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Allgemeine Fundstücke / [M]
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Dicht beieinander am Fuß einer Anhöhe standen, ganz in
der Nähe eines kleinen Badeortes, zwei strohgedeckte
Bauernhäuser. Die Bauern mußten hart arbeiten, um dem
schweren Boden die Frucht abzuringen und ihre Kinder
großzuziehen. Jeder hatte vier. Vor beiden Türen
wimmelte es vom frühen Morgen bis zum Abend von dem
kleinen Volk. Die beiden ältesten waren sechs Jahre,
die beiden jüngsten etwa fünfzehn Monate. Heirat und
Geburten hatte es in beiden Häusern immer ungefähr zur
gleichen Zeit gegeben. Schon die beiden Mütter hatten
Mühe, aus dem Gewimmel ihre Sprößlinge herauszufinden.
Für die Väter war ein Versuch einfach hoffnungslos. Die
acht Namen tanzten in ihren Köpfen durcheinander, und
wenn sie eins ihrer Kinder rufen wollten, mußten sie
oft dreimal ansetzen, ehe sie den richtigen trafen.
(Guy de Maupassant: Meisternovellen. Bd. 3, S. 127)
Ihren lieben Gott dachte sie sich als einen sonderbaren,
gutherzigen Mann, eine Art Dorfphilosophen ohne großen
Einfluß und große Gewalt, denn sie stellte ihn sich
immer vor als untröstlich über das viele Unrecht, das
unter seinen Augen begangen wurde, ohne daß er es
hindern konnte. Sie selbst stand mit ihm natürlich auf
bestem Fuße. Sie kannte als gut mit ihm Vertraute seine
Geheimnisse und seine Verdrießlichkeiten. Sie sagte:
'Gott will es' oder 'Gott will es nicht', wie ein
Unteroffizier dem Rekruten sagt: 'Der Hauptmann hat es
befohlen'.
Als das Mahl beendet war, trat ich hinaus und setzte
mich vor die Tür. Und beim Anblick der melancholisch
düsteren Landschaft überkam mich wieder dies Gefühl der
Beklemmung, ein trübsinnige Stimmung, wie sie uns
Weltenbummler manchmal an tristen Abenden, in trostlos
einsamen Gegenden befällt - als ob man am Ende aller
Tage wäre, am Ende des eigenen Daseins, der ganzen
Welt. In solchen Momenten wird einem die große
Einsamkeit bewußt, in der wir, jeder von uns, das
Daseins zubringen, die Verlorenheit unseres Herzens,
das sich sein Leben lang in leere, nichtige Träume
flüchtet und sich von ihnen umgaukeln und belügen läßt,
bis es aufhört zu schlagen. (Guy de Maupassant:
Meisternovellen. Bd. 3, S. 229)
Monsieur Sauvetanin ließ Anna nicht ein Sekunde aus den
Augen; auch in ihm glühte sichtlich das Feuer, das
leichte Fieber der Erwartung, die sich in allen
Männern, selbst in nicht mehr ganz jugendfrischen,
älteren Semestern regt, sobald sie sich galanten
Schönheiten gegeübersehen, gerade als wären solche
Damen schon von Standes und Berufs wegen verpflichtet,
sich jedem männlichen Wesen mit einem Teil ihrere
selbst hinzuschenken. (Guy de Maupassant:
Meisternovellen. Bd. 3, S. 271)
Sie war ein bißchen zu fett, noch schön, in dem gefährlichen
Alter nahe dem Verfall. Sie hielt sich durch Pflege, Sorgfalt,
Hygiene und Hautsalben. Sie schien in allem besonnen,
maßvoll und vernünftig, eine Frau, deren Wesen
schnurgerade ist wie ein französischer Garten; er
überrascht nirgends, und doch gewinnt man ihm einen
gewissen Reiz ab. Sie verfügte über Verstand, einen feinen,
zurückhaltenden und sicheren Verstand, der ihr die
Phantasie ersetzte, über Güte, Hingabe und ein stilles,
weitherziges Wohlwollen, (Guy de Maupassant: Bel-Ami, S.
139)
Plötzlich sinnlich geworden unter den Küssen des schönen
Burschen, der ihr Blut so heftig entzündete, umschlang sie
ihn in ungeschickter Brunst und ernster Beflissenheit, so daß
Du Roy belustigt an Greise denken mußte, die lesen lernen
wollen. Statt ihn in den Armen zu erdrücken und mit dem
tiefen, schrecklichen Blick zu verzehren, die manche Frauen
haben, die herrlich sind in ihrer letzten Liebe, statt ihn mit
stummem, bebendem Munde zu beißen und ermüdet, doch
unersättlich, unter ihrem schwellenden, heißen Fleisch zu
begraben, tollte sie wie ein loses Mädchen und lispelte in
vermeintlicher Schalkhaftigkeit: "Lieb dich so, mein Kleiner,
lieb dich so. Sei schön lieb mit deinem Frauchen." - Er
mußte sich sehr beherrschen, um nicht fluchend seinen Hut
zu nehmen und die Türe hinter sich zuzuschlagen. (Guy de
Maupassant: Bel-Ami, S. 312)
Als sie hinausgingen, trafen sie auf einen Gärtner, und
Patissot fragte: "Gehört das Monsieur Meissonier schon
lange?" Der Mann antwortete: "Oh, Monsieur, was denken
Sie! Das Grundstück hat er schon 1846 gekauft, aber das
Haus!!!, das hat er seitdem fünf- oder sechsmal
niedergerissen und wieder aufgebaut... Ich bin sicher,
da hat er an zwei Millionen reingesteckt, Monsieur!"
Und Patissot wurde, während er weiterging, von einer
riesigen Hochachtung für diesen Mann ergriffen, nicht
so sehr wegen seiner großen Erfolge, seines Ruhmes und
seines künstlerischen Könnens, sondern weil er so viel
Geld zu seinem Spaß aufwandte, während die gewöhnlichen
Bürger sich jeden Spaß versagen, um Geld anzuhäufen.
(Guy de Maupassant: Novellen 1875-1881, S. 231)
"Monsieur", begann er, "wenn der Winter mit Kälte,
Regen und Schnee kommt, rät Ihnen Ihr Arzt alle Tage:
'Halten Sie Ihre Füße warm, hüten Sie sich vor
Erkältung, vor Schnupfen, Husten und
Brustfellentzündung.' Dann treffen Sie tausend
Vorsichtsmaßregeln, Sie legen Flanell an, tragen warme
Überröcke, festes Schuhwerk, was Sie dennoch nicht
immer davor bewahrt, zwei Monate das Bett zu hüten.
Aber wenn der Frühling kommt mit seinen Blättern und
Blüten, mit seinen warmen, weichen Winden, seinen
Gerüchen vom Land her, die einen in Wirrnis, in
grundlose Rührung versetzen, kommt niemand und sagt:
'Monsieur, hüten Sie sich vor der Liebe! Sie liegt
überall im Hinterhalt; sie lauert an allen Ecken; all
ihre Fallstricke sind gespannt, all ihre Waffen sind
geschärft, all ihre Schändlichkeit sind vorbereitet!
Hüten Sie sich vor der Liebe! ... Hüten Sie sich vor
der Liebe! Sie ist gefährlicher als Schnupfen, Husten
oder Brustfellentzündung! Sie kennt keine Gnade und
läßt einen Dummheiten begehen, die nie mehr gutzumachen
sind.' Ja, Monsieur, ich sage Ihnen, die Regierung
müßte jedes Jahr riesige Plakate anschlagen lassen mit
den Worten: 'Der Frühling kommt. Französische Bürger,
seid auf der Hut vor der Liebe!' So wie an einer
Haustür steht: 'Vorsicht, frisch gestrichen!' Und da
die Regierung das nicht tut, treten ich an ihre Stelle
und sage Ihnen: Hüten Sie sich vor der Liebe; sie ist
im Begriff, nach Ihnen zu schnappen, und ich haben die
Pflicht, Sie zu warnen, so wie man in Rußland einem
Passanten sagt, daß seine Nase erfriert." (Guy de
Maupassant: Novellen 1875-1881)
Dort riecht man mit vollen Nüstern den ganzen Abschaum
der Welt, das ganze distinguierte Pack, den ganzen
Schimmel der Pariser Gesellschaft: eine Mischung aus
Modehändlern, Schmierenschauspielern, drittrangigen
Journalisten, Adligen unter Kuratel, undurchsichtigen
Börsenspekulanten, anrüchigen Boulevardiers,
verkommenen alten Lebemännern; ein verdächtiges
Sammelsurium aller schrägen Existenzen, halb entehrt,
Gauner, Schufte, Zuhälter, Glücksritter mit würdiger
Haltung großtuerischer Miene, die zu sagen scheint: Den
ersten, der mich Lump nennt, erschlage ich. (Guy de
Maupassant: Novellen 1875-1881, S. 424)
Gibt es einen mächtigeren Trieb als die Neugier der
Frau? Oh, wissen, kennenlernen, berühren, wovon man
geträumt hat! Was täte sie dafür nicht? Wenn die
fiebrige Neugier einer Frau einmal erwacht ist, wird
sie alle Tollheiten, alle Unvorsichtigkeiten, alle
Kühnheiten begehen, vor nichts zurückschrecken. Ich
spreche von den Frauen, die echtes Weib, die von der
Sinnesart mit dreifachem Boden sind, an der Oberfläche
scheinbar vernünftig und kühl, doch in jenen drei
Geheimfächern stecken: im ersten stets rege weibliche
