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Allgemeine Fundstücke / [I-J]
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"Geheimer Hühneraugenessenzbereiter", sagte der
Schriftsteller. "Wenn Sie die Verhältnisse des Hofes,
in dessen geheimen Diensten ich zu stehen die Ehre
habe, kennen, so werden Sie wissen, daß der alte
Herzog in dem Spleen seiner vorgerückten Jahre nur
noch ein Interesse an seinen Hühneraugen nimmt, die
ihn in der Tat auch arg plagen. Ohne diese Pein aber
würde dennoch die ganze Existenz des alten Herrn
zusammenbrechen, denn der Verdruß gehört ihm zum
Leben notwendig hinzu; er ist einer von den
Charakteren, die aus Liebhaberei verdrießlich sind.
Diese maussade Laune erleichtert übrigens die
Staatsverwaltung außerordentlich. Die
Regierungsgeschäfte werden in Dünkelblasenheim auf
eine höchst einfache Art getrieben; nämlich wenn den
alten Herrn die Hühneraugen zu heftig schmerzen, so
schlägt er etwas ab, und wenn es leidlich damit
steht, so genehmigt er, auf solche Weise motivieren
sich die unerwartetsten Entschließungen ganz
natürlich. Das Schneiden der Hühneraugen war daher
auch von jeher eines der wichtigsten Geschäfte am
Hofe; der Obersanitätsrat war damit begnadiget, nun
ist der Mann auch alt geworden, hat blöde Augen
bekommen und in den letzten Jahren den Herzog
mehrmals in das Fleisch geschnitten, woraus denn
strenge Regierungsmaßregeln entsprangen. Der alte
Herr verlangte daher schon seit einiger Zeit nach
einer Abhülfe dieses Übelstandes." (Karl Immermann:
"Münchhausen. Eine Geschichte in Arabesken", S.
602f.)
Severin Winter war zu eitel, um eifersüchtig zu sein.
Er kam mir wie ein typischer Macho vor; aggressiv und
egozentrisch, ging er nach seinen Maßstäben mit einem
um. Aber weder Utsch noch Edith waren da ganz einer
Meinung. Utsch behauptete, er sei der einzige Mann, den
sie je kennengelernt habe, der Frauen tatsächlich so
behandelte, als seien sie den Männern gleichberechtigt;
ich gebe zu, daß er zu beiden Geschlechtern
gleichermaßen aggressiv und egozentrisch war. Edith
sagte, daß Severins Form der Gleichberechtigung sehr
kränkend für eine Frau sein könne. Er schien keine
Unterschiede zwischen Männern und Frauen zu machen -
behandelte beide mit einer Form von Männlichkeit, die
Frauen das Gefühl vermittelte, sie seien einfach einer
von den Jungs. Um der Gleichberechtigung willen liegt
nur wenigen Frauen wirklich daran, daß Männern so weit
gehen. Sogar was seine Körperlichkeit anging - seine
Hände, die einen überall anfaßten, wenn er sprach -,
fühlten sich Frauen von seiner Berührung sogleich
entspannt, aber auch ein wenig verstimmt. Seine
Berührung ließ sich nicht als billiges Betatschen
mißverstehen; seine Berührungen waren so bar jeder
Sexualität, daß Frauen das Gefühl, er nähme sie
überhaußt nicht als Frauen wahr. (John Irving: Eine
Mittelgewichts-Ehe, S. 92)
"Meinst du denn nicht, daß ich auch nett zu Frauen
bin?" fragte ich Utsch. "O ja, ich denke schon. Du
bringst eine Frau dazu, darin zu schwelgen, eine Frau
zu sein", sagte sie; dann runzelte sie die Stirn. "Eine
bestimmte Art von Frau zu sein", fügte sie hinzu. Dann
sagte sie: "Vielleicht freunden sich Frauen leicht mit
dir an, weil sie sehen, daß du zu Männern nicht so nett
bist. Weil sie sehen, daß du keine Männer zu Freunden
hast, vertrauen sie dir vielleicht. (John Irving: Eine
Mittelgewichts-Ehe, S. 95)
"Welches Kind in Amerika will einen Namen wie Helmut
oder Florian?" "Ich liebe italienische Namen", sagte
Edith. "Nachdem ich mein erstes Fiordiligi genannt
habe, mußte ich das zweite einfach Dorabella nennen."
"Es hätte Dante geheißen, wenn es ein Junge gewesen
wäre", sagte Severin. "Aber ich bin froh, daß es
Mädchen sind. Jungen sind solche Scheißegoisten." Er
versuchte ständig, die Mädchen zum Lesen zu bewegen.
"Ihr müßt gescheit sein", sagte er ihnen, "und ihr müßt
lieb sein. Aber wenn ihr lieb seid und nicht gescheit,
dann machen euch die andern unglücklich. (John Irving:
Eine Mittelgewichts-Ehe, S. 141)
Wir suchten und suchten. Schließlich entdeckte Edith
Severin im Fernsehzimmer, alle vier Kinder schlafend um
ihn gedrängt, an ihn gezwängt, auf ihn gefläzt. Er war
in den frühen Dämmerstunden dort aufgetaucht, als
irgendein Spätfilm-Ghul meinen jüngeren Sohn von einer
anderen Wirklichkeit überzeugt und sein Geheul die
anderen Kinder überzeugt hatte. Severin war von einer
der warmen Frauen weggestolpert, hatte sich das
nächstbeste Kleidungsstück geschnappt, sich zwischen
sie plumpsen lassen und versprochen, bis zum
Tagesanbruch nicht wegzugehen. Das Kleidungsstück war
Ediths malvenfarbiger Morgenrock, so ein
durchsichtiges, knöchellanges Ding. Edith rief uns
alle, uns das anzusehen. Die Kinder wachten langsam
auf; sie kuschelten und schmiegten sich an ihn, als sei
er ein großes Kissen oder ein gutmütiger Hund - und
Severin Winter lag in Ediths Morgenrock zwischen ihnen
und sah wie ein transvestitischer Gewichtheber, der wie
eine gutartige Bombe durch das Dach einer Grundschule
gefallen ist. (John Irving: Eine Mittelgewichts-Ehe, S.
