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Allgemeine Fundstücke / [H2]
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Wie sehr sich der Fernsehjubel im Lauf der Zeit geändert
hatte, fiel ihm plötzlich auf. Obwohl er sich kaum für Fußball
interessierte, hatte er doch schon jede Menge Jubel
mitangesehen. In den alten Schwarzweißaufnahmen rissen
die Fußballer kurz die Arme hoch, selbst wenn sie das
entscheidende Tor zum Gewinn der Weltmeisterschaft
geschossen hatten. Und am Ende des Spiels schüttelte der
Trainer dann mit einem Ausdruck tiefer Freude im Gesicht
jedem Spieler herzlich die Hand. Heutzutage konnte das
unwichtigste Tor im belanglosesten Freundschaftsspiel fallen,
und der Torschützer rannte wie von Sinnen jubelnd über den
Platz, auf der Flucht vor allen anderen Spielern, die ihn
natürlich doch irgendwann einfingen und schließlich unter sich
begruben. Weniger Jubel war im Grunde genommen schon
beinahe ein Ausdruck von Unzufriedenheit, aber es wurde
immer schwieriger, noch mehr Jubel zu zeigen, wenn es
wirklich einmal das entscheidene Tor zur Weltmeisterschaft
war, das ein Spieler schoß. (Jakob Hein: Herr Jensen steigt aus, S. 87)
Das Telefon klingelte. "Agentur für verworfene Ideen,
Boris Moser am Apparat", meldete sich Boris mit seiner
freundlichen Telefonstimme. Er verfügte noch über die
verärgerte, die müde und die verunsicherte
Telefonstimme, die er aber in der Firma nicht
gebrauchen konnte. "Ist da nicht der Computerladen?",
krächzte eine belegte Stimme. Sie gehörte
wahrscheinlich einem Mann, hätte aber auch die einer
Frau sein können, die an einem schweren Fall von frühen
Morgen litt. (Jakob Hein: Vor mir den Tag und hinter
mir die Nacht, S. 6)
"Möchten Sie einen Kaffee trinken?" "Ehrlich gesagt,
würde ich viel lieber einen Tee trinken, aber nur, wenn
sie einen richtigen dahaben." "Ich glaube, ich habe
irgendwo noch Teebeutel", sagte Boris. "Dann trinke ich
lieber einen Kaffee. Obwohl sie Teebeutel heißen, habe
ich es noch nie erlebt, daß es jemandem gelungen ist,
aus diesen Beuteln einen Tee zu machen." Boris sah sie
fragend an. "In diese Beutel wird das gefüllt, was nach
der Teeernte zusammengefegt wurde, die wenigen
Aromastoffe werden von dem sie umgebenden
Toilettenpapier aufgesogen. Wenn schließlich die Beutel
lauwarm gewässert werden, können sich die armseligen
Teekrümel nicht ausbreiten. Tee braucht sehr viel
Platz, den gibt es nicht in so einem Beutel. Viele
Menschen ahnen das und bewegen deshalb ihre Teebeutel
wie wild durch das umgebende Wasser. Aber diese Masche
funktioniert nicht, das ist gerade si, als würden sie
einen Vogelkäfig umherwerfen, um die Flugweise des
darin befindlichen Vogels zu erforschen. Also stopfen
die Hersteller meist mehr Tee in diese Beutel, als man
für eine Tasse bräuchte, wodurch das Wasser dunkel und
bitter wird." (Jakob Hein: Vor mir den Tag und hinter
mir die Nacht)
"Einen richtigen Tee bereitet man mit zwei Kannen,
frischem Tee und frischem kochenden Wasser. Die Kannen
müssen sauber gewaschen sein, es ist überhaupt nicht
zuträglich, wenn die Innenwände von altem Tee
verschmutzt sind. Nach genau drei Minuten gießt man den
Tee von der ersten in die zweite Kanne, das war's. Es
ist erstaunlich, wie viele Fehler manche Menschen in
diese simple Kunst hineinbringen. Sie filtern das
Wasser, sie benutzen dreckige Kannen, sie wärmen die
Kannen vor, sie lassen den Tee zu kurz oder viel zu
lang ziehen, und sie stellen die Teekanne zum Schluß
noch mit Vorliebe auf ein Stövchen. Das Stövchen ist
für Tee so etwas wie ein Folterinstrument, weil damit
der gute Geschmack aus dem Getränk in die Luft gebracht
wird." (Jakob Hein: Vor mir den Tag und hinter mir die
Nacht, S. 18)
Auch hatte das Haus, in dem sie damals lernte, zu allem
Überfluß in einer landschaftlich reizvollen Gegend
gelegen, wie es in der Hotelbroschüre hieß.
Landschaftlich reizvolle Gegend war die
schönfärberische Bezeichnung für die ödeste Provinz
gewesen. Iris hätte lieber in einer "pulsierenden
Großstadt" oder wenigstens "am Rande der Metropole",
notfalls auch "in der pittoresken Kleinstadt"
gearbeitet, aber sie hatte in der "landschaftlich
reizvollen Gegend" festgesessen. (Jakob Hein: Vor mir
den Tag und hinter mir die Nacht, S. 56)
Auch bei den Männern nach Vincent war Iris aufgefallen,
daß sie sich von Iris wünschten, ihnen das Leben zu
organisieren. Wenn Iris irgendwann damit fertig war,
hatten die Männer ihr geordnetes Leben genommen und
waren damit in tiefer Dankbarkeit zur nächsten Frau
weitergezogen, die ihnen das Leben wieder
durcheinanderbringen konnte. Oder Iris hatte die Männer
damit vertrieben, eigene Wünsche anzumelden und sich
nach solch geradezu peinlichen Bedürfnissen wie
Geborgenheit und Halt zu sehnen. Anstatt schrittweise
aufzugeben, hatte sie im Lauf der Jahre die Meßlatte
immer höher gelegt. Sie arbeitete jetzt schon so lange
an diesem schwierigsten Projekt und entschied, es
entweder zu einem perfekten Abschluß zu bringen oder
daran zu scheitern. Für einen hübschen Handwerker wäre
ihr Aufwand der letzten Jahre einfach zu hoch gewesen,
sagte sich Iris. Es mußte doch auch nette, gut
aussehende Millionäre geben. (Jakob Hein: Vor mir den
Tag und hinter mir die Nacht, S. 57)
Für schnelllebige Modewellen war die DDR vollkommen
ungeeignet. Daher war der Pop und alles, was
dazugehörte, wenig verbreitet. Bis man an eine
abgelegte Westzeitschrift kam, um der Oma den Schnitt
der Klamotten zu erklären und dem Friseur die Haarmode
zu zeigen, war der Zug schon wieder abgefahren. Daher
eigneten sich eher mittelfristige Modewellen wie Punk,
Grufti, Skin, Mod oder Rocker. Ich entschied mich für
"New Romantic", eine Untergruppe der Gruftis, die weiße
statt schwarzer Hemden trug. Dabei spielte es eine
Rolle, daß man leichter an weiße als an schwarze
Oberhemden herankam. (...) Mit meinen Kumpels hockte
ich hinter einem Glas Cola- Weinbrand auf gepolsterten
Stahlrohrstühlen an einem Sprelacart-Tisch in der
Klubgaststätte 'Kalinka', bis endlich eine Lied von
'Anne Clark' oder 'The Cure' kam. (...) Ich trug
schwarz gefärbte Hosen, schwarze Halbschuhe und ein
weißes Oberhemd, das ich mir bei meinem Vater ohne sein
Wissen geborgt hatte. Das Gesicht hatte ich mir mit
einer dünnen Schicht Zinksalbe weiß geschminkt, die
laut Verpackung besonders für die Behandlung wunder
Babyhaut geeignet war. Dieses Detail mußte meine
Geheimnis bleiben. Echte Weißschminke gab es nicht.