Unruhe; im nächsten List im Gewand der Aufrichtigkeit;
jene List der Frömmler, sophistisch und erschreckend;
im letzten schließlich bezaubernde Niedertracht,
erlesene Lüge, köstliche Falschheit, all die schlimmen
Tugenden, die den dummgläubigen Liebhaber in den
Selbstmord treiben und die übrigen entzücken. (Guy de
Maupassant: Novellen 1875-1881, S. 454)
Sein ganzes Leben hatte er sitzend verbracht. Da er
Ruhe und Stille liebte, war er Junggeselle geblieben,
und alle Bewegungen, aller Lärm waren ihm verhaßt. Die
Sonntage brachte er im allgemeinen mit der Lektüre von
Abenteuerromanen hin, oder er fertigte sorgfältig
Linienblätter an, die er dann seinen Kollegen
überreichte. Er hatte in seinem ganzen Daseins nur
dreimal umzugshalber je acht Tage Urlaub genommen. Doch
manchmal, an hohen Feiertagen, fuhr er mit einem
Vergnügungszug nach Dieppe oder Le Havre, um seine
Seele an dem großartigen Schauspiel des Meeres zu
erheben. Er war jenes gesunden Menschenverstandes voll,
der an Dummheit grenzt. (Guy de Maupassant: Novellen
1875-1881, S. 199)
"Und sie - die hat doch eine Goschn! Die kann verhandeln. Die
tatat alle über den Tisch ziehen!" (Zweimal tatat, das müsste
vielleicht erklärt werden. Das a wird zweimal hell ausgesprochen
wie in Latte macchiato, also fanfarenartig, und das hat durchaus
seinen Grund, denn hier haben wir es mit dem oberbayrischen
reduplikativen Konjunktiv (>Doppelmoppler<) zu tun, der die Sache
nicht etwa zweifelhafter macht, sondern im Gegenteil
fanfarenartig verstärkt: "Die tat alle über den Tisch ziehen": es
ist möglich, dass sie das macht; "die tatat alle über den Tisch
ziehen": sie macht es irgendwann ganz sicher.) (Jörg Maurer:
Felsenfest)
Und schnell, als ob sie Eile hätte, ihren Gesprächspartner
nicht länger in einer falschen Vorstellung von der sozialen
Bedeutung einer Gonzales zu belassen, unterrrichtete sie ihn
davon, daß sie, Tochter eines spanischen Granden und
Witwe eines bedeutenden Bankiers von Bayonne, sich jetzt
ihr Brot selbst verdienen müsse. Madame Gonzales drückte
sich weitschweifig aus, mit wollüstiger Gesprächigkeit, wie
eine Schwatzbase, die seit zwei Tagen niemand mehr hatte,
an den sie das Wort hätte richten können. Sie legte in ihre
Rede die Selbstgefälligkeit einer Dame, deren Manie es ist,
die Leute durch das Gemälde ihrer vergangenen Reize zu
blenden und durch die Schaustellung ihres gegenwärtigen
Unglücks zu erweichen. Sie erhob den Anspruch, zugleich
die glücklichste und die unglücklichste Frau gewesen zu sein;
bewunderte, daß ihr Mann sich ruiniert hatte, um ihr ein
königliches Leben zu bereiten; versicherte aber, daß sie
nach dem Eintritt der Katastrophe ihren Bekanntenkreis
durch die Leichtigkeit in Erstaunen versetzt habe, mit der sie
ihren und ihrer Tochter Lebensunterhalt verdiente. (Francois
Mauriac: Fleisch und Blut, S. 17)
"Wollen Sie ein wenig Musik?" Jeder drängte sich hinzu,
Marcel öffnete das Piano. Firmin Pacaud suchte eine
Partitur; Bertie neigte sich zu Frau Gonzales und flüsterte:
"Das ist mehr, als erwartet werden konnte." "Sogar viel
mehr", flüsterte die rätselhafte Dame. Madame Castagnede
setzte sich zurecht, zeigte das ausdruckslose Gesicht, das
sie in Konzerten zur Schau trug, schickte sich an, mit dem
Kopf im Gegentakt zu nicken und sich bei den Pausen zu
fragen, ob es nun zu Ende sei. (Francois Mauriac: Fleisch
und Blut, S. 58)
Zunächst konnte er sich nicht vorstellen, daß er eines Tages
sich nicht mehr mit Frauen vergnügen sollte: und dem
opferte er alles. Keine Zeitung, kein Buch reizten ihn. Selbst
die Geschäfte waren ihm nur eine Geldquelle, damit er
seinen Hunger befriedigen konnte. Das Wohlleben
interessierte ihn nur deswegen, weil es ihm eine
vorübergehende Erwärmung zuteil werden ließ. "Das" für
alle Ewigkeiten nicht mehr zu haben! Er hatte Lust, zu
schreien. Andererseits waren ihm von seiner wohlbehüteten
hugenottischen Kindheit her unbestimmte religiöse
Schrecken zurückgeblieben. Bei der langen und üblen
Ausschweifung seines Lebens war ihm der Gedanke
gekommen, Gott könne ihn an einer Ecke dieses ekelhaften
Alters erwarten. (Francois Mauriac: Fleisch und Blut, S. 62)
Wir stehen für immer im Leben, und wenn Claude sich in das
dunkle Wasser werfen würde, dann würde es nicht den Teil
von ihm dem Atlantik zutragen, der litt und verzweifelte. Im
Gegenteil, er würde diese Hoffnungslosigkeit mit in die
Ewigkeit hinübernehmen. Kein Ausweg war möglich. Der Tod
ist auf das Leben geworfen wie eine Arche auf den Fluß, und
wenn der Schatten der Wehre einmal überwunden ist, dann
fließen die Wasser ewig im Licht. Der Zeit und dem Raum
entgehen, den grünen und blauen Erscheinungen, dem
harten Boden, dem festen Holz, den Steinen, dem Gras:
das heißt nicht dem Leben entgehen. Es ist den Menschen
nicht gegeben, davonzugehen. (Francois Mauriac: Fleisch
und Blut, S. 102f.)
Hat sie sehr gelitten auf dieser Reise zu den
italienischen Seen? Nein, nein; sie hat das Spiel
gespielt: sich nicht verraten. Ein Verlobter läßt sich
leicht anführen; ein Ehemann dagegen nicht! Jeder ist
imstande, verlogene Worte zu finden; die Lügen des
Körpers fordern ein anderes Können. Begierde, Lust,
selige Erschlaffung darzustellen ist nicht jedem
gegeben. Therese gelang es, ihren Körper zu solchen
Finten zu bewegen, und sie fand bitteres Vergnügen
daran. Ihre Phantasie half ihr zu der Vorstellung, es
hätte diese Welt der sinnlichen Erfahrungen, in die
ein Mann sie einzudringen zwang, vielleicht auch für
sie ein mögliches Glück gehabt - doch welches Glück?
Wie wir uns angesichts einer verregneten Landschaft
ausmalen, welchen Anblick sie im Sonnenschein böte,
so malte Therese sich die Wollust aus. (Francois
Mauriac: Die Tat der Therese Desqueyroux, S. 38f.)
Es herrschte die Einsamkeit und die Stille des Mittags. Sie streifte
mit einer raschen Bewegung das Oberteil des Badeanzugs ab,
entblößte in aller Keuschheit ihre mageren Schultern und eine kaum
knospende Brust. Was ich dabei empfand, war nicht, was Donzac
vermuten wird: ein faunisches Vergnügen. Nein, so kleine Mädchen
bringen mich noch nicht auf schlechte Gedanken. Ich glaube zu
fühlen, wie die Faust, die meine Kehle zusammenschnürte, sich
plötzlich öffnete (wenn ich geahnt hätte!), es war, als ob jemand
seine Hände über meine blinden Augen legte und dann wieder wegzöge
und ich könnte mit einem Schlag sehen. Schon ein einziges Wesen wie
dieses hier war ein Wunder, und es gab Millionen davon auf der Welt
- dieser Welt, die ich nicht kannte und die mich niemand
kennenzulernen zwingen würde, wenn ich es vorziehen sollte, in einem
Zimmer zu bleiben: dort, wo meine Bücher sind und wo die anderen
Menschen nicht sind. (Francois Mauriac: Der Jüngling Alain)
Leonora war auf dem Kaminvorleger im Wohnzimmer eingeschlafen.
Der Hauptmann sah auf sie hinab und lachte in sich hinein.
Sie lag auf der Seite. Er gab ihr einen kleinen scharfen
Tritt in den Hintern. Sie murmelte etwas von einem Truthahn,
der gefüllt werden müsse, wachte aber nicht auf. Der Hauptmann
beugte sich zu ihr hinunter, schüttelte sie, redete auf sie
ein und brachte sie endlich auf die Beine. Aber wie ein Kind,
das man nachts noch einmal auf den Armen zur Toilette trägt,
besaß auch Leonora die Gabe, im Stehen weiterzuschlafen. Als
der Hauptmann sie dann zur Treppe zog, waren ihre Augen
geschlossen, und sie murmelte immer noch etwas vom Truthahn.
"Glaub ja nicht, daß ich dich jetzt auch noch ausziehe",
sagte der Hauptmann. Aber Leonora blieb genau so auf dem Bett
sitzen, wie er sie hingesetzt hatte. Er beobachtete sie mehrere
Minuten lang, schmunzelte wieder und zog ihr dann die Kleider aus.
