Allgemeine Fundstücke  / [H1]


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Haas, Oliver: 101 Gründe ohne Frauen zu leben [1]

  In unserer immer pubertierenden Vorstellung ist ein Frauenarzt ein Mann, der morgens mit einem Lächeln auf den Lippen aufsteht und dessen beneidenswerter Arbeitstag mit den Worten beginnt: "Dann machen Sie sich doch mal bitte frei!" Aus eigener bitterer Erfahrung kann ich Ihnen allerdings verraten, wie Sie dieses bohrenden Neids Herr werden. Gehen Sie doch mal mit Ihrer Freundin zum Frauenarzt und sehen sich im Wartezimmer unauffällig ein bißchen um. Und dann bemühen Sie wieder Ihre Phantasie und stellen sich alles textilfrei vor, was sich da Ihrem Auge bietet. Und schon wissen Sie, daß man einen Frauenarzt nicht immer nur am Lächeln, sondern manchmal auch am grünlichen Gesicht erkennt. (Jens Oliver Haas: 101 Gründe ohne Frauen zu leben, S. 25f.)


Haas, Oliver: 101 Gründe ohne Frauen zu leben [2]

  Viel Gemüse, Körner und Salate, kein Fleisch. Dazu keinen Alkohol, keine Zigaretten und nichts Süßes. Das, so wird Ihnen immer wieder erklärt, reinige Körper und Geist und führe zu einem langen und gesunden Leben. Ich bin ja grundsätzlich dafür, das jede These, die meine Gesundheit betrifft, erst mal im Tierversuch überprüft wird. Und soviel ich weiß, sind Gemüse, Körner und Salate die bevorzugten Nahrungsmittel von Goldhamstern. Davon hatte ich zwei Stück - und keiner ist älter als fünf Jahre geworden. Soviel zum langen Leben. (Jens Oliver Haas: 101 Gründe ohne Frauen zu leben, S. 51)


Haas, Oliver: 101 Gründe ohne Frauen zu leben [3]

  "Wann beginnt eigentlich der Winterschlußverkauf?" Woher sollen wir das wissen? Wir könnten uns das vielleicht merken, wenn man den Winterschlußverkauf endlich mit dem Beginn der Winterpause in der Fußballbundesliga zusammenlegen würde. Außerdem erinnern wir uns an den Termin grundsätzlich nie, weil wir den Winterschlußverkauf hassen. Denn für uns endet er immer gleich: Mit einem Minus von 1200 Mark auf unserer Kreditkarte. Und einer Frau/Freundin, die uns versichert, sie habe uns mit ihren Einkäufen mindestens weitere 2000 Mark gespart. Denn schließlich hätten wir dafür jetzt für wenig Geld diese superschicke Thermoausrüstung für Schlittenhundeführer, die Bergstiefel mit Gasheizung und den Tibet-Schlafsack, der garantiert bis minus 50 Grad warm hält. Womit wir natürlich wenig anfangen können, weil wir seit 10 Jahren keinen Winterurlaub mehr gemacht haben und in der deutschen Stadt leben, die seit 5 Jahren keine Schneeflocke mehr gesehen hat, die länger als 10 Sekunden liegengeblieben wäre. (Jens Oliver Haas: 101 Gründe ohne Frauen zu leben, S. 79)


Haas, Wolf: Der Knochenmann [1]

  Vom Farbfernseher haben sie damals beim Löschenkohl nur träumen können, und beim Schwarzweißen hast du am Anfang froh sein müssen, wenn du ein Bild gehabt hast. Weil oft einmal nur Ton, ohne Bild, und dann wieder nur Bild, aber kein Ton. Und da hast du einen Knopf gehabt, da hast du es dir aussuchen können, lieber ein gutes Bild oder lieber einen guten Ton. Oder ein Kompromiß, schlechteres Bild, aber dafür ein bißchen Ton. Oder du hast den lästigen Streifen drinnen gehabt, ein halbes Bild über dem Streifen, ein halbes Bild darunter, und der Pele ist mit seinen Puma-Schuhen auf seinem eigenen Kopf spazierengegangen. (Wolf Haas: Der Knochenmann)