Meine Haare waren schwarz gefärbt und mit einem Kamm
sowie dem Haarspray "Disko-Club" auftoupiert. Dieses
Haarspay diente wahrscheinlich heimlich dem Schutz der
Jugend vor ungewollter Schwangerschaft, denn es stank
abstoßend. Wir stellten uns in einem Kreis auf, in dem
die Mädchen ihre kleinen Handtaschen abstellten. (...)
Meine Füße bwegten sich überhaupt nicht mehr. Sie
standen reglos da, dicht nebeneinander. Nur die Arme
ruderten verzweifelt, Halt suchend in der Gegend herum.
Dazu blickte ich so, als ob mein bester Freund Suizid
hieße und der Freitod für mich ein möglicher Weg
weiterer Lebensgestaltung wäre. Das Leben eines New
Romantic war nicht ungefährlich, und die
Unaufrichtigkeit unserer Selbstmordphantasien
offenbarte sich nach jedem Tanzabend. Am Ausgang vom
'Kalinka' versammelten sich nach der Disko immer Skins,
die unsere traurigen Existenzen problemlos hätten
beenden können. Stattdessen verließen wir das 'Kalinka'
ziemlich frühzeitig. Wir waren alle so unsportlich, daß
wir keine würdigen Gegener abgaben. Mit unseren
wehenden Klamotten hatten wir nicht mal Aussicht auf
erfolgreiche Flucht. (Jakob Hein: Liebe ist ein
hormonell bedingter Zustand, S. 37f.)
Wir nannten die Kindergartentanten bei ihrem Nachnamen,
die besonders freundlichen erlaubten uns, sie trotzdem
zu duzen. Das klang so wie heute im Kaufhaus: "Du, Frau
Becker, guck mal!" Meine Kindergartentante hieß Frau
Kant. Sie war dick, kurzatmig, schlecht gelaunt und
trug eine Kittelschürze aus Nylon über ihren
Stützstrümpfen.. Bewegung zu Musik machte sie nur mit
uns, weil es Vorschrift war, weil in ihrer offiziellen
Bedienungsanleitung für Kinder geschrieben stand, daß
eine Kindergärtnerin mindestens zweimal monatlich mit den
ihr unterstellten Kindern Tanz- und Singspiele einüben
mußte. Frau Kant haßte Musik und Bwegung, und Musik und
Bewegung haßten Frau Kant. Alle paar Augenblicke griff
sie in die Kitteltasche, holte ein Stofftaschentuch
heraus und wischte sich damit den Schweiß von der
hochroten Stirn. Die Sonne waren zwei Arme, die wir von
unten kreisförmig nach außen bringen mußten. Wenn sich
ein Kind im Überschwang der Gefühle spontan anders als
vorgeschrieben bewegte, brüllte Frau Kant herum. Bei
wiederholtem Abweichen gegen die Bewegungsmuster
drohten Nachholstunden. (Jakob Hein: Liebe ist ein
hormonell bedingter Zustand, S. 7)
In meiner Schulklasse war ich mit weitem Abstand der
Beste in Englisch, einen langweiligeren Zustand konnte
es für einen Streber wie mich nicht geben. Na gut, ich
war kein richtiger Streber, nur so eine Art, das heißt,
ich wollte immer der Beste sein und für meine Klugheit
bewundert werden, aber gleichzeitig ließ ich mir das
nicht anmerken, damit ich auch Freunde hatte. So eine
Art vorsokratischer Standpunkt: Ich wußte, daß ich viel
wußte, und wußte auch, daß es besser war, nicht alles
zu wissen. So war ich für meine Lehrer ein Albtraum,
aufgrund meiner Leistungen konnten sie mich nie
wirklich bestrafen oder als abschreckendes Beispiel
vorführen. Im Grunde meines Herzens blieb ich aber ein
Streber, besonders in Fächern, die mir wichtig waren,
und Englisch war mein Lieblingsfach. Der Klassenbeste
in allen Fächern zu sein zeugte von mangelnder
Intelligenz, denn wer interessierte sich schon für
alles? War man der Beste in Chemie, klang das nach
dicker Brille und brauner Stoffhose. Aber der Beste in
Englisch zu sein, das war ehrenvoll und achtbar. Sozial
höhergestellt war nur noch der Beste in Sport, ein für
mich unerreichbarer Titel. (Jakob Hein: Liebe ist ein
hormonell bedingter Zustand, S. 47)
So stand ich an eine Wand gelehnt und versuchte, den
geistigen Zustand zu erreichen, in den mich immer die
Mathematikstunden versetzten, wenn Herr Dr. Schwerdt
mal wieder einen besonders unterhaltsamen Beweis aus
der kunterbunten Welt der Algebra an die Tafel malte.
Ein Zustand jenseits jedes Gedankens, Gefühl oder
Wunsches. Körperloses Schweben in einem geistigen
Vakuum. Wäre die Schule in Tibet gewesen und hätte Herr
Dr. Schwerdt keine Haare und statt seiner Pullunder
einen orangefarbenen Umhang getragen, wären wie beide
eine ganz große Nummer gewesen. (Jakob Hein: Liebe ist
ein hormonell bedingter Zustand, S. 81)
Über das Fahrrad als Transportmittel geht mir, wie ich
schon sagte, nichts. Einerlei, wie das Wetter ist, ich
weigere mich, ein anderes zu benutzen. Eines
Januartages schneite es heftig. Tags drauf taute es,
und der Schnee schmolz. Alsdann setzte ein scharfer
Nordwind ein, und die Straßen verwandelten sich in
Eisbahnen. Kühn wie stets schwang ich mich auf mein Rad
und strampelte Richtung Krankenhaus. Als ich den
Central Park erreichte, war mir klargeworden, daß es
wirklich saudumm war, bei solchem Wetter zu radeln.
Gleichwohl blieb ich entschlossen, Joe seine Post zu
bringen und noch einige Sachen, um die er gebeten
hatte. Der Wind blies mir ins Gesicht, und ich
schlitterte den Weg entlang. Weil ich nun aber schon
die halbe Strecke bewältigt hatte, meinte ich, es wäre
blöd, jetzt aufzugeben. Im Park war kaum Verkehr. (Ich
war der einzige Blödling, nur weigerte ich mich
verstockt, jetzt umzukehren.) Am Ausgang bei der 103.
Straße sah ich mich einer Kombinaion aus Schneewehen,
Harsch, einer steilen Abfahrt und heulendem Wind
gegenüber, und meine Überlebenschancen waren gleich
Null. Das Rad rutschte unter mir weg, ich schlug mit
dem Hinterkopf auf und sah Sterne. Gleich mußte ich an
Joe denken. "Du Schmock!" würde er sagen, "du bist ja
nicht mal krankenversichert!" Mein Kopf tat weh, sonst
aber war ich heil bis auf ein paar Schrammen. Der
Sattel des Rades stand quer, und die Handbremse war
verborgen. Joes kostbarer Mantel von Eddie Bauer hatte
auch was abgekriegt, aber davon abgesehen stand alles
zum besten. Ich dankte der Gottheit, die sich der
Kinder, der alten Leute und der Schwachsinnigen
erbarmt, und war glücklich, daß ich zu allem drei
Kategorien gehöre. (Joseph Heller: Überhaupt nicht
komisch, S. 148)
Dustin und ich kannten uns seit etwa zehn Jahren, und
wenn wir einander irgendwo begegneten, aßen wir
gemeinsam. Daß wir so gute Freunde geblieben sind,
liegt gewiß daran, daß wir nie eng befreundet waren.