Er zog ihr aber kein Nachthemd an, weil er in dem Durcheinander der
Kommode keines finden konnte; außerdem liebte Leonora es, im
'Rohzustand' zu schlafen, wie sie es nannte. (Carson McCullers:
Spiegelbild im goldnen Auge)
Sie gehörte zu einer ehrwürdigen Tradition von Frauen
in der theoretischen Physik, sagte aber von sich
selbst, daß sie nie eine einzige Entdeckung
gemacht habe, auch keine unbedeutende. Ihre
Aufgaben seien Reflexion und Lehre. Entdeckungen
seien zum neuen Fingerhakeln der Wissenschaft
geworden und außerdem etwas für die Jungen. Es
habe in diesem Jahrhundert eine wissenschaftliche
Revolution gegeben, und fast niemand, auch unter
Wissenschaftlern, denke sie zu Ende. Während der
kalten Abende eines enttäuschenden Frühlings saß
sie mit ihm am Feuer und erklärte ihm, wie die
Quantenmechanik die Physik und überhaupt alle
Wissenschaft weiblicher, sanfter machen werde,
weniger hochmütig, unbeteiligt, zugänglicher für
eine Teilhabe an der Welt, die sie beschreiben
wolle. (Ian McEwan: Ein Kind unserer Zeit, S. 63)
Jahrelang hatte er sich eingeredet, im tiefsten Herzen
zu den Entwurzelten zu gehören, daß Geld zu haben
nur ein netter Zufall sei und er jederzeit wieder mit
all seiner Habe in einem einzigen Sack die Straßen
treten könne. Doch die Zeit hatte ihn an seinen Platz
genagelt. Er war einer von denen geworden, die sich
beim Anblick der abgerissenen Armen nach der Polizei
umschauten. Er war jetzt auf der anderen Seite. (Ian
McEwan: Ein Kind unserer Zeit, S. 155)
Sie saßen ein paar Minuten in behaglichem
Schweigen. Aus der Küche, wo Stephens Mutter einen
Braten brutzelte, kamen die beruhigenden Geräusche
einer auf- und zugehenden Backofentür, eines
Bratensaft schöpfenden schweren Löffels. Später kam
sie auf Drängen seines Vaters heraus, um ihren
Sherry bei ihnen zu trinken. Sie zog die Schürze aus,
bevor sie sich setzte, und legte sie
zusammengefaltet auf ihren Schoß. Die zahlreichen
kleinen Sorgen, die mit der Zubereitung eines
dreigängigen Essens einherzugehen pflegten,
belebten ihr Gesicht. Sie lauschte mit einem Ohr
immer zum Küchenfenster, was das Gemüse wohl
machte. (Ian McEwan: Ein Kind unserer Zeit, S. 132)
Die gute Laune stellte sich beim Kaffee ohne
weiteres wieder ein, als die Rede auf das Begräbnis
eines älteren Verwandten kam, der vor einer Woche
auf dem Friedhof von Wimbledon beigesetzt worden
war. Stephens Mutter erzählte die Geschichte mit
Unterbrechungen, um sich die Tränen abzutupfen. Ein
kleiner Junge, ein Urenkel des Verstorbenen, hatte
während der Feier einen Teddybären ins Grab
geworfen, und da lag er nun rücklings auf dem Sarg
und starrte mit nur einem Auge, weil das andere
fehlte, zu den Trauernden empor. Der Kleine machte
fürchterliches Theater und übertönte das Geleier des
Vikars. Ein paar Leute prusteten los, und die Familie
verteilte böse Blicke. Niemand mochte
hinuntersteigen und das Ding herausholen, und so
wurde es mit dem Toten begraben. "Und mehr
betrauert", ergänzte Stephenes Vater, der sich mit
breitem Grinsen die Geschichte noch einmal angehört
hatte. (Ian McEwan: Ein Kind unserer Zeit, S. 138)
Er biegt in die Paddington Street ein und beugt sich
über das draußen auf einer schräggestellten, weißen
Marmorplatte ausgebreitete Fischangebot. Auf einen
Blick sieht er alles, was er braucht. Welche Fülle der
sich leerenden Meere. Wie rostiger Industrieschrott
liegen Krabben und Hummer in zwei Holzkisten auf dem
Fliesenboden neben der offenen Tür, doch im Knäuel der
kriegerisch wirkenden Panzer ist deutlich Bewegung zu
erkennen. Die Scheren tragen schwarze Trauerbänder. Zum
Glück für die Fischhändler und ihre Kunden haben
Meeresgeschöpfe keine Stimmen, noch sind sie in der
Lage, Schallwellen auszulösen, sonst würde von diesen
Kisten lautes Geheul ausgehen. Doch selbst die Stille
der sich träge bewegenden Menge ist bedrückend. Er
sieht weg, schaut auf das blutleere weiße Fleisch der
ausgenommenen, silbrigen Körper mit den klaglos
blickenden Augen und auf den rosig keuschen
Tiefseefisch, der in handlichen Filets vor ihm
hingeblättert liegt wie die Pappseiten ded ersten
Bilderbuchs eines Kleinkindes. (Ian McEwan: Saturday,
S. 175)
... hatte Latterly vor Jahren in England kennengelernt, als
er an einer immer noch nicht abgeschlossenen
Doktorarbeit über George Orwell saß, was für ein
ungewöhnlicher Amerikaner er war. Schlank,
außerordentlich blaß, feines schwarzes gelocktes Haar,
Rehaugen wie eine Rennaissanceprinzessin, lange gerade
Nase mit engen schwarzen Schlitzen: Terence war von
geradezu ungesunder Schönheit. Oft wurde er von
Schwulen angesprochen und einmal, in der Polk Street in
San Francisco, buchstäblich gestürmt. Er stotterte
gerade so, daß es einnehmend war für die Leute, die von
so etwas eingenommen werden, und in seinen
Freundschaften war er so intensiv, daß er ihretwegen
zuweilen in undurchdringliche Schwermut verfiel. Es
dauerte einige Zeit, bis ich mir eingestand, daß ich
Terence eigentlich gar nicht mochte, aber da war er
bereits in meinem Leben, und ich akzeptierte die
Tatsache. Wie alle zwanghaften Monologisten
interessierten ihn die Gedanken anderer Leute herzlich
wenig, aber seine Geschichten waren gut, und nie
erzählte er diesselbe zweimal. Regelmäßig vernarrte er
sich in Frauen, die er mit seiner labyrinthischen
Ungeschicklichkeit und seinem schwindsüchtigen Eifer
vertrieb und die neuen Stoff für seine Monologe
lieferten. (Ian McEwan: Zwischen den Laken.
Erzählungen, S. 180f.)
Diesmal hielt sie kurz inne, schaute aus dem Fenster in
die Dämmerung hinaus und fragte sich, wo ihre Schwester
sein mochte. Im See ertrunken, von Zigeunern
vergewaltigt, von einem Auto angefahren, dachte sie
ganz routiniert, war es doch ein verläßlicher
Grundsatz, daß nichts je so geschah, wie man es sich
vorstellte, weshalb ihr dies als wirksame Methode galt,
das Allerschlimmste schon einmal auszuschließen. (Ian
McEwan: Abbitte)
Um Wachtmeister Vockins sprechen zu können, würde sie
erst mit seiner Frau reden müssen, einem Plappermaul,
das gern über Hühnereier und derlei Dinge schwatzte -
Futterpreise, Füchse und daß die neumodischen
Tragetüten doch viel zu dünn seien. Ihr Mann dagegen
weigerte sich beharrlich, ihr jenen Respekt zu
erweisen, den man von einem Polizisten eigentlich
erwarten durfte. Vielmehr pflegte er Platitüden von
sich zu geben, die wie hart erkämpfte Weisheiten aus
seinem zugeknöpften Brustkorb quollen: Für ihn regnete
es nie, es schüttete nur; Müßiggang war aller Laster
Anfang, und ein fauler Apfel verdarb die ganze Ernte.
(Ian McEwan: Abbitte)
Wie geschickt dieser Mr. Marshall alle wieder beruhigt
hatte. Ob er in Frage kam? Nur schade, daß er nicht
besser aussah, seine eine Gesichtshälfte glich einem
vollgestopften Schlafzimmer. Vielleicht würde sie mit
der Zeit ja ein wenig eckiger wirken, das Kinn einer
Käsekante gleichen. Oder einem Stück Schokolade. Falls
er wirklich die ganze britische Armee mit Amo-Riegeln
belieferte, könnte er außerdem ungeheuer reich werden.
Doch Cecilia, die in Cambridge diesem modischen
Snobismus verfallen war, hielt einen Menschen mit einem
Abschluß in Chemie für ein unvollkommenes menschliches
Wesen. Ihre eigenen Worte. Drei Jahre lang auf dem
College herumlümmeln und Bücher lesen, die sie
ebensogut hätte zu Hause lesen können - Jane Austen,
Dickens, Conrad, sie alle standen unten in der
Bibliothek in vollständigen Gesamtausgaben. Wir war sie
bloß darauf verfallen, daß diese Beschäftigung -
Bücher zu lesen, die man gemeinhin doch nur zum
Vergnügen las - sie anderen überlegen machte? (Ian
McEwan: Abbitte)
Als Fiona, die mit Briony auf einem Zimmer schlief,
ihren Teller von sich schob und verkündete, daß sie
"klinisch unfähig" sei, mit Maggi gewürztes Gemüse zu
essen, blieb die Heimschwester neben ihr stehen, bis
sie den letzten Bissen runtergeschluckt hatte. Die
Umstände machten Fiona zu Brionys Freundin: Am ersten
Abend des Einführungskurses bat sie Briony, ihr die
Fingernägel der rechten Hand zu schneiden, und
erklärte, daß sie mit links keine Schere halten könne,
außerdem habe ihr bislang stets ihre Mutter diesen
Gefallen getan. Sie hatte rotes Haar und
Sommersprossen, was unwillkürlich Brionys Mißtrauen
weckte, doch war Fiona im Gegensatz zu Lola laut und
lebenslustig, hatte Grübchen auf dem Handrücken und
einen enormen Busen, der die anderen Mädchen zu der
Bemerkung veranlaßte, daß ihr gar nichts anderes
übrigbliebe, als eines Tages Stationsschwester zu
werden. (Ian McEwan: Abbitte)
Wenn er zu Besuch kam, braute sich am Herd ein Tropensturm
zusammen. Die Palette ihrer Speisen war pikant und ganz nach
seinem Geschmack. Das Gesunde daran wurde mühelos durch
reichliche Nachschläge wettgemacht. Sie selbst aß nur wenig, sah
ihm aber glühend vor Begeisterung beim Essen zu und meinte, die
scharfen Gewürze würden sein Fett verbrennen und ihn zu einem
feurigen Liebhaber machen - oder aber: Sie mäste ihn, damit er
nie mehr davonlaufen könne. Letzteres kam der Wahrheit näher.
Nach einer solchen Mahlzeit hing er wortkarg schwitzend im Sessel
und brauchte eine halbe Stunde, um sich zu erholen; keine Rede
davon, dass er sich schlanker fühlte oder auch nur die leiseste
Erregung verspürte. (Ian McEwan: Solar)
Parks, dessen Familie ursprünglich aus Saint Kitts stammte, roch
immer nach Pfefferminz. Über dem klugen, ledrigen Gesicht des
älteren Schwarzen lag ein silbriger Schimmer. Sein Kopf ragte vor
wie der einer Schildkröte und wackelte freundlich, wenn Beard
etwas sagte. Er war so alt wie Beard, aber eine Handbreit größer,
und hielt sich in Form, wie er erzählte, indem er jeden Morgen
zwischen sechs und sieben, bevor er den ersten Patienten empfing,
im Schwimmbad seine Bahnen zog. Für Beard war es unvorstellbar,
um diese Tageszeit nass zu sein, oder auch nur wach; mit solchen
Heldentaten würde er niemals mithalten können, eine so grausame
Schinderei war ein zu hoher Preis dafür, seinen Body-Mass-Index
zu senken. (Ian McEwan: Solar)
... bekam man am Schulanfang Claudias Mutter öfter zu sehen. Sie
war jung, denn sie hatte Claudia in einem skandalösen Alter
bekommen, das ungefähr mit dem Ende ihrer eigenen Schulzeit
zusammengefallen sein musste. (Eva Menasse: Quasikristalle) Dazu
war sie hinreißend hübsch, ein ungeschminkter Engel. Und sie war
unkompliziert und herzlich, so wie es keine andere ihnen bekannte
Mutter war, weil die Mütter ansonsten auf kratzbürstigen
Sicherheitsabstand zwischen sich und ihren halbwüchsigen
Konkurrentinnen achteten. Vielleicht (...) war Claudias Mutter,
die jeder Lizzie nennen und duzen durfte, der Grund, warum Xane
und sie Claudia erduldeten. (...) Und während man sich bei Lizzie
- oder Frau Denneberg - wie in einem heiteren französischen Film
fühlte, wenn sie einem eiskalte Melonenstückchen in den
Holundersaft tat, so empfanden die Mädchen Claudias
Gastfreundschaft, deren Pfeiler Vollkornkekse und eine
selbstgetöpferte Teekanne waren, als plump und belastend. An
Claudia war das Drama der schlechten Kopie zu besichtigen. (...)