Haas, Wolf: Der Knochenmann [2]

  Er hat sich jetzt erinnert, wie sie bei der Kripo einmal eine ganze Nacht im Bereitschaftsraum gesessen sind, und nicht ein einziger Einsatz ist hereingekommen. Sie haben bis vier Uhr früh Mau- Mau gespielt, um einen Schilling pro Punkt, und auf einmal ist der Oberascher zum Giftschrank hinausgegangen und mit dem Kokain, das sie am Vortag beschlagnahmt haben, wieder hereingekommen. Und das ist ja das Gefährliche an diesem Teufelszeug, daß du oft Jahre danach noch so einen Rückfall haben kannst, auf einmal reißt es dich wieder hinein in den Rausch, mitten am hellichten Tag, obwohl du seit Jahren nichts mehr genommen hast. Und da haben sie sogar ein eigenes Wort dafür: backlash, also englisch, weil das muß so furchtbar sein, daß man es sich auf deutsch gar nicht sagen traut. (Wolf Haas: Der Knochenmann)


Haas, Wolf: Der Knochenmann [3]

  Der Brenner ist sowieso Spezialist gewesen, wenn er etwas nicht hören hat wollen. Weil wenn du zwei Jahrzehnte in Wachstuben und Polizeibüros verbringst, dann bist du vielleicht ein bißchen Spezialist beim Rauschgift, oder ein bißchen Spezialist bei Mord, oder ein bißchen Spezialist bei Betrug. Aber voller Spezialist bist du immer nur beim Weghören. Weil Tag und Nacht der Kollege am anderen Schreibtisch, und die Sekretärin handelt am Telefon ihre Scheidung aus, wer letzten Endes den Wellensittich bekommt und wer nur Besuchsrecht. Wenn du da nicht Weghörspezialist bist, überlebst du kein halbes Jahr. (...) Aber die Kunst beim Weghören ist natürlich, daß du im richtigen Moment wieder zuhörst. Darum sage ich ja: Spezialist. Weil weghören kann bald einmal einer. Aber mitten im totalen Weghören im entscheidenden Moment wieder zuhören, das macht den Könner aus. (Wolf Haas: Der Knochenmann)


Haas, Wolf: Der Knochenmann [4]

An den Wänden sind noch ein paar verrostete Werkzeuge gehängt, zum Teil schon richtig überwachsen von dem Moos und Gras, das sich in den Jahren zwischen den Holzbalken breitgemacht hat. Weil natürlich, die Natur ist da erbarmungslos. Zuerst ist der Mensch erbarmungslos, baut alles in die Natur hinein, was ihm einfällt, aber die Natur auch nicht vornehm, wenn der Mensch kurz nicht hinschaut, ist schon wieder alles zugewachsen. Da sind wirklich einmal zwei Brutale zusammengekommen, und tut mir keiner leid. (Wolf Haas: Der Knochenmann)


Haas, Wolf: Wie die Tiere [1]

  Der Brenner hat eine Leistung gezeigt, da hätte man direkt an eine ausgleichende Gerechtigkeit glauben können. Dass ein Mensch, der jahrzehntelang die Dynamik ein bisschen unter Verschluss hält, es dann alles auf einmal zurückkriegt, quasi Lawine. Wo man schon fast sagen muss, Vorsicht, nicht dass es dir geht wie diesen Hunden, die man nach drei Tagen Hausarrest wieder aus der Hundehütte lässt und die sich dann oft vor lauter Lebensfreude am Gartenzaun das Genick brechen. (Wolf Haas: Wie die Tiere)


Haas, Wolf: Wie die Tiere [2]