Auch haben wir nie gemeinsam an einem Projekt
gearbeitet, und auch das dürfte sich positiv ausgewirkt
haben, so halten wir einer den anderen - womöglich
ganz irrig - für einen urteilsfähigen und
rücksichtsvollen Menschen. Unsere Freundschaft basiert
auf einem Übereinkommen, das ich vor Jahren einmal, und
nicht ganz spaßhaft, in die Worte faßte: Du brauchst
meine Bücher nicht zu lesen, ich deine Filme nicht
anzusehen. Sehe ich mir doch mal einen seiner Filme an,
so geschieht das anläßlich einer Premierenfeier; den
Film anzusehen, ist der Preis für die anschließende
Party und das kalte Buffet. Ich glaube, als er mich
besuchen kam, hatten wir uns ein oder zwei Jahre nicht
gesehen (Joseph Heller: Überhaupt nicht komisch, S. 81)
Ich glaubte, über das Bestimmende seiner Persönlichkeit
hinaus, das kräftig-männliche Selbstbewußtsein, das er
vor sich hertrug wie eine Monstranz, eine ihn völlig in
Anspruch nehmende, feinere Anspannung zu erkennen. Was
in diesem Gesicht über das gewohnte Bild hinaus an
Zeichnung oder Bedeutung erkennbar war, war nicht etwa
die lächerliche, größtenteils gespielte Angst vor dem
Autofahren oder vor dem in Grund und Boden hinein
vorverurteilten Einkaufzentrum. Antonin war müde und
schlaff. Seine Augen waren gereizt, die Nase schien
knochiger als früher. Die Haut war rau und trocken.
Sein Profil hatte etwas Hypnotisiertes, wie ein
Dürerbild. Als hätte er seinen Blick in die Ferne
richten wollen und wäre, noch bevor er den Horizont
ausmachen konnte, einem einzigen, überwältigenden
Gedanken verfallen. Es steckte ein fürchterlicheer
Ernst in diesem Puertoricaner, trotz der albernen
Vorstellung, die er geliefert hatte. Jetzt auf einmal
war er beinahe hager. Derselbe, den ich mir
gelegentlich als schnaubenden, gerade erst einem
tosenden Meer entstiegenen Gott der Antike vorgestellt
hatte, schien jetzt angegriffen und nervös. Zum ersten
Mal traten unter der wüsten Oberfläche Anzeichen von
Selbstzweifel und Verfall zu Tage. Von dem
Kraftmenschen, dem Bezwinger , als den ich ihn kennen
gelernt hatte, war nicht viel übriggeblieben. (Gregor
Hens: Himmelssturz, S. 101)
Für mein Halbjahreszeugnis erhielt ich fünf Mark fünfzig, weil ich
in Betragen, Rechtschreiben und Lesen Einsen und dann noch fünf
Zweien hatte. (...) Mit dem Geld ging ich nach Vallendar, um mir was
zu kaufen. "Tu, was du nicht lassen kannst", hatte Mama gesagt.
"Aber laß dir nicht wieder den letzten Strund andrehen!" Ich
entschied mich für ein Plastikschwert mit Plastikscheide. Die
Rittermaske, die dazugehörte, mit Visier, war zu teuer. "Mein lieber
Schwan!" sagte Mama. "Was hast du dir denn dafür abknöpfen lassen?"
"Drei Mark achtzig." "Und der Rest? Hast du den auch verplempert?"
"Nein." "Fünf fünfzig minus drei achtzig macht nach Adam Riese eins
siebzig. Zeig doch mal, wo du die hast!" Die hatte ich in
Zuckerspeck und Bluna angelegt. Adam Riese konnte mir gestohlen
bleiben. So ’n alter Opa, der in seiner mittelalterlichen Bude
Meerschaumpfeife geraucht und einen Scheißdreck nach dem andern
ausgerechnet hatte. (Gerhard Henschel: Kindheitsroman)
Gonnie war eine kleine Person, vorn flach, in den Hüften breit. Ihre
Frisur - von tiefem Blauschwarz - sah stets aus, als sei sie in
größter Eile entstanden, so herrlich ungezwungen. Ihr Gesicht war
überreichlich angemalt, mit einer alles andere als künstlerisch
begabten Hand und augenscheinlich ebenfalls in größter Eile. Ihre
hellbraunen Augen hatten nichts Sittsam-Weibliches an sich und schon
gar nicht den hochmütig-kühlen Ausdruck seiner Kaatje. Sie hatten
etwas Ermutigendes an sich, das heißt den ermutigenden Blick, mit
dem eine Kindergärtnerin ihre Zöglinge ansieht. (Willem Frederik
Hermans: Unter Professoren)
"Auf der einen Seite kommt die materialistische Dialektik nur dann
zu ihrem Recht, solange die Verbindung zur historischen Forschung
aufrechterhalten wird, auf der anderen Seite sehe ich diese
Dialektik als den theoretischen Ausdruck des Befreiungskampfes der
Arbeiterklasse", antwortete Ziska flink. (...) Was für ein Kopf,
dachte Dingelam. So schön. Aber angefüllt mit Sägemehl oder besser
gesagt Holzschliff, den man erhält, wenn man eine auf holziges
Papier gedruckte Ausgabe des "Kapitals" fein zermahlt und sich das
so gewonnene Produkt Löffel für Löffel einverleibt. (Willem Frederik
Hermans: Unter Professoren)
Das war der erste Tag der Ferien, und ich war praktisch schon am
Durchdrehen. (...) Ich weiß noch, dass ich irgendwann aus dem
Haus rannte und in den Wald rein und den Hügel rauf, und dann
fing ich an zu joggen. Ich joggte nicht wirklich, ich hatte keine
Sportsachen an, aber ich überholte ungefähr zwanzig Jogger pro
Minute. Ich rannte einfach durch den Wald und schrie, und alle
anderen, die durch den Wald rannten, gingen mir wahnsinnig auf
die Nerven, weil sie mich hörten, und als mir dann auch noch
einer entgegenkam, der mit Skistöcken spazieren ging, fehlte
wirklich nur ein Hauch, und ich hätte ihm seine Scheißstöcke in
den Arsch gekickt. Zu Hause stand ich stundenlang unter der
Dusche. Danach fühlte ich mich etwas besser, etwa so wie ein
Schiffbrüchiger, der wochenlang auf dem Atlantik treibt, und dann
kommt ein Kreuzfahrtschiff vorbei und jemand wirft eine Dose Red
Bull runter und das Schiff fährt weiter - so ungefähr.
(Wolfgang Herrndorf: Tschick)
Ein roter Paprika, ein gelber. Ich krame absichtlich
endlos herum, doch diesmal wird keine
Verkäuferinnen auf mich aufmerksam: 'Kann ich dir
helfen? Weißt du, es ist nicht sehr hygienisch, jedes
Stück Frischgemüse mit bloßen Händen anzugreifen!' -
Warum gibt es immer noch diese grünen Paprika?
Manchmal packt mich eine unbändige Lust, all diese
Kisten mit grünen Paprika auf den Boden zu kippen
und darauf herumzutrampeln. Warum können Spar-
Verkäuferinnen nicht Gedanken lesen? Um sie an den
Mann zu bringen, werden dies grünen Paprika jetzt
mit je einem roten und einem gelben kombiniert und
als 'Tricolore' verkauft. Ich wette, jeder Zweite ißt
den gelben und den roten und wirft den grünen in den
Mist. Rot-gelb-grün und Paprikairgendwas hat das
sicher mit Ungarn zu tun. Ungarn habe ich noch nie
gemocht. Schnurrbärte, Zahnärzte und das ganze
Csardás-Gehopse. (Paulus Hochgatterer: Über Raben,
S. 41)
Er richtete sich vorsichtig wieder auf und schaute an
sich hinunter. Er dachte an jene Klassifikation der
Männer nach ihrem Umgang mit der Morgenerektion,
die Kurkowski jedem seiner Kollegen zumindest
einmal aufgedrängt hatte, selbst dem Direktor.