Aber deshalb beschützten sie sie. Sie, von denen man annehmen
hätte können, dass sie dieses warmherzige, ungeschickte, nach
sämtlichen Jugendstandards immens peinliche Mädchen quälen oder
zumindest kalt verachten müssten, hatten es vor langer Zeit zur
Freundin erklärt. Die Richtung gab die bewunderte Lizzie
Denneberg vor, die ihre Tochter mit der unerschütterlichen
Nachsicht einer Kindergärtnerin behandelte und von der sie damals
glaubten, dass diese insgeheim unter Claudias Begriffsstutzigkeit
ebenso leide wie sie. (Eva Menasse: Quasikristalle)
Am ersten Schultag, dem Fest der geschmückten Schultüten, hatte
Judiths Mutter wieder einmal die Haare ihrer Tochter verleugnen
wollen. Sie begann frühmorgens mit der Prozedur, die kaltes
Wasser, Zitronensaft, scharfe Kämme und ein Brenneisen
erforderte. (...) Im Auto hielt Judith ihren malträtierten Kopf
unter der Jacke versteckt, Judiths Mutter weinte lautlos, Judiths
Vater spielte den unbeteiligten Chauffeur. (...) Judith hatte
ihre halbleere Schultüte, von der die Papiergirlanden in Fetzen
hingen, mit kerzengeradem Rücken weg von ihrer Familie in das
Schulhaus hineingetragen, in einen Klassenraum, der noch nach
Farbe roch. Sie überhörte tapfer das erste Pippi-Langstrumpf-
Gezischel. (Eva Menasse: Quasikristalle)
Er stellte ehrfurchtsvolle Fragen, die erkennen lassen sollten,
dass er Bernays' Bücher bis in die Fußnoten gelesen hatte, und
würde Bernays fraglos ein reiches Feld zur Selbstdarstellung
bieten. Der spürte zwar, dass er von einem Streber eingewickelt
wurde. Trotzdem: Für die vielen Stunden, die man miteinander
verbringen würde, war ein Stichwortgeber keine schlechte Sache,
redete Bernays sich ein. Und ließ zu, dass der Streber mit Mario
in heftige Konkurrenz trat. Knappenstreit. Liebesdienerhändel.
(Eva Menasse: Quasikristalle)
Nach all den Erkenntnissen, die wir in den letzten sechs
Monaten gewonnen haben, muss ich Ihnen zur IVF raten. Da hatte
sie Tränen in den Augen. Es fällt manchen so schwer, vom
natürlichen Weg abzuweichen. Während es inzwischen vereinzelt
andere, oft ziemlich Junge, gibt, die ohne wahrnehmbaren Grund
kommen, drei Monate lang nicht schwanger geworden, und schon
sitzen sie erwartungsfroh da. Als ob die Generation
Wunschkaiserschnitt bei Kinderwunsch automatisch die gleichnamige
Klinik aufsucht, so, wie sie das Smartphone-Navi befragt, wenn
sie keinen Supermarkt findet. (Eva Menasse: Quasikristalle)
Dieser Architekt war ja auch nicht sauber. Das schien eine rein
technische Opposition zu sein, alles und jedes zu hinterfragen
und probeweise umzukehren, um geistig in Bewegung zu bleiben, wie
er das wahrscheinlich genannt hätte. Man könnte es geistigen
Zappelphilipp nennen, ohne jeden Mehrwert. Und solche wie Moni
hatte Bernays wahrlich oft genug gesehen. Der Starrsinn, mit dem
sie auf ihrer blankpolierten Trennlinie zwischen Schwarz und
Weiß, zwischen garantiert und unmöglich beharrte, war bei
beschränkter Intelligenz die einzige Möglichkeit, angstfrei den
moralischen Kurs zu halten. (Eva Menasse: Quasikristalle)
Mein Leben seitdem läßt sich erst recht in beschämend
wenigen Worten vollständig beschreiben: Pünktlichkeit,
Freundlichkeit und jener Fleiß, der seine Objekte in
derselben harmonischen Geschwindigkeit sich vermehren
sieht, wie er sie wegerledigt. Ich habe nicht den
Wunsch, eine Autobiographie zu schreiben, aber der
Gedanke, daß, hätte ich den Wunsch, diese schon mit dem
Kauf von Papier fertiggestellt wäre, da sie füglich nur
aus leeren Seiten bestehen müßte, irritierte mich sehr.
Diese Unzufriedenheit ist unverständlich, denn ich habe
keine Sorgen. Aber sie ist verständlich, denn ich bin
nie glücklich gewesen.(Robert Menasse: Ich kann jeder
sagen, S. 16)
Ich saß also in einer ungeheizten Wohnung und hatte die
Sinnkrise. Ich fragte mich, ob mir mein Studium so viel
bedeutete, daß ich auch bereit war, es durch Jobs
selbst zu finanzieren. Philosophie! Und was dann? Ich
war von den Bedenken meines Vaters nun selbst schon
angekränkelt. Ich ging in Vorlesungen und fragte mich
danach bei Durchsicht meiner Mitschriften, ob ich beim
Mitschreiben oder der Professor beim Vortragen
deliriert hatte. Ich machte noch zwei oder drei
Prüfungen, die lediglich Triumphorgien der Professoren
waren, die, nur wenige Jahre zuvor mit Tomaten
beworfen, sich nun bei der nächsten Studentengeneration
ungestraft dafür rächen konnten: "Brav gelernt, Herr
Kollege, aber ich kann Ihnen nur ein 'genügend' geben,
weil: Sehr gut ist der liebe Gott, gut bin ich, und
dann kommt lange nichts." (Robert Menasse: Ich kann
jeder sagen, S. 156/60)
Wie kann man es zu Tücht'gem bringen
bei des Grames Träumereien,
Das jammernde 'Ach Gott' läßt nichts gelingen,
wer schaffen will, muß fröhlich sein.
Wohl Keime wecken mag der Regen,
der in die Scholle niederbricht,
doch Goldenkorn und Erntesegen
Drum hoch den Kopf, ein Lustig Gesicht!
wenn früh morgens der Wecker grausam gellt.
Ein armseliger und trauriger Wicht,
der nicht selbst sein Leben erhellt.
(Steffen Mensching
adaptiert
in seinem Roman
Jacobs Leiter
Fontane)
Laptop, mein Schoßhund, eine Maschine mehr, die ich
benutze, ohne zu wissen, wie sie funktioniert.
Computer in der Neuen Welt schreiben kein S-Zett
und keine Umlaute. Meiner könnte es, er kann alles,
wenn er will, nur weiß ich nicht, wie ich seinen Willen
brechen, ihm klarmachen soll, daß er sein Wissen
anwendet. Störrisches Gerät. Ich begreife die
Gebrauchsanweisung nicht und tröste mich mit dem
Gedanken, daß ich sie in deutsch auch nicht
verstanden hätte. (Steffen Mensching: Jacobs Leiter,
S. 9)
Warum ängstigt mich der Gedanke, Großvater wäre
Spitzel gewesen, Provokateur, Kriegsverbrecher, ein
Nazi? Damit will ich nichts zu tun haben. Schweine,
Feiglinge, Mörder. Ich nicht. Ich möchte zu den Guten
gehören, zu den Gegnern. Aber ich gehöre nicht zu
ihnen. Immer wollte ich bei den Partisanen sein,
obwohl ich zu den Deutschen gehörte, lieber ging ich
mit den Indianern unter als mit den Cowboys zu
siegen. Ich liebte sie nie, die Weißen,
Bleichgesichter, ihren breiten Gang, die falsche
Selbstsicherheit. Ich war Hegelianer, schon bevor ich
lesen konnte, einmal, da war ich sicher, würde der
Weltgeist die Gerechtigkeit zum Tanz führen, ein
früher Kindergartenirrtum. Es gibt Augenblicke, in
denen man sein Leben in klarem Licht sieht. (Steffen
Mensching: Jacobs Leiter, S. 55)
Ich sage dir was, wenn man alleine lebt, ist das
wichtigste, daß man Ordnung hält. Macht dir jemand
sauber? Ich soll jemanden bezahlen, damit er meine
Vasen zerbricht? Jack lacht. Das mache ich allein
billiger. Es geht nicht um Staubsaugen und
Geschirrspülen, Eremiten brauchen Regeln. Männer
verwahrlosen zu schnell. Weshalb überleben die
Ladies ihre männlichen Gefährten? Frauen achten
mehr auf ihr Äußeres. Die Eitelkeit als Lebensretter.
Eine Frage der Physiologie. Wer weiß. (Steffen
Mensching: Jacobs Leiter, S. 292)
Die Ozean-Überquerung im Zwischendeck gerät zu
einer Tortur. Fanny, 21 Jahre alt, glaubt sterben zu
müssen. Ihre Konstitution, ohnehin nicht die
robusteste, ist dem ewigen Auf und Ab der Wellen
nicht gewachsen. Zwar hatte Jacobi, der wußte, was
ihr bevorstand, sie dringend angehalten, nur im
Vollbesitz ihrer Kräfte sich fühlend die Expedition zu
wagen, doch wollte ihr, an Reisefieber und
Abschiedsschmerz leidend, in den Tagen der
Vorbereitung nur mühsam gelingen, die Mahlzeiten
regelmäßig einzuhalten. Jetzt liegt sie auf der
Schiffspritsche, während ein Matrose, von Marie, der
Frankfurter Reisebekanntschaft, die sich zumindest
auf den Beinen halten kann, ans Lager kommandiert,
ihr dreimal täglich schwarzen Tee einflößt. Ein vierter
Passagier sei der Auszehrung erlegen. Die übliche
Quote, meint der Seemann. Da es an Bord regelmäßig
zu Geburten käme, bliebe die Anzahl der Passagiere
bei Abfahrt und Ankunft relativ stabil. (Steffen
Mensching: Jacobs Leiter, S. 305)
Noch heute achte ich, der ich ein unregelmäßiges,
müßiges, ja chaotisches Leben führe, peinlich genau
darauf, wenigstens am Abend ein wenig feste Nahrung zu
mir zu nehmen und ein Glas heißen Tee zu trinken. Der
Glaube, die Fesseln der Vergangenheit gelöst zu haben,
ist eine schöne Illusion. Dies bemerke ich jedesmal,
wenn ich eine Tomate aufschneide. Dann ist mir für
einen Augenblick so, als könnte ich kaum über die
Tischkante schauen, und ich sehe durch das Teeglas, in
dem der Löffel einen Knick macht, das fröhliche Gesicht
meines Vaters, der sich die Hände reibt und nach einer
Scheibe Brot langt. Wenn ich die Tomate dann koste,
weiß ich wieder, daß sich die zeiten geändert haben.