  Wenn du heute als Politiker einen Hund nur schief anschaust, Wahldebakel schon fertig, da brauchst du gar nicht mehr antreten. Ja im Gegenteil, du musst als Politiker selber einen Hund haben oder zumindest einen Ehepartner mit einem schönen Hund. Schöner Hund viel wichtiger als schöner Ehepartner, haben sie herausgefunden, weil schöner Ehepartner löst Neid aus, schöner Hund aber nicht Neid, sondern Liebe, so sind die Leute. (Wolf Haas: Wie die Tiere)


Haas, Wolf: Wie die Tiere [3]

  Jetzt natürlich großer Fragesturm bei den Früchtchen-Eltern. (...) Was ist eine Verkehrte? Verkehrte natürlich leicht zu erklären, mit der flachen Hand klatscht die Ohrfeige zwar lauter, brennt ein bisschen, beschämt dich bis auf die Knochen, tut aber weiter nicht weh, außer du hast Pech und es zerreißt dir das Trommelfell. Mit der Verkehrten klatscht es viel weniger, ist aber natürlich schon am halben Weg zum Faustschlag, weil die Knöchel sind hart und das Jochbein ist ja beim Menschen nicht viel wert, das geht schon aus dem Leim, wenn du falsch hustest. (Wolf Haas: Wie die Tiere)


Haas, Wolf: Silentium!

  Weil die Kinder von den reichen Leuten haben es auch nicht immer leicht. Natürlich, 90 Prozent zum Vergessen, weil die Ausbildung zum Cabriofahrer überstehen ja nur die wenigsten ohne Hirnverkühlung. Aber andererseits, 90 Prozent von den normalen Leuten auch zum Vergessen! Ist natürlich schon wahr, daß Geld den Charakter verdirbt, bin ich der letzte, der das bestreitet. Aber Armut verdirbt auch den Charakter, Mitteldings verdirbt auch den Charakter. Charakter überhaupt ein sehr empfindliches Gemüse. Jetzt vielleicht kleiner Trost: Manche Gemüse schmecken erst so richtig, wenn sie schon ein bißchen am Hinübersinken sind. (Wolf Haas: Silentium!)


Hamsun, Knut: Gedämpftes Saitenspiel [1]

  Seine Begabung war ganz gering, er sah aus, als nähme er sehr viel Nahrung zu sich, er war dick und tierisch kräftig. Aber es schien etwas Ungesundes, etwas Idiotisches über ihm zu sein, seine Ergebenheit in sein Schicksal war zu unverständlich. Solche Hoffnungsfreudigkeit setzt einige Dummheit voraus, dachte ich, es bedarf eines gewissen Grades von Minderwertigkeit, um dauernd mit dem Leben zufrieden zu sein und sich noch dazu etwas neues und Gutes zu erwarten. (Knut Hamsun: Gedämpftes Saitenspiel, S.14)


Hamsun, Knut: Das letzte Kapitel

  Der Doktor (...) war ein braver Bauernjunge, der studiert hatte. Aber kein Zweifel, er meinte es gut, das zeigte er in seiner Sorge um die Patienten. Wer war ein so seelenguter Allerweltsfreund wie er! Oft übertrieb er und machte sich selber klein, um andern zu dienen, ja, andern zuliebe konnte er sogar die Bedeutung seiner Stellung als Arzt verwischen und etwa sagen: Dies oder jenes Übel können Sie, Herr Bertelsen, bei Ihrer Bildung und Intelligenz leichter durch Massage kurieren, als ich es mit meinen Tropfen kann. Konnte ein Arzt so etwas sagen, ohne dabei zu verlieren? Die Folge war, daß Herr Bertelsen, der an die Tropfen glaubte, aufhörte, an den Arzt zu glauben. Doktor Öyens Fehler war, daß er zuviel redete, er verhielt sich nicht schweigend und geheimnisvoll: Einen Doktor muß man mit Aberglauben betrachten, er soll verstehen lassen, daß er ein Teil mehr kann als sein Vaterunser. (Knut Hamsun: Das letzte Kapitel)