Kurkowski würde mit Sicherheit nicht dabei sein; er
war viel zu faul. Außerdem: Wo Widmann war, war
niemals Kurkowski. Elvira hatte seine physiologische
Kopulationsbereitschaft nach dem Erwachen nie
nützen können. "Morgenmuffel versäumen viel von der
Welt", hatte er manchmal gesagt, und sie hatte ihn
dann blickmäßig vernichtet, jedes Mal. "Es existiert
keine Frau, die am Morgen gern fickt", sagte Frey, der
regelmäßig dabeistand, wenn Kurkowski seine
Einteilung präsentierte. Frey kannte alle Frauen.
(Paulus Hochgatterer: Über Raben, S. 48)
Drosch war in Summe ein ganz sympathischer Kerl,
völlig humorlos, aber sympathisch. Ohne jede
Hinterhältigkeit oder Aggressivität. Er war einem
nicht einmal böse, wenn man ihm zu verstehen gab,
daß man nicht das geringste Interesse an den Dingen
hatte, die er erzählte. Wie allen Menschen seiner
Sorte stand ihm ein trauriges Schicksal bevor.
Irgendeines dieser krakenartigen Wesen, ob sie nun
Widmann hießen oder Rothenberg oder anderswie,
würde ihn sich greifen und nicht mehr loslassen. In
fünfzehn Jahren würde er Schülern immer das Gleiche
vorbeten, als komisch gelten und öfter zum Hautarzt
gehen als nachts ins Freie. (Paulus Hochgatterer:
Über Raben, S. 50)
Vor mir schält Lukas Meineck ein Salamibrot aus der
Alufolie. Er schlägt seine Mausezähne hinein. Lilly
Bogner staucht ihn sicher nicht zusammen, sollte sie
es bemerken. Meineck ist so winzig, dass jeder
glücklich ist, der ihn essen sieht. Er hält Clemens,
seinem Sitznachbarn, das Brot hin. Clemens schüttelt
den Kopf. Er würde niemals abbeißen. Clemens ist der
unauffälligste Mensch dieser Welt. Keiner kann ihn
beschreiben, seine Noten sind ausnahmslos
durchschnittlich, ab und zu ein Ausreißer nach oben
oder unten, gerade so, daß es auch wieder
durchschnittlich ist. Familienname Schmidt.
Katalognummer fünfzehn. (Paulus Hochgatterer: Über
Raben, S. 72f.)
Es heißt, Gebhart hat zwei kleine Kinder zu Hause.
Ich stelle mir zwei Mini-Maden vor, die gelangweilt
vor dem Fernseher hocken und an etwas Amorphem
fressen. Grieskoch zum Beispiel. Ursprünglich haben
die Leute behauptet, er sei schwul, aber die meisten
von uns glauben das inzwischen nicht mehr.
Eigentlich ist es den meisten von uns egal geworden,
und das will schon etwas heißen, wenn es einer
Schulklasse egal ist, ob ein Lehrer schwul ist oder
nicht. (Paulus Hochgatterer: Über Raben, S. 131f.)
Es gibt Menschen, die haben überhaupt keine
Bodenberührung. Clemens ist zum Beispiel einer dieser
Permanentschweber. Wie auf einem Luftkissen gleitet er über
Treppen, Schotter, Grashalme, ständig einen Fingerbreit über
Grund, im Gesicht dabei diese nach innen gekehrte Arroganz,
diese Überheblichkeit von Amts wegen. Irgendwann einmal
wird er ihm eine knallen, einfach so, nicht brutal, sondern eine
mittelfeste, flach gehaltene Ohrfeige, eher eine kleine
politische Kundgebung als ein Gewaltakt. Überhaupt ist das
kontrolliert Brachiale eine chronisch vernachlässigte
Angelegenheit in der Darstellung weltanschaulicher
Positionen. Dabei geht es nicht primär um Zerstörung,
sondern um dort und da eine Handlung mit muskulärem
Nachdruck. Amtsautoritäten gehörten zum Beispiel
regelmäßig ein wenig geprügelt, Schuldirektoren, Polizisten,
Politiker sowieso, dagegen ließe sich doch nun wirklich nichts
sagen. (Paulus Hochgatterer: Die Süße des Lebens, S. 17)
Cejpek wurde nicht müde zu behaupten, er selbst sei ein
hundertprozentiger Naturwissenschaftler und die Psyche eine
höchst absurde Organisationsform von Materie. Andererseits
wies er Horn jeden zweiten seiner Patienten zur Begutachtung
zu. "Ein höherer Beamter in der Landesstraßenverwaltung",
erzählte er, "Ich war so stolz, daß wir seine Hypertonie in den
Griff bekommen haben, und jetzt wird er von Tag zu Tag
depressiver." "Das gibt es", sagte Horn. "Da bin ich aber froh",
ätzte Cejpek und griff sich ein Stück Lebkuchen. Horn grinste.
"Es ist immer besser, die Leute haben etwas, das man kennt",
sagte er. Lili Brunner schaute mißbilligend. Sie war in der
ärztlichen Kollegenschaft so was wie die Fahnenträgerin der
Ernsthaftigkeit. (Paulus Hochgatterer: Die Süße des Lebens,
S. 26)
"Lefti, sehe ich komisch aus?", fragte Ludwig Kovacs. Lefti, der
Besitzer des Lokals, stellte ein Glas naturtrübes Pils vor
Kovacs ab und musterte ihn. "Natürlich siehst du komisch aus,
Kommissar", sagte er, "das heißt, nicht du als Person, sondern
du hier auf meiner Terrasse mit dem Bier mitten im Winter, mit
der schwarzen Wollmütze an diesem einzigen, extra für dich
aufgestellten Tisch, mit all dem Schnee rundherum, und da
unten der See, der schon halb zugefroren ist, und wenn man
jetzt noch mitüberlegt, daß das ein marokkanisches
Restaurant ist, vor dem du da sitzt in deiner blauen
Wattejacke, die nicht wissen, ob wie zum Trinken die
Handschuhe ausziehen sollen oder nicht, nicht so häufig
vorkommen, wenn man das alles mitüberlegt, siehst du
komisch aus." "Da bin ich aber beruhigt", sagte Kovacs. Er
schlüpfte aus dem rechten Handschuh. (Paulus Hochgatterer:
Die Süße des Lebens, S. 89)
Franziska Zillinger ist achtundneunzig und fast blind. Ihre
Tochter ist vor einigen Jahren an Herzversagen gestorben,
das heißt, in Wahrheit an ihrer extremen Fettleibigkeit, und ihre
Enkelin, die eine erfolgreiche Bankangestellte ist, hat keine
Zeit, sie zu besuchen. Frau Zllinger liebt Kirchenlieder, das
macht die Sache ziemlich einfach. Er summt "Ein Haus voll
Glorie schauet", als er ihre Wohneinheit betritt, und sie sagt:
"Jö - ein Haus voll Glorie schauet", und fängt schon an zu
singen. Sie kann schätzungsweise acht bis zehn Strophen; er
kann drei, aber das macht nichts. Beim Refrain wird sie dann
unglaublich inbrünstig und das 'O laß im Hause Dein uns all'
geborgen sein' jauchzt sie in die Welt, als gelte es, sich auf der
Stelle die ewige Seligkeit zu ersingen. (Paulus Hochgatterer:
Die Süße des Lebens, S. 114)
Der Ire stellt den Passat haarscharf neben einem
Behindertenparkplatz ab und ich bin in diesem Moment
absolut sicher, daß ihn, genau wie mich, manchmal der
Drang überfällt, breit alle Behindertenparkplätze
dieser Welt zu besetzen. Ein Armutszeugnis für einen
zivilisierten Menschen, zugegeben, aber manchmal
schlägt einfach das Böse durch. Ich sehe dann
Schreiduelle mit Rollstuhlfahrern vor mir oder
Krückenattacken, sehe mich am Ende süffisant davongehen
und keiner zeigt mich an. (Paulus Hochgatterer: Eine
kurze Geschichte vom Fliegenfischen, S. 27)
"Sei froh, daß du aus dem Spital weg bist", sage ich
zum Iren. "Bin ich auch", antwortet er, "das normale
Leben ist krank genug." Der Ire behandelt einerseits
Menschen, die darauf bestehen, viermal pro Woche zu ihm
zu kommen oder, wenn sie schon nicht kommen, zumindest
viermal pro Woche zu bezahlen. Andererseits
supervidiert er hoffnungsvolle Ausbildungskandidaten
und hetzt sie gegen die Mafia der Lehranalytiker auf.