(Steffen Mensching: Lustigs Flucht, S. 19)
In meine Oberschulklasse ging ein Mitschüler, den ein
auffälliger Name zu meinem Leidensgenossen machte:
Bernd Nievoll. Er gehörte bis zur Jugendweihe zu den
besten Schülern, erst in der Pubertät begann er den
Forderungen zum Opfer zu fallen, die durch seinen Namen
an ihn gestellt wurden. Es verging keine Feier, wo
Nievoll nicht Hänseleien ausgesetzt war, wieviel
Alkohol er denn nun wirklich vertragen würde. Bernd,
eigentlich von stiller, zurückhaltender Natur, sah sich
genötigt nachzuweisen, daß er mehr schlucken konnte als
ein Pferd. Er trank Wodka aus der Flasche, kippte sich
Korn ins Bier und schaffte mit fünfzehn seine erste
Alkoholvergiftung. Mit zweiundzwanzig kam er zum Entzug
in eine Klinik. Ihn rettete, wie es so oft geschieht,
eine Frau. Sie hieß Sand, mein ehemaliger Schulkamerad
heiratete sie, nahm ihren Namen an, wurde Bernd Sand,
in dieser Ehe trocken und Vorsitzender eines Vereins
Anonymen Alkoholiker. (Steffen Mensching: Lustigs
Flucht, S. 110f.)
Ich stopfte alle auffindbaren Kleidungsstücke in die
Trommel, wählte das 30-Grad-Programm, um die Gefahren
der Verfärbung oder des Eingehens so gering wie möglich
zu halten, und nahm vor dem Bullauge auf den
Kokosmatratzen Platz. Eine Havarie, zum Beispiel eine
überlaufende Waschmaschine, mußte unbedingt vermieden
werden. Walle, walle manche Strecke, daß zum Zwecke
Wasser fließe. Die Einspritzung funktionierte
tadellos. Der Automat begann zu rumpeln. Von meinem
Beobachtungsposten auf dem Küchenboden konnte ich ins
Zimmer sehen, den Fernseher im Blick. Das Waschprogramm
war aufregender als das Fernsehprogramm. Die Socken
tanzten im Schaum. Die Boxershorts drängten sich immer
wieder ans Schaufenster, offenbar besaß diese Art
Unterhose eine Neigung zur Repräsentation. (Steffen
Mensching: Lustigs Flucht, S. 153)
Ging ihm sein Geschäft wieder auf die Nerven? Mr.
Meldrum, der seinen Wohlstand nicht zu schätzen
wußte, hatte sich vor seiner Firma immer eingeengt
und beschwert gefühlt, und wenn er andererseits an
Männer wie John Masefield, Hegel, Heliogabal und
Edison dachte und an den bedeutenden Beitrag, den
sie zum Fortschritt der Menschlichkeit geleistet
hatten, dann wurde sein Gefühl äußerster
Minderwertigkeit akut. Sein eigener Beruf schien ihm
dann viel zu frivol und vulgär - versorgte er doch das
gesamte Downtown-Manhattan mit "seltenen
spanischen Delikatessen." (John Metcalfe: Mr.
Meldrums Manie)
Nach und nach nahm das Festmahl den Charakter einer seltsamen,
aber überaus komischen, allgemeinen Betrunkenheit an. - Keiner
kümmerte sich mehr um den anderen - jeder lebte, sozusagen ein
Leben für sich. Der fürstliche Zentralgüterdirektor Dr. Hyacinth
Braunschild (als solcher hatte sich der joviale ältere Herr,
schwer bezecht, alsbald dem Pikkolo vorgestellt) war auf einen
Stuhl gestiegen und hielt dort unter zahlreichen Bücklingen eine,
zumeist aus "Böhs" bestehende Huldigungsanrede an "Seine
Durchlaucht, seinen allergnädigsten Gönner und Brotherren", wobei
ihm nach jedem längeren Satz das Gigerl mit dem Monokel allemal
einen Zigarrenring als Orden verlieh. Daß der Herr fürstliche
Zentralgüterdirektor bei solchen Anlässen ncht infolge
Gleichgewichtsverlustes vom Sessel herabstürzte, hatte er
lediglich der Umsicht des "Notars" zu verdanken, der - wie
weiland Siegfried mit der Tarnkappe bei König Gunther - hinter
ihm stand und achtgab, daß die Anziehungskraft der Erde ihre
Amtgewalt nicht ungebührlich mißbrauchte. (Gustav Meyrink:
Walpurgisnacht)
Der Herr kaiserliche Leibarzt hatte in der verflossenen Nacht
einen Tobsuchtanfall bekommen, sämtliche junge und alte
"böhmische Liesels", Zrcadlos, Mandschus und "Grüne Fröhsche" zum
Teufel gejagt - kurz: einen Energiesturm aus seiner Brust
heraufbeschworen, der ihn befähigte, in weniger als einer Stunde
alles, was sich in Schränken und Kommoden für den Karlsbader
Aufenthalt Geeignetes vorfand, in die Schlünde der Felleisen und
Ledertaschen hineinzustopfen - etwa wie ein wirklicher Pinguin
Fische in die Schnäbel seiner Jungen - und schließlich die
dickgeschwollenen Koffer, denen die Rockschöße, Halsbinden und
Unterhosen nur so zum Maul heraushingen, so lange zu behüpfen und
zu beflattern, bis ihr Widerstand endgültig gebrochen war und die
Riegel seufzend ins Schloß knipsten. Nur ein Paar Pantoffeln mit
eingestickten Tigerköpfen und Vergißmeinnichtkränzen aus
Glasperlen sowie ein Nachthemd hatte er zurückbehalten und beides
vor Ausbruch seiner Raserei sorgfältig mit Bindfaden am
Kronleuchter befestigt, damit sie sich nicht vor seinem blinden
Wüten verkröchen und dann wochenlang unauffindbar seien. (Gustav
Meyrink: Walpurgisnacht)
Sie hat so oft ihre Krankheit wiederholt, daß sie im Sterben
liege, so jeden Schmerz übertrieben, wie die
Märchenprinzessin, die klagte, daß sie eine Erbse durch
sieben Federkissen spürte. Und der schon bekannte
hypochondrische Seufzer brachte ihr vielleicht eine gewisse
Linderung, da er vertraut war, in einen normalen Ablauf
eingereiht. Solange wir Beweise geben können, daß wir über
unsere eigene Vernichtung Herr sind, indem wir von ihr
sprechen, glauben wir, daß sie nie erfolgen wird. (Czeslaw
Milosz: Tal der Issa, S. 194)
"Da stand die Mutter und war gerade dabei, eine
Kohlsuppe zu kochen... "Ich wünsche nicht, daß du bei
mir zu Hause Kohlsuppe machst... Ich hab's dir schon
zigmal gesagt... das verpestet die ganze Wohnung...
Und wenn ich einen anderen Mann als nur meinen
Liebhaber mitgebracht hätte, welchen Eindruck würde ich
dann machen bei diesem Gestank wie auf dem Klosett? ...
Hast du das endlich begriffen?" Und an mich gewandt,
fügte sie hinzu: 'Man hat, Herrgott noch mal den
Eindruck, als sei hier ein ganzes Kürassierregiment zum
Furzen eingerückt..." (Octave Mirbeau: Nie wieder
Höhenluft oder Die 21 Tage eines Neurasthenikers, S.
15)
"Ich bin der Erfinder einer neuen Form menschlicher
Fortpflanzung." "Ach!" "Ja... Es handelt sich um die
sogenannten Stellogenese... Sie ist eine Form der
Empfängnis, die mir sehr am Herzen liegt... Ich kann
mich einfach nicht mit dem Gedanken anfreunden, daß
ich... ich, Clara Fistule... aus der Tierhaftigkeit
eines Mannes und den prostitutionellen Gefälligkeiten
einer Frau gezeugt worden sein soll... Auch war ich nie
gewillt, die zwei verworfenen Kreaturen, die das
bürgerliche Gesetz als meine Eltern bezeichnet, als
solche anzuerkennen." (Octave Mirbeau: Nie wieder
Höhenluft oder Die 21 Tage eines Neurasthenikers, S.
20)
Clara Fistule ist keine Frau, wie Sie angesichts seines
femininen Vornamens vielleicht glauben könnten. Er ist
aber auch nicht ganz und gar ein Mann; er ist eine Art
Zwischenwesen zwischen Mensch und Gott; ein
Zwischenmensch, so könnte Nietzsche ihn nennen. Ein
Dichter, das versteht sich von selbst. Aber er ist
nicht nur Dichter, er ist auch Bildhauer, Musiker,
Philosoph, Maler, Architekt, er ist einfach alles...
'Ich vereine in mir die vielfältigen Intellektualitäten
des Universums", erklärt er, 'aber das ist ziemlich
ermüdend, und allmählich werde ich es leid, das
erdrückende Gewicht meines Genies ganz allein zu
tragen.' Clara Fistule ist noch nicht einmal siebzehn
und doch ist er, o Wunder!, bereits allen Dingen bis
auf den Grund gegangen. Er kennt das Geheimnis der
Quellen und das Mysterium der Abgründe. Abyssus
abyssum fricat. Sie werden sich ihn gewiß sonderbar
hochgeschossen und blaß, mit einer Stirn, deformiert
von den Erschütterungen des Denkens, und mit Lidern,
versengt von Träumen, vorstellen. Weit gefehlt: Clara
Fistule ist ein dicker, schwerer und massiger Junge,
mit der kräftigen Statur eines Mannes aus der Auvergne
und mit Wangen, die vor rotglühender Gesundheit
strahlen. Er ist sich der materiellen Solidität seines
Knochenbaus nicht einmal bewußt und hält sich gern für
körperlos. So sehr er die
Mischgeschlechtlichkeit predigt und überall von dem
Grauen, männlichen Geschlechts zu sein und vom
Abschaum, eine Frau zu sein tönt, schwängert er
dennoch heimlich alle Obstfrauen seines Viertels.
(Octave Mirbeau: Nie wieder Höhenluft oder Die 21 Tage
eines Neurasthenikers, S. 18f.)
