das Markenzeichen, das dich zu einem
schmerzlichen Salonlöwen und einem zivilen Provokateur
macht. Es kann dir nicht entgehen, daß die Zeichen des
Penisneids verdrängt wurden von der Epoche, die dem
Neid um die Beschnittene Vorhaut gewidmet ist.
(Alessandro Piperno: Mit bösen Absichten, S. 56)
Er brachte es so weit, daß er an das Kompliment
glaubte, das er machen wollte. Wie oft überschlug sich
Opa bei Frauen von stadtbekannter Häßlichkeit in
waghalsigen Lobsprüchen: "So hinreißend wie heute habe
ich dich selten gesehen, meine Liebe." Es reichte diese
schamlose, liebkosende Bestätigung, mit solcher
Überzeugung vom Fürsten der Beweihräucherung
ausgeteilt, um die Unglückselige - wenigstens einmal in
ihrer faden Existenz dritten Ranges - in eine verehrte
Greta Garbo umzuwandeln. In seinem Lob war keine
Spötterei versteckt; und niemand hat je entdeckt, ob
diese Lobeshymne denen mehr nützten, die sie bekamen,
oder eher dem, der sie austeilte. (Alessandro Piperno:
Mit bösen Absichten, S. 47)
Für meinen Vater war die Zukunft die Wohnstätte der
Intelligenten. Er haßte die Apokalyptiker und die
Vergangenheitsschwärmer. Es war unerläßlich, sich
hartnäckig für die Gegenwart zu interessieren. Das war
das richtige Rezept. Nicht wie die Väter meiner
Schulkameraden, nicht vom Typ ein Schlager aus
meiner Zeit. Sein musikalischer Ansatz war
unausweichliches Ausströmen und strahlender
Zusammenklang seines feelings mit dem Universum:
neugierig, manchmal sogar mutig, sogar experimentell,
sicherlich vom Typ Allesfresser, und somit vollkommen
immun gegen jeglichen Sobismus. Ungeniert mischte er
Neuheiten und Evergreens: von Thelonius Monk bis zu den
Supertramp in einer ästhetischen Akrobatik, die ein
Teil seiner unersättlichen Liebe zur Welt war. Einer
raubgierigen Liebe zu seiner Zeit. Einer fresssüchtigen
Liebe zum Abendland und zum zwanzigsten Jahrhundert,
gesäubert von allem schrecklichen Schmutz und von dem
herrlichen Traum des Fortschritts verklärt, der
ausgerechnet in jenen Jahren - den Jahren seiner Reife
- wieder Wind in den Segeln hatte. (Alessandro Piperno:
Mit bösen Absichten, S. 98)
Damals wurde Giorgio geradezu geplagt von seiner
langweiligen Schönheit, die er durch die seinem Körper
zugemuteten, übertriebenen Sorgfalt ins Überdimensionale
steigerte. Der chirurgische Eingriff, dem er sich
(heimlich) unterzogen hatte, um seine von ihm selbst
als zu abstehend beurteilten Ohren zu korrigieren,
hatte die Wirkung gezeitigt, daß seine Hübschheit nun
noch banaler war. Diese physiognomische Gefälligkeit
schien dazu angetan, einen bei der ersten Begegnung zu
beeindrucken, wenn das Hirn beinahe zertreut Giorgio in
die Kategorie der "hübschen Jungen" einreihte. Aber
bedauerlicherweise war dieses Urteil nicht in der Lage,
den häufigen Zusammenkünften einer Freundschaft, aber
auch nicht einmal gelegentlichen Zusammenkünften
standzuhalten. Schon wenn man ihn zum zweiten oder
dritten Mal sah, störten einen das fein geschnittene
Näschen, die künstlichen Ohren und die in ihrer eigenen
Starrheit ertrinkenden Augen. Unser armer Junge schien
das unschuldige Opfer der Verwünschung einer höhnischen
Hexe zu sein, die sich einen Spaß daraus gemacht hatte,
seine Schönheit auf mysteriöse Weise in etwas Lästiges
zu verwandeln. Giorgios Gesicht erinnerte an jene
Geräuschkulisse, deren Lärmen einem erst bewußt wird,
wenn sie plötzlich aufhören, einen zu belästigen.
(Alessandro Piperno: Mit bösen Absichten, S. 217)
Das wirklich Typische an seiner Person war, wie er
sprach: Herr Sevi bemühte sich ungeheuer, den Tonfall,
der seine niedrige Herkunft anzeigte, in die Tiefe des
Zwerchfells hinunterzudrängen. Er gehörte zu den
Individuen, die vor dem Italienischen einen Dialekt
gelernt haben und deshalb schreckliche,
selbstbestrafende Anstrengungen auf sich nehmen, um
sich von dessen übermächtigen Einfluß zu befreien und
sich kopfüber in die Arme der Hochsprache zu werfen. Es
war, als ob dieser Herr, wenn er sprach - insbesondere
mit den Freunden seines Sohnes, oder mit seinen
generösen Kunden - sich unentwegt am Rand eines
Abgrunds fühlte. Ein Schritt über die Sprache hinaus,
ein vergessener oder unerwartet verdoppelter Konsonant
hätten gereicht, um ihn in die Tiefe seiner
gesellschaftlichen Abstammung hinunter zu schleudern.