Manchmal trinkt er einfach Tee mit ihnen, und manchmal
gehen sie gemeinsam ins Kino und er zahlt die Karten.
In der Psychoanalytischen Vereinigung wissen das alle,
aber kein traut sich was gegen ihn zu tun. "Das macht
meine Größe", sagt er, "zwei Meter und hundert Kilo -
da scheißen sich auch die Reservefreuds an." (Paulus
Hochgatterer: Eine kurze Geschichte vom Fliegenfischen,
S. 42)
Kann der Künstler tiefer gekränkt werden, als wenn der
Pöbel ihn für seinesgleichen hält? - Und doch geschieht
dies alle Tage. Wie oft hat es mich angeekelt, wenn so
ein stumpfsinniger Bursche von der Kunst schwatzte, den
Goethe zitierte und sich bemühte, einen Geist der
Poesie hervorleuchten zu lassen, von dem ein einziger
Blitz ihn, den saft- und kraftlosen Schwächling,
zermalmt haben würde. Vorzüglich - nimm es nicht übel,
Freund! wenn du etwa eine Frau oder eine Geliebte der
Art haben solltest -, vorzüglich sind mir eure
vielseitig gebildeten poetischen, künstlerischen Weiber
in den Tod zuwider, und so gern ich mich von einer
feinen Mädchenhand streicheln lasse und meinen Kopf auf
eine zieliche Schürze lege, so ist es mir doch oft,
wenn ich so eine Frau ohne alles tiefe Gefühl, ohne
allen höheren Sinn ins Blaue schwatzen hörte, gewesen,
als müsse ich ihr in irgendeinen empfindlichen Teil
ihres Leibes mit meinen scharfen Zähnen einen tüchtigen
Denkzettel beißen. (E.T.A. Hoffmann: Nachricht von den
neuesten Schicksalen des Hundes Berganza)
In gewissem Sinn ist jeder nur irgend exzentrische Kopf
wahnsinnig und scheint es desto mehr zu sein, je
eifriger er sich bemüht, daß äußere matte, tote Leben
durch seine inneren glühenden Erscheinungen zu
entzünden. Jeden, der einer großen heiligen Idee, die
nur der höheren göttlichen Natur eigen, Glück,
Wohlstand, ja selbst das Leben opfert, schilt gewiß
der, dessen höchste Bemühungen im Leben sich endlich
dahin konzentrieren, besser zu essen und zu trinken und
keine Schulden zu haben, wahnsinnig, und er erhebt ihn
vielleicht, indem er ihn zu schelten glaubt, da er als
ein höchst verständiger Mensch jeder Gemeinschaft mit
ihm entsagt. (E.T.A. Hoffmann: Nachricht von den
neuesten Schicksalen des Hundes Berganza)
Hast du nicht bemerkt, wie die Maler meistens so
störrisch und eigensinnig sind, wie sie bei übler
Laune kein Lebensgenuß freut, wie die Dichter nur im
Genuß ihrer Werke sich wohlbefinden? Aber die Musiker
schweben geflügelten Fußes über alles hinweg; leckere
Esser und noch bessere Trinker, befinden sie sich bei der
guten Schüssel und bei der Prima-Sorte von allen
Sorten Wein im Himmel, alles um sich vergessend, sich
versöhnend mit der Welt, die sie zuweilen schadenfroh
stachelt, und gutmütig dem Esel verzeihend, daß sein
Ya keine reine Septime macht, weil er doch nun einmal
als Esel nicht anders singen kann - kurz, die Musiker
spüren den Teufel nicht, und säße er ihnen auf der
Ferse. (E.T.A. Hoffmann: Nachricht von den neuesten
Schicksalen des Hundes Berganza)
Ich: Aber warum lachen gemeine Menschen über
alles, was ihnen ungewöhnlich ist? Berganza:
Weil das Gewöhnliche ihnen so bequem geworden ist, daß
sie glauben, der, welcher es anders treibt und
hantiert, sei ein Narr, der sich deshalb mit der ihnen
fremden Weise so abquäle und abmartere, weil er ihre
alte bequeme Weise nicht wisse; da freuen sie sich
denn, daß der Fremde so dumm ist und sie so klug sind,
und lachen recht herzlich, welches ich ihnen denn auch
von Herzen gönne. (E.T.A. Hoffmann: Nachricht von den
neuesten Schicksalen des Hundes Berganza)
Alle verschrobenen, überbildeten oder geistig erstarrten
Weiber gehören, wenigstens nach dem fünfundzwanzigsten
Jahr, unerbittlich ins ospitale degli incurablili, es
ist mit ihnen nichts mehr zu machen. Die Blütezeit der
Frauenzimmer ist zugleich ihr eigentliches Leben, in dem
sie sich mit nie erschlaffender Kraft doppelt aufgeregt
fühlen, alle seine Erscheinungen begierig im Gemüte
aufzufassen. - Wie mit glühendem Purpur umsäumt die
Jugend alle Gestalten, daß sie wie verklärt dem
freudetrunknen Auge erglänzen, und ein ewig bunter
Frühling schmückt selbst die Dornenhecken mit süß
duftenden Blumen. (E.T.A. Hoffmann: Nachricht von den
neuesten Schicksalen des Hundes Berganza)
Eine verständige Frau, die, in früher Jugend gut
erzogen, frei von Irrtümern, aus der Blütezeit eine
wohltuende Ausbildung des Geistes hinübergebracht hat,
wird dir allemal eine angenehme Unterhaltung gewähren,
sobald du dir's gefallen lassen willst, in der Mitte zu
schweben und jeden höheren Forderungen zu entsagen; ist
sie geistreich, so wird sie nicht arm an witzigen
Einfällen und Wendungen sein, statt aber das Rein-
Komische rein gemütlich zu betrachten, sind diese dann
mehr in falschen Farben glänzende Ausbrüche eines
inneren Unmutes, die dich nur eine kleine Zeit hindurch
täuschen und belustigen können; ist sie schön, so wird
sie nicht unterlassen, auch kokett zu sein, und dein
Interesse an ihr wird in einen eben nicht löblichen
Faunismus (um nicht ein anderes verächtliches Wort zu
brauchen) ausarten, den ein in der Blütezeit stehendes
Mädchen bei keinem Manne erregt, der nicht im höchsten
Grade verderbt ist.
