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Allgemeine Fundstücke / [N]
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"Wir sind ein ruhiges Volk, wir wollen ein geruhsames
Leben, wir wollen, daß unsere Geschäfte glatt und
reibungslos vonstatten gehen. Wir wollen die ruhigen
Freuden des Lebens. Zum Beispiel weiß doch jeder,
daß es der schönste Augenblick des Tages ist, wenn
man von der Arbeit nach Hause kommt, die Weste
aufknöpft, ein bißchen leichte Musik einschaltet, im
Lieblingslehnstuhl sitzt und mit Behagen die Witze in
der Abendzeitung liest oder mit seiner Alten über die
Nachbarn klönt. Das ist es, was wir unter wahrer
Kultur verstehen, unter wahrer menschlicher Bildung,
dafür ist im alten Rom oder Ägypten soviel Blut und
Tinte geflossen. Aber heutzutage wollen einem
irgendwelche Spinner dauernd weismachen, daß es so
ein gemütliches Leben für unsereinen nicht mehr gibt.
Glauben Sie ihnen nicht - es ist nicht zu Ende -"
(Vladimir Nabokov: Das Bastardzeichen, S.27)
Des alten Azureus' Art, Gäste zu bewillkommnen, war
eine lautlose Rhapsodie. Ekstatisch strahlend nahm
er langsam und zärtlich die Hand des anderen, legte
sie zwischen seine weichen Handflächen, hielt sie in
feuchtem Schweigen fest, als wäre sie ein begehrter
Schatz oder ein winziger Vogel, ganz Flaum und Herz,
und mehr mit seinen Augenfältchen als mit seinen
Augen strahlte er den anderen an; dann löste sich
das silbrige Lächeln ganz langsam auf, die zarten
alten Hände gaben allmählich ihren Inhalt frei, ein
leerer Ausdruck trat in seinem blassen,
feingestalteten Gesicht an die Stelle des inbrünstigen
Leuchtens, und schließlich ließ er den anderen
stehen, als wäre ihm ein Irrtum unterlaufen, als wäre
es doch nicht der teure Busenfreund - der
Busenfreund, den er im nächsten Augenblick in einer
anderen Ecke erspähte, und wieder dämmerte das
Lächeln herauf, wieder umschlossen die Hände den
kleinen Vogel, wieder löste sich alle in Nichts auf.
(Vladimir Nabokov: Das Bastardzeichen, S.50)
Herr Etermon, auf dem Sofa schlummernd oder in
die Küche schleichend, um mit erotischer Gier am
brutzelnden Schmorbraten zu schnüffeln, stellte, ohne
es zu wissen, eine wandelnde Widerlegung
individueller Unsterblichkeit dar, denn sein ganzes
Wesen war eine Sackgasse, in der sich nichts befand,
was imstande oder auch nur wert war, über die
Sterblichkeit hinauszugelangen. Ebensowenig jedoch
konnte man sich vorstellen, daß Etermon tatsächlich
starb, nicht allein, weil die Gesetze milden Humors
nicht zuließen, ihn auf dem Totenbett zu zeigen,
sondern weil auch in dem Rahmen, in dem sich ganz
Ganze abspielte, nichts, gar nichts (nicht einmal, daß
er mit Lebensversicherungsagenten pokerte) an die
Tatsache erinnerte, daß der Tod etwas absolut
Unvermeidliches ist; so daß Etermon, selber die
Widerlegung der Unsterblichkeit in Person, einerseits
unsterblich war, andererseits aber nicht auf irgendein
jenseitiges Leben hoffen durfte, einfach weil ihm in
seinem sonst so mustergültig eingerichteten Haus der
elementare Komfort einer Sterbekammer versagt war.
(Vladimir Nabokov: Das Bastardzeichen, S.27)
Eine feine emotionale Unterströmung bewahrte
seinen gesunden Menschenverstand vor
selbstzufriedener Vulgarität, und die reichlich kahle
und vogellose Symmetrie seiner verzweigten
Prinzipien wurde ein ganz klein wenig von einem
feuchten Wind gestört, der aus Regionen kam, von
denen er naiv meinte, es gäbe sie gar nicht. Das
Mißgeschick anderer Menschen erfüllte ihn mit
größerer Sorge als seine eigenen Kümmernisse, und
wäre er ein alter Kapitän gewesen, so wäre er
pflichtgetreu mit seinem Schiff untergegangen,
anstatt sich schuldbewußt in das letzte Rettungsboot
fallenzulassen. (Vladimir Nabokov: Das
Bastardzeichen, S 104)
Sie war nicht besonders hübsch, irgend etwas fehlte
ihren zierlichen, ebenmäßigen Zügen, so als hätte
ihnen die Natur einen letzten, entscheidenden - ihr
Gesicht zwar unverändert lassenden, aber ihm eine
gewisse Bedeutung verleihenden - Stups
vorenthalten, der sie zur Schönheit gemacht hätte.