(Alessandro Piperno: Mit bösen Absichten, S. 219)
Wie lange werde ich meinen verderblichen Hang zum
Mißgeschick, die unbezähmbare, mir im Blut liegende
Kraft in Schach halten, die mich seit meinen ersten
Lebensjahren immer wieder so weit bringt, mindestens
zweimal pro Mahlzeit dem Herrn des Hauses die
Wasserflasche über die Hose zu schütten oder einen
wertvollen Gegenstand umzustoßen und in Staub
aufzulösen? Wie viele Tage werde ich, ein Fauxpas-
Spezialist, meine Natur bremsen können, wo alles in
diesem Haus auf eine metaphysische Zerbrechlichkeit
anzuspielen scheint und wo die übertriebene
Aufmerksamkeit meine Bewegungen in die kurzen
synkopierten Zuckungen eines pathetischen Pinnicchio
verwandelt hat? (Alessandro Piperno: Mit bösen
Absichten, S. 242)
Als ich deshalb auf verstellt scherzhafte Weise meinem
Vater vorwarf, mich nicht so schön gemacht zu haben wie
einen Schauspieler, und er ungeduldig wurde: "Ach Gott,
Daniel, was soll denn das? Du bist schöner als Sartre,
Simenon und Kissinger, und diese Satyre haben fast ihr
ganzes Leben mit Ficken verbracht", hätte ich ihm gern
erklärt, die Freude, schöner zu sein als Sartre,
Simenon und Kissinger, entschädige nicht im Geringsten
meine Traurigkeit darüber, viel häßlicher zu sein als
Marlon Brando. (Alessandro Piperno: Mit bösen
Absichten, S. 278)
Kimberly Monera blickte uns mit
zusammengekniffenen Augen an, ein wenig berauscht
von ihrem neuen Titel. "Ihr zwei, seid ihr Mohren?"
Sprach ein mythisches Geschöpf zum anderen. Jonah
sah mich fragend an, doch ich hob wehrlos die Hände.
"Das kommt", antwortete er, "drauf an, was das ist."
"So richtig weiß ich das auch nicht. Früher gab es sie
in Spanien, und dann sind sie, glaube ich, nach
Venedig gegangen." Jonah sah mich an und schnitt
eine Grimasse. Mit dem Zeigefinger machte er kleine
kreisende Bewegungen an seinem Ohr, damals das
Zeichen für jene abenteuerlichen Windungen des
Geistes, die unsere Schulkameraden "bescheuert"
nannten. (Richard Powers: Der Klang der Zeit, S. 73)
Er wußte besser als jeder andere, daß sein
Stimmbruch bevorstand. Die ersten Guerillaangriffe
der Pubertät hatte er klar und ungebrochen
überstanden, und nichts deutete auf die kommende
Katastrophe hin. Aber unablässig dachte er an den
Tag, an dem er mit seiner Stimme zu Ende sein
würde. Er ging nicht mehr in die Sonne, trieb keinen
Sport, aß nur noch Birnen und Haferflocken und auch
davon nur wenig, ließ sich jeden Tag neue
Gegenmittel einfallen in dem verzweifelten Versuch,
das Unaufhaltsame aufzuhalten. Einmal riß er mich
mitten in der Nacht aus tiefem Schlaf. In meiner
Verwirrung dachte ich, es sei jemand gestorben.
"Joey, wach auf", flüsterte er leise, damit Earl und
Thad nicht erwachten. Er schüttelte mich an der
Schulter, bis ich die Augen aufschlug. Etwas
Entsetzliches mußt geschehen sein. "Joey, kannst du
dir das vorstellen? Aus meinen Eiern wachsen
Härchen. Ich kann sie fühlen, zwei Stück!" Er führte
mich ins Bad und zeigte mir die Entwicklung. Eher als
an die Haare erinnere ich mich an sein Entsetzen. "Es
ist soweit, Joey." Seine Stimme war heiser, belegt.