142f.)
Zum Beispiel wie sie schlief. Sie rollte sich nicht eng
zusammen und schützte sich nicht; sie fläzte sich hin.
Wenn man sich an sie kuscheln wollte, hatte sie nichts
dagegen, aber sie selbst kuschelte nicht. Edith schlief
wie eine Katze - beherrscht, eine Festung, an einen
geschmiegt. Utsch spreizte sich aus, als wolle sie sich
in der Sonne trocknen lassen. Wenn sie auf dem Rücken
lag, schien sie nicht zu bemerken, wo die Decke war,
und sie lag auf dem Bauch wie eine im Augenblick des
Beinstoßes erstarrte Brustschwimmerin. Auf der Seite
las sie wie das Profil einer Hürdenläuferin. Oft schlug
sie mitten in der Nacht mit dem Arm aus und schmetterte
die Nachttischlampe vom Nachttisch oder fegte den
Wecker durchs Zimmer. (John Irving: Eine
Mittelgewichts-Ehe, S. 199f.)
Homer lernte sie alle an Thanksgiving kennen.
Erntedank bei den Drapers war ein Familienereignis,
das jeder anderen Familie garantiert
Minderwertigkeitskomplexe bereitet hätte. Mom
übertraf sich selbst an Mamihaftigkeit. Der Professor
hielt über jedes nur denkbare Thema eine Vorlesung
über die Qualitäten von weißem Fleisch gegenüber
rotem, über die letzten Wahlen, über den Snobismus
von Salatgabeln, die Überlegenheit des Romans im
neunzehnten Jahrhundert (ganz zu schweigen von
anderen Aspekten der Überlegenheit jenes
Jahrhunderts), die richtige Konsistenz von
Preiselbeermarmelade, die Bedeutung von "Buße", die
Bekömmlichkeit körperlicher Ertüchtigung
(einschließlich des Vergleichs zwischen Holzhacken
und Schlittschuhlaufen), das Lasterhafte eines
Mittagsschläfchens. (John Irving: Gottes Werk und
Teufels Beitrag, S. 27)
Der dritte Hauslehrer, ein pensionierter Schulmeister
aus Camden, war ein unglücklicher alter Mann, der im
Haus seiner Tochter lebte, weil er nicht selbst für sich
sorgen konnte. Er unterrichtete Geschichte, aber er
besaß keine Bücher. Er unterrichtete Weltgeschichte
aus der Erinnerung; die Jahreszahlen, sagt er, wären
nicht so wichtig. Er war imstande, einen Wortschwall
von einer vollen halben Stunde über Mesopotamien
loszulassen, aber wenn er innehielt, um Luft zu holen
oder einen Schluck Wasser zu trinken, fand er sich in
Rom oder in Troja wieder; er rezitierte lange,
ununterbrochene Abschnitte aus dem Thukydides,
aber ein bloßer Schluckauf trug ihn nach Elba, zu
Napoleon. "Ich finde", bemerkte Schwester Edna eines
Tages zu Dr. Larch, "es gelingt ihm, ein Gefühl für die
Bandbreite der Geschichte zu vermitteln." (John
Irving: Gottes Werk und Teufels Beitrag, S. 42)
Er sah sofort, was an den Klingen der Mähmaschinen
verbogen, im Gabelstapler verhakt, im Förderband
verzogen, im Lieferwagen verlottert oder in der
Ciderpresse aus der Reihe geraten war. Raymond
Kendall schaffte binnen zwei Stunden, wofür ein
anderer Mechaniker einen vollen Tag halbherziger
Arbeit gebraucht hätte, und fast nie kam er zu Olive,
um ihr zu sagen, daß sie dies oder jenes neu
anschaffen müsse. Es war stets Olive, die als erste
den Vorschlag machte, daß etwas erneuert werden
sollte. "Muß denn die Kupplung am Deere-Traktor
nicht dauernd nachgestellt werden, Ray?" pflegte sie
ihn höflich zu fragen. "Würden Sie empfehlen, sie
auszuwechseln?" Doch Raymond Kendall war ein
Chirurg unter den Bastlern - wie ein Arzt nahm auch
er den Tod nicht einfach hin -, für ihn war die
Erneuerung eines Teiles ein Eingeständnis der
Schwäche, des Scheiterns. Fast immer pflegte er zu
sagen: "Aber Olive - ich habe es bisher geflickt, ich
kann es wieder flicken. Ich kann es immer weiter
flicken." (John Irving: Gottes Werk und Teufels
Beitrag, S. 202)
Man mußte sie nur kennen, um zu wissen, daß sie
keine Candy war; sie war lieblich, aber nicht auf
falsche Art süß, sie war eine große, natürliche
Schönheit, keine Schmeichlerin der Menge. Sie
verkörperte eine ganz und gar praktische
Verantwortlichkeit, war höflich, energisch und kam im
Streit auf den Punkt, ohne je schrill zu werden. Sie
beklagte sich nur über ihren Namen, trug ihn aber mit
Humor (nie hätte sie die Gefühle ihres Vaters - oder
die eines anderen Menschen - leichtfertig verletzt).