Zu nichts weniger schien aber Herr Peregrinus Tyß
aufgelegt als zum Heiraten. Denn außerdem, daß er
überhaupt im allgemeinen menschenscheu war, so
bewies er insbesondere eine seltsame Idiosynkrasie
gegen das weibliche Geschlecht. Die Nähe eines
Frauenzimmers trieb ihm Schweißtropfen auf die
Stirne, und wurde er vollends von einem jungen
genugsam hübschen Mädchen angeredet, so geriet er
in eine Angst, die ihm die Zunge band und ein
krampfhaftes Zittern durch alle Glieder verursachte.
Ebendaher mocht' es auch kommen, daß seine alte
Aufwärterin von solch seltner Häßlichkeit war, daß sie
in dem Revier, wo Herr Peregrinus Tyß wohnte, vielen
für eine naturhistorische Merkwürdigkeit galt. Sehr
gut stand das schwarze struppige, halb ergraute Haar
zu den roten triefenden Augen, sehr gut die dicke
Kupfernase zu den bleich-blauen Lippen, um das Bild
einer Blocksberg-Aspirantin zu vollenden, so daß sie
ein paar Jahrhunderte früher schwerlich dem
Scheiterhaufen entgangen sein würde, statt daß sie
jetzt von Herrn Peregrinus Tyß und wohl auch noch
von andern für eine sehr gutmütige Person gehalten
wurde. (E.T.A. Hoffmann: Meister Floh)
Mir fällt immer was ein, sagte Lichtenberg, das ist
nicht die Frage! Die Frage ist, wie's am Himmel
weitergeht! Dann hörte er es wieder donnern, und lief
aus dem Saal. Weil er so viel Phantasie besaß,
fürchtete er sich vor vielen Dingen: Wasser, das
vergiftet war, Eis, auf dem man einbrach, Treppen,
die man hinunterfiel. Blitz und Donner fürchtete er
auch. Über die Hälfte seines Lebens hatte er nun
hinter sich, er wußte es bloß nicht. Wie die meisten
dachte er, alles ginge so weiter. Wenn ihn beim Gang
durch die Stadt ein Leichenwagen überholte,
schüttelte er den Kopf und rief: Nein, noch nicht!
Dann winkte er ihn weiter. Andererseits, sagte er,
bitte auch nicht ewig! Das wäre mir zu lang! (Gert
Hofmann: Die kleine Stechardin, S. 112)
Die kindlichen Vorstellungen von der politischen Welt
sind in der Regel ziemlich abstrakt. Bei einer
amerikanischen Studie hatten mindestens siebzig
Prozent der Kindergartenkinder die Verkäufer in
Süßigkeitenläden für staatliche Angestellte gehalten;
außerdem waren sie überzeugt, in der Hierarchie der
Macht stehe der Polizist gleich unter dem
Präsidenten. (Chloe Hooper: Märchen eines wahren
Mordes, S. 102)
Ich hielt den Atem an. Vor uns ragte ein weißes
Herrenhaus mit weitläufiger Veranda auf. Erbaut in
den siebziger jahren des neunzehnten Jahrhunderts
für reiche Tasmanier und hundert Jahre später in ein
Hotel garni für gehobene Ansprüche umgewandelt.
Die gesamte Anlage barst vor Stolz: eine überladene
Zuckerbäcker-Architektur, liebevoll glasiert, von
Bäumen mit Zweigen wie Naschwerk eingefaßt. Wenn
man sich einfallen ließe, ein Stück Gesims
abzubrechen, um daran knabbern, hätte man Vorwürfe
zu erwarten. (...) Ich brauchte einen Moment,
um mich an die viktorianische Umgebung zu
gewöhnen. Ich hatte mir ein Motelzimmer
vorgestellt: Spiegel mit grausamen,
porenerweiterndem Neonlicht, neben dem
Telefon ein Notizblock mit dem Gekritzel
der Vorgänger. Stattdessen ein Himmelbett und
in einer Ecke ein Spinnrad. Wer immer den
Raum eingerichtet hatte, unterhielt ein
inniges Verhältnis zu Tapeten. (Chloe Hooper:
Märchen eines wahren Mordes, S. 18f.)
Im holzgetäfelten Speisesaal, wo ihre
Klassenkameradinnen französische Konversation zu
machen versuchten, starrte Margot auf ihr Besteck.
Sie hatte sich immer vorgestellt, Messer und Gabel
seien verheiratet, und der Löffel sei ihre Tochter.
Jetzt erkannte sie, daß Messer und Löffel keine
Familie waren, sondern auf der Leinenserviette ein
Verhältnis miteinander hatten. Das war der Grund,
weshalb die Gabel auf der anderen Seite des
Platzdeckchens immer allein war und vor Wut
schäumte. (Chloe Hooper: Märchen eines wahren
Mordes, S. 85)
Margot Harvey kam kurz nach dem Zweiten Weltkrieg
in einer angesehenen tasmanischen Familie mit
ausgeprägten christlichen Wertvorstellungen zur
Welt. Ich bin sicher, daß sie ermutigt wurde, ein
nettes Mädchen zu werden, nicht zu klug und nicht zu
eigenwillig. In ihrer Jugend ging sie zweifellos nur mit
Hut und Handschuhen aus, wohin auch immer sie
unterwegs war; und vermutlich wird sie, wie meine
Mutter, erst mit mindestens zwanzig zum ersten Mal
das Wort Scheiße gehört haben. (Chloe Hooper:
Märchen eines wahren Mordes, S. 83)
"Leg dich neben mich", sagte das kleine Mädchen. Er
legte sich auf den Teppich neben ihr Bett; ein
Lichtkeil fiel auf seine Füße. Er hatte überall im Haus
die Lichter brennen lassen. Hatte auch die Türen
offen gelassen, damit man die Lichter sah. Jede
Nacht dachte er daran, welche Lichter mit welchen
Türen im Wechselbeziehung standen: die prekäre
Mathematik der Angstbeherrschung. (Chloe Hooper:
Märchen eines wahren Mordes, S. 180)
Die Konzentrationsspanne der Kinder war nicht
unerschöpflich, und es dauerte nicht lang, bis ihre
spreizbeinigen Posen mit den Händen auf den Hüften
ein wenig aufweichten. Ein Feldspieler stemmte einen
Arm in die Taille, Hüften schwangen im Kreis. Ein
anderer drapierte beiläufig ein Handgelenk über den
Kopf: ein kleiner sterbender Sklave. In der Sonne
leucheten die weißen Hemden und Hosen wie bleicher
Marmor. Ein Schmetterling flatterte über die
Spielbahn, ein heller Fleck auf der Netzhaut. Wenn ich
die Jungen ansah, mußte ich mir die Augen
abschirmen. Sie waren Statuen auf gepflegtem Rasen,
jeder in einer Haltung, die ein Edelmann zur Erbauung
anderer Pädophiler entworfen hatte. Dies war sein
Garten, seine Augenweide, und jede Figur stand in
stummem Dialog mit den anderen. Wenn Kinder aus
der Erbsünde geboren werden, so half Luciens Statue
den übrigen, an Verruchtheit nichts zu verlieren. Die
Erwachsenen ahnten nicht, daß dieses Kind, trotz
seiner mangelnden Beliebtheit, die Gespräche der
Kinder über die Vorzügen der Hölle anführte. (Chloe
Hooper: Märchen eines wahren Mordes, S. 186)
An den Tischen gerieten die Manieren ins Wanken. Die ganze
Anstrengung richtete sich jetzt auf die Beherrschung von
Messern und Gabeln über dem Abgrund, und hätten der
Klempner und ich nicht gelegentlich unsere Arme nach dem
Stuhl des Geopgraphen ausgestreckt, er wäre zwischen uns
samt Teller und Suppe ins Nichts gerutscht. Dabei sind die
Regeln einfach und rasch zu erlernen: Bei schlechtem Wetter
Verzicht auf die Suppe. Den Kaffee, den Tee, das Wasser nur
auf halbe Höhe einschenken und immer die Zeit zwischen
zwei Wellen nutzen, um voranzukommen. Im Zweifelsfall
essen statt sprechen und immer eine Hand an der Kante des
Tisches. Man muß sich vertäuen, verankern, einrasten wie die
Türen und Schubladen an Bord. (Felicitas Hoppe: Pigafetta, S.