Hamsun, Knut: Das letzte Kapitel [2]

  Wie aber die Kirchspielleute unten im Grase auf dem Bauche lagen und guckten, bekamen sie halbwegs den Eindruck, als ob auch die Menschen, die sich um die Häuser und auf den Wegen herumtrieben, nur gedachte Menschen wären. Du lieber Gott, viele waren Schatten, fast keiner war gesund; da gab es Männer mit blauen Nasen, obgleich es nicht kalt war, und dafür wieder ein paar Kinder mit bloßen Knien, obschon es kühl war. Was bedeutete das alles? Da gab es Damen, die hysterisch kreischten, wenn ihnen eine Ameise auf den Ärmel gekrochen war. Oh, aber Menschen gab es wirklich genug, es fehlte nicht daran. Sie gingen umher, sie sprachen, hatten Kleider an, einige husteten, daß man es weit fort hörte. Einige waren mager wie Gespenster und durften nicht körperlich arbeiten, sondern mußten still in der Sonne sitzen, andere quälten sich mit einer Art Maschine einen Berg hinan, eine sogenannte 'Kraftprobe', um das Fett los zu werden. Allen fehlte dieses oder jenes, aber Gott hatte es unter ihnen verteilt. Am schlimmsten waren die Nervenschwachen, die hatten alle Krankheiten zwischen Himmel und Erde auf einmal, und man mußte mit ihnen reden, als wären sie Kinder. Frau Ruben zum Beispiel, die so dick war, daß sie kaum durch die Tür in ihr Zimmer kommen konnte, es aber nicht übelnahm, wenn man ihre Korpulenz auf das gewönliche Maß reduzierte, ja, sie leugnete geradezu, daß sie besonders dick wäre - nein, sie lächelte nur freundlich darüber; wenn aber der Doktor an ihrer Schlaflosigkeit zweifelte, einen Scherz über ihre Nerven machte, dann wurde sie wütend, und ihre Augen glühten. Eine Tages sagte der Doktor im Vorübergehen: Es ist merkwürdig, wie Sie hier erholt haben, Frau Ruben. Ihnen fehlte nichts mehr! Frau Ruben antwortete nicht, spie aber hinter dem Doktor aus und ging ihres Weges. (Knut Hamsun: Das letzte Kapitel, S. 445)


Hamsun, Knut: Das letzte Kapitel [3]

  Ruud war keiner von den Schlimmsten, kein Verbrecher, kein Teufel, oh, weit entfernt. Wenn er ging, hielt er die Augen auf den Boden geheftet, und fand er eine Stecknadel auf dem Teppich, so legte er sie dem, dem sie gehörte, in auffälliger Weise auf den Tisch. Er war ein Mann mit grauem und hübsch gestutztem Vollbart, trug einen Freimaurerring am Finger und war wohlhabend genug, um ehrlich zu sein. (Knut Hamsun: Das letzte Kapitel, S. 640)


Hamsun, Knut: Pan

  Ein Feenglanz weilte um diese Zeit über Land und Wald, die Sonne war untergegangen und färbte den Horizont mit einem fetten, roten Licht, das still stand wie Öl. Der Himmel war überall offen und rein, ich starrte in dieses klare Meer, und es war, als läge ich von Angesicht zu Angesicht dem Grund der Welt gegenüber und als schlüge mein Herz innig diesem nackten Grund entgegen und wäre dort daheim. (Knut Hamsun: Pan, S. 15)


Hardy, Thomas: Blaue Augen [1]

