|
Allgemeine Fundstücke / [M]
A
B
C
D
E
F
G
H
I
J
K
L
M
N
O
P
Q
R
S
T
U
V
W
X
Y
Z
[^]
Allem Anschein nach hatte der Pfarrer Davey nie
kennen gelernt. Mit volltönender Stimme gab er ganz
offensichtlich seine Standard-Beerdigungsrede zum
Besten, mit eingefügten Verweisen auf "das
tragische und gewaltsame Ende" eines
"aufopferungsvollen Sohns und talentierten
Künstlers", und forderte uns am Ende auf, den Kopf
zu senken und zu beten. Ich bin immer wieder
überrascht, wenn eine Ansammlung von
Alltagsatheisten diesem Befehl Folge leisten.
(Marianne Macdonald: Das Manuskript, S. 190)
"Heute stehst du im Mittelpunkt, gefeiert wie ein Bräutigam,
ein Tag des Triumphs, nicht wahr? Wärst du nicht so mager,
gäbe es an dir nichts auszusetzen." Kamal lächelte. "Ich fühle
mich ganz wohl so." Jasin warf einen letzten Blick in den
Spiegel. Er setzte den Tarbusch auf, rückte ihn sorgfältig weit
nach rechts, so daß er fast an die Augenbrauen heranreichte.
Begleitet von einem Rülpser, sagte er: "Ein ziemlich großer
Esel bist du, einer mit Abitur. Genieße endlich die Ruhe,
stopfe dich mit gutem Essen voll, du hast doch Ferien. Wie
kannst du dich nur dazu hinreißen lassen, in den Ferien
doppelt soviel zu lesen wie im ganzen Schuljahr? Gott sei's
gedankt, daß ich mit solch mageren Menschen wie dir nichts
gemeinsam habe." (Nagib Machfus: Palast der Sehnsucht)
"Nur begnüge ich mich damit, mit dem Kopf auf Reisen zu
gehen, während du, wie mir scheint, erst dann zufrieden sein
wirst, wenn dich deine gedankliche Tour rund um die Welt
gebracht hat." "Aber hast du keine Sehnsucht, in alle
Himmelsrichtungen zu ziehen?" Kamal dachte einen Moment
lang nach. "Ich glaube, ich habe von Natur aus eher eine
Vorliebe fürs Seßhafte. Schon der Gedanke ans Verreisen
scheint mich zu erschrecken, das heißt die Bewegung, das
Durcheinander, nicht aber, Neues zu sehen und zu erkunden.
Am liebsten wäre mir, die Welt könnte an mir, dort, wo ich
gerade bin vorüberziehen." Hussain stimmte sein
liebenswürdiges, von Herzen kommendes Lachen an. "Wenn
das ginge, wäre ein feststehender Ballon für dich das beste,
da würde sich dann die Welt unter dir drehen." (Nagib
Machfus: Palast der Sehnsucht)
"Warum denkst du nicht daran, selbst zu schreiben? Sowohl
jetzt wie auch künftig werden dir deine Verhältnisse erlauben,
dich ganz dieser Kunst zu widmen." Hussain zuckte
verächtlich mit den Schultern. "Ich soll schreiben, damit andere
Leute etwas zu lesen haben? Warum nicht umgekehrt?"
"Welche der beiden Möglichkeiten ist wohl großartiger?" "Frag
mich nicht nach Großartigkeit, sondern lieber nach dem, was
Glück bedeutet. Ich halte Arbeit für den Fluch der Menschheit,
und zwar nicht, weil ich faul bin. Nein, keinesfalls. Aber ich
meine, daß man beim Arbeiten Zeit verschwendet, die
Persönlichkeit in Fesseln legt und das pralle Leben versäumt.
Ein glückliches Leben ist fröhlicher Müßiggang." Kamals Blick
verriet, daß er den Freund nicht ganz ernst nahm. "Ich weiß
nicht, wozu ein Leben ohne Arbeit gut sein sollte. Eine Stunde
Nichtstun ist schwerer herumzubringen als ein Jahr voller
Arbeit." "Das ist ja das Unglück! Was du sagst, trifft genau zu.
Denke nicht, daß ich es jetzt schon schaffe, nichts zu tun.
Leider nicht. Bis jetzt verplempere ich meine Zeit noch nicht
sogenannten nützlichen, in Wirklichkeit aber nichtssagenden
Dingen. Da bleibt nur zu hoffen, daß ich mir eines Tages
meine Vorstellung vom glücklichen Leben erfülle und es
fertigbringe, einzig dem Müßiggang zu frönen." (Nagib
Machfus: Palast der Sehnsucht)
"Ich weiß, daß du von deinen Träumereien nicht ablassen
wirst. Du hast so lange mit ihnen gelebt, daß sie wahrer als die
Wirklichkeit geworden sind. Lies, soviel zu willst, schreib
meinetwegen sogar, wenn du glaubst, Leser zu finden. Sieh im
Schreiben eine Möglichkeit, berühmt und reich zu werden,
aber nimm es um Himmels willen nicht zu ernst. Du warst ein
heftiger Verteidiger der Religion, und genauso emsig betreibst
du jetzt deine Abtrünnigkeit. Du bist immer hart und
ungeduldig, als würdest du für die ganze Menschheit die
Verantwortung tragen. (Nagib Machfus: Palast der Sehnsucht)
Er las, dachte nach, notierte Gedanken, die er später
in den Artikeln verwendete. Was ihn zu unermüdlichem
Eifer trieb, waren Wissensdurst, Wahrheitsliebe,
Neugier auf geistige Abenteuer, aber auch Sehnsucht
nach Trost und Erlösung von Wehmut und Einsamkeit,
beides in seinem Innern tief verwurzelt. Aus dem
Alleinsein flüchtete er sich in die Einheit des Seins
bei Spinoza, über die eigene Unbedeutendheit tröstete
er sich durch die Mitwisserschaft um Schopenhauers Sieg
über den Willen hinweg, das Maß seines Mitleids mit
Aischas Unglück besänftigte er mit einem Schluck aus
der Leibnitzschen Erklärung des Bösen, sein nach Liebe
dürstendes Herz tränkte er mit der poetischen
Sprachgewalt Bergsons. Doch so unablässig er sich auch
mühte, er vermochte es nicht, der Ungewißtheit die
Krallen zu schneiden, die ihm Folterqualen bereiteten.
Die Wahrheit erwies sich als ebenso kokette Geliebte
wie eine Frau aus Fleisch und Blut. Sie zierte sich,
verdrehte einem den Kopf, ließe einen zweifeln, machte
eifersüchtig und gaukelte einem im gleichen Moment
verführerisch Besitz und Vereinigung vor. Wie eine
Geliebte war sie schillernd, launisch, wankelmütig, und
nur allzuoft neigte sie zu List, Verrat, Grausamkeit,
Hochmut. Kam am Ende nur Ratlosigkeit heraus, fühlte er
keine Kraft mehr, dann sprach er sich Trost zu mit den
Worten: "Ja, vielleicht leide ich wirklich, aber auf
jeden Fall bin ich am Leben, bin ein lebender Mensch.
Wer das von sich behaupten will, muß den Preis zahlen.
(Nagib Machfus: Zuckergäßchen)
Ich begehre diese Frau, seit wann, weiß ich nicht.
Begierde ist ein tyrannischer Herrscher, Liebe nicht.
Die Liebe kennt seltsame Wege, doch sie ist frei von
Gier. Würden sich meine Liebe und meine Begierde an
einer Frau entzünden, könnte ich endlich seßhaft
werden. Es wird nicht geschehen, nie wird mein Leben
etwas anderes als ein Wust von Gedanken und Gefühlen
sein, die nicht in Einklang zu bringen sind. (Nagib
Machfus: Zuckergäßchen)
Mein Onkel J. trank seinen Kaffee gezuckert, in eine
gewöhnliche Tasse Bohnenkaffee gab er fünf Teelöffel
Zucker (ich sah dem immer fassungslos zu); wenn man das
auf eine ganze Thermoskanne hochrechnet, muß er etwa
fünfundzwanzig bis dreißig Teelöffel Raffinadezucker in
jede Kanne geschüttet haben. Mein Onkel lebte nicht
gesund, das kann man nicht sagen, allerdings war es
damals auch noch nicht so in Mode, gesund zu leben, man
durfte sich die eigene Todesart fast noch aussuchen,
und es war meistens die eigene Lebensart. (Andreas
Maier: Das Zimmer, S. 44)
Einmal schaute er fern, einen Bergsteigerfilm mit Luis
Trenker. Bergsteiger- und überhaupt Heimatfilme liebte
er, amerikanische Filme schaute er nie... das fiel mir
aber erst später auf. Wo die anderen bereits in den
Straßen von San Francisco waren, war er noch bei der
Försterhütte vom Silberwald. Filme, die zu einem
Drittel der Gesamtlänge aus röhrenden Hirschen
bestehen, die spektakulär Almwiesen hinauf und hinunter
laufen bei fortgeschrittenem Gelbstich des
Filmmaterials. (Andreas Maier: Das Zimmer, S. 48)
"Mummi bekommt wieder ein Baby", sagte Paps. Diese
Erklärung hatte Gaylord gefürchtet. Er war gekränkt. In
einer Angelegenheit, die ihn so unmittelbar betraf,
hätte man ihn wenigstens fragen können. "Ich muß doch
nicht etwa mit ihm spielen?" "Wahrscheinlich wirst du
das wollen", sagte Paps ohne große Überzeugung.
Philoprogenetik war nicht gerade seine Stärke. Bei Baby
dachte er eher an Windeln und die Sechs-Uhr-Flasche als
an den Fortbestand des Lebens und das Gesegnet-ist-der-
Mann-der-viele-Kinder-hat. (Eric Malpass: Morgens um
sieben ist die Welt noch in Ordnung, S. 134)
Im Tagebuch beschreibt Bioy die Beerdigung der
Schriftstellerin Maria Luisa Levinson. Ihr geschlossner
Sarg hatte ein kleines Fenster. Jemand stellte fest,
daß ihr Gesicht offenbar mit Zeitungsseiten bedeckt
war. Ihre Tochter erklärte darauf, man solle später
einmal an den Nachrufen erkennen, wer sie war.
(Alberto Manguel: Tagebuch eines Lesers, S. 22)
Ein paar Tage nach der Tragödie hörte ich von einem,
der sich an dem Morgen in einem Buchladen nahe
dem World Trade Center aufhielt und, da er nur
warten konnte, daß sich der Staub legte, weiter in
den Büchern blätterte, inmitten des Sirenengeheuls
und der Schreie. Chateaubriand notiert, daß ein
bretonischer Dichter inmitten der Revolutionswirren in
Paris eintraf und den Wunsch äußerte Versailles
gezeigt zu bekommen. "Es gibt Leute”, schrieb
Chateubriand, "die Gärten und Springbrunnen
besichtigen, während um sie herum Weltreiche
zusammenbrechen." (Alberto Manguel: Tagebuch
eines Lesers, S. 75)
Die Katze tut so, als wäre sie von ihrem
eigenen Schwanz überrascht; sie belauert
ihn eine Weile und macht einen Satz,
um ihn zu fangen. Als hätte sie für
sich entschieden, daß das, was wie
ihr Schwanz aussieht, nicht ihr Schwanz
ist, ein fiktiver Schwanz sozusagen.
Aus Freude an diesem Spiel verzichtet
sie - wie ein Leser - freiwillig
auf die Realitätsprüfung. (Alberto Manguel:
Tagebuch eines Lesers, S. 220)
Sie war unberührbar, unangreifbar; denn sie war
ahnungslos und sentimental. Sie glaubte sich
umgeben von der "Liebe ihres Volkes", weil
zweitausend Ehrgeizige, Käufliche und Snobs Lärm
machten zu ihren Ehren. Sie schritt durch den Glanz
und verschenkte Lächeln - mehr verschenkte sie nie.
Sie glaubte allen Ernstes, daß Gott ihr wohlwollte,
weil er ihr so viel Geschmeide hatte zukommen
lassen. Mangel an Phantasie und an Intelligenz
bewahrte sie davor, an eine Zukunft zu denken, die
mit dieser schönen Gegenwart vielleicht wenig
Ähnlichkeit haben würde. Wie sie dahinschritt,
erhobenen Hauptes, übergossen vom Licht und von
der allgemeinen Bewunderung, gab es keinen Zweifel
in ihrem Herzen an der Haltbarkeit solchen Zaubers.
Niemals - so meinte sie zuversichtlich - niemals
würde abfallen von ihr dieser Glanz; niemals würden
die Gemarterten sich rächen, niemals würde die
Finsternis nach ihr greifen. (Klaus Mann: Mephisto, S.
25)
Die kleine Siebert war reizend. Ihr Köpfchen mit dem
kurzgeschnitttenen, links gescheitelten blonden Haar
glich dem eines dreizehnjährigen Buben. Ihre hellen
und unschuldigen Augen wurden dadurch nicht
weniger anziehend, daß sie kurzsichtig waren:
manche fanden, daß gerade die Art, auf die Angelika
beim Schauen die Augen zusammenkniff, ihren
besonderen Charme ausmache. "Unsere Kleine
schwärmt wieder einmal", sagte der schöne Rolf
Bonetti und lachte etwas zu laut. Er war jenes
Mitglied des Ensembles, das die meisten Liebesbriefe
aus dem Publikum erhielt: daher sein stolzer, müder,
vor lauter Blasiertheit beinah angewiderter
Gesichtsausdruck. Der kleinen Angelika gegenüber
jedoch war er der Werbende: schon seit längerem
bemühte er sich um sie. Auf der Bühne durfte er sie
oft in den Armen halten, das brachte sein Rollenfach
mit sich. Im übrigen aber blieb sie spröde. Mit einer
wunderlichen Hartnäckigkeit verschenkte sie ihre
Zärtlichkeit nur dorthin, wo nicht die mindeste
Aussicht bestand, daß man sie erwiderte oder auch
nur wünschte. Rührend und begehrenswert, wie sie
war, schien sie ganz dafür gemacht, viel geliebt und
sehr verwöhnt zu werden. Der sonderbare Eigensinn
ihres Herzens aber ließ sie kühl und spöttisch bleiben
vor Rolf Bonettis stürmischen Beteuerungen, und ließ
sie bitterlich weinen über die eisige Geringschätzung,
die Hendrik Höfgen ihr gegenüber an den Tag legte.
(Klaus Mann: Mephisto, S. 34)
Sie sah ihren Vater im halbdunklen Eßzimmer allein in
einem unbequemen Stuhl am Fenster sitzen. Sein
Gesicht ist aufgeschwemmt, schlaff, mehlig-blaß, mit
entzündeten Augen. Er streicht sich mit dem Daumen
über die linke Wange und über die linke Seite des
Kinns. Er ist nicht rasiert. Die blonden Bartstoppeln
liegen ihm wie ein Schimmel, wie ein fahler Ausssatz
über Kinn und Backen. Eine ungeheure Langeweile
lastet auf seiner Stirne, seinen Schultern und seinen
Händen. Die Erinnerungen, die ihm einst so tröstlich
waren, sind abgenutzt, ausgelaugt, er kann sie nicht
mehr hervorholen, sogar sie, das letzte, was er hatte,
bereiten nun Ekel. Er ist überflüssiger als eine Ratte
in diesem Zimmer, in dieser Stadt, auf dieser Erde.
Seine Zeit ist vorbei, gründlich, endgültig - er hat auf
nichts nichts mehr zu hoffen. Er haßt das, was
gegenwärtig herrscht und obenauf ist; aber das, was
sich etwa dahinter anmeldet, würde ihm ebenso
wenig behagen. Jedoch wird er nicht den Mut haben,
sich umzubringen. Nicht einmal besaufen kann er
sich, denn er hat kein Geld. Auf dem Speicher
verstauben seine Gemälde von solider
impressionistischer Technik, Landschaften und
Damenporträts, haben früher ganz gute Presse
gehabt, jetzt interessiert sich für sie kein Aas. Am
Ersten hat auch noch der letzte Mieter gekündigt, den
sie in der Wohnung hatten, und neulich hat ihm sogar
Felix, sein ordinärer, aber nicht erfolgloser Sohn, die
zehn Mark verweigert, die er ihm sonst ab und zu
gab. Man wird trotzdem nicht den Mut haben, sich
umzubringen. - Der Vater hat nicht gehört, daß die
Türe aufgemacht worden ist. Da seine Frau ihn
anspricht, hebt er langsam den schläftigen Kopf.
'Sitzt du hier und döst?' fragt sie und hat den
verkniffenen Mund. 'Es ist ja ganz dunkel im Zimmer.'
- 'Nein', antwortet er. 'Nur so...' Sie schweigen beide,
und sie hassen sich. Sie sind beide in derselben
trostlosen Lage. Sie hassen und sie verachten sich,
weil sie sich gegenseitig so tief haben sinken sehen;
weil sie sich gegenseitig nicht helfen können; weil
keiner etwas von dem anderen voraus hat. (Klaus
Mann: Flucht in den Norden, S. 217f.)
Der schwarze Hund Knut hatte sich zu Karins Füßen
gelagert und ließ sich von ihr mit Kuchenstückchen
füttern. Wolf, der bei der Mutter lag und keinen
Kuchen bekam - die alte Dame vergaß ihren Liebling
im Plaudern -, stellte sich, als interessiere ihn dies
nicht und er habe keineswegs Lust auf so kindisches
Zeug wie Kuchenbröckchen. Nur zuweilen konnte er
sich nicht beherrschen, schoß gramvoll eifersüchtige
Blicke und ließ aus tiefster Brust ein Knurren hören,
voll von der ganzen wehleidigen Erbitterung einer
grundanständigen, scheußlich benachteiligten
Kreatur. (Klaus Mann: Flucht in den Norden, S. 40)
Doktor Massis war Privatgelehrter. Das gestattete ihm seine
finanzielle Lage. Sein Vermögen, das ein tüchtiger Vetter ihm über
die Inflation gerettet hatte, war nicht groß, aber doch eben groß
genug, daß er von den Zinsen behaglich leben konnte. Er hatte eine
Dreizimmerwohnung in der Dörnbergstraße, Nähe Lützowufer.
Schlafzimmer und Eßzimmer waren unauffällig, fast spießig möbliert,
aber sein Arbeitsraum hatte skurrilen Charakter. Es war schwarz
tapeziert und überfüllt mit bizarren Gegenständen. Wo keine Bücher
standen oder in Stapeln lagen, hingen chinesische Masken,
indianische Fratzengottheiten oder gespenstische Blätter moderner
Meister (zum Beispiel ein ungemein verwunschener Kubin). Oben auf
den Bücherschränken standen große Modelle von Segelschiffen,
dazwischen ein menschlicher Embryo, im Spiritus gräßlich gekrümmt.
Freunde nannten diese düstere Stube das Kabinett des Doktor
Kaligari, und Massis selbst pflegte über seine Dämonie zu scherzen.
"Das sind so altmodische kleine Späße, die man sich gönnt." Sein
Ehrgeiz war, vieldeutig zu erscheinen, was ihm bei seiner
talmudistischen Verschlagenheit nicht übel gelang. Wozu er sich auch
bekannte, immer ließ er noch geheime Hintergründe ahnen, niemals war
im letzten festzustellen, wo sein Standort war. Was er preisgegeben
hatte, nahm er durch ein ironisches Wort wieder zurück, und hatte er
sich zu weit hervorgewagt, verhüllte er sich nachher um so
gründlicher. Dabei wollte er nicht unzuverlässig oder unredlich
scheinen, aber hinter jeder definitiven Erkenntnis, die er aussagte,
hatte er stets eine noch definitivere in petto. Dieses Spiel hatte
denselben Reiz wie der Blick in den Spiegel, dem ein anderer Spiegel
gegenübersteht: die Verführung der unendlichen Perspektive, die
foppende Kulissenwirkung einer falschen Ewigkeit. Freilich war jene
Unterhaltung so trügerisch wie diese, beide entließen einen
ungetröstet und unbelehrt. (Klaus Mann: Treffpunkt im Unendlichen)
Gregor Gregoris Ruhm stieg plötzlich und blendend über Berlin auf
wie eine Rakete. Über Nacht kam es, daß man überall seinen Namen
hörte. Er war in diese Stadt gekommen, von den Zehenspitzen bis zum
Scheitel mit keinem anderen Willen geladen als dem: zu siegen. Für
was - blieb eine andere Frage. (...) Man pflegt sie nicht zu
stellen, die Frage nach dem: "Für was?", wenn Bühnenmenschen sich um
ihren Ruhm bemühen. Gregors Wesen aber war von der Art, daß er
selber sie stellte - ohne sie freilich beantworten zu können. Nichts
- als - eitler Komödiant zu sein, wies er mit Hochmut von sich. Er
prätentierte geistige Ziele, über deren Beschaffenheit er Genaueres
allerdings nicht auszusagen wußte. Sein Wesen war so anspruchsvoll
wie unklar. Die Energien, mit denen er die ständige Hochspannung
seines Tages bestritt, waren keineswegs gespeist aus den soliden
Quellen einer starken Vitalität, vielmehr erzwang er sie mittels
einer hysterischen Verkrampfung, die er sich keinen Augenblick zu
lockern erlaubte. In der Tat, diese Hysterie war sein kostbarstes
Kapital. Nicht nur, daß sie ihm ermöglichte, in Ohnmacht zu fallen
oder Schreikrämpfe zu bekommen, wenn ihm etwas nicht paßte: sie gab
seinem Wesen den phosphoreszierenden Charme, die Elastizität, die
Unwiderstehlichkeit; sie verlieh seinen übertriebenen geistigen
Ansprüchen, seinem intellektuellen Hochstaplertum den Schwung und
die fieberhafte Intensität, dank denen sie fast überzeugten. (Klaus
Mann: Treffpunkt im Unendlichen)
Richard Darmstädters Vater, Paul Darmstädter, war ein jüdischer
Patrizier in Mainz. Er bewohnte ein altehrwürdiges Haus dortselbst
und hatte allerlei Geschäfte und Interessen zwischen Frankfurt und
Köln. Seine Gemahlin, geborene Herzfeld aus Wiesbaden, war an
Richards Geburt gestorben. Vielleicht begann bei dieser Tatsache die
Aversion, die Vater Darmstädter unleugbar gegen seinen Sohn empfand.
Sie war auch sonst vielfach begründet. Vater Darmstädter war
konservativ, auf eine nüchterne Art fromm, allen Extremen abhold;
pedantisch grämlich, aber auf einer gesunden Basis von Vitalität,
ehrbar und maßvoll. Richard: übertrieben in allen seinen Reaktionen
und Gefühlen, bald depressiv, bald auf eine forcierte Art ins Leben
verliebt; sehr intelligent, aber fahrig; ausschweifend sentimental
und zynisch; mit einem Hunger nach Abenteuern, sowohl physischen
(die in praxi meistens etwas zweitklassig verliefen), als auch
geistigen, überrationalen, die ihn in mystische Gebiete und
unkontrollierte Ekstasen führten. (Klaus Mann: Treffpunkt im
Unendlichen)
Außer diesem besonderen Schmuck des Hochzeittages
hatte Lucia noch den alltäglichen einer
unaufdringlichen Schönheit, die jedoch nun
hervorgehoben und gesteigert wurde durch die
verschiedenen Gefühle, die sich auf ihrem Antlitz
malten: Freude, gedämpft durch eine leichte Unruhe
und jene stille Traurigkeit, die sich hin und wieder auf
den Gesichtern von Bräuten zeigt und ihnen, ohne
ihre Schönheit zu schmälern, einen besonderen
Charakter verleiht. (Alessandro Manzoni: Die
Brautleute, S. 52)
Ich werde niemals Extreme erreichen, wie Hörbiger
sie pflegt, der zwar in der viertletzten Saison in
Madrid als Otello aufgetreten ist. (...) Er war
seinerzeit ein genialer Neuerer in der Interpretation
dieser Partien, aber seine Originalitätssucht ist mit
der Zeit immer stärker und umfassender geworden, je
mehr seine Fähigkeiten mit den Jahren schwanden,
und in den letzten Jahren seiner Karriere prahlte er
mit seiner eigenen Exzentrik und erzählte
selbstgefällig, er müsse elf Stunden schlafen, viermal
täglich die Kleidung wechseln, dreimal baden und
zweimal mit einer Frau schlafen, um ein Minimum an
Wohlgefühl zu erlangen. (Javier Marias: Der
Gefühlsmensch, S. 113)
Emile war neunundfünzig und Sibylle war neunundvierzig; ich
glaube, sie waren das schönste Liebespaar, das ich im
Leben gesehen habe. Sie konnten während eines Gesprächs
plötzlich einander so tief in die Augen fallen, daß jeder, der
mit ihnen am Tisch saß, gerührt seine Rede unterbrach, um
in die Erinnerung an einen ähnlich glücklichen Augenblick
seines eigenen Lebens zu versinken. Obwohl beide in ihren
öffentlichen Liebesbezeugungen eher zurückhaltend und
schamhaft waren, suchten sie jede Gelegenheit, einander
flüchtig zu streifen oder sich für eine Sekunde wie von der
Leibhaftigkeit des anderen immer wieder überzeugen, als
könnten sie ihr ungeheures, nicht mehr erwartetes Glück
nicht glauben. (Monika Maron: Animal triste, S. 44f.)
Ich will nicht behaupten, daß ich leidlos Tochter war, aber
seit Hinrich Schmidts Tod war ich davon überzeugt, daß es
zwar beschämend und lächerlich sein konnte, zur Gestalt
der eigenen Mutter heranwachsen zu müssen, daß aber den
Söhnen im Bild der Väter eine ungleich größere Gefahr
drohte. Die Angst, die er im Kindesalter erduldet hat, eines
Tages als Vater selbst verbreiten zu müssen, zwingt jeden
Mann, entweder das Kind in sich zum Schweigen zu bringen
oder auf Vaterschaft zu verzichten. (Monika Maron: Animal
triste, S. 67)
Das Besonders an Franz ist, daß er mich an niemanden
erinnert. Wenn mir ein mit Franz vergleichbarer Mann aber
nie zuvor begegnet ist und wenn mir Franz trotzdem
vertraut ist wie kein anderer Mann, den ich länger und
genauer gekannt habe als ihn, kann das nur bedeuten, daß
ich mir, ehe ich Franz traf, ein Bild von ihm gemacht haben
muß; nicht ein Bild von Franz, dem Hautflügelforscher aus
Ulm, sondern von einem, der sich als letztendlicher Sinn aller
himmelschreienden Sehnsucht eines Tages offenbaren
würde, offenbaren mußte, weil sonst diese ganze
umtriebige Hoffnung ein gemeiner Betrug der Natur
gewesen wäre, eine paradiesische Fata Morgana auf dem
Weg ins Verdursten. (Monika Maron: Animal triste, S. 104)
Wenn ich über das Alter überhaupt etwas Gutes sagen
kann, dann nur, daß es in zweierlei Hinsicht taugt als
Vorbereitung auf den Tod: Wir haben Zeit, unsere
Erinnerungen so lange zu feilen und zu schleifen, bis die
Versatzstücke am Ende zu einer halbwegs pausiblen
Biografie verschraubt werden können; und wir werden uns
mit dem fortschreitenden Verfall selbst so lästig, daß wir
eines Tages den Tod herbeisehnen können, damit er uns
vom Liebsten, was wir im Leben hatten, von uns selbst,
erlöst, was aber nur für den Fall gilt, daß wir schneller
verfaulen als verblöden. (Monika Maron: Animal triste, S.
145)
Die Zeit der reinen Dankbarkeit ist die erste Phase der Liebe,
vermutlich jeder Liebe. Einem Menschen gelingt es, uns zu
verwandeln. Eigenschaften, von denen wir wünschten oder
sogar wußten, daß sie verschüttet oder unerweckt in uns
verborgen sind, verdrängen von der Sekunde unseres
Verliebtseins an andere, mit denen zu leben wir gewohnt
waren. Wir erkennen uns nicht wieder. Wir sind schöner,
sanfter, weise. Wir sind erlöst von unserem Kleinmut und
unserer Mißgunst. Wir fühlen uns imstande, unserem
ärgsten Feind zu vergeben. Jeden Baum, jede Straße, jede
Minute überstrahlen wir mit unserem Glück und wundern
uns über ihre bis dahin unentdeckte Schönheit. Wir fühlen
uns ein mit dem Himmel, dem Regen, dem Wind. Wir sind
eins mit dem Himmel, dem Regen, dem Wind. Wir sind
endlich von dieser Welt und endlich gar nicht mehr von ihr.
(Monika Maron: Animal triste, S. 180)
Inmitten der Wolkenkratzer, Klimaanlagen, Eismaschinen
und den ewigen Sirenen der Unfallwagen fühlte ich mich so
tierhaft frei wie nie zuvor in der Natur, die mich, je
unerschlossener und unbelebter sie war, um so herber auf
meine eigenen Unnatur verwiesen hatte. Alle
Sprachklischees erwiesen sich plötzlich als so paradox wie
wahr: der Dschungel der Großstadt, die pulsierende Stadt;
der Lärm brandet; der Verkehr braust, strömende
Menschenmassen, Häusermeere, Straßenschluchten, als
wäre im Chaos der Stadt die uns gemäße Natur wieder
erwachsen. (Monika Maron: Animal triste, S. 219)
In gewisser Hinsicht war jede Liebe nichts als die
Imagination einer paradiesischen Glückseligkeit,
deren Urbild in uns zwingt, ihre irdische Erfüllung
nachzujagen. Das jedenfalls sagt Elli. Elli sagte auch,
daß sie in Menschen, die jenseits der
triebgesteuerten Jugendzeit ihre Glücksphantasien an
die geschlechtliche Liebe hängten, entweder auf den
Rausch programmierte Suchtcharaktere, leidverliebte
Masochisten oder einfach nur romantische Idioten
sehen könne. (Monika Maron: Endmoränen, S. 163f.)
Igor betrieb eine Galerie für moderne russische
Malerei in Berlin und plante, in Moskau eine Galerie
für moderne westeuropäische Kunst zu eröffnen. Als
Sohn eines Diplomaten hatte er einen Teil seiner
Kindheit in Deutschland verbracht. Im idyllischen
Bonn am Rhein, sagte Igor, in der deutschesten
aller deutschen Landschaften, so daß er selbst ein
bißchen deutsch geworden sei. Glaub ihm nicht, rief
Karoline aus der Küche, er ist ein Russe bis in die
letzte Pore, ein arroganter wunderbarer Russe, der
alle Deutschen verachtete. Nur die Männer, sagte
Igor, die Frauen bewundere ich. (Monika Maron:
Endmoränen, S. 74)
Ich habe jetzt schon das Gefühl, daß ich nichts kann,
was diese Welt noch braucht. Ich konnte Botschaften
in Biografien verstecken, und das ist über Nacht eine
ganz überflüssige Fähigkeit geworden. Vielleicht habe
ich in meinem Leben zuviel Kraft darauf verwendet,
etwas nicht zu tun, und Achim hat recht mit seiner
Behauptung, ich sei geistig deformiert infolge
erzwungener defensiver Denkgewohnheiten. Mein
Vater hatte eine Cousine, die ihr Leben lang nicht
gelernt hat, vernünftig zu telefonieren, weil sie unter
den Nazis drei Jahre im Zuchthaus gesessen hatte.
Jede Verabredung zum Kaffetrinken wurde zur
konspirativen Aktion. Wenn sie sich mit einem von
uns am Alexanderplatz treffen wollte, sagte sie: du
weißt schon, bei der komischen Uhr, oder: an dem
großen Turm. Sogar die Uhrzeit versuchte sie zu
umschreiben: eine Stunde später als jetzt, sagte sie
oder: zwei Stunden früher als beim vorigen Mal. Es
war vollkommen unsinnig, aber sie konnte nicht
anders. (Monika Maron: Endmoränen, S. 57)
Den Entschluß, das Haus zu kaufen, faßten wir
innerhalb von Minuten. Wir hatten einen ehemaligen
Kommilitonen von Achim in seinem gerade
ausgebauten alten Forsthaus besucht und, weil die
Besitzer solcher Anwesen es von ihren Besuchern so
erwarten, das Haus, die Einrichtung, den Garten und
die Landschaft überschwenglich gepriesen. Der
Gastgeber muß in unseren Lobreden wohl unseren
geheimen Wunsch vermutet haben, selbst Besitzer
eines derartigen Refugiums zu sein, oder er sehnte
sich nach befreundeter Nachbarschaft, jedenfalls fuhr
er mit uns nach Basekow, wo das Haus, von
abgeernteten Feldern umgeben und in ein
unglaubliches Herbstlicht getaucht, uns alle Bedenken
vergessen ließ, die in vernünftigen und handwerklich
unbegabten Menschen wie uns angesichts des
ruinösen Zustandes dieser Kate jeden Gedanken an
einen Kauf hätten ersticken müssen. (Monika Maron:
Endmoränen, S. 20)
Ich war ein Stadtkind, und mein Verhältnis zur Natur
beschränkte sich auf ihre Nutzbarkeit, ohne daß ich
mir dessen bewußt gewesen wäre. Ich dachte einfach
nicht darüber nach. Selbst als ich in Basekow den
Gewittern zusah oder dem Sturm, der in gewaltigen
Wellen das Korn peitschte, empfand ich vor allem
eine tiefe Genugtuung, weil diese Macht keine
Menschenmacht war, weil sie keinem Gesetz
gehorchte und keiner Regierung, weil sie die Garantie
war für einen größeren, der Lächerlichkeit unseres
eigenen Lebens entzogenen Zusammenhang. Der
Gedanke, eine Kreatur dieser undurchschaubaren,
endlosen Welt zu sein, stattete mich gegenüber der
Tatsache, daß ich den idiotischen Gesetzen einer
ebenso idiotischen Menschenmacht unterlag, mit
unbestreitbaren Rechten aus. (Monika Maron:
Endmoränen, S. 24)
Nachdem ich drei Wochen lang nicht nur jede geistige
Anstrengung, sondern auch gedankliche
Zielgerichtetheit vermieden hatte, drängte es mich
noch immer nicht, meinen haustierähnlichen und
gänzlich unnützen Zustand zu beenden. Meine
anfängliche Hoffnung, etwas in mir würde sich, wenn
ich nur lange genug im Stumpfsinn verharrte, auch
ohne disziplinierende Vorsätze wehren, erfüllte sich
nicht. Im Gegenteil: je länger der Zustand
andauerte, umso wohler fühlte ich mich in ihm.
(Monika Maron: Endmoränen, S. 83)
Und Achim langweilten ziellose Gespräche, wie ich sie
mit Elli führte, die tröpfelnd begannen mit einem
kleinen Seufzer, dem ein verhaltener Fluch auf dies
oder das folgte, dann eine Allerweltsfrage: warum
muß das so sein? oder eine unernste Verdammung:
alles ist schrecklich, ehe die ersten Sätze sich zu
einem Rinnsal vereinten, das sich langsam seinen
Weg bahnte, zwischendurch versickernd und als Bach
wieder aufsprudelnd, der allmählich anschwoll zu
einem Strom von gewichtiger Breite, in abschüssige
Kurven rauschte und sich in der Ebene wieder
beruhigte, in kleinen Wellen die Ufer anspülte, sich
hier und da staute und weiterfloß, bis er, wenn Elli
und ich müde und ein bißchen trunken waren, in das
Meer aller bisher geführten Gespräche und
tausendmal gestellten Fragen mündete. (Monika
Maron: Endmoränen, S. 90)
Aber schon morgens beim Zeitungslesen empfinde ich
deutlich, daß die Zeitung nicht mehr für
meinesgleichen geschrieben wird, und manchmal
denke ich wirklich: laß sie doch ziehen, die Welt; und
wenn den Menschen in hundert Jahren das Wasser
ausgeht, werden sie sich wohl etwas einfallen lassen
müssen. Keine Generation, auch unsere nicht, wurde
gefragt, ob ihr der Zustand, in dem sie den Laden
übernehmen mußte, gefällt oder nicht. Und dann
erschrecke ich, weil mir klar wird, daß ich, statistisch
gesehen, in solcher Lethargie noch zwanzig, vielleicht
sogar dreißig Jahre verbringen kann und dabei zu
einem bösartigen Greis verkomme, und nehme mir
vor, ein gütiger und weiser Großvater zu werden.
(Monika Maron: Endmoränen, S. 95)
Sobald von Glück als zu erstrebendem oder gar
erreichbaren Krankheit oder seinen sexuellen
Obsessionen gesprochen. Und Glück als die Frucht
rauschhafter Liebe war für Elli nichts als
Autosuggestion und Selbstbetrug, dem sich nur
hingab, wer das Leben, wie es nun einmal war, nicht
ertragen wollte. Niemand, der kein Kind mehr sei,
dürfe einen anderen Menschen für das eigene
Wohlbefinden in Haftung nehmen, meinte Elli. Sie
hätte zu keiner Zeit ihres Lebens geglaubt, daß der
Mensch einen Anspruch auf Glück hätte, und schon
gar nicht sei ihr Idee gekommen, der Weg durch das
irdische Jammertal ließe sich durch die Liebe
versüßten. (Monika Maron: Endmoränen, S. 164)
Ich bin schwanger, sagte sie, aber ich will jetzt kein
Kind, jetzt nicht. Ich wußte nicht, ob sie meinen
Widerspruch erwartete oder meine Zustimmung. Und
Alex? fragte ich. Was hat Alex damit zu tun? Ich bin
schwanger, nicht Alex. Aber er ist der Vater? Was
heißt: er ist der Vater? Lauras Stimme klang schrill
und feindselig. Wenn ich es ihm nicht gesagt hätte,
wüßte er gar nichts davon. Nur weil ich so blöd war,
es ihm zu erzählen, glaubt er, es sei ebenso seine
Entscheidung wie meine. 'Es ist auch mein Baby', das
ist ein Kitschsatz aus jeder zweiten amerikanischen
Fernsehserie. Es ist überhaupt noch kein Baby und
schon gar nicht seins. In diesem Stadium gibt es
weder Mütter noch Väter, sondern nur schwangere
Frauen. (Monika Maron: Endmoränen, S. 172)
Ick bin an dem Alten schon vorbei, bleibt der plötzlich
stehn und schreit: Nu frag ich Sie, wo sind die
Schwalben. Ick bleib stehn, der Alte kieckt in den
Himmel. Ick kieck ooch in den Himmel. Keene
Schwalbe zu sehn. Wo sind die Schwalben, frage ich
Sie, sagt der Alte, schüttelt den Kopp, wo die bloß
sind, sagt er und geht weiter. (Monika Maron: Das
Mißverständnis. Vier Erzählungen und ein Stück, S.
100)
Der Mensch wird jeborn mit ner bestimmten Menge
Liebe in sich, sagen wir ein oder zwei Megawatt, das
ist verschieden von Mensch zu Mensch. Die trägt er
wien Kaffeewärmer unterm Arm mit sich rum und is
unglücklich. Bis er eines Tages einen findet, dem er
den Kaffeewärmer überstülpt. Ick liebe dich, sagt er
und deckt ihn mit seiner Liebe zu. Eine Weile is der
Mensch glücklich. Dann wird dem Jeliebten unter dem
Kaffeewärmer zu heiß, er kriegt keene Luft und
schiebt den Kaffeewärmer beiseite. Beede klemm ihre
Lieben untern Arm und suchen neue Opfer. (Monika
Maron: Das Mißverständnis. Vier Erzählungen und ein
Stück, S. 101)
Sie setzt sich auf eine Bank gegenüber einer großen
Kastanie und spricht mit dem Baum: Wat is bloß los
mit den Menschen. Warum lebense denn nich. Jeder
will das sein, was er nich is, oder den haben, den er
nich kriegt. Man hat ihnen was wegjenommen, und
nun wollnses gerne wiederhabn. Aber was.
Irgendwas, wat ick nich wissen kann, weil icks nie
hatte, weilse mich nich jeborn habn, sondern einfach
uff die Welt jekotzt. Ick denk mir dit so: Eines Tages
wurde meiner Mutter schlecht, so schlecht, daß se
kotzen mußte. Und wat se ausjekotzt hat, war ick,
janz kleen zuerst, viel kleener als andere. Und aus
gerechter Empörung über die janze Sauerei bin ick
denn so groß jeworden. Und kämpfe nu sone Art
Klassenkampf. (Monika Maron: Das Mißverständnis.
Vier Erzählungen und ein Stück)
Da mir aber, sobald ich irgendeinem Menschen von
meinem Postamt erzähle, derjenige sehr ähnliche
Geschichten von seinem Postamt erzählt, was zwar
an der Schlechtigkeit unserer Postämter nichts
ändert, allen Klagenden aber die Herzen erleichtert,
beschreibe ich auch Ihnen einmal, wie es auf meinem
Postamt so zugeht. Ich will mich gar nicht dabei
aufhalten, daß natürlich die meisten Schalter
geschlossen sind und von den beiden geöffneten
lange Schlangen stehen, das ist wohl normal. Aber
die Damen, es sind meistens Damen, hinter der
Glasscheibe verdienen eine genauere Beschreibung.
Fast alle haben diesen besonderen Blick, der den
Kunden darüber aufklärt, daß sein Begehren als
lästig, geradezu aufdringlich empfunden wird, daß
seine Wünsche nur widerwillig erfüllt werden und daß
er im Fall der Beschwerde Gefahr läuft, gar nicht
bedient zu werden. Natürlich ist mir dieser Blick gut
bekannt, denn ich komme aus dem Osten, wo jeder,
der etwas zu vergeben hatte, was andere unbedingt
brauchten, genauso guckte. (Monika Maron: quer über
die gleise. Essays, Artikel, Zwischenrufe, S. 72)
Er gehörte zu den zehn besten Abiturienten seines Jahrgangs
in Greifswald, was ihm das Studium der Germanistik
ermöglichte, obwohl sein Vater Arzt war und somit Vertreter
einer Berufsgruppe, die neben den Pfarrern dem Staat am
verdächtigsten war. Die Kampffelder hatte er in seinem Leben
lieber gemieden. Er spezialisierte sich früh auf die Literatur
und Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts, trat keiner
Partei bei, obwohl das dem Verzicht auf eine Dozentenstelle
an der Universität gleichkam. Die akademische Institution, bei
der er seit seiner Promotion gearbeitet hatte, galt als
Auffangstelle für Wissenschaftler, die nach Maßgabe der
Regierung von der Erziehung und Bildung der künftigen Eliten
besser ferngehalten wurden. Trotzdem hatte Achim seinen Rückzug aus der Universität nie
als Nachteil empfunden. Er hatte keine pädagogischen
Ambitionen, es mangelte ihm auch an rhetorischer Begabung,
öffentliche Auftritte strengten ihn an. Nur wenn er zwischen
den getürmten Büchern in seinem Arbeitszimmer saß und
seine Wissensmosaike millimetergenau zusammensetzte,
fühlte er sich sicher und am richtigen, an dem für ihn im Leben
vorgesehenen Platz, was Johanna seit einigen Jahren "mit dem
Rücken zur Welt" nannte, womit sie, wie er vermutete, vor
allem aber mit dem Rücken zu ihr meinte. Dabei tat er, was er
all die Jahre getan hatte, seit sie zusammenlebten. Er hatte
die Welt immer gelassener betrachtet als Johanna, was sie mit
ihrem zur Erregung neigenden Temperament zwar hin und
wieder aufgebracht hatte, von ihr aber zwanzig Jahre lang als
eine zu ihm und seinem Beruf gehörige Wesensart akzeptiert,
wenn nicht sogar bewundert wurde, jedenfalls hatte sie das so
oft zu ihm gesagt: Sie bewundere seine Fähigkeit, sich den
Verhältnissen zu entziehen, statt sich, wie sie, an ihnen zu
verschließen. (Monika Maron: Ach Glück, S. 95)
Am Tisch neben ihm saß inzwischen ein junges Paar, das
augenscheinlich die Nacht miteinander verbracht hatte. Sie
verknotete ihre Finger ineinander und tauschten dazu Blicke,
die ihre Hände in Arme und Beine verwandelten und ihre
züchtigen Berührungen in heimliches, ganz unzüchtiges
Treiben. Er fühlte sich gestört. Diese alltägliche sexuelle
Ungeniertheit löste misanthropische Anfälle in ihm aus.
(Monika Maron: Ach Glück, S. 50)
Johanna verachtete Männer, deren sexuelle Leidenschaft sich
nur noch an der Generation ihrer Töchter entzünden konnte,
sie hielt sie für Verräter mit inzestuösen Phantasien. Sobald
sie von einem fünfzigjährigen Mann hörte, der seine
fünfzigjährige Frau verlassen hatte, um mit einer
Dreißigjährigen ein Kind zu zeugen, zählte sie die Namen
einiger ihrer Freundinnen auf, die sie samt und sonders für
klug und schön erklärte und die alle, seit sie die Fünfzig
überschritten hätten, meistens aber schon früher, allein lebten,
weil sie in den Augen gleichaltiriger Männer auf den erotischen
Abfallhaufen gehörten. (Monika Maron: Ach Glück, S. 38)
Ein Plong weckte Johanna aus dem Halbschlaf, und diesmal
teilte der Pilot persönlich mit, daß man demnächst eine
Schlechtwetterzone mit einigen Turbulenzen durchfliegen
werde, weshalb das Anlegen der Sicherheitsgurte geboten
sei. Seine Stimme klang furchtlos und gelassen wie alle
anderen Pilotenstimmen, an die Johanna sich erinnerte. Ganz
sicher gehört das zur Ausbildung, dachte sie, bestimmt
werden Pilotenstimmen trainiert wie Schauspielerstimmen. Es
konnte kein Zufall sein, daß alle Piloten der Welt diese
beruhigenden, unerschütterlichen Stimmen hatten, die ihnen
wahrscheinlich nicht einmal drei Sekunden vor dem Absturz
versagen würden, was bedeutete, daß man dem Versprechen,
das in so einer Pilotenstimme lag, keineswegs vertrauen
konnte.. (Monika Maron: Ach Glück, S. 100)
Igitt, igitt, sagt der Graf, ein guter Mensch,
entsetzlich, nichts ist schlimmer als ein guter Mensch.
In meiner Familie väterlicherseits wimmelt es nur so
von guten Menschen. Eine Base meines Vaters, eine
häßliche alte Vettel übrigens, war ein besonders guter
Mensch. Sobald sie hörte, jemand hätte Krebs oder läge
im Sterben, reiste sie dorthin, fünfhundert Kilometer
fuhr sie, um einen Menschen sterben zu sehen, aus
reiner Güte. Ihr größtes Glück war es, als sie einmal
ihre Nachbarin, deren Mann von einem Zug überfahren
worden war, ins Leichenschauhaus begleiten durfte.
Schlimm, schlimm, schlimmm. Das Wunderbare an Rosa ist,
sagt Bruno, daß sie es nicht schafft, ein guter Mensch
zu sein, weil sie sich dabei so langweilt; darum will
ja auch die Kirche nicht das Himmelreich auf Erden,
weil es auf der Erde interessant bleiben soll. (Monika
Maron: Die Überläuferin, S. 114)
Am liebsten wäre sie wieder umgekehrt und hätte
daheim auf der Terrasse zu Nacht gespeist. Da war es
an einem Juniabend noch hell, und nach dem Diner
sitzenzubleiben, bis die milde Nacht sie nach und
nach umhüllte, war ein Genuß, dessen Mary nie
überdrüssig wurde. Sie hatte dabei ein herrliches
Gefühl des Friedens - nicht etwa eines inhaltlosen
Ruhens, dem etwas von Stumpfheit, von
Teilnahmslosigkeit innewohnt, vielmehr eines tätigen,
anregenden Friedens, in dem der Geist wachsam und
frisch ist und alle Sinne rasch ansprechen. (William S.
Maugham: Oben in der Villa, S.16)
Die Fürstin San Ferdinando war eine geborene
Amerikanerin, eine ältere Dame von herrischem
Wesen, mit straffgewelltem, stahlgrauem Haar. Seit
vierzig Jahren lebte sie in Italien und hatte in all der
Zeit nie ihre Heimat besucht. Ihr Gatte, ein römischer
Principe, war vor einem Vierteljahrhundert gestorben.
Ihre zwei Söhne dienten im italienischen Heer. Geld
hatte sie wenig, dafür aber eine beißende Zunge, die
vor ihrer angeborenen Gutmütigkeit Wache hielt. Eine
Schönheit war sie wohl nie gewesen. In ihrer
aufrechten Haltung, mit ihren lebhaften Augen, den
entschlossenen Zügen wirkte sie heute vermutlich
attraktiver als in jungen Jahren, da sie, wie
gemunkelt wurde, ihrem Gemahl keineswegs treu
gewesen war. Doch schadete dies ihrer
gesellschaftlichen Stellung, die sie sich selber
geschaffen hatte, in keiner Weise; sie war mit jedem
bekannt, den sie zu kennen wünschte, und alle
freuten sich, ihre Bekanntschaft zu machen. (William
S. Maugham: Oben in der Villa, S.17)
Hätte jedoch irgendwer eine solche Frau gefragt, was
sie nun eigentlich an dem Mann finde, so wäre sie
gewiß um die Antwort verlegen gewesen. Er sah
keineswegs gut aus, es war nichts Vornehmes an
ihm, ja er sah aus wie irgendein Automechaniker und
trug seine modischen Anzüge, als wären es Overalls
und als sei es ihm gänzlich gleichgültig, welchen
Eindruck er machte. Es war geradezu aufreizend, daß
er anscheinend nichts ernst nahm, selbst die Liebe
nicht. Er ließ nur zu deutlich erkennen, daß er von
einer Frau nichts wollte als nur das eine. Sein
gänzlicher Mangel an allem, was man Gefühl und
Empfindung nennt, war unerträglich beleidigend. Und
doch war an ihm etwas Mitreißendes. Hinter der
Rauheit seiner Manieren lag eine Art Sanftheit, eine
erregende Wärme, die sich hinter Spott verbarg, ein
instinktives und sonderbar schmeichelhaftes
Verstehen des Weibes als eines vom Manne völlig
verschiedenen Wesens; sein Mund war sinnlich, und
seine grauen Augen blickten zärtlich. Man verstand
die alte Fürstin, wenn sie mit ihrer gewohnten
Ruppigkeit den Standpunkt vertrat: "Natürlich ist er
ein böses Stück, ein ganz fauler Kunde, aber wenn ich
dreißig Jahre jünger wäre und er bäte mich, mit ihm
durchzugehen, ich würde mich keinen Augenblick
besinnen, auch wenn ich wüßte, daß er mich in einer
Woche hinauswirft und ich für den Rest meines
Lebens unglücklich bin." (William S. Maugham: Oben
in der Villa, S. 19f.)
Eine der vielen Unvollkommenheiten des wirklichen
Lebens besteht darin, daß es selten eine abgeschlossene
Geschichte liefert. Irgendein Vorfall hat das Interesse
wachgerufen, die Leute, die darin verwickelt sind,
stecken in des Teufels Küche, und man fragt sich, was
in aller Welt weiter geschehen wird. Und dann geschieht
meistens gar nichts. Die unvermeidliche Katastrophe,
die man voraussah, war doch nicht unvermeidlich, und
die große Tragödie verläuft schließlich, ohne jede
Rücksicht auf künstlerische Ansprüche, in einer bloßen
Gesellschaftskomödie. (W. Somerset Maugham: Vor der
Party. Erzählungen, S. 13)
Obgleich nicht so groß wie Carruthers, der ohne Schuhe
sechs Fuß maß, war er doch nicht klein; aber er war
breitschultrig und stämmig gebaut, so daß er eher
gedrungen wirkte. Er war nicht dick, aber gut genährt,
und man traute ihm einen herzhaften Appetit zu. Noch
jung, dreißig vielleicht oder einunddreißig, hatte er
bereits etwas Massiges, das sich mit der Zeit ins
Fleischiges auswachsen würde. Gegenwärtig war er ein
handfester Bursche. (W. Somerset Maugham: Fußspuren im
Dschungel. Erzählungen, S. 27)
Sie war eine Frau in den Fünfzigern (obgleich es im
Orient, wo die Menschen schnell altern, schwer ist, das
Alter zu bestimmen) und hatte weißes, sehr ordentlich
frisiertes Haar; und eine ständige Geste bei ihr war,
daß sie mit einer ungeduldigen Handbewegung eine lange
Haarsträhne zurückstrich, die ihr immer wieder in die
Stirn fiel. Man wunderte sich, warum sie diesem Übel
nicht mit ein paar Haarnadeln abhalf. Ihre blauen Augen
waren groß, aber blaß und ein wenig müde; ihr Gesicht
durchfurcht und fahl; es mußte der Mund sein, der ihm
seinen Ausdruck von spöttischer, aber zugleich
toleranter Ironie verlieh. Man fühlte, daß man es mit
einer Frau zu tun hatte, die wußte, was sie wollte, und
sich niemals scheute, es auszusprechen. Sie war eine
schwatzhafte Spielerin (was viele Leute ablehnen,
wogegen ich aber nichts einzuwenden habe, weil ich
nicht einsehe, warum man sich am Spieltisch benehmen
soll wie bei einem Begräbnis), und zeigte sich bald,
daß sie es trefflich verstand, ihre Mitmenschen aufs
Korn zu nehmen. Ihr Witz war ziemlich scharf, aber so
amüsant, daß bloß ein Schwachkopf sich beleidigt fühlen
konnte. Und wenn sie hie und da eine dermaßen beißende
Bemerkung fallen ließ, daß man seinen ganzen Humor
aufwenden mußte, um ihre Komik zu würdigen, fand sie es
anderseits durchaus in der Ordnung, daß man ihr mit
gleicher Münze heimzahlte. Ihr großer, schmaler Mund
verzog sich zu einem trockenem Lächeln, und ihre Augen
leuchteten, wenn einem das Glück eine Antwort eingab,
die die Lacher gegen sie aufbrachte. (W. Somerset
Maugham: Fußspuren im Dschungel. Erzählungen)
Mrs. Tower war während meiner Abwesenheit von der
allgemein grassierenden Einrichtungswut befallen
worden. Mit der Unbarmherzigkeit, die ihrem Geschlecht
eigen ist, hatte sie Stühle geopfert, auf denen sie
jahrelang bequem gesessen hatte, Tisch, Kommoden und
Dekorationen, auf denen ihre Augen, seitdem sie
verheiratet war, friedfertig geruht hatten, Bilder, die
ihr ein Menschenalter lang vertraut gewesen waren; sie
hatte sich einem Sachverständigen überliefert. (W.
Somerset Maugham: Fußspuren im Dschungel. Erzählungen,
S. 47)
[Nach oben]
[Allgemeine Fundstücke]
|
|