15/16)
Die Leute kommen gerne zu dem vorschnellen Urteil,
dass einer, der am Silvesterabend mit einem
beschissenen kleinen Moped für einen Hungerlohn im
Londoner Norden Pizzas ausliefert, ein echter Loser
sein muss, der aller Wahrscheinlichkeit nach nicht
gerade die Pizza Calzone erfunden hat. Okay, wir sind
Loser per definitionem, Pizzabote ist nun mal ein Job
für Loser. Aber wir sind nicht alle verblödete
Arschlöcher. Genau genommen war ich sogar trotz
Faulkner und Dickens wahrscheinlich der Dümmste
von allen Jungs in dem Laden, zumindest der mit dem
niedrigsten Bildungsniveau. Bei uns gab es
afrikanische Ärzte, albanische Rechtsanwälte,
iranische Chemiker ... ich war der Einzige ohne
akademischen Grad. (Ich begreife nicht, wieso es in
unserer Gesellschaft nicht mehr Gewalttaten durch
Pizzaboten gibt. Stellt euch bloß vor, ihr wärt eine
große Nummer in Zimbabwe, Hirnchirurg oder was
auch immer, und dann müsstet ihr nach England
abhauen, weil das faschistische Regime euren Arsch
an die Wand nageln will, und am Schluss müsst ihr
euch von einem zugekifften Teenager, der um drei
Uhr morgens Fressanfälle kriegt, großkotzig
behandeln lassen ... Sollte man da nicht offiziell
berechtigt sein, ihm den Unterkiefer zu brechen?)
(Nick Hornby: A long way down)
Die Wahrnehmung des Egos ist immer schmerzhaft. Wenn
man sich seines Egos bewusst wird, wird man sich auch
seiner Endlichkeit bewusst. Also könnte man folgern,
dass unsterbliche Menschen ein viel kleineres
Bewusstsein ihres Egos hätten. Wenn man weiß, dass man
sterben muss, hat man ein viel stärkeres Bedürfnis,
sich als Wesen zu behaupten. Dann stürzt man sich
hilflos in alles, was Auflösung im Nichts verspricht.
Wer nur hatte die Legende verbreitet, Frankreich sei
das Land der losen Sitten und des ausschweifenden
Lebenswandels? Frankreich war ein beknacktes Land,
ein völlig beknacktes, vom Amtsschimmel
beherrschtes Land. "Ich habe mir auch den Rücken
massieren lassen, aber das Mädchen hat auch meine
Eeier dabei nicht vergessen...", warf ich ohne große
Überzeugung ein. Da ich gerade auf Cachounüssen
kaute, hörte niemand meine Bemerkung, bis auf
Sylvie, die mir einen entsetzten Blick zuwarf. Ich
trank einen Schluck Bier und hielt ihrem Blick
ungeniert stand: War diese Frau überhaupt fähig, sich
ordentlich um einen Pimmel zu kümmern? Der Beweis
dafür stand noch aus. In der Zwischenzeit konnte ich
auf meinen Kaffee warten. (Michel Houellebecq:
Plattform, S. 65)
Ich sah meinen Vater wieder vor mir, ans Bett
gefesselt, niedergestreckt von einer plötzlichen
Depression - etwas Furchtbares für einen so aktiven
Mann; seine Bergsteigerfreunde standen verlegen um
ihn herum, waren hilflos angesichts dieses Übels.
Wenn er soviel Sport trieb, hatte er mir eines Tages
erklärt, dann deshalb, um sich abzustumpfen, um sich
am Denken zu hindern. Das war ihm gelungen: Ich
war überzeugt, daß er es geschafft hatte, durchs
Leben zu gehen, ohne das menschliche Dasein je
wirklich zu hinterfragen. (Michel Houellebecq:
Plattform, S. 65)
Ich war völlig dem Zeitalter der Information, einer
Luftblase also, angepaßt. Valerie und Jean-Yves
konnten - ähnlich wie ich - lediglich mit Informationen
und Kapital umgehen; sie benutzten sie auf kluge
und wettbewerbsfähige Weise, während ich es auf
routinierte, bürokratische Weise tat. Aber keiner von
uns dreien und auch niemand, den ich kannte, wäre
zum Beispiel im Fall einer Blockade durch eine
ausländische Macht imstande, für die Wiederbelebung
der industriellen Produktion zu sorgen. Wir hatte
keine Ahnung von Metallgießerei, der maschinellen
Fertigung von Einzelteilen, vom Thermoformen von
Kunststoff. Ganz zu schweigen von neueren
Gegenständen wie Glasfasern oder Milroprozessoren.
Wir lebten in einer Welt aus Gegenständen, deren
Herstellung, Möglichkeitsbedingungen und Seinsweise
uns völlig fremd waren. Erschrocken über diese
Erkenntnis blickte ich mich um: Ich sah ein Handtuch,
eine Sonnenbrille, Sonnencreme und ein Taschenbuch
von Milan Kundera. Papier, Baumwolle, Glas: Alles
Dinge, die hochentwickelte Maschinen, komplexe
Herstellungssystem erforderten. (Michel Houellebecq:
Plattform, S. 214)
Wenn Jean-Yves' Vater seine ganz persönliche
Überzeugung, den tieferen Sinn, den er im Leben sah,
hätte darlegen sollen, hätte er vermutlich nur eine
leichte Enttäuschung geäußert. Tatsächlich
beschränkte sich sein Lieblingssatz, der Satz, den er,
soweit Jean-Yves sich erinnern konnte, am häufigsten
ausgesprochen hatte und der am besten seine
Erfahrung des menschlichen Lebens zusammenfaßte,
auf die Worte: "Man wird älter." Der Mutter ging sein
Tod in geziemender Weise zu Herzen - immerhin
verband sie ein langes, gemeinsames Leben -, ohne
daß sie wirkliche Erschütterung zeigte. "In der letzten
Zeit haben seine Kräfte immer mehr nachgelassen...",
sagte sie. Die Todesursache war so ungewiß, daß
man ebensogut von allgemeiner Erschöpfung oder gar
Entmutigung hätte sprechen können. "Er hatte zu
nichts mehr Lust...", sagte Jean-Yves' Mutter auch
noch. Das war in etwa ihre Leichenrede. (Michel
Houellebecq: Plattform, S. 272f.)
Es gab viele Wege, um zu Geld zu kommen, ehrliche
und unehrliche, geistige oder im Gegenteil brutale,
körperliche Methoden. Man konnte aufgrund von
Intelligenz, von Talent, von Kraft oder von Mut und
sogar von Schönheit zu Geld kommen; man konnte
auch durch einen banalen Glücksfall dazu kommen.
Meistens kam man wie in meinem Fall durch eine
Erbschaft zu Geld; dann wurde das Problem auf die
vorherige Generation verschoben. Ganz
unterschiedliche Leute waren auf dieser Erde zu Geld
gekommen: ehemalige Hochleistungssportler,
Gangster, Künstler, Mannequins, Schauspieler, eine
große Anzahl von Unternehmern und gewieften
Finanzleuten; auch ein paar Techniker und seltener
ein paar Erfinder. Manchmal kam man auch durch rein
mechanische Anhäufung zu Geld; oder im Gegenteil
durch einen von Erfolg gekrönten mutigen Coup. All
das ergab kaum Sinn, spiegelte aber eine große
Vielseitigkeit wider. Im Gegensatz dazu waren die
Kriterien der sexuellen Wahl übertrieben einfach: Sie
beschränkten sich auf Jugend und körperliche
Schönheit. Diese Eigenschaften hatten gewiß einen
Preis, aber keinen unendlichen Preis. Die Situation
war natürlich in den vorangegangenen Jahrhunderten,
zu Zeiten, als die Sexualität im wesentlichen noch
mit der Fortpflanzung verbunden war, anders
gewesen. Um den genetischen Wert der Gattung zu
erhalten, mußte die Menschheit damals unbedingt
Kriterien wie Gesundheit, Stärke, Jugend und
Körperkraft berücksichtigen - wovon die Schönheit nur
eine praktische Synthese war. Heute ist die Lage
anders: Die Schönheit behielt ihren ganzen Wert,
aber es handelte sich um einen narzißtischen Wert,
aus dem man Kapital schlagen konnte. (Michel
Houellebecq: Plattform, S. 281)
Meine europäischen Vorfahren hatten mehrere
Jahrhunderte lang schwer gearbeitet; sie hatten es
sich zur Aufgabe gemacht, die Welt zu beherrschen
und sie dann umzugestalten, und in gewisser Weise
ist es ihnen gelungen. Sie machten es aus
wirtschaftlichen Interesse und Freude an der Arbeit,
aber auch weil sie an die Überlegenheit ihrer
Zivilisation glaubten: Sie erfanden den Traum, den
Fortschritt, die Utopie und die Zukunft. Dieses
Bewußtsein einer zivilisatorischen Mission verlor sich
jedoch im Laufe des 20. Jahrhunderts allmählich. Die
Europäer, zumindest einige unter ihnen, arbeiteten
weiterhin, manchmal sogar sehr hart, aber sie taten
es aus Interesse oder aus neurotischer Liebe zu ihrer
Aufgabe; das unschuldige Bewußtsein ihres
natürlichen Rechts, die Welt zu beherrschen und
deren Geschicke zu lenken, war verschwunden.
(Michel Houellebecq: Plattform, S. 282)
Ich hatte in meinem Leben Leid, Beklemmung und
Angst erlebt, nur Langeweile, die kannte ich nicht. Ich
hatte nichts gegen die stumpfsinnige Wiederholung
des ewig Gleichen einzuwenden. Selbstverständlich
machte ich mir nicht die Illusion, daß es soweit
kommen konnte. Ich wußte, daß das Unglück zäh,
erfinderisch und hartnäckig ist; auf jeden Fall war das
eine Aussicht, die mir nicht die geringste Sorge
einflößte. Als Kind konnte ich Stunden damit
verbringen, den Klee auf einer Wiese zu zählen: in
mehrjähriger Suche habe ich nie ein vierblättriges
Kleeblatt gefunden, und dennoch war ich darüber
weder enttäuscht noch verbittert; ehrlich gesagt,
hätte ich genausogut Grashalme zählen können, denn
all dieser dreiblättrige Klee kam mir wahnsinnig
identisch, wahnsinnig schön vor. (Michel Houellebecq:
Plattform, S. 303)
Sobald ich meinen Koffer auf den staubigen Boden
des Busbahnhofs gestellt hatte, wußte ich, daß ich
am Ende meines Weges angekommen war. Ein alter,
bis zum Gerippe abgemagerter Junkie mit langem,
grauen Haar, der eine große Eidechse auf der Schulter
sitzen hatte, bettelte vor den Drehtüren. Ich gab ihm
hundert Baht, ehe ich gegenüber in den Heidelberger
Hof ging, um ein Bier zu trinken. Dickbäuchige,
schnurrbärtige deutsche Päderasten stolzierten in
Hawaihemden durch das Lokal. Nicht weit von ihnen
wanden sich drei junge russische Mädchen im
Höchststadium der Beknacktheit zur Musik ihres
ghettoblaster. (Michel Houellebecq: Plattform, S. 332)
Eine Angestellte in relativ hohem Alter, die zwischen
den Tischen den Boden aufwischte, näherte sich ihnen
und warf ihnen unwirsche Blicke zu. Sie schien nicht
nur erschöpft und entmutigt, sondern voller Erbitterung
über die ganze Welt zu sein, sie wrang den Putzlappen
über ihrem Eimer in einer Weise aus, als ließe sich für
sie die Welt darin zusammenfassen: eine zweifelhafte,
von Schmutzschichten aller Art bedeckte Oberfläche.
(Michel Houellebecq: Karte und Gebiet, S. 347)
... gingen sie auf ein Getränk in das Bistro 'Chez
Claude' in der Rue du Chateau-des-Rentiers, das später
zu ihrer Stammkneipe werden und Jed den Stoff für sein
zweites Bild der 'Serie einfacher Berufe' liefern
sollte. Der Wirt blieb stur dabei, den letzten Rentnern
aus "einfachen Kreisen" im 13. Arrondissement billigen
Rotwein und Sandwiches mit Leberpastete und
Gewürzgurken zu servieren. In jedem Jahr starb einer
von ihnen fast methodisch, ohne daß er durch einen
neuen Gast ersetzt wurde. Ein Stück weiter saß eine
dicke Frau mit vom Alkohol geröteten Wangen und leerte
ihr Glas Pastis in einem Zug. "Die Leute haben sich
angewöhnt, sich nur eine halbe Stunde für das
Mittagessen zu gönnen und immer weniger Alkohol zu
trinken; der Todesstoß war dann das Rauchverbot."
(Michel Houellebecq: Karte und Gebiet, S. 106)
Der Gärtnerberuf, so sprach der alte Mann vor sich
hin, sei ein Bückberuf. Aber der Gärtner, anders als
die schäbigen Servierkellner, beuge sich niemals vor
den Menschen, nein, er verneige sich vor den
Restbeständen des Paradieses. Denn jede
Gartenanlage sei das Bemühen um die
Wiederherstellung des ersten Gartens, Eden genannt,
und dorthin, nicht etwa in eine leere Ewigkeit, kehre
der Mensch zurück. (Thomas Hürliman: Das
Gartenhaus, S. 90)
Das Telefon, das ihn soeben zu einer Verlängerung
seiner Einsamkeit verurteilt hatte, stand dicht neben
dem Symbol und Schauplatz seiner ehelichen Seligkeit.
"Nein, das ist das unrichtige Wort" schaltete Rivers
ein. "'Ehelich' impliziert eine gegenseitige Beziehung
zwischen zwei vollerwachsenen Personen. Aber für Henry
war Katy keine Person; sie war seine Nahrung, sie war
ein lebenswichtiges Oragn seines eigenen Körpers. Wenn
sie abwesend war, glich er einer ihres Heus beraubten
Kuh, einem Gelbsüchtigen, der sich müht, ohne Leber zu
existieren. Es war eine Qual für ihn. 'Vielleicht
sollten Sie sich lieber für eine Weile hinlegen', sagte
ich in dem süßlich überredenden Ton, den man
unwillkürlich annimmt, wenn man zu einem Kranken
spricht. Ich wies mit der Hand auf das Bett. Seine
Antwort war das, was geschieht, wenn man niest, während
man einen mit Neuschnee bedeckten Berghang quert - eine
Lawine. Und was für eine Lawine! Nicht von der weißen,
jungfräulichen Art, sondern ein heißer, brodelnder
Dungrutsch. Es stank; es erstickte, es überwältigte
einen. (Aldous Huxley: Genie und Göttin)
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