Monsieur Isodor-Joseph Tarabustin, Lehrer am Lycee von
Montauban, ist mit seiner Familie eingetroffen, um eine
Saison in X zu verbringen... Monsieur Tarabustin leidet
an einem Katarrh an der Eustachischen Röhre; Madame
Rose Tarabustin an einer Kniegelenkshydrarthose; der
Sohn, Louis-Pilate Tarabustin, an einer
Rückgratverkrümmung; eine sehr moderne Familie, wie man
sieht. Zusätzlich zu diesen eingestandenen und im
übrigen ehrbaren Krankheiten haben sie noch andere, die
sie an den Quellen des Lebens selbst angreifen. Aus
welch unreinen Erbteilen, in welch schmutzigen
Leidenschaften, in welch geizhalsigen und heimlichen
Ausschweifungen, in welchen ehelichen Kloaken müssen
Monsieur und Madame Tarabustin, er so gut wie sie, nur
gezeugt worden sein, um am Ende jenen allerlezten
Vertreter mißwüchsiger Menschheit, jene deformierte und
von Skrofeln zerfressene Mißgeburt zuwege zu bringen,
die der junge Louis-Pilate darstellt? Mit seiner
lehmfarbenen und faltigen Haut, seinem zickzackförmigen
Rücken, seinen verdrehten Beinen, seinen schwammartigen
und weichen Knochen wirkt dieses Kind, als sei es
siebzig Jahre alt. Es weist sämtliche Merkmale eines
debilen und schrulligen Greises auf. Befindet man sich
in seiner Nähe, so leidet man richtig darunter, daß man
es nicht töten, nicht von seinen Leiden erlösen kann.
(Octave Mirbeau: Nie wieder Höhenluft oder Die 21 Tage
eines Neurasthenikers, S. 51)
Sophies Abscheu vor Amerika saß tief. Genauso wie
Manny sich sein Leben um den Satz herum
eingerichtet hatte, es komme nur darauf an, die
Dinge kleiner zu machen, so gründete sich ihre
Abneigung auf die amerikanischen Dimensionen. Sie
haßte das Große, das Viele, das bis obenhin Gefüllte,
das 'Besser-kannst-du's-doch-nicht-haben". Amerika,
das war für sie: Mangel an Bescheidenheit. Die Größe
der Kühlschränke, der Autos, der Milchkartons, der
Biergläser und der Steaks löste in ihr eine Wut aus,
die keiner von uns verstand. (Marcel Möring: In
Babylon, S. 224)
Überlege dir eine Art Ausbildung für dich selber, so
daß du die Möglichkeit hast, dich zwischen
verschiedenen Techniken zu entscheiden, und nicht
dadurch eingeengt wirst, daß du zufällig Talent hast."
"Na ja", sagte Sophie, "Talent ist ja immerhin schon
was, ich meine..." "Talent, Soof, ist der Fluch jedes
Menschen, der wirklich etwas erreichen will. Talent ist
das größte Handicap, das man haben kann. Warum,
glaubst du, gibst du frustrierten Hausfrauen
Malunterricht anstatt im Städtischen Museum
auszustellen? Du hast nur Talent." Sophie sah ihn mit
einem Blick an, der dem Begriff Gefriertrocknen eine
neue Deutung hinzufügte. (Marcel Möring: In Babylon,
S. 98)
Wir, mein Vater und ich, hatten den Leitenden
Ingenieur besucht, der es immer sehr zu schätzen
wußte, wenn mein Vater vorbeikam. Wir brachten
nicht nur Zigarren mit, jene verschwundene
holländische Gewohnheit, das Eis zu brechen, sondern
darüber hinaus teilten die beiden Männer auch die
gleiche fanatische Liebe für Maschinen. Der Ingenieur
war ein kleiner, gepflegter Groninger. Seine
Arbeitsanzüge waren zwar mit Fett und Öl
beschmiert, sahen aber so aus, als habe er sie an
diesem Morgen gewaschen und gestärkt angezogen.
Den schmuddeligen Lappen, der immer aus seiner
Tasche hing, wechselte er beim geringsten Anlaß von
der rechten in die linke Hand und führte ihn dnach zu
einem sich hin und her oder auf und ab bewegenden
Messinggestänge, auf dem ein kleiner Fettspritzer
saß, den nur er und kein anderer sah. (Marcel Möring:
In Babylon, S. 160)
Das Unbedeutende, das, was man vergißt, das
Unwichtige. Was sichtbar ist und was wir als Historie
betrachten, sind die Geschichten von Königen und
Generälen und Ministern und Erzherzögen und
Terroristen. Was diese Geschichten jedoch trägt, das
Fundament, das ist das Läppische, jemand, der etwas
auf dem Gebiet der Matratzen erfindet, ein Kind, das
seiner Mutter einen Gulden aus dem Portemonnaie
stiehlt, der neue Junge in der Schule, die Ehe, die in
die Brüche geht... Es gibt eine sichtbare Welt, die wir
in den Zeitungen finden und im Radio hören, in den
Film und das Fernsehen beherrscht, und daneben eine
verborgene, und das ist dann diejenige, die die
sichtbare sieht und denkt: Dort findet das wahre
Leben statt. (Marcel Möring: In Babylon, S. 181)
"Der Vorteil der modernen Physik dagegen besteht
darin, zumindest wenn man sie so benutzt, wie ich
das tun möchte, daß man eine Erklärung für die
Zivilisationskomponente in unserem Dasein finden
kann. Das heißt: eine Antwort auf die Frage, warum
es uns einfach nicht gelingen will, einen Zustand der
Stabilität zu erreichen." Der Zweite Hauptsatz der
Thermodynamik war Onkel Hermans Antwort auf die
Frage, die ihn nicht losließ: Warum gibt es kein
Gleichgewicht? "Entropie", schrieb Onkel Herman, "ist
meine Antwort auf die Frage, warum es kein
Gleichgewicht gibt. Wir gehen an unserer eigenen
Entropie zugrunde. Je weiter wir unsere Gesellschaft
entwickeln, um so feiner wird das System, um so
fortschrittlicher und subtiler die Organisation, um so
größer die Kontrollprobleme und damit auch die
Entropie. Wir neigen dazu, die Welt, uns selbst, die
Art und Weise, wie wir alles organisieren, zu
verbessern, und dadurch verlieren wir die Dinge
immer mehr aus dem Griff." (Marcel Möring: In
Babylon, S. 244)
"Hast du dir meine Mutter mal richtig angeschaut?"
fragte ich. "Sie kümmert sich um alles. Und wenn ich
'alles' sage, dann meine ich: die ganze Welt. Meine
Mutter sorgt nicht nur dafür, daß ungeheure Vorräte
an Konserven, eine Reserve an Toilettenpapier, mit
der ein ganzes Waisenhaus fünf Jahre lang auskäme,
und genug Reinigungsmittel im Haus sind, um
zumindest schon mal ganz Holland saubermachen zu
können, sondern sie nimmt sich auch der ganzen Welt
an. Jeden Abend, bevor sie schlafen geht, spricht sie
mit Gott, und dann erzählt sie ihm, was alles noch zu
tun ist. Wenn andere Leute meine Mutter für eine
Ungläubige halten, dann vor allem deswegen, weil sie
Gott ernsthaft kritisiert. Er macht seinen Job nicht
gut. Er räumt seine Autos nach dem Spielen nicht auf.
Er wäscht sich nicht hinter den Ohren. Er hört nicht
auf meine Mutter." (Marcel Möring: In Babylon, S.
373)
"Ich werde dir was erzählen." "Ein Märchen." Ich
lachte. "Nein. Vielleicht. Das letzte Kapitel von Onkel
Hermans Biographie." "Das letzte?" Sie zeigte auf den
Papierstapel, der auf dem Beistelltisch lag. "Das ist
doch noch viel mehr?" "Ja. Aber es ist noch nicht ganz
fertig. Und chronologisch gesehen müßte es auch viel
früher kommen." "Ein sehr chronologischer Typ bist du
nie gewesen." "Alles andere als das. Chronologie
dient der Reihenfolge, Chaos dem Verständnis."
(Marcel Möring: In Babylon, S. 421)
Sie kam durch die Glastür herein. Sie winkte uns, ging aber
gleich weiter in den Speisesaal. Ich erinnere mich, daß ich
mich dazu berufen fühlte, aus meinem Pflichtgefühl heraus,
das nicht älter war als dieser eine umnebelte Nachmittag, ihr
enges Kleid und ihre Pumps zu registrieren und meinem
Reisegefährten mitzuteilen, versehen mit dem Kommentar,
daß sie sehr schön sei, wie jede Frau, die eine heimliche
Liebe hegt: lebendig, kapriziös, gequält, zurückhaltend, still,
apathisch, flehend, klagend, gehetzt, maßlos, unermüdlich,
unbesorgt, tollkühn, leidenschaftlich, überdreht wie eine
Melodie auf der g-Saite und panisch wie ein Tremolo auf
dem Steg, daß sie, kurz gesagt, so schön sei wie die Noten
in ihrem Kopf, mit denen sie nun schon tagelang herumlief.
(Margriet de Moor: Kreutzersonate, S. 50)
Ob sie wohl eine Ahnung davon hat, dachte ich, wie ernst es
ihm ist? Ob sie wohl weiß, daß ihn in den letzten zwanzig
Jahren keine Frau mehr derart durcheinandergebracht hat?
Ich war damals, in dem Moment, davon überzeugt, daß
Suzanna Flier sich auf das Liebesabenteuer mit dem Blinden
eingelassen hatte, wie eine Frau sich nun mal auf ein
Liebesabenteuer einläßt, spielerisch und leidenschaftlich, ein
kleiner Wirbel, um zu wissen, daß ein Mann sie begehrt. Das
eigene Schicksal mit dem eines anderen zu verbinden ist
wieder etwas ganz anderes. (Margriet de Moor:
Kreutzersonate, S. 58)
Drei Tage, es sind einfach nur drei Tage vergangen,
vorvorgestern, vorgestern, gestern, ich habe noch nie gehört
oder irgendwo gelesen, daß die Zeit, dieses mirakulöse Maß,
uns einzig und allein, indem sie verstreicht, ihren
Manipulationen aussetzt, ihren unmißverständlichen
Nebenwirkungen, die allerdings keinem Menschen verraten,
woher sie kommen und wie sie wirken. (Margriet de Moor:
Sturmflut, S. 210)
Eines schönen Morgens im Mai 1962 erwachte in einem
Amsterdamer Schlafzimmer ein Mann, der sich privat wie auch
beruflich nur als zufrieden und glücklich bezeichnen konnte,
mit den unsterblichen Worten im Kopf: Meine Frau versteht
mich nicht. Verdutzt drehte er sich auf die Seite. Armanda
schlief noch, auf dem Rücken, Kinn in die Höhe gereckt, eine
Haltung, die sie sich nach dem Lesen eines
Zeitschriftenartikels über Doppelkinne eines mit spielender
Leichtigkeit angewöhnt hatte. (Margriet de Moor: Sturmflut, S.