  Elfride Swancourt war ein Mädchen, dessen Gefühlsregungen dicht an der Oberfläche lagen. Ihre genaue Beschaffenheit und wie sich diese im langsamen Fluß der Stunden veränderte, verstand nur, wer die Umstände von Elfrides Entwicklung kannte. Ihr Äußeres war die Verbindung sehr interessanter Einzelheiten, deren Besonderheit jedoch mehr in der Verbindung selbst lag als in den Elementen der Verbindung. Tatsächlich sah man weder Form noch Gehalt ihrer Züge, wenn man mit ihr sprach; und diese reizende Fähigkeit, einen Gesprächspartner am eingehenden Studium ihres Gesichtes zu hindern, hatte ihren Ursprung nicht in der verhüllenden Macht verfeinerter Umgangsformen (denn diese waren kindhaft und kaum gebildet), sondern in der anziehenden Unmittelbarkeit ihrer Äußerungen selbst. (Thomas Hardy: Blaue Augen)


Hardy, Thomas: Blaue Augen [2]

  Vom Eßzimmer des Pfarrhauses aus gesehen, das vom Feuer warm erleuchtet war, erschienen das Wetter und die Landschaft draußen schablonenhaft in gleichen, einförmigen Grautönen. Die Bäume mit ausladendem Geäst, die Wacholdersträucher, Zedern und Nadelhölzer waren grauschwarz. Die Laubbäume samt Bodenbewuchs waren graugrün; hinter ihnen die unwandelbaren Hügel und der Turm waren graubraun; der Himmel, Hintergrund des Ganzen, trug das Grau der reinsten Melancholie. Doch trotz dieser malerischen Düsternis lastete der Morgen keineswegs schwer auf dem Gemüt. Er war sogar herzerfrischend. Denn es regnete nicht, noch war Regen in Bälde zu erwarten. (Thomas Hardy: Blaue Augen)


Hardy, Thomas: Blaue Augen [3]

  An dieser Behauptung erschien gewiß nichts übertrieben. Bei Tageslicht zeigte sich Mr. Swancourt als ein Mann, der wie die anderen beiden Personen unter seinem Dach berechtigterweise als gutaussehend gelten durfte - gutaussehend in dem Sinn, in dem auch der Mond hell ist: Die Schluchten und Täler, die bei näherem Hinsehen seine Oberfläche zerklüftet erscheinen lassen, bleiben außer Betracht. Sein Gesicht hatte eine Färbung, die weder auf den Wangen dunkler wurde noch auf der Stirn heller, sondern überall gleich blieb; die übliche Lachsfarbe eines Mannes, der sich gut - vielleicht zu gut - ernährt und nicht angestrengt denken muß; jede Pore, das sah man, arbeitete gut. Der Gesamteindruck war der eines höchst gebildeten Bauern, der die falschen Kleider trägt; eines fest im Leben stehenden, aufrechten Mannes, der nur rückwärts hätte stürzen können, hätte er je das Gleichgewicht verloren. (Thomas Hardy: Blaue Augen, S. 25)


Hardy, Thomas: Blaue Augen [4]

  Stephen schritt eine Zeitlang für sich allein dahin, in jene strenge Zurückhaltung gehüllt, die ihr Ton ihm aufzwang. Dann, als es ihm offenbar eingefallen war, daß es nur Mädchen zustand zu schmollen, kam er heiter an ihre Seite und bot ihr seinen Arm mit spanischer Grandezza, um ihr auf den letzten drei Vierteln des Anstieges beizustehen. Das war eine Versuchung. Zum erstenmal in ihrem Leben war Elfride auf diese Weise wie eine erwachsene Frau behandelt worden - ein Arm bot sich ihr dar unter der Voraussetzung, daß sie ihn zurückweisen dürfe. Vor heute abend hatte sie nie männliche Aufmerksamkeiten entgegengenommen, außer solchen, wie sie simplen Bemerkungen ihres Vaters enthalten mochten, etwas 'Elfride, gibt mir die Hand; Elfride, häng dich bei mir ein'. In ihrem unreifen Herzen machte das Ereignis Epoche. Sie erwog das Für und Wider ihrer Gefühle. Gemeinsam waren sie dafür, das Angebot anzunehmen; das einzige Gefühlchen der Gekränktheit bestimmte sie; Stephen mit Ablehnung zu strafen. "Nein, danke, Mr. Smith; ich komme besser alleine zurecht." Es war Elfrides erster schwacher Versuch, einen Liebhaber zu tyrannisieren. (Thomas Hardy: Blaue Augen, S. 44)