Aber sie war fünfundzwanzig, ihr modischer Bubikopf
war adrett und reizend, und sie hatte eine
Kopfbewegung, die eine Andeutung von Harmonie
erkennen ließ, eine Verheißung echter Schönheit, der
im letzten Augenblick dann aber etwas fehlte.
(Vladimir Nabokov: Lushins Verteidigung, S. 93f.)
So war jeder in seiner Umgebung bemüht, die Leere
in Lushins Leben aufs angenehmste zu verschönen. Er
ließ sich einlullen, verwöhnen und gieprig machen und
nahm mit seiner zu einem Knäuel aufgewickelten
Seele das einschmeichelnde Leben hin, das ihn von
allen Seiten umgab. Die Zukunft erschien ihm vage
als lange, stumme Umarmung in einem seligen
Halbdunkel, wo die vielfältigen Spielzeuge dieser
unserer Welt lachend und schwankend vorüberzogen,
bald in einen Lichtstrahl getaucht, bald wieder
verschwunden. Doch in den unvermeidlichen
Augenblicken der Einsamkeit während seiner
Verlobungszeit, spät am Abend oder früh am Morgen,
überkam ihn eine seltsame Leere, so als hätte sich
herausgestellt, daß´das auf der Tischdecke
ausgelegte bunte Puzzle wunderlich geformte leere
Stellen enthielt. (Vladimir Nabokov: Lushins
Verteidigung, S. 93f.)
Der Beamte war schäbig gekleidet und reizbar und aß
gerade ein Diabetikerbrötchen. Wahrscheinlich bekam
er ein jämmerliches Gehalt, war verheiratet und hatte
ein Kind mit Ausschlag am ganzen Körper. Dem
Papier, das sie nicht hatten und heranschaffen
mußten, maß er kosmische Bedeutung bei, die ganze
Welt hing von diesem Papier ab und würde
rettungslos zu Staub zerfallen, wenn es jemandem
fehlte. Und das war noch nicht alles: Es stellte sich
heraus, daß die Lushins es erst nach Ablauf einer
unermeßlichen Frist bekommen konnten, nach
Jahrtausenden der Verzweiflung und Leere, und zur
Linderung dieses Weltschmerzes war einem nur ein
einziges Mittel zugestanden, nämlich Anträge
auszufüllen.
Romanzen pflegen irgendwie platt zu werden, sobald
sie seinen Weg kreuzten. In seiner Studentenzeit
hatte er eine langweilige Liaison von der
schwergewichtigen Art mit einer traurigen, ältlichen
Dame, die ihm später, während des Krieges, knallrote
Socken an die Front schickte, juckende Wollsachen,
enorm leidenschaftliche Briefe, mit
Höchstgeschwindigkeit in einer wilden, unleserlichen
Handschrift auf Pergamentpapier geschrieben. Dann
war da die Affäre mit der Frau des Herrn Professor,
die er am Rhein getroffen hatte; sie war hübsch,
wenn man sie aus einem bestimmten Blickwinkel und
in einem bestimmten Licht betrachtete, aber so kalt
und keusch, daß er es bald aufgab. Schließlich gab es
da in Berlin, kurz vor seiner Heirat, eine magere,
traurige Frau mit hausbackenem Gesicht, die an
jedem Samstagabend zu kommen pflegte, um ihm
alle Einzelheiten aus ihrer Vergangenheit zu berichten
und immer wieder die gleichen gottverdammten
Sachen erzählte, während sie müde in seinen
Umarmungen seufzte und stets mit der einzigen
französischen Redewendungen endete, die sie
kannte: "C'est la vie." Schnitzer, Mißgriffe,
Enttäuschung. Sicher war der Cupido, der ihm zu
dienen suchte, ein Linkshänder mit fliehendem Kinn
und ohne Phantasie. Und neben diesen blassen
Romanzen hatte es Hunderte von Mädchen gegeben,
von denen er geträumt, die er aber niemals
kennengelernt hatte; sie waren einfach an ihm
vorbeigegangen, um für ein oder zwei Tage jenes
hoffnungslose Gefühl zu hinterlassen, das Schönheit
zu dem macht, was sie ist: ein ferner einsamer Baum
gegen goldene Himmel, Lichtkringel an der
Innenbeuge einer Brücke, eine Erscheinung, ganz
unmöglich zu erfassen. (Vladimir Nabokov: Gelächter
im Dunkel, S. 11)
Das Baby war zuerst rot und runzlig wie ein
Spielzeugballon, dem die Luft ausgeht. Bald jedoch
glättete sich sein Gesicht, und nach einem Jahr
begann es zu sprechen. Jetzt, im Alter von acht
Jahren, war die Tochter viel weniger zungenfertig,
denn sie hatte die zurückhaltende Natur ihrer
Mutter geerbt. Auch ihre Heiterkeit war die der
Mutter - eine seltsam unaufdringliche Heiterkeit.