236)
"Wermut und Gift! Beständig denkt meine Seele daran und ist
tief gebeugt." Gott! Armanda richtete ihren Blick auf den
Pfarrer, der da oben auf seiner Kanzel einen alles andere als
unscheinbaren Eindruck machte. Wie meinen Sie das?
Beängstigend weit vorgelehnt, war hier jemand im Begriff,
Jeremias Klagelied zu wiederholen, zu bearbeiten und
fachmännisch auf den speziellen Fall des heutigen Tages
zuzuschneiden. Was ich meine, ist, es wird allmählich Zeit, daß
du damit aufhörst. Armanda darauf noch, gewitzt: Womit?
Weißt du genau. Wermut und Gift, all diese elenden
Gedanken, die eine Seele, auch deine, wirklich nicht
großmütiger machen! Denk außerdem an die Kleine, die heute
mittag daheim geblieben ist! Nadja? Ja, genau. Soll sie etwa in
einer derart miesepetrigen Umgebung aufwachsen? Gott hat
uns deine Schwester genommen, und damit verfolgt er eine
Absicht. Stop. Paß auf. Die Grausamkeit Gottes ist ein großes
Tabu. Laß also deine Schmalspurempörung und bedenke,
daß du seine Beweggründe nicht verstehst. Die Summe aller
Unzurechnungsfähigkeit ist Gott. Der dir heute also einen
simplen Befehl erteilt. Laß sie gehen, leb du weiter. (Margriet
de Moor: Sturmflut, S. 179)
Ein später Abend Anfang Dezember. So ein Abend, an dem
über manchen Kneipen ein Hauch von Verbitterung liegt,
der merkwürdigerweise nicht einmal etwas Verletzendes
hat. Der Wirt - Fresse a la "Is was?" - hatte nicht zu
klagen. Die Bude war voll. Die übliche Kundschaft -
Schlitzohren, Betrüger, Gorillas, ehemalige
Krankenkassenbeitragskassierer, Bahnsteigelichter,
Trödler, Spezialisten für Fenster- und Türbeschläge -
kurzum Kleinkriminelle aller Fakultäten. (Margriet de
Moor: Der Jongleur, S. 121)
Ich weiß nicht genau, was ich mir von der Arbeit als
Steinmetz erwartet hatte, aber ich weiß, dass noch
keine Woche vergangen war, bis Josua Zweifel an
seiner Entscheidung bekam, nicht Zimmermann zu
werden. Große Steine mit kleinen Eisenmeißeln zu
behauen, ist sehr harte Arbeit. Wer konnte das
ahnen? "Sieh dich um, siehst du irgendwo Bäume?",
äffte mich Josua nach. "Steine, Josh, Steine." "Es ist
nur schwer, weil wir nicht wissen, wie es geht. Es
wird schon noch einfacher werden." Josua sah meinen
Vater an, der mit nacktem Oberkörper auf einen Stein
von der Größe eines Esels einschlug, während ein
Dutzend Sklaven darauf wartete, den Brocken
anzuheben. Er war von grauem Staub bedeckt, und
Ströme von Schweiß zogen dunkle Linien zwischen
den Muskeln an Rücken und Armen. "Alphäus", rief
Josua, "wird die Arbeit einfacher, wenn man erst
weiß, wie es geht?" "Deine Lungen verkleben vom
Steinstaub, die Augen werden trübe von der Sonne
und den kleinen Splittern, die der Meißel aufwirft. Du
steckst deine Lebenskraft in steinerne Bauten für
Römer, die dir dein Geld in Form von Steuern nehmen,
um damit Soldaten zu ernähren, die dein Volk an
Kreuze nageln, weil es frei sein will. Dein Rücken
bricht, die Knochen knarren, deine Frau schreit dich
an, und deine Kinder quälen dich mit offenen,
bettelnden Mäulern wie gierige, kleine Vögel im Nest.
Jeden Abend gehst du so müde und fertig ins Bett,
dass du betest, der Herr möge den Todesengel
schicken, dass er dich im Schlaf holt, damit du keinen
neuen Morgen mehr erlebst. Es hat auch seine
Schattenseiten." "Danke", sagte Josua. Er sah mich
an, zog eine Augenbraue in die Höhe. (Christopher
Moore: Die Bibel nach Biff)
Kamele beißen. Ein Kamel kann dich vollkommen
grundlos anspucken, treten, niedertrampeln, dir ins
Gesicht brüllen, rülpsen oder furzen. Günstigstenfalls
sind sie stur, schlimmsten- falls aber einfach
unfassbar übellaunig. Wenn man sie provoziert, dann
beißen sie. Wenn man einem Kamel eine dehydrierte
Amphibie bis auf Ellbogenlänge in den Po schiebt,
fühlt es sich provoziert, umso mehr noch, wenn diese
Prozedur heimlich vonstatten geht, während es
schläft. Kamele sind nicht leicht zu überlisten. Sie
beißen. (Christopher Moore: Die Bibel nach Biff)
Manchmal verdichten sich, wie Eiter, die Dinge. Die
immer etwas merkwürdigen, sogenannten alltäglichen und
scheinbar langsamen Prozesse, mit denen wir uns
annähern, sagen wir: dem Leben-bis-wir-sterben, werden
plötzlich beschleunigt und kommen außer Takt. Das kann
man nicht erklären, sagte eine langjährige Geliebte zu
einem arbeitslosen Schornsteigfeger, oder er hat es
einfach nicht begriffen. Wie Liebe kommt und geht. Es
schien, er wollte gar nicht, daß sie fortdauerte, er
wollte nur eine Erklärung, jenseits von "weil du oder
ich so oder so bist / bin, weil das und das passiert
ist." Denn es ist ja nichts passiert, und jeder ist,
wie er ist, darum geht es nicht. Das kann man nicht
erklären, sagte die Geliebte. Kurz darauf heiratete sie
einen, den sie erst wenige Wochen kannte, und der
Schornsteinfeger zündete vier Dachstühle und einen
Kiosk an. (Terezia Mora: Alle Tage, S. 249)
Ihr Umfeld registrierte eine gewisse, nennen wir es:
Veränderung ihrer Persönlichkeit. Mal ertrug sie alles
(Fernsehprogramme, Baustelle direkt vor dem mit einer
Plane verhängten Krankenzimmerfenster) mit einer an
Apathie grenzenden Geduld, dann wieder war sie, und
kaschierte es kaum, voller Unmut (Direktor zu Besuch,
sie nickt, jaja, bald gesund, aber mit den Händen
wedelt sie schon, pack die Blumen da hin und verzieh
dich), hinzu kamen die zeitweilige Reduktion ihres
Wortschatzes (Was ist das für ein unglaublicher
Mist/Müll/Scheiß!), nie gekannte körperliche Ausbrüche
(versucht mit einem Buch den Abfalleimer unter dem
Waschbecken zu treffen) sowie knappe, kategorische
Befehle, Neins und Jas, und wenn sie etwas wiederholen
muß, dann tut sie es das zweite Mal brüllend, kurz:
eine handfeste postoperative Depression. Was ist los?
Was ist nur los hier? Als sie hinter der Plane
auftauchte, war die Stadt wie umgekrempelt. Gibt es
eigentlich eine einzige Ecke in dieser Stadt, an der
nicht mit Höllenlärm irgendwelche Gruben ausgehoben
werden? Die netten Bäume in ihrer Straße hatten das
Laub verloren - Wohin ist der Herbst verschwunden?
Wieso muß hier der Sommer neuerdings nahtlos in den
Winter übergehen? -, standen da, klappernde
Reisigbesen. Ohne Blätter konnte man sehen, wie rabiat
sie zurechtgestutzt worden sind, damit sie nicht zu
hoch, zu breit, zu rund für diese nette Straße werden.
Warum mußte mir auch der Schleier von den Augen fallen?
(Terezia Mora: Alle Tage, S. 265)
Einmal kam eine gestreifte Katze, die so mager war, daß sie
wie das Gespenst einer Katze aussah. Trotzdem gelang es ihr
mit der Kraft der Verzweiflung, das Papier, das das
Fensterglas ersetzte, zu durchstoßen und ins Zimmer zu
kommen, um nach etwas Eßbarem zu suchen. Natürlich
vermieden es die Mäuse, sich bei ihrer Ankunft blicken zu
lassen. Und Useppe hatte ihr nichts anderes anzubieten als
einen Rest von gekochtem Kohl. Doch die Katze
beschnüffelte das Dargebotene mit jenem aristokratischen
Stolz, den sich auch verwahrloste Katzen zu bewahren wissen,
und ohne sich herabzulassen, die Gabe zu probieren, ging sie
mit emporgerichtetem Schwanz davon. (Elsa Morante: La
Storia, S. 274)
... erhält den Bescheid, ich müsse einen schriftlichen Antrag
stellen. Ohne den gebe man Kontodaten nicht heraus. Noch einen
Antrag - das verkrafte ich nicht. "Formlos", beschwichtigt
Sidonie. "Sie brauchen die Unterschrift." Wie schreibt man einen
formlosen Brief? "Zwei Sätze!" sagt Sidonie, "Das kriegen wir
hin!" Ich zücke Block und Papier. Werte Genossen! kritzele ich.
"Bei uns heißt es: Sehr geehrte Damen und Herren!" bemerkt
Sidonie sanft. "Es ist doch sicher nur einer", gebe ich zu
bedenken, "und wahrscheinlich eine Frau!" "Woher wissen wir das?
Sehr geehrte Frau! beleidigt vielleicht den Lehrling?" "Sehr
geehrte Herren! beleidigt die Sekretärin." "Sehr geehrte Damen
und Herren! schadet wirklich niemandem." "Hab's geschrieben.
Weiter?" "Ich bitte Sie, mir ..." "Mit ich fängt man keinen Brief
an. Nicht mal an einen Computer. Darf ich Sie bitten ...
ausnahmsweise ... untertänigst ..." "Untertänigst?" "Höflichst!"
"Das geht nicht", sagt sie unerwartet fest. "Man kann nur
entweder unhöflich oder höflich sein. Höflichst ist Heuchelei."