Hardy, Thomas: Blaue Augen [5]

  "Ich muß Ihnen sagen, wie sehr ich Sie liebe! All die Monate, als ich weg war, habe ich Sie angebetet." Impulsiv wie der Jüngling war, sprang er von seinem Stuhle auf, glitt an ihre Seite, und beinah bevor sie es vermuten konnte, lag sein Arm um ihre Taille, und beider Lockenpracht verwirrte sich. So gänzlich neu war Elfrides voll erblühte Liebe, daß sie vor der Neuheit des Gefühls ebenso erbebte wie vor dem Gefühl selbst. Dann entzog sie sich plötzlich und stand auf, verärgert, daß sie sich wiederstandslos sogar diesem nur ganz kurzen Druck ergeben hatte. Sie beschloß, diese Eröffnung als verfrüht zu betrachten. "Mit solchen Sachen dürfen Sie nicht anfangen", sagte sie mit kokettem Hochmut, der nur allzuleicht zu durchschauen war. "Und - Sie dürfen das nicht wieder tun - und Papa kommt." "Einen Kuß nur - einen kleinen", sagte er mit der ihm eigenen Zartheit und ohne der Künstlichkeit ihres Benehmens innezuwerden. "Nein, keinen." "Nur auf die Wange?" "Nein." "Stirn?" "Bestimmt nicht." "Sie fühlen also für einen anderen? Ach, das dacht' ich mir!" "Ich bin sicher: nein." "Und für mich auch nicht?" "Wie soll ich das wissen", fragte sie schlicht, wobei die Schlichtheit nur in den groben Konturen von Gebaren und Redeweise lag. Es gab da jenen Unterton in der Stimme und jenen halbverborgenen Augenausdruck, der dem Eingeweihten verrät, wie gar zerbrechlich das Eis der Selbstbeherrschung bei solchen Gelegenheiten ist. (Thomas Hardy: Blaue Augen, S. 52 f.)


Hardy, Thomas: Blaue Augen [6]

  Mit einem Blick machte er deutlich, daß es unter den gegebenen Umständen keine große Vergünstigung sei, eine Hand durch einen Handschuh, einen Reithandschuh gar, zu küssen. "Also gut. Ich zieh' den Handschuh aus. Ist das nicht eine hübsche, weiße Hand? Ach, Sie wollen sie gar nicht küssen, und Sie sollen's jetzt auch nicht!" "Wenn ich's nicht tue, will ich nie wieder küssen, du strenge Elfride! Du weißt, du bist mehr, als ich sagen kann; du bist meine Königin. Ich würde für dich sterben, Elfride!" Wieder überzog ein schnelles Rot ihre Wangen, und sie sah ihn nachdenklich an. Welch ein stolzer Augenblick das nun für Elfride war! Zum erstenmal in ihrem Leben herrschte sie über ein Herz gänzlich uneingeschränkt. Stephen haschte verstohlen nach ihrer Hand. "Nein, nein nicht!" sagte sie eigensinnig: "und Sie sollten Überraschungsversuche bleibenlassen." Es folgte ein kleines Gerangel um den Besitz der ach so begehrten Hand, an dem die Ausgelassenheit von Junge und Mädchen weit größeren Anteil hatte als die Gesetztheit von Mann und Frau. (Thomas Hardy: Blaue Augen)


Hardy, Thomas: Blaue Augen [7