Sie vereinigte in sich offenbar ihres Vaters frohe
Bejahung der Arbeit mit der Bildung und
Vervollkommnung, die er ihr ermöglicht hatte - sie
ging Arbeit wie geistige Verfeinerung mit großer
Leichtigkeit an. (John Irving: Gottes Werk und Teufels
Beitrag, S. 27)
Der Gehilfe des Bahnhofvorstehers war ein junger
Mann, der sich für seinen besonders
unliebenswürdigen Diensteifer den Diensteifer des
Bahnhofvorstehers zum Vorbild genommen hatte, so
daß er bei aller Jugendlichkeit eine völlig inadäquate
alt-knackerige, weinerliche und schäbige Art hatte -
und obendrein noch die Bosheit eines Hundefängers,
dem seine Arbeit Spaß macht. Er war ein einfältiger
junger Mann, der mit dem Bahnhofvorsteher das
tyrannische Auftreten gemein hatte: er brüllte die
Kinder an, gefälligst ihre Füße von den Sitzbänken zu
nehmen, lächelte aber jeden blödsinnig an, der
besser gekleidet war als er, und duldete jede Grobheit
von Leuten, die ihm nur irgend etwas voraushatten.
(John Irving: Gottes Werk und Teufels Beitrag, S. 256)
Auch für die Arbeit zog sich Debra mit einer gewissen
kecken Ordentlichkeit an. Sie war nicht übertrieben
mollig, und während sie nach Cape Kenneth rollten,
brach ihre natürliche gute Laune so herzlich hervor,
daß sogar ihre Schüchternheit verschwand - sie war
ein Mädchen, das Spaß verstand, wie man in Main
sagt. Sie sah niedlich aus und war immer guter Dinge,
sie arbeitete hart, war gutmütig und nicht sehr
intelligent. Ihre Zukunftsaussichten beliefen sich
bestenfalls auf eine Heirat mit einem netten, nicht
sehr viel älteren und nicht deutlich intelligenteren
Mann. (John Irving: Gottes Werk und Teufels Beitrag,
S. 358)
George Ronkers war ein junger Urologe in einer
Universitätsstadt, und das war damals alles in allem
eine recht lukrative Angelegenheit: Unwissenheit
paarte sich mit Liberalität und zeugte unter
Studenten wie Dozenten eine geradezu wunderbare
Vielfalt von Geschlechtskrankheiten. Da hatte so ein
Urologe alle Hände voll zu tun. Seine zahlreichen
Patienten im Gesundheitszentrum nannten ihn
liebevoll "Raunchy Ronk". Seine Frau nannte ihn
zärtlich "Raunch". Sie hieß Kit, hatte eine sehr
humorvolle Art, mit Georges Arbeit umzugehen, und
war außerdem sehr erfinderisch, wenn es darum ging,
ein Gefühl von Geborgenheit zu schaffen. Sie stand
kurz vor dem Abschluß in Architektur, hatte eine
Assistenzstelle und leitete ein Seminar für
Studienanfänger zum Thema "Innenräume". Hier war
sie in ihrem Element. Für die ganze Inneneinrichtung
bei den Ronkers zeichnete sie verantwortlich. Sie
hatte Wände herausgerissen, Badewannen versenkt,
Durchgänge mit Bögen versehen, Zimmer rund und
Fenster oval gemacht - kurz gesagt, sie ging mit
Räumen um, als wären sie nichts weiter als eine
Illusion. "Der Trick dabei", sagte sie immer wieder,
"besteht darin, daß man nicht sieht, wo ein Zimmer
endet und das nächste anfängt; das Konzept des
Zimmers zerstört das Konzept des Raums; im Raum
gibt es keine Grenzen..." Und so weiter. Es war ihr
Element. George Ronkers spazierte durch sein Haus,
als wäre es ein Park in einer fremden, aber
faszinierenden Stadt. Raumtheorien interessierten ihn
nicht die Bohne. "Heute hatte ich ein Mädchen mit
fünfundsiebzig Warzen", sagte er. "Klarer Fall für
einen Chirurgen. Weiß auch nicht, warum sie
ausgerechnet zu mir gekommen ist, die wäre besser
zuerst zu einem Gynäkologen gegangen." (John
Irving: Rettungsversuch für Piggy Sneed. Sechs
Erzählungen und ein Essay, S. 27f.)
Dickens hat große Komödien - anspruchsvolle und
weniger anspruchsvolle - und gleichzeitig große
Melodramen geschrieben. Gegen Ende des ersten
Teils von Pips Erwartungen sagt er: "Wir sollten uns
unserer Tränen weiß Gott niemals schämen, denn sie
spülen wie Regen den Erdenstaub weg, der unsere
verschlossenem Herzen bedeckt." Doch wir schämen
uns trotzdem unserer Tränen. Wir leben in einer Zeit,
da der kritische Geschmack uns glauben machen will,
daß Weichherzigkeit auf Dummheit herausläuft; wir
lassen uns von dem Mist im Fernsehen so
beeinflussen, daß wir sogar in unserer Abwehr
dagegen überreagieren: nämlich indem wir schließen,
daß jeder Versuch, ein Publikum zum Lachen oder
Weinen zu bringen, schamlos ist - entweder seichtes
Affentheater oder Seifenoper. Edgar Johnson hat
recht, wenn er bemerkt: "Zwar läßt sich über die
Zwänge, die sich die Menschen des viktorianischen
Zeitalters auferlegten, manches sagen, doch in
emotionaler Hinsicht sind wir es, die gehemmmt sind,
nicht sie. Viele heutige Leser, insbesondere die
sogenannten Intellektuellen, reagieren auf
ungehemmte Gefühlsäußerungen sehr mißtrauisch.
Vor allem edelmütige, heroische oder zärtliche
Gefühle lassen sie skeptisch und wie angeekelt
zurückzucken. Jedes tiefempfundene Gefühl erscheint
ihnen überzogen, heuchlerisch oder peinlich." Johnson
bietet auch eine Erklärung dafür an: "Es gibt natürlich
Gründe für unsere eigenartige Angst, Gefühle seien
nichts weiter als Gefühlsduseleien. Mit zunehmender
Beliebtheit der Unterhaltungsliteratur wuchs auch die
Zahl der billigen Imitatoren großer Schriftsteller, die
nur einen billigen Aufguß ihrer Vorbilder lieferten und
deren Kunst der Darstellung emotionaler Vorgänge
völlig verwässerten. Dickens - gerade weil er so gut
war - wurde das ideale Opfer solcher Nachahmer."
(John Irving: Rettungsversuch für Piggy Sneed. Sechs
Erzählungen und ein Essay, S. 178)
Er behandelte nacheinander ein vierjähriges Mädchen
mit einer Blasenentzündung (kleine Mädchen
bekommen so etwas leichter als kleine Jungen), einen
achtundvierzigjährigen Mann mit einer vergrößerten
und äußerst schmerzempfindlichen Prostata und eine
fünfundzwanzigjährige Frau, die ihre ersten
Blasenprobleme hatte. Er verschrieb ihr Azo
Gantrinsin, fand ein Verkaufsmuster dieser riesigen
Tabletten, an denen ein Pferd hätte ersticken können,
und gab es ihr. Eingeschüchtert von ihrer Größe,
starrte sie die Tabletten an. "Gibt es dafür etwas, äh,
zum Einführen?" "Nein, nein", sagte George. "Die sind
zur oralen Einnahme. Sie müssen sie schlucken."
(John Irving: Rettungsversuch für Piggy Sneed. Sechs
Erzählungen und ein Essay, S. 59f.)
"Mist", sagte Danfors. "Als die Klinik dieses Ding
angeschafft hat, hab ich hintereinander drei Leute
zurückgeholt, und da dachte ich, daß das der beste
Apparat ist, den es gibt. Aber von den nächsten fünf
hab ich vier verloren. Da stand es dann vier zu vier -
das Ding ist eben einfach nicht hundertprozentig. Der
hier ist jetzt der Tie-Break." Danfors schaffte es, die
Statistik der Wiederbelebungsapparats wie die eines
sportlichen Absteigers klingen zu lassen. (John Irving:
Rettungsversuch für Piggy Sneed. Sechs Erzählungen
und ein Essay, S. 72)
Sie war eine Frau, die zu Wutausbrüchen neigte, eine
erfahrene Türknallerin - vielleicht konnte der laute
Knall, den die Tür machte, sie dafür entschädigen,
daß sie so klein war. Der Gärtner hatte eine
Heidenangst vor kleinen Frauen; es kam ihm immer
vor, als stünde ihre Wut in keinem Verhältnis zu ihrer
Körpergröße. Seine eigene Frau war dick und
wohltuend weich, eine gutmütige Frau mit einem
großzügigen, nachsichtigen Naturell. (John Irving:
Witwe für ein Jahr, detebe 180)
Mrs. Dashs verstorbener Gatte hatte einmal gesagt,
Eleanor sei eine Frau, die unter dem ständigen Zwang
stehe, sich zu revidieren. (Jane fand das sehr mild
ausgedrückt.) Zu Beginn ihrer Ehe war Eleanor Holt
eine dieser Frauen gewesen, die derart mit ihrem
Eheglück protzen, daß jeder, der sich irgendwann
einmal hat scheiden lassen, sie aus tiefstem Herzen
haßte. Und kaum war sie frisch geschieden, wurde sie
eine so vehemente Befürworterin der Scheidung, daß
jeder, der glücklich verheiratet war, sie am liebsten
umgebracht hätte. (John Irving: Witwe für ein Jahr,
detebe 316)
Ich kann mir vorstellen, was Allan von einem
Semikolon im Titel hält; er hat ohnehin eine schlechte
Meinung von meinen Strichpunkten. "Kein Mensch
weiß mehr, was das ist", behauptet er. "Wer es nicht
gewohnt ist, Romane aus dem neunzehnten
Jahrhundert zu lesen, könnte meinen, der Autor hätte
über dem Komma eine Fruchtfliege zerquetscht.
Strichpunkte stiften heutzutage nur Verwirrung."
(John Irving: Witwe für ein Jahr, detebe 458f.)
Die Maklerin, eine stämmige Frau mit
Zwitscherstimme, entschuldigte sich noch einmal für
die Störung beim Abendessen. Sie gehörte zu den
Frauen, die sich ins Immobiliengeschäft stürzten,
nachdem ihre Kinder flügge geworden waren. Ihr
schriller, von Unsicherheit zeugender Eifer, es
anderen recht zu machen, paßte eher zu einer Person,
die ständig für Nachschub an Erdnußbutter-
Sandwiches mit Traubengelee zu sorgen hat, als zu
einer, die Häuser kauft und verkauft. Doch ihre
Begeisterung war nicht geheuchelt, auch wenn sie
sich leicht aus der Fassung bringen ließ. Sie wollte
unbedingt, daß alle alles schön fanden, und da das
selten vorkam, neigte sie dazu, plötzlich in Tränen
auszubrechen. (John Irving: Witwe für ein Jahr,
detebe 738)
Als er mit ihr geschlafen hatte, hatte Crystal ihn
gewarnt, daß sie unter einer seltenen Form von
Atembeschwerden leide. Wenn sie außer Atem gerate
und nicht genug Sauerstoff in ihr Gehirn gelange,
bekomme sie Halluzinationen und drehe überhaupt
ein bißchen durch - eine heillose Untertreibung.
Crystal war ruck, zuck außer Atem geraten; ehe
Wallington noch wußte, wie ihm geschah, hatte sie
ihn in die Nase gebissen und ihm mit der
Nachttischlampe den Rücken verbrannt. Er hatte Mr.
Pirney, Crystals Mann, nie kennengelernt, aber er
bewunderte dessen Seelenstärke. (John Irving: Die
vierte Hand, S. 246)
Miss Wong, Jacks Lehrerin in der ersten Klasse, war
während eines Hurrikans auf den Bermudas zur Welt
gekommen. In ihrem Leben gab es nichts, was entfernt an
einen tropischen Wirbelsturm erinnerte, obgleich ihre
Angewohntheit, sich für alles und jedes zu
entschuldigen, vielleicht schon mit jenem Ereignis
begonnen hatte. Sie nannte den Sturm, der während ihrer
Geburt betobt hatte, nie beim Namen, und das hätte die
Erstkläßler vielleicht auf den Gedanken bringen können,
daß dieser immer irgendwo tief in ihrem Unterbewußten
wütete. Doch ihren schwunglosen Körper beseelte keine
Spur eines Sturms, und ihrer Stimme fehlte jeder
Nachdruck. "Es tut mir leid, euch sagen zu müssen, daß
der Hauptunterschied zwischen Vorschule und erster
Klasse darin besteht, daß wir keine Mittagsruhe
halten", verkündete Miss Wong am ersten Tag. (John
Irving: Bis ich dich finde, S. 199)
Emmas Zimmer sah genauso aus, wie man sich das Zimmer
eines Mädchens vorstellt, das von Kindheit durch die
Pubertät zur Lüsternheit unterwegs ist. Auf dem großen
Bett nahmen die vernachlässigten Teddybären und andere
Stofftiere untergeordnete Positionen ein. An den Wänden
hingen ein Poster von einem Beatles-Konzert und eines
von einem Robert-Redford-Film. (Vielleicht war es
'Jeremiah Johnson', denn Redford trug einen Bart). Und
überall, auf dem Boden und auf dem Bett, lagen Emmas
BHs und Slips ganz offebn herum - einer davon schien
einen Teddybären zu strangulieren. Die Unterwäsche
dieser im Werden begriffenen Frau, die Emma ganz
offensichtlich war, deutete (wenn auch nicht für Jack)
darauf hin, daß sie es eiliger hatte als die meisten
Altersgenossinen, ihre Reise durch die Pubertät hinter
sich zu bringen. (John Irving: Bis ich dich finde, S.
273)
Am unnahbarsten war Madame Delacorte, eine französische
Schönheit, die in der Bibliothek arbeitete und deren
Mann romanische Sprachen unterrichtete. Romane waren
nicht gerade das, woran man beim Anblick von Madame
Delacorte dachte. Es gab in Exeter keinen Jungen, der
ihr in die Augen hätte sehen können - und keinen, der
die Bibliothek betrat, ohne sehnsüchtig nach ihr
Ausschau zu halten. Madame Delacorte sah aus, als hätte
sie gerade gevögelt und wolle mehr, viel mehr. (Dennoch
hatte die verschwitzte Umarmung ihre Frisur irgendwie
unbeschädigt gelassen.) Madame Delacorte war eine so
beherrschende Persönlichkeit wie Jeanne Moreau in
'Jules und Jim'; nicht einmal ihr Mann vermochte sich
ihr ohne Stottern zu nähern; und er stammte immerhin
aus Paris. (John Irving: Bis ich dich finde, S. 426)
"Keinen Zucker, danke." Ich machte mir damals noch
nichts aus Süßem. Dazu mußte erst Maude kommen,
die mich mit einem Lachen über die Vorstellung, daß
ein Franzose auch nur eine Ahnung haben könnte, wie
richtiger Tee schmecken muß, eines Besseren
belehrte. "Ach." Die Mutter Oberin nickte, als
verstehe sie. Auf den Zucker im Tee zu verzichten war
ihrer Meinung nach wohl das fromme Äquivalent eines
härenen Hemdes. (Alan Isler: Klerikale Irrtümer, S.
64)
Die Katholiken sind - wie die Protestanten in den
Freudschen Regionen ihres tiefsten Inneren wissen
müssen - die Originalchristen, die
echten Christen (abgesehen natürlich von den
jüdischen "New Agers" des ersten Jahrhunderts). Das
Urheberrecht lag schließlich eineinhalb Jahrtausende
lang bei den Katholiken, Herrgott noch mal. Und
daher haben die Protestanten die Katholiken immer
mit einer verräterischen Nervosität umgebracht. Die
Katholiken bringen die Protestanten im Vertrauen auf
ihren Herrn um. (Alan Isler: Klerikale Irrtümer, S. 70)
Das Datum für ihre Periode sei schon eine ganze
Weile überschritten, sagte sie - und das bei ihr,
ergänzte sie, bei der die Blutungen immer so
pünktlich gekommen seien, daß man danach in einer
bewölkten Nacht die Mondphasen hätte bestimmen
können. Ich gebe zu, ich bin ein bißchen zimperlich,
was die körperlichen Aspekte des weiblichen
Menstruationszyklus anlangt, ich empfinde einen
gewissen Ekel, der vielleicht in judaischem und
biblischem Boden wurzelt, mit noch größerer
Wahrscheinlichkeit aber auf den Augenblick
zurückgeht, als ich den Blutfleck hinten auf dem Rock
meiner Mutter sah. Wir waren in Orleans, ich war
damals dreizehn, auch ohne Nazis ein Alter, in dem
einen Ängste und Pickel plagen. (Alan Isler: Klerikale
Irrtümer, S. 77)
Wieso hatte ich mich freiwillig aus meinem
Schneckenhaus auf die Tanzdiele begeben, mich weichen
hilflosen Mollusken dem scharf zupackenden Stakkato
dieser Rhythmen ausgesetzt? Dabei hatte ich die
Tanzmusik theoretisch längst als primitiv und geistlos
abgehandelt. Seit der Schulzeit teile ich die
Menschheit in Mitwipper und Nichtmitwipper ein. Die
überwiegende Mehrheit der Mitwipper kann nicht anders,
als bei Musikbeschallung in Schunkeln auszubrechen und
sklavisch mitzuwippen. Der Nichtmitwipper hingegen,
meist ein einzelner kühler Kopf, schlendert, wenn es
sein muß, ohne die geringste Gemüts- und Körperregung
durch das infernalische Preßluftgehämmer eines
Speedmetal-Konzerts und liest Hebbels 'Tagebücher'.
(Peter Jacobi: Mein Leben als Buch)
Du machtest dich lustig über meine noch aus
Kinderjahren herrührende Trauer über das Ende aller
Ferienzeit; Henriette, auch heute bin ich mit dieser
Trauer all-1. Und ist ihrerseits nur Fantomschmerz noch
aus allen zurückliegenden Berufsjahren als praktischer
Arzt. Seit 3 Jahren ist zum Fantomschmerz der echte
Schmerz hinzugekommen. Der hält uns=beide, dich
Henriette mich, fest=zusammen, über deinen Tod hinaus.
Auch in deinen Altenjahren bist du eine Schönheit
geblieben. Du vermochtest alt zu werden ohne zu
verlieren; eine Frau, die mit=den-Jahren in ihrem
Äußeren auch den eigenen Charakter sichtbar macht.
Wenigen Menschen wird das Gesicht menschlich. Noch
weniger behalten es. Du gehörtest du den Wenigen. Und
so hätten wir=Beide befreit von Arbeitslast&pflicht den
Anfang unserer Lebenszeit aus dem Alltagsschutt
Derjahre ausgraben können wie versunkene Stätten der
Kinderzeit. Im Alter Wiederkindsein solange des Leben's
Countdown uns noch Zeit beläßt. - Zu kurz war dein
Atem, Henriette, kein Halbesjahr war dir zu deiner
neuen Kinderzeit bemessen. (Reinhard Jirgl: Die Stille,
S. 10)
Und so wurde meine Schwester im-Lauf-Derjahre - seit
ich, & damit gewissermaßen auch sie, eingeheiratet
hatte in Henriettes Familie - zur starr=sinnigen
Klammer, die ebendiese Familie, deren menschliche
Bestandteile oftmals den 1druck der völligen
Gleichgültigkeit gegen ein=ander machten, trotzig wie
eine Dynastienhüterin mit fester Hand zusammenhielt.
Was schließlich dieser Frau in jenem Familiengehäuse
den Spitznamen 'Eiserne Jungfrau" 1trug und der
Schwiegergroßvater Henry, bei einem der allsommerlich
anberaumten Familienfeste auf dem Laubengrundstück bei
Weißensee mit Anspielung auf Felicitas Geburtsdatum,
dem 1. September 1939, übern-Tisch-hinweg in seiner
kauzigen Art bemerkte: 'Mit der Glücklichen kam
Derkieg'. Woraufhin er die Ewigeleier seiner Geschichte
schlug (weil er, so wie Viele seiner Gene-Ration, vom-
Krieg ihr Teil abbekommen hatten & dies Erbe nun
mitsich schleppten, indem sie bei jeder Gelegenheit
Drüber erzählten). (Reinhard Jirgl: Die Stille, S. 11)
... liegt seine letzte Schlappe nur 4 Jahre zurück: Als
ihn die Hormone rappelich machten & er nach 8 Jahren
Ehe, jetztüberdann, seine Frau verlassen mußte wegen
irgend 1 Semi-Narristin, Frau Etepetete & roh-
Köstlerin; - aber schon nach nem 1/4Jahr wars wieder
Essig-ohne-Öl mitter roh-Mannze & die feinsinnige Tussi
setzte ihn kurzerhand vor die Tür; - da kam er jammernd
angekrochen zu=uns-Nachhause, ob wir nicht 1 Bett für
ihn hätten 1 Bleibe, ich-bin-doch-euer-Sohn & bla -.
(Reinhard Jirgl: Die Stille, S. 18)
Harmlosigkeit u Frohsinn ließen dich mißtrauen; nur dem
Schweren, Dunklen in den Menschenseelen wandtest du
dich zu - wie !selten fandest du Dergleichen im
Zeitalter der Heuchelei -, aber Es blieb für dich:
Nicht das Fruchtbare, nur das Furchtbare u das Ernste,
das die Menschen in=Bann&Schicksal schlägt, Das will
dir dem Mensch=Sein angemessen sein. Panzer gegen alles
Lichte. Aber dieser Panzer, Meinlieberbruder, ist nicht
kompakt, gleicht eher nem Sieb -: ? Spürst du sie
manches Mal wie fremde Einschlüsse im Geröll dessen,
was andere eine Seele nennen. Und wenn du auch Spott &
Häme mit-den-Jahren leiser werden ließest (niemand
schließlich kann Übereinleben=lang sich mit derselben
Kraft über dasselbe aufregen). (Reinhard Jirgl: Die
Stille, S. 63)
Keine Heimlichkeit ist so heimlich, daß nicht das
Gerüst zu ihrer Mechanik sichtbar wäre: Auch der-
Seiten-Sprung hat Kalender & Routine. - -!?Wie aber
vermögen Frauen, % vielbesser als wüßten sie Darüber
wörtlichen Bescheid, allein aus dem-ver-Halten des
fremd=gehenden Mannes Die-Fremde-Frau !herausspüren.
Sag mir, Vater: Über ?welchen Radar-Sinn verfügen Sie,
den der-Mann nicht unterlaufen kann; ?was für morfo=
logische Felder umgeben ihn & zeigen an was er !niemals
anzuzeigen gedachte. --Dabei, "Sohn", dürfte der-Mann
sich immer !selber anzeigen, indem die-Frau mit ihrem
untrüglichen Gespür für Echt u: Falsch allein das ver-
Halten des-Mannes taxiert : Er will der-Frau gegenüber
Normalität vorspielen, u: sobald er spielt spielt er
schlecht. Hier ist Jedermann ein miserabler Heuchler, &
noch mieserabler sobald seine Heucheley zu!gut gebaut
ist. Und Das fällt ihr=natürlich !sofort auf; die Frau
braucht nur darauf zu warten, bis der-Mann durchs
eigene ver-Halten sich verrät.... --Das wär ungefähr
dasselbe wie beim normalen Laufen: du vollziehst den
Aufrechten Gang unbewußt; erst wenn du auf jede deiner
Bewegungen achtgibt & sie zu kontrollieren gedenkst;
fällst du auf den Pinsel. (Reinhard Jirgl: Die Stille)
Barbarus novus, der Neue Held mit Übergewicht &
bedenklichem Cholesterinwert : Das entsprang nicht
fernen Wüsten nicht den Urwäldern od abgelegenen
Inseln; deren Mutter Lauge schwamm in den
zentralbeheizten Bottichen welt=weiter Städte-Bauten,
das gedieh in den-Büros & auf-Ämtern : Hier wurde er
geboren, Barbarus novus - Fremder Sprachsplitter voll
doch sprachbeschränkt gefühlsflach gedankenlos -,
Piepel-Schurnale & Demoskopen päppelten ihn auf,
versahen ihn mit grandiosen Ziffern, mülljonenfache
Über-1=Stimmung, gleicher Wille = gleiche Freuden, 1 x
pro Jahr für 3 Wochen als Reisepöbel m.
Pauschalverblödung die-Welt okkupierend & !immer=Alles
oll inn-kluh-syph. (Reinhard Jirgl: Die Stille)
Dann stell dir dochmal GOtt vor SEinen Bittstellern vor
- (u: weil ich mich abwandte hörte ich deine Worte als
hätten die Lippen sich zum Grinsen verzogen) - GOtt als
SEin eigener Beamter, wie ER hinterm Schalterfenster
hockt & zu SEinem Geschäft's Zeiten das
!mülljardenfache Gebarme Gezetere & Halle-Luuja-
Geschrei dieser heils-geilen Baggasche, die ER 1 x aus
Dreck gemacht, seither anhören muß : Ich sehe IHN vor
mir mit Ärmelschonern als Verwaltungsbeamten SEiner
eigenen Güte, im mies-antropisch hageren Gesicht tief
1gebrannt die Narben des Büro-Grams. GOtt = 1 Magen auf
Latschen, SEinen Feierabend herbeisehnend mit dem
Wissen daß sogar SEine beste Waffe im holo caustum
gegen SEin Menschen=Gezücht - Die Sinflut - schon
verzagt hatte. So müßte ER also bis in Alleewichkeit
SEinen Dienstschieben für Geschöpfe, die IHM lange
schon voll SEinen heiligen Ekels zum Hals raushängen.
(Reinhard Jirgl: Die Stille)
Deine Schwermut & deine Verzweiflung, Henry, bestimmten
jegliches Tun & versetzten dich in die Nähe zu jenen
nervösen uninteressanten Ver-Rückten, die, an der
Schwelle zum Blödsinn, durch die Straßen irren & laut
mit sich selber kwatschen müssen. Aber selbst das
sicherte dir längst keine besondere Aufmerksamkeit zu,
seit die-Menge in aller Öffentlichkeit ihre
Mobiltelefone an den Schädel hält & schamlos laut ihr
Maulpisse abschlägt. (...) Du, Henry, warst von anderem
Kaliber. Du gehörtest zu jenen Trostlosen, die im
Unglück abgekommen waren wie Krankheiten in einem
Körper. Da sind sie & wachen wie penible Ärzte über den
korrekten Ausbruch ihres eigenen Unglücks. Und so
können sie immer aufs-Neu trostlos-Los bleiben.
(Reinhard Jirgl: Die Stille)
Sie heißt nicht Marjorie. Wir wissen ihren Namen nicht. Wir kennen
sie nicht. Sie ist uns zugekommen im vergangenen Winter, ein
Mädchen, das an der 97. Straße auf den Bus 5 wartete. Es war ein Tag
mit ätzendem Wind, kalt genug das Warten eindringlich und inständig
zu machen. Sie stand nicht krumm und im Unglück der Kälte
zusammengezogen; sie machte aus dem Frieren eine sorgfältige und
zierliche Pantomime. Es sah aus, als fröre sie aus Kameradschaft.
Wir gaben ihr nur ganz wenig Worte, und schon vertraute sie uns an:
sie sei froh, dies Wetter nicht versäumt zu haben. Sie sagte es als
eine Wahrheit, und da es ihre Wahrheit war, kam sie nicht
zudringlich heraus. So zutraulich ist sie. So anmutig kann sie
leben. Das Wort schön, für sie ist es übriggeblieben. Sie kann unter
wuchtigen Capes verbergen, daß sie schon sechzehn Jahre lang richtig
gewachsen ist, sehr schlank, noch nicht schmächtig, auf langen
Beinen, die auch die Blicke weiblicher Passanten auf sich ziehen. Es
ist ihr Gesicht. Ihr Gesicht ist eine Auskunft über sie, die nie
enttäuscht, nie zurückgenommen werden muß. (...) Wir sehen ihr auf
den Mund, weil er jung ist, wir sehen ihr auf die Lippen wegen ihres
ganz bewußten, absichtlichen Lächelns. Es ist ernst, es ist
überlegt. Es bedeutet etwas, es ist verständlich. Es ist freundlich.
Was andere zu den Festen geschenkt kriegen, davon kann sie leben,
aus dem Vollen. Sie sieht uns, sie strahlt. Sie redet mit ihren
schwarzen Augen, und wir glauben ihr. Es ist nicht erfindlich, warum
sie glücklich sein sollte, uns zu sehen; wir nehmen es hin ohne
Widerrede in Gedanken. (...) Sie hat einen einzelnen, eigens für uns
abgetrennten Blick abzugeben, der sagt, als hätte sie insgeheim
neben unserem Ohr gesprochen: Es tut mir wohl, euch zu sehen. Es ist
nicht einmal unbehaglich. Da ist kein Zweifel. Sie verhängt ihre
Wahrheit über uns. Sie kann noch nur ausdrücken, was sie ist. Sie
hat eine Art, sich uns zuzuwenden, aufmerksam, heiter, fast ergeben
vor Teilnehmen, in einer schön aus Schultern und Nacken laufenden
Bewegung, deren Abbild im Gefühl abgemalt wird wie eine Berührung.
Sie umfaßt uns mit ihrem Blick jedes Mal, als erkennte sie uns,
nicht nur ihr Bild von uns, auch was wir wären. Und wir glauben ihr.
Wir verdächtigen nicht ihre Aufrichtigkeit. Mit ihr läßt
Freundlichkeit sich tauschen, als sei sie noch ein Wert. (Uwe
Johnson: Jahrestage 1)
Die Tante raucht (Zigarillos), sie trinkt auch von den harten
Sachen; sie versteht einen Witz, solange sie im festen Interesse der
Allgemeinheit ihn unzulässig zu nennen nicht umhinkann. Sie geht mit
der Zeit. Sie kann kochen, sie kann backen. Die Tante ist ledig
geblieben, es deutet ihre Ansprüche an. Sie gibt Ratschläge in
Ehefragen, sie kann sich vorstellen wie es in der Ehe ist (immerhin
soll ein Musikkritiker Musik kritisieren, nicht Sinfonien schreiben.
Nicht einmal Sonaten). Sie ist modern. (In ihrer Familie hat Gesine
eine solche Tante nicht.) Wir haben es hier mit einer Person zu tun,
mit der man die Pferde stehlen gehen kann an allen Tagen, da die
Gesetzgebung den Diebstahl der Pferde vorschreibt. (Uwe Johnson:
Jahrestage 1)
Diese Marie ist zehneinhalb Jahre alt und reckt sich
zu vier Fuß elf Zoll. (...) Wohl finde ich Mecklenburgisches,
Ironie in Schiefhalsigkeit, durch Kopfsenken verkanteten
Blick, steinerne Versteckmiene, überhaupt das Anschlägige,
das Schabernacksche. Das alles nun in ausländischer Sprache.
Es ist das Amerikanisch des Mittelstands, diszipliniert
durch eine Traditionsschule, vorsichtig gegen Slang. Was
sie dann aber spricht, damit lebt sie. Oft muß ich, mit
meinem Dolmetscherdiplom, nachschlagen. (...) Neuerdings
ist eine Art Entschuldigung: I stand corrected, und das
mit dem Akzent der Upper West Side von New York, für den
Sie so leicht keine Zensur fänden. Deutsch spricht sie,
als hätte sie Schmerzen im Hals. Wahrscheinlich mußte sie
die mitgebrachte Sprache opfern, um bequemer anwachsen zu
können in der Straße, der Schule, der Stadt. Düsseldorf,
Berlin, Jerichow, für sie ist es Geographie. Germany. An
Ferien in Dänemark erinnert sie sich besser. Sie jetzt
in die deutsche Sprache zurückbringen, es wäre ein
größeres Unglück für sie als der Umzug ins Amerikanische
war. (Uwe Johnson: Jahrestage 2)
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[Allgemeine Fundstücke]
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