Nur diese paar Augenblicke blieben ihm noch, seine
letzten klaren Worte, bevor er sich zum Werwolf
wandelte. (Richard Powers: Der Klang der Zeit, S. 85)
William, der Urenkel, setzte zu einem Höhenflug an,
der selbst Nathaniels kühnste Hoffnungen übertraf. Er
wagte sich vor nach Washington, in die Bastion an
der Grenze zum alten Süden, und begann ein Studium
an der Howard-Universität. Als er knapp ein Jahrzehnt
später zurückkehrte, war er Doktor der Medizin und
ein verbrieftes Mitglied der geistigen Elite des
Landes. Er sprach nie von den Jahren dazwischen, die
ihn zweimal an den Rand des psychischen
Zusammenbruchs geführt hatten. Am Medizinstudium
scheiterten selbst Leute, die nicht auf Schritt und
Tritt mit Rassenschranken zu kämpfen hatten. Aber
William bewältigte den Stoff, kannte schließlich jeden
Muskel, jede Ader und jeden einzelnen Nerv, aus dem
sich der gottgleiche Körper eines jeden Menschen
zusammensetzt. Dr. William Daley beendete seine
praktische Ausbildung an just dem Negerkrankenhaus,
in dem die Mitglieder seiner Familie seit Generationen
als Musterpatienten gelitten hatten. (Richard Powers:
Der Klang der Zeit, S. 92)
In der harten Arbeit des täglichen Lebens hält er sich
tapfer. Er ist nicht gerade häuslich, und seine
Körperpflege ist noch unberechenbarer als seine
unregelmäßigen Verben. Seine Art treibt sie zur
Verzweiflung. Er bringt es fertig und läßt eine
Schachtel Eiscreme auf der Anrichte stehen, und zwei
Stunden später wundert er sich, daß sie ihm an den
Schuhsohlen klebt. Aber er kann auch über sich selbst
lachen. Und für einen Mann der Theorie ist er
bemerkenswert geduldig. Ein Mann so gutmütig wie
die Zeit lang ist. Zum Glück ist er älter als sie und
kann echte Sorgen leichter von den vielen
Kleinigkeiten des Tages unterscheiden. Es ist ihre
Rettung, hundertmal im Monat, daß er nur selten
Vorstellung davon hat, wie etwas getan werden
sollte. Daß sie beide so unterschiedlich sind, macht
ihm immer wieder Freude. Er übernimmt eine
Redensart von ihr, den Satz, den sie ausrief, als sie
ihn zum ersten Mal eine Sieben schreiben sah. Kaum
eine Woche vergeht - ob sie nun Eintopf kocht, eine
Rechnung bezahlt oder ein Bild aufhängt-, in der er
nicht irgendwann sagen muß: "Jetzt schau sich das
einer an!" (Richard Powers: Der Klang der Zeit, S.
396)
Terrie konnte keine Noten lesen. Aber trotzdem ist
mir kaum je ein musikalischerer Mensch begegnet. Sie
verfolgte das Auf und Ab der Hitparaden mit einem
Ernst, den die meisten Menschen den Gedanken an
ihren eigenen Tod vorbehalten. Ein einziger
verminderter Akkord an der richtigen Stelle öffnete ihr
das Herz, und die Seele kam zum Vorschein. Musik
stieg aus dem Erdboden auf und bemächtigte sich
ihrer Füße. Wenn sie für längere Zeit von Musik
abgeschnitten war, verlor sie alle Energie. Aber schon
der einfältigste Trip von Tonika zu Dominante und
zurück ließ ihre Lebensgeister neu erwachen. (Richard
Powers: Der Klang der Zeit, S. 524)
Aber daß Wilhelm Möpsel, der ewige Kandidat, das Examen ohne
fremde und geheimnisvoll wirkende Zauberkräfte bestanden haben
sollte, das mußte eben allen, die seine heftige Neigung zum
interessanten Skatspiel und seine Vorliebe für kraftvoll
gemischte Knickebeine kannten, ein noch viel größeres Wunder
erscheinen. Gleichviel. Wunder oder nicht – Wilhelm Möpsel war
praktischer Arzt, und auch seine staatlich geprüfte Kunst als
Geburtshelfer drohte den noch ungeborenen Generationen. (Rudolf
Presber: Mein Patient)
"Diese dreckigen Katholiken!" sagte Beutle. "Das sind
alles Verbrecher, die begehen jedes Verbrechen, weil
sie nachher ja zur Beichte gehn können. Ein paar
Gebete, und hui, alles ist wieder rein! Da war mal ein
Ire, der klaut seinem Nachbarn fünf Hennen, und dann
geht er beichten und sagt: 'Vater, ich hab' ein paar
Hühner geklaut.' - 'Na, wie viele denn?' sagt der
Pfarrer. 'Fünf, Vater, aber sagen wir lieber zehn, und
ich hol' mir den Rest auf dem Heimweg'" (Annie Proulx:
Das grüne Akkordeon, S. 95)
Ein Mann mit säbelbeinigem Gang blickte sie wütend an,
tat so, als würde er mit etwas werfen, und als wäre
diese Geste ein Befehl, bückte sich ein Junge nach
einer Schnapsflasche, die an einer graffitibemalten
Mauer lehnte, und schleuderte sie lässig in ihre
Richtung. Sie zerplatzte dicht vor dem Wagen, Splitter
prasselten auf die Haube. "Mamafickerarschloch!" sagte
Vergil. "Gott sei Dank hat er nicht getroffen", sagte
Josephine, klammerte sich an den Rand ihres Sitzes und
wünschte sich, der Wagen hätte getönte Fenster. "Der
Wichser hat mit Absicht danebengeworfen. War nur
symbolisch - diese Wichsnasen spielen sechszehn Stunden
am Tag nur Basketball, und der könnte wahrscheinlich
auf fünfzig Meter eine Fliege mit einem Reiskorn
treffen." (Annie Proulx: Das grüne Akkordeon, S. 529)
Es fiel ihr allmählich schwer, Entscheidungen zu
treffen. Es gab zu viele Sorten Katzenfutter, zu viele
Formen, Größen und Marken von Kugelschreibern; Arten
und Verpackungen von Shampoo; Tomatenbüchseninhalte -
ganz, gestückelt, Soße oder Mark, Strumpfhosen und
Strümpfe in zahllosen Farbtönen, mit eingearbeitetem
Miederhöschen oder Glitzereffekt, durchsichtig oder
blickdicht in Dutzenden von Geweben, der Zwickel oder
die Zehen verstärkt oder nicht, klein, mittel, normal
oder Sondergröße, Zahnpastamarken, Formen und
Härtegrade von Zahnbürsten; Bettwäsche mit Fadendichte
180 bis 320, hundert Farben, geblümt, gestreift,
getupft, mit Comic-Figuren, in Leinen, Damast,
ägyptischer Baumwolle, Satin, kariert, mit
Stickumrandung oder Monogramm, Flanell; zu viele
Zuchtapfelsorten; alkoholfreie Getränke in fingerhut-
bis kanistergroßen Behältern und Säfte und Wasser aus
unzähligen naturreinen Quellen, und die Läden selbst,
surreal, hell erleuchtet, wie geklont in schicken
Einkaufszentren, Ursache langwierigen Auswählens, bei
dem man letztlich doch keine Wahl hatte. (Annie Proulx:
Das grüne Akkordeon, S. 626)
Schließlich muß man ja leben, nicht wahr? Und wovon lebt man,
frag ich euch? Von der Luft des Wetters, selbstverständlich -
wenigstens zum Teil, möcht ich sagen, und daran stirbt man auch
-, aber viel mehr noch von jenem gehaltvollen Mark, das der
Zaster ist. Dieses zuckersüße, geschmackvolle und polygene
Produkt, das sich allzu leicht verflüchtigt, dieweil es sich nur
im Schweiße des Angesichts erwerben läßt, zumindest gilt das für
die Ausgebeuteten dieser Erde, zu denen auch ich gehöre und deren
erster sich Adam mit Vornamen nannte, der von den Elohim
tyrannisiert wurde, wie jeder weiß. Obgleich seine Hütte in Eden
ihnen nicht lästig zu sein scheint in den Augen und nach dem
Urteil der heutigen Menschen, verbannten sie ihn in die Kolonien,
um dort den Boden harken und Pampelmus wachsen zu lassen, während
sie den Hypnotiseuren verboten, seinem Ehegespons beim Gebären zu
helfen, und sie die Schlangen zwangen, ihnen die Beine um den
Hals zu legen. (Raymond Queneau: Zazie in der Metro)
"Sie sind doch ein großes Arschloch." "Es gibt tatsächlich
Bullen, die nicht sehr aufgeweckt sind." "Aber Sie haben was aufm
Kasten." "Ja, wie, ist das die ganze Wirkung, die meine Erklärung
auf Sie gemacht hat? Meine Liebeserklärung?" "Sie werden sich
doch nicht im Ernst einbilden, daß ich mich so einfach hinlege:
auf Wunsch." "Ich glaube, daß mein persönlicher Charme Sie
letztlich nicht gleichgültig lassen wird." "Was man doch nicht
alles hören muß!" "Sie werden schon sehen. Ein kleines Gespräch,
und meine Verführungskünste beginnen zu wirken." "Und wenn sie
nicht wirken?" "Dann spring ich Sie einfach an. Ganz glatt." "Na
los, versuchen Sie's doch. "Oh, ich habe Zeit. Es ist nur im
äußersten Notfall, daß ich zu diesem Mittel greife, das, wie ich
gestehen muß, mein Gewissen nicht vollständig gutheißt." (Raymond
Queneau: Zazie in der Metro)
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[Allgemeine Fundstücke]
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