Es war einfach ein stilles Entzücken am eigenen
Dasein, mit einem Schuß humorvollen Erstaunens,
überhaupt am Leben zu sein - ja, das war der
Tenor: tödliche Heiterkeit. (Vladimir Nabokov:
Gelächter im Dunkel, S. 13)
Andererseits trafen ihn die Schmerzen des Lebens
schärfer als in der Vergangenheit. Er stöhnte auf der
Trommelfellfolter, wenn ein Saxophon jaulte oder
wenn ein subhumaner Jungtrottel den Donner eines
höllischen Motorrads losrollen ließ. Das hinderliche
Benehmen dummer, feindseliger Gegenstände - die
falsche Tasche, das gerissene Schuhband, der
beschäftigungslose Kleiderbügel, der mit einem
Achselzucken und einem Holterdiepolter in der
Dunkelheit des Kleiderschanks herunterstürzt - ließen
ihn den Ödipus-Fluch seiner russischen Vorfahren
ausstoßen. Er hatte um die fünfundsechzig herum
aufgehört zu altern, aber mit fündundsechzig hatten
sich Muskeln und Knochen bei ihm stärker verändert
als bei Leuten, die nie so vielseitige athletische
Betätigungen ausgeübt hatten, wie er sie in seiner
Jugend genossen hatte. Squash und Tennis machten
Platz für Ping-Pong; dann vergaß er eines Tages
einen Lieblingsschläger, noch warm von seinem Griff,
im Spielraum eines Clubs, und der Club wurde nie
wieder besucht. In seinem sechsten Jahrzehnt
ersetzte eine Übung am Punchingball das Ringen und
Boxen seiner früheren Jahre. Überraschungen der
Erdanziehung machten jetzt das Skilaufen grotesk.
Mit sechzig konnte er noch lorettfechten, aber schon
wenige Übungsminuten machten ihn blind vor
Schweiß; so teilte das Fechten bald das Schicksal
vom Tischtennis. Er konnte sein snobistisches
Vorurteil gegen Golf überwinden. (Vladimir Nabokov:
Ada oder Das Verlangen, S. 435)
Sein "Badezimmer" enthielt ein Bidet (geräumig genug,
einen sitzenden Zirkuselefanten aufzunehmen), doch
keine Badewanne. Der Toilettensitz weigerte sich,
aufrecht stehen zu bleiben. Der Wasserhahn
protestierte, indem er einen scharfen Strahl rostigen
Wassers von sich gab, bevor er sich dazu bequemte, das
unscheinbare normale Zeug herauszurücken - das man
nicht ausreichend zu schätzen weiß, das ein strömendes
Geheimnis ist, und, ja doch, ja, das verdient, daß ihm
Denkmäler errichtet werden, kühle Schreine! (Vladimir
Nabokov: Durchsichtige Dinge, S. 12)
Während der zehn Jahre, die zwischen Hugh Persons
erster und zweiter Schweiz-Reise vergehen sollten,
verdiente er sich seinen Lebensunterhalt mit jenen
verschiedenen öden Tätigkeiten, die das Los brillanter
junger Leute sind, denen gleichwohl ein besonders
Talent oder ein besonderer Ehrgeiz abgeht und die sich
darein schicken, nur einen kleinen Teil ihres
Verstandes auf fade oder scharlantanhafte Aufgaben zu
verwenden. Was sie mit dem anderen, viel größeren Teil
anfangen, wie und wo ihre wahren Neigungen und Gefühle
ein Unterkommen finden, das ist zwar nicht gerade eine
Geheimnis - es gibt keine Geheimnisse mehr -, würde
jedoch Erklärungen und Enthüllungen erfordern, denen
ins Gesicht zu sehen zu traurig, zu schrecklich wäre.
Das Elend eines Bewußtseins sollte nur von Fachleuten
für Fachleute erkundet werden. (Vladimir Nabokov:
Durchsichtige Dinge, S. 34)
Doch wenn er in den Tagen der kurzen Werbung und Ehe
den Wunsch verspürte, seiner Liebe Ausdruck zu geben,
wußte Hugh Person nicht, wo er nach Worten suchen
sollte, die Armande überzeugen, die sie berühren, die
ihr helle Tränen in die harten dunklen Augen treiben
würden! Dagegen konnte irgendeine zufällige Äußerung,
deren Pein und Poesie er nicht geplant hatte, irgendein
trivialer Satz bei jener im Kern unglücklichen Frau mit
ihrer trockenen Seele plötzlich eine hysterische
Glücksreaktion hervorrufen. Bewußte Versuche
scheiterten. Wenn er, wie es zuweilen vorkam, in der
grauesten aller Stunden und ohne die entfernteste
sexuelle Absicht seine Lektüre unterbrach, um in ihr
Zimmer zu gehen und sich ihr auf Knien und Ellbogen wie
ein ekstatisches, noch unentdecktes bodenbewohnendes
Faultier zu nähern und ihr seine Liebe
entgegenzuschreien, erklärte die kühle Armande, er
solle aufstehen und sich nicht zum Narren machen. Die
glühendsten Anreden,die er sich einfallen ließ - meine
Prinzessin, meine Liebste, mein Engel, mein Tier, mein
kostbares Raubtier -, gingen ihr nur auf die Nerven.
"Warum", erkundigte sie sich, "kannst du mit mir
eigentlich nicht natürlich reden, so wie ein Herr mit
einer Dame spricht, warum mußt du dich aufführen wie
ein Clown, warum kannst du nicht ernst und einfach und
glaubwürdig sein?" Doch Liebe, sagte er, sei alles, nur
nicht glaubwürdig, das wirkliche Leben sei tatsächlich
lächerlich, Bauerntölpel lachten über die Liebe. Er
versuchte ihren Kleidersaum zu küssen oder die
Bügelfalte ihrer Hose, ihren Spann, den Zeh ihres
zürnenden Fußes zu beißen - und während er vor ihr
kroch und seine unmelodische Stimme künstliche,
exotische, seltene, gewöhnliche Alles-und-Nichts-Worte
ihm sozusagen selber Ons Ihr murmelte, wurde der bloße
Ausdruck der Liebe eine Art degenerierter vogelhafter
Darbietung, die das Männchen allein, ohne ein Weibchen
in Sicht vollführte - langer Hals gerade, dann gebogen,
Schnabel gesenkt, Hals wieder aufgerichtet. Wegen all
dem schämte er sich seiner selbst, aber er konnte kein
Ende finden. (Vladimir Nabokov: Durchsichtige Dinge, S.
92f.)
Mr. R. hatte mit Hilfe eines bezahlten Spitzels eines
Tages entdeckt, daß seine Ehefrau Marion ein Verhältnis
mit Christian Pines hatte, dem Sohn des bekannten
Filmemachers, der bei dem Film "Goldene Fenster" Regie
geführt hatte (welchselbiger kipplig auf dem besten
Roman unseres Autors beruhte). Mr. R. war die Situation
nur willkommen, da er eifrig Julia Moore den Hof
machte, seiner achtzehnjährigen Stieftochter, und sich
mit Zukunftsplänen trug, die eines sentimentalen
Wüstlings, den drei oder vier Ehen noch nicht
zufriedengestellt hatten, durchaus würdig waren.
(Vladimir Nabokov: Durchsichtige Dinge, S. 50)
Gegen Ende des zweiten Albums brach die Fotografie in
Farbe aus, um die lebhafte Umhüllung ihres pubertären
natürlichen Körperkleids zu feiern. Sie erschien in
blumigen Kitteln, extravaganten Hosen, Tennis-Shorts,
Badenanzügen zwischen dem grellen Grün und Blau des
kommerziellen Spektrums. Er entdeckte die elegante
Eckigkeit ihrer sonnengebräunten Schultern, die lange
Linie ihrer Hüfte. Er erfuhr, daß mit achtzehn der
Bergbach ihres bleichen Haars ihr Kreuz erreichte. Kein
Eheanbahnungsinstitut hätte seinen Kunden solche
Variationen über das Thema einer einzigen Jungfrau
bieten können. (Vladimir Nabokov: Durchsichtige Dinge,
S. 61)
Sie rief ihn um Mitternacht an, weckte ihn aus der
Grube eines rasch verfliegenden, aber entschieden
schlechten Traums (nach all dem geschmolzenen Käse und
den neuen Kartoffeln mit einer Flasche jungen Weißweins
im 'carnotzet' des Hotels). Während er den Hörer ans
Ohr hochholte, tastete er mit der anderen Hand nach der
Lesebrille, ohne die er sich, dank einer Caprice in den
Zuordnungen seiner Sinneswahrnehmungen, dem Telefon
nicht richtig widmen konnte. (Vladimir Nabokov:
Durchsichtige Dinge, S. 63)
Sie vergaß tatsächlich alles. Ihr Schirm blieb der
Reihe nach bei allen unseren Bekannten stehen; ihr
Lippenstift tauchte an so unbegreiflichen Stellen auf
wie in der Hemdentasche ihres Vetters; und was sie in
der Morgenzeitung gelesen hatte, bekam ich abends
ungefähr folgendermaßen zu hören: "Ich überlege gerade,
wo hab ich es nur gelesen und was war es eigentlich
genau?... Es liegt mir auf der Zunge - ach, bitte, hilf
mit weiter!" Statt ihr einen Brief zum Einstecken
mitzugeben, hätte man ihn auch gleich in den Fluß
werden und alles übrige dem Scharfsinn der Strömung und
der Anglermuße des Empfängers überlassen können.
(Vladimir Nabokov: Verzweiflung)
Ich sprach lange in dieser Art. Er blickte mich immer
wieder mißtrauisch an; höchstwahrscheinlich war er nach
und nach auf den Gedanken gekommen, daß ich mich über
ihn lustig machte. Menschen seines Schlags bleiben nur
bis zu einem bestimmten Punkt gutmütig. Sobald es ihnen
dämmert, daß sie drauf und dran sind, hereingelegt zu
werden, fällt alle Freundlichkeit von ihnen ab, in
ihren Augen erscheint ein glasiger Schimmer, und
schwerfällig arbeiten sie sich in einen Zustand starker
Erregung hinein. Ich redete dunkel, aber es war nicht
mein Ziel, ihn wütend zu machen. Im Gegenteil, ich
wollte um seine Gunst buhlen; ihn verwirren und
gleichzeitig für mich einnehmen; mit einem Wort: Ich
wollte ihm unbestimmt, aber zwingend das Bild eines
Mannes von seinem Schlag und seinen Neigungen
vermitteln. Meine Phantasie jedoch geriet auf eine
falsche Fährte, und dies in einer ziemlich widerlichen
Weise - mit der gewichtigen Munterkeit einer ältlichen,
aber immer noch geziert lächelnden Dame, die sich ein
Gläschen zuviel genehmigt hat. (Vladimir Nabokov:
Verzweiflung)
Ihr trockener Bericht kann dem unbereisten Leser kaum die Freuden
eines St. Petersburger Wintertages vermitteln, wie sie ihn
beschreibt; den reinen Luxus eines wolkenlosen Himmels, nicht dazu
bestimmt, den Körper zu wärmen, sondern allein, dem Auge zu
gefallen; das Glitzern von Schlittenspuren im festgestampften Schnee
weiter Straßen, mit einer bräunlichen Tönung an den mittleren
Spuren, die vom reichlichen Pferdemist herrührte; das bunte
Luftballonbündel, das ein geschürzter Händler feilbot; den sanften
Bogen einer Kuppel, deren Gold der Anhauch puderigen Frostes getrübt
hatte; die Birken in den Parkanlagen, bei denen auch noch der
winzigste Zweig weiß umsäumt war; das Scharren und Läuten des
winterlichen Verkehrs... Und wie seltsam übrigens auch, wenn einem
bei der Betrachtung einer alten Postkarte (wie jener, die ich vor
mir auf den Tisch gelegt habe, um das Kind Erinnerung einen
Augenblick lang zu unterhalten) zu Bewußtseins kommt, wie die alten
russischen Droschken aufs Geratewohl irgendwo und irgendwie
abzubiegen pflegten, so daß man statt des geraden und eingedämmten
modernen Verkehrsstromes - auf dieser kolorierten Photographie -
einer traumweiten Straße ansichtig wird, wo die Droschken kreuz und
quer stehen und fahren, unter einem unglaubwürdig blauen Himmel, der
sich weiter entfernt automatisch in einen rosa Tupfen
mnemotechnischer Banalität auflöst. (Vladimir Nabokov: Das wahre
Leben des Sebastian Knight)
Einsamkeit war der Grundton seines Lebens, und je gütiger das
Schicksal zu erreichen suchte, daß er sich zu Hause fühlte, indem
es mit Geschick nachbildete, was er zu begehren meinte, um so
deutlicher wurde er seiner Unfähigkeit gewahr, sich dem Bild,
irgendeinem Bild, einzufügen. Als er dies endlich von Grund auf
begriff und grimmig daranging, seine Zurückhaltung zu
kultivieren, als wäre sie eine seltene Begabung oder Leidenschaft
- erst dann verschaffte ihm ihr kräftiges und wucherndes Wachstum
Befriedigung, und er hörte auf, sich um seine peinliche
Unverträglichkeit Sorgen zu machen - aber das war viel später.
(Vladimir Nabokov: Das wahre Leben des Sebastian Knight)
Im Sommer 1959 wird Willy eine Reise nach England
machen, zu entfernten Traumleben-Verwandten, die seit
den frühen Zwanzigerjahren Engländer sind und womöglich
englischer als jeder Engländer. Die Tante wird ihn
fragen, was er denn von den Nazis halte, und seine
korrekte Antwort wird lauten: "I hate them more than
anybody else." Dann will sie wissen, was für
Lebenspläne er habe, und Willy wird sagen: "I want to
become important and get influence." Die Tante wird
entsetzt antworten: "But this sounds rather Nazi!"
Auslandsreisen, selbst zu Verwandten, können sehr auf
die Stimmung schlagen, wenn man zu einer Nation gehört,
die soeben bis in die Steinzeit verschissen hat. (Sten
Nadolny: Weitlings Sommerfrische)
"Wenn ich jetzt keine Lungenentzündung bekomme", rief Sanyi
begeistert, "werde ich ewig leben!" Während der Nacht stieg sein
Fieber, und er klagte über Schmerzen in der Seite. Als Slenkai
eintraf, rief ihm Sanyi sogleich entgegen: "Da haben wir es,
Freundchen: Lungenentzündung!" Er war hell begeistert, sich im
Dienst der Allgemeinheit eine Lungenentzündung geholt zu haben.
Slenkai sah und hörte ihn schweigend an - ich merkte, daß er
unsicher war -, doch er widersprach Sanyi nicht. Es kann ja niemals
schaden, den Kranken von gefährlicheren Krankheiten zu heilen, als
er in Wirklichkeit hat. (Laszlo Nemeth: Abscheu)
Wenn die alte Madame Angellier und der Deutsche
sich zufällig einmal begegneten, machten beide
unwillkürlich eine Rückzugsbewegung, die auf seiten
des Offiziers als affektierte Höflichkeit gelten
mochte, als Wunsch, die Hausherrin nicht mit seiner
Anwesenheit zu belästigen, und eher dem Scheuen
eines Vollblutpferds vor einer Giftnatter zu seinen
Füßen ähnelte, während Madame Angellier sich nicht
einmal die Mühe machte, den Schauder zu
unterdrücken, der sie schüttelte, und in jener Haltung
des Entsetzens erstarrte, wie die Berührung eines
gefährlichen, ekligen Tiers sie hervorrufen kann. Aber
das dauerte nur einen Augenblick: Die gute Erziehung
ist ja gerade dazu da, die Reflexe der menschlichen
Natur abzumildern. Der Offizier richtete sich noch
mehr auf, verlieh allen seinen Zügen die Starrheit und
den Ernst eines Automaten, neigte den Kopf und
schlug die Hacken zusammen (oh, dieser preußische
Gruß! murmelte Madame Angellier, ohne zu bedenken,
daß man bei einem in Ostdeutschland geborenen
Mann immerhin eher auf diesen Gruß hätte gefaßt
sein müssen als auf den Handkuß eines Arabers oder
das Shakehands eines Engländers). Madame Angellier
jedenfalls verschränkte die Hände über ihrem Bauch
wie eine Nonne, die bei einem Toten gewacht hat und
sich erhebt, um ein Familienmitglied zu begrüßen,
das im Verdacht des Antiklerikalismus steht, was
ganz unterschiedliche Schatten über ihr Gesicht
huschen ließ: scheinbare Hochachtung ("Sie sind der
Herr"), Tadel ("Aber die Welt kennt Sie Ungläubigen!
"), Unterwürfigkeit ("Opfern wir unseren Widerwillen
dem Herrn") und schließlich ein Aufblitzen wilder
Freude ("Warte, Freundchenm du wirst in der Hölle
schmoren, während ich an Jesu Herzen ruhe"). (Irene
Nemirovsky: Suite francaise, S. 365)
Madame Pericand hatte jene resignierte säuerliche
Miene aufgesetzt, die sie zusammen mit ihrem
Krankenschwesternkittel zur Schau trug, wenn die
Kinder krank waren; im allgemeinen sorgten sie dafür,
alle zur selben Zeit zu erkranken, wenn auch an
verschiedenen Krankheiten. An solchen Tagen verließ
Madame Pericand die Kinderzimmer mit dem
Thermometer in der Hand, so wie sie die
Märtyrerkrone geschwenkt hätte, und ihre ganze
Person war nur ein einziger Schrei: 'Süßer Jesus, am
Jüngsten Tag wirst du die Deinen erkennen!" (Irene
Nemirovsky: Suite francaise, S. 22)
Trotz Müdigkeit, Hunger und Sorge fühlte sich Maurice
Michaud nicht allzu unglücklich. Er hatte eine
besondere Geisteshaltung; denn er maß sich selbst
keine große Bedeutung bei; in seinen Augen war er
nicht jenes außerordentliche, unersetzbare Wesen,
das jeder Mensch sieht, wenn er an sich selbst denkt.
Gegenüber seinen Leidensgefährten empfand er
Mitleid, aber es war hellsichtig und kalt. Schließlich
schienen diese großen Wanderungen Naturgesetzen
zu unterliegen, dachte er. Vermutlich waren
periodische Massenverlagerungen für die Völker
ebenso unerläßlich wie die Transhumanz für die
Viehherden. Darin fand er einen seltsamen Trost. Die
Leute um ihn herum glaubten, das Schicksal habe es
ganz besonders auf sie, auf ihre armselige Generation
abgesehen; er dagegen erinnerte sich daran, daß zu
allen Zeiten Fluchtbewegungen stattgefunden hatten.
Wie viele Menschen waren nicht schon mit blutigen
Tränen auf diesem Erdboden (wie auf jedem Erdboden
geflohen, ihre Kinder ans Herz drückend: Niemand
hatte dieser zahllosen Toten je teilnahmsvoll
gedacht. Für ihre Nachkommen hatten sie nicht mehr
Bedeutung als geschlachtete Hühner. (Irene
Nemirovsky: Suite francaise, S. 69)
Sie unterbrach sich und richtete einen recht schroffen
Gruß an die Laienlehrerin, die gerade eingetreten
war: eine Frau, die nicht zur Messe ging und ihren
Mann weltlich beerdigt hatte; ihre Schüler sagten
sogar, sie sei nicht getauft worden, was weniger
skandalös als vielmehr unwahrscheinlich zu sein
schien, als hätte man von einem menschenlichen
Wesen behauptet, es sei mit einem Fischschwanz
geboren worden. Da das Verhalten dieser Person
untadelig war, haßt die Vicomtesse sie um so mehr,
"denn", so erklärte sie dem Vicomte, "wenn sie
trinken würde oder Liebhaber hätte, könnte man es
mit der Religionslosigkeit erklären, aber denken Sie
nur, Amaury, welche Verwirrung im Geist des Volkes
entstehen kann, wenn es sieht, daß auch Leute
tugendhaft sind, die nicht den rechten Glauben
haben." (Irene Nemirovsky: Suite francaise, S. 292)
Bei den Berards ist die arme Frau, seit ihr Mann in
Gefangenschaft ist, vor Erschöpfung und Kummer
verrückt geworden. Nur der Großvater und ein
dreizehnjähriges Mädchen sind noch da, um den Hof
zu bewirtschaften. Bei den Clements ist die Mutter
vor lauter Arbeit umgekommen; die vier Kleinen
wurden von Nachbarn aufgenommen. Unzählige
Tragödien... Armes Frankreich!" Madame Angellier, die
mit zusammengekniffenen bleichen Lippen strickte,
stimmte ihr mit einem Kopfnicken zu. Doch bald
sprachen sie und die Vicomtesse nicht mehr vom
Elend der anderen, sondern unterhielten sich über
ihre eigenen Widrigkeiten. Sie taten es in lebhaften,
leidenschaftlichem Ton, der im krassen Gegensatz
stand zu der langsamen, emphatischen, förmlichen
Sprechweise, deren sie sich bedient hatten, um an
die Mißgeschicke ihrer Nächsten zu erinnern. So
rezitiert ein Schüler ernst, ehrfürchtig und gelangweilt
die Episode vom Tod Hippolytes, der ihn in keiner
Weise berührt, während seine Stimme wie durch ein
Wunder Überzeugungskraft und Wärme wiederfindet,
wenn er sich unterbricht, um sich beim Lehrer darüber
zu beschweren, daß ihm seine Murmeln geklaut
worden sind. (Irene Nemirovsky: Suite francaise, S.
319)
Karol, den Kopf auf ein mit Wappen unbestimmter Herkunft besticktes
Kissen gelehnt, betrachtete lächelnd seine Frau und seine Tochter.
Diese Augenblicke gaben ihm Halt im Leben, verschafften ihm ein
ruhiges und eintöniges Vergnügen, das ihm sonst nur selten und in
kleinen Mengen zuteil wurde und ihn daher um so zufriedener machte,
wie man heiße Milch mit Honig trinkt, wenn der Magen überreizt ist
von Wein und stark gewürzten Speisen. Helene kannte diesen Ausdruck,
der so selten auf seinem sorgenvollen Gesicht lag, und nannte ihn
bei sich: "Friede auf Erden den Menschen, die guten Willens sind."
(Irène Némirovsky: Die süße Einsamkeit)
Als vielversprechender Juniorpartner im
Familienbetrieb DeTamble & DeTamble - Alkoholiker
auf freiem Fuß, ist es mir bisher nicht gelungen
herauszufinden, wo das äußerste Limit meiner
Alkoholverträglichkeit liegt. Ein paar Drinks später
sieht Mia mich besorgt über die Bar hinweg an.
"Henry?" "Jaja?" "Es reicht." Vermutlich hat sie Recht.
Ich will ihr nickend zustimmen, aber es ist zu
anstrengend. Stattdessen gleite ich langsam und
beinahe anmutig zu Boden. (Audrey Niffenegger: Die
Frau des Zeitreisenden, S. 132)
"Es mag geschmacklos sein, aber verzeih mir, wenn
ich dir sage, daß dein Sextrieb den von nahezu allen
Frauen, mit denen ich zusammen war, bei weitem
übertrifft. Die meisten hätten schon vor Monaten
aufgegeben und den Anrufbeantworter eingeschaltet.
Aber ich dachte... irgendwie wolltest du immer. Wenn
es dir allerdings zu viel ist oder du keine Lust hast,
mußt du es mir sagen, weil ich sonst auf
Zehenspitzen durch die Gegend laufe und mich
ständig frage, ob ich dich mit meinen frevelhaften
Forderungen überlaste." "Aber wie viel Sex ist genug?"
"Für mich? O Gott. Meine Vorstellung von einem
idealen Leben wäre, wenn wir die ganze Zeit im Bett
blieben. Wir könnten uns mehr oder minder pausenlos
lieben und bräuchten nur aufzustehen, um Nachschub
zu holen, verstehst du, oder frisches Wasser und
Obst im Skorbut vorzubeugen, dann vielleicht ein
gelegentlicher Abstecher ins Bad zum Rasieren, bevor
wir uns wieder ins Bett stürzen. Hin und wieder
könnten wir auch die Bettwäsche wechseln. Oder ins
Kino gehen, damit wir uns nicht wund liegen. (Audrey
Niffenegger: Die Frau des Zeitreisenden, S. 238)
Doch kaum kam jemand anderer herein, vollzog sich
in Sekundenbruchteilen eine atemberaubende
Metamorphose: Die Augen begannen zu leuchten,
die Mundwinkel gingen nach oben, die Miene hellte
sich auf und ließ die schweren Züge feiner
erscheinen, kurz, das Antlitz der Antichrista
verschwand, und an seine Stelle trat ein
bezauberndes Mädchengesicht, frisch, offen und
ungetrübt, der Archetyp der eben erblühten Jungfrau
dies Ideal aus Gewitztheit und Zerbrechlichkeit, das
die zivilisierte Welt erfand, um sich über die
Häßlichkeit der Menschen zu trösten. (Amelie
Nothomb: Böses Mädchen, S. 71)
Es gab da eine Sabine, die mir geeignet erschien. In
ihr erkannte ich mich wieder. Sie trug ein solches
Unbehagen mit sich herum, daß sie immer allein war,
weil niemand bereit war, ihre Beklemmung mit ihr zu
teilen. Mit den flehenden Augen einer hungrigen
Katze blickte sie die anderen an; doch niemand sah
sie. Schon nahm ich es mir übel, daß ich sie nie
angesprochen hatte. Eigentlich tragen Menschen wie
Sabine und ich selbst schuld an ihrem Los. Statt
aufeinander zuzureden und sich gegenseitig zu
trösten, lieben sie das Unerreichbare - attraktive,
strahlende Wesen wie Christa, die meilenweit
entfernt sind von ihren Komplexen. Und dann
wundern sie sich, wenn ihre Freundschaften
zerbrechen, als ob solche Paarungen zwischen
Panther und Maus, zwischen Sardine und Hai
jemals funktionierten. (Amelie Nothomb: Böses
Mädchen, S. 82f.)
Wir verbrachten wahnsinnig viel Zeit im Badezimmer. Die
Badewanne war so groß wie ein Wal, dessen Spritzlöcher
nach innen zeigten. Der Tradition gehorchend, wusch
Rinri sich ausgiebig am Waschbecken, bevor er in die
Wanne stieg - das Wasser der ehrwürdigen Wanne
beschmutzt man nicht. Ich wollte mich mit diesem Brauch
nicht anfreunden, weil ich ihn so absurd fand. Dann
konnte man auch saubere Teller in den Geschirrspüler
stellen. Ich erläuterte ihm meine Sichtweise.
"Vielleicht hast du recht", sagte er, "aber ich kann
nicht anders. Das Badewasser zu entweihen geht über
meine Kraft." "Aber blasphemisch über das japanische
Essen reden kannst du." "So ist es eben." Er hatte
recht. Jedem seine reaktionäre Bastionen, das läßt sich
nicht erklären. (Amelie Nothomb: Der japanische
Verlobte, S. 55)
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[Allgemeine Fundstücke]
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