Offenbar will sie Sprachbewußtsein demonstrieren. "Die ganze
Anrede ist Heuchelei. Wir ehren die doch nicht, und schon gar
nicht sehr!" "Wir schreiben ja nur, daß sie allgemein geehrt
sind, nicht von uns." "Und wofür?" "Für ihre Stellung in der
Gesellschaft. Festes Monatsgehalt..." Wir seufzen. "Na gut. Darf
ich Sie ausnahmsweise bitten ... Weiter?" "... mir die
Kontobewegungen auf meinem Konto ..." "Zweimal das Wort Konto im
selben Satz, das kann ich stilistisch nicht verantworten." "...
die Bewegungen meines Kontos..." "Warum?" "Weiß nicht. Ich
bevorzuge den Genitiv." (zweifelnd) "... die Bewegungen meines
Kontos... Das Konto selbst bewegt sich ja nicht, nur die Summen!"
"Welche Summen?" "Die Bewegungen meines Kontos ...", wiederholt
Sidonie prüfend. "Klingt irgendwie unanständig." "Aber wenn wir
schreiben: die Bewegungen auf meinem Konto, werden die sich
fragen, was für Bewegungen?" "Stimmt. Auf meinem Konto bewegt
sich ja nichts." (Petra Morsbach: Dichterliebe)
Zisler war als Jugendlicher Nazi gewesen, und zwar nicht
irgendeiner, sondern besonders schneidig, ein Reiter-Nazi mit
Tätowierung und Lederstiefeln. Im russischen Antifa-Lager
aufgeklärt, schämte er sich und wurde Kommunist. Nach der
Heimkehr war er zunächst staatsfroher Dichter, dann DDR-
Kritiker, Unterzeichner der Biermann-Petition, Buddhist,
katholisch; zwischendurch jeweils Alkoholiker. Danach ein
fanatischer Vegetarier, der nur Äpfel aß: "Wissen Sie, was
Hunger ist?" Plötzlich wurde er fett wie ein Delphin und fragte
die Dichterin Broda, eine Blutwurststulle im Mund: "Was halten
Sie von der Gnade?" (Petra Morsbach: Dichterliebe)
Regelmäßig erschien Lauras Mutter mit frisch frisiertem
Haar zu Blitzbesuchen, um den Enkel zu besichtigen. Der
Vater konnte den Wachstumsprozeß des Enkels nur viermal
im Jahr beobachten, weil er der Reichsbahn, bei der er
einundfünfzig Jahre im Dienst stand, nicht noch
zusätzlich Geld in den Rachen zu werfen bereit war -
Johann Salman benutzte Züge prinzipiell nur mit
Freifahrschein. Seine Frau Olga hatte die
Großmutterschaft prinzipienlos gemacht, das ärgerte
ihren Mann. Derart, daß er vor und nach den Enkelreisen
nicht sprach. Er konnte tagelang schweigen, wenn er
sich ernstlich ärgerte. Das heißt: über Geldausgaben.
Die Anschaffung seines letzten Anzugs, die Olga nach
monatelangen Vorbereitungen durchgesetzt hatte, kostete
ihr vier stumme Tage. Olga Salman hatte also eine
sprachliche Fastenzeit hinter sich, wenn sie bei ihrer
Tochter eintraf, mithin Nachholebedürfnisse. (Irmtraud
Morgner: Leben und Abenteuer der Trobadora Beatriz nach
Zeugnissen ihrer Spielfrau Laura, S. 263)
Olga Salman hatte die heitere Hoffnung auf eine heitere
Wendung in ihrem Leben bereits wieder verlassen, sobald
die Bittschrift sie verlassen hatte. Die Kraft, heitere
Hoffnungen zu halten, war ihr verlorengegangen. Sie
konnte nur noch finstere Hoffnungen halten. Nicht weil
ihr Leben besonders schwer gewesen wäre. Seine Leere
hatte die Frau verbittert. Und gezeichnet: die
Mundwinkel waren abgesunken. Jegliche Neugier hatte sie
verloren. An Fernsehprogrammen interessierte sie nur
noch der Wetterbericht. Ein Rest von Kauflust war noch
geblieben, er regte sich beim Anblick von Stoffen.
(Irmtraud Morgner: Trobadora Beatriz, S. 608)
Wibke war noch keine Frau, als Valeska sie
kennenlernte. Wollte aber schnellstens eine sein.
Dömonisch bemaltes Kindergesicht. Zigarettengeräucherte
Reden, mit "Frustration" und ähnlichen Modewörtern
reichlich versetzt, miederungehindertes
Brüstchenschwenken im Pullover, kostbar abgewetzte
Jeans. Wenn sie vergaß, sich angestrengt lässig zu
benehmen, um Abgebrühtheit zu suggerieren, und ihre
außenpolitische Belesenheit zutage ließ, war der schöne
menschliche Entwurf deutlich. Eine mit sich
unzufriedene Oberschülerin. (Irmtraud Morgner:
Trobadora Beatriz, S. 677)
Cecile, Schwester Marie-Cecile, durfte als einzige
Lebende in der Vitrine stehen. Sie trug einen Kranz aus
weißen Lilien. Es war der Tag, an dem sie den Schleier
genommen hatte. Feierlich posierte sie im
Klostergarten, eine kränkliche Braut des Herrn, kurz
bevor das Herbarium Seiner Ewigkeit sie verschlang.
(...) "Eine Dachlatte in einer Kutte", fluchte mein
Vater manchmal. Er konnte sie nicht ausstehen. (...)
Sie hatte ihr Flüstern, ihr mausgraues Frömmeln
jahrelang kultiviert, ein anämisches Nagetier des
Herrn. (...) Schwester Cecile schenkte den Kaffee
ein und belästigte mich mit Herz-Jesu-Andachtsbildchen. (...)
Einmal im Monat rollte Schwester Cecile eine Schar
alter Leute in die Kapelle und rief den Heiligen Geist
so ekstatisch an, daß hin und wieder jemand aus dem
Rollstuhl stürzte und sabbernd auf dem Boden lag.
(Erwin Mortier: Marcel)
Das Haus glich allen anderen Häusern in der Straße: ein
wenig schief, abgesackt nach zwei Jahrhunderten
Bewohnung, Sturm und Krieg. Über der Hecke zwischen
zwei Schornsteinen ein krummes Rückgrat aus
Dachziegeln. Die Fenster saßen mehr oder weniger
betrunken in der Fassade, und neben der Tür hing ein
Paar mit Petunien bepflanzter Holzschuhe. Die meisten
Zimmer beherbergten eine Vorhölle der Finsternis, kühl
im Sommer, im Winter feuchtkalt. In einigen Räumen
speicherten die Steine den Geruch ganzer Generationen
von Mittagessen, vor allem in der Küche, wo ein
fettiger Belag an der Decke haftete. Der Keller
bewahrte auf, der Dachboden vergaß.
(Erwin Mortier: Marcel, S. 5)
Die Zeit verstrich. Er wurde früh grau, aber nicht kahl
wie sein Vater. Während um ihn herum das Äußere
der Menschen in dem Maße verproletarisierte, wie das
Proletariat verschwand, trug er weiterhin englische
Sakkos und karierte Hemden mit Krawatte. Allmählich
kam er in ein Alter, in dem er alte Leute kannte, die
er schon gekannt hatte, als sie so alt waren wie er
jetzt. Die Entdeckung überraschte ihn und ließ ihn
sowohl alte als auch junge Menschen und vor allem
sich selbst mit anderen Augen sehen. Eines Tages
war er älter als sein Vater je geworden war, und er
fühlte sich, als hätte er eine Übertretung begangen,
die ihm eine Zurechtweisung eintragen könnte. -
"Quod licet lovi, non licet bovi!" Während er früher
nie ein Sprichwort gebraucht hätte - etwa "Was
geschehen ist, ist geschehen", oder "Das bessere ist
des Guten Feind", oder "Was Hänschen nicht lernt,
lernt Hans nimmermehr"-, kam er nun in ein Alter, in
dem solche Sprichwörter präzis seine Ansichten
wiedergaben. Er entdeckte, daß es nicht einfach nur
peinliche Klischees waren, sondern daß darin auch die
geballte Lebenserfahrung ganzer generationen zum
Ausdruck kam - zugegeben: in der Regel ziemlich
betrübliche Wahrheiten: sie enthielten nicht die
Weisheit der Himmelsstürmer - denn die waren nie
weise-; und zu den Himmelsstürmern hatter nie
gehört, das war verhindert worden. (Harry Mulisch:
Das Attentat, S. 175)
Immer öfter suchte ich Abwechslung in der Stadt. In den
engen Gassen hatte ich bald ein gutes Cafe entdeckt, und es
dauerte nicht lange, bis ich sie alle kennen lernte: den
englischen Dichter und den schwedischen Maler, den
französischen Philosophen und den amerikanischen
Romanautor. Ich war offentsichtlich nicht der Einzige, der den
Weg in den Süden zu finden gewußt hatte. Wie überall an den
Stränden des Mittelmeeres, in Positano, auf Ibiza, hatte es
auch hier angefangen: wir waren die Quartiermacher der
künftigen touristischen Müllabladeplätze. (Harry Mulisch:
Augenstern, S. 45)
Andrea erzählte jetzt von einem merkwürdigen Flug.
Der Pilot hatte irgendwann in der Luft festgestellt,
daß er die falsche Landkarte mitgenommen hatte, war
aber nicht bereit, umzukehren. Das wäre doch eine
Schande, meinte er fröhlich lachend. Fortan ging er
bei jeder Ortschaft im Sturzflug herunter und
umkreiste das Ortsschild so lange, bis Andrea oder
Giovanni es entziffert hatten. Das ganze war wie der
Alptraum einer Achterbahn. Nach Lektüre des zehnten
oder zwölften Ortsschildes brachte der Pilot die
Maschine nicht mehr hoch und landete fröhlich
lachend auf einem Dorfanger. Giovanni und Andrea
waren völlig benommen. Das kleine Flugzeug wurde
gleich vom ganzen Dorf umringt. Giovanni stieg als
erster aus, noch immer komplett beduselt, ging
herum, schüttelte allen die Hand und sagte laut und
deutlich seinen Nachnamen: Foscal. Foscal. Foscal.
Gestatten, Foscal. Die Dorfbewohner lachten. Sie
dachten, sie hätten ein neues Wort für Guten Tag
gelernt, schüttelten sich selbst fleißig die Hände,
verbeugten sich voreinander und sagten unentwegt
Foscal, Foscal, Foscal. Giovanni wußte nicht, was er
davon halten sollte. "Er dachte, er wäre in einem Dorf
gelandet, wo alle Menschen Foscal hießen, wie er
selbst", sagte Andrea grinsend. Plötzlich hatte der
Pilot keine Lust mehr gehabt, weiterzufliegen.
Giovanni und Andrea war nichts anderes
übriggeblieben, als im Dorf ein Auto mit Chauffeur zu
mieten. (Sibylle Mulot: Einen Mann für sich allein, S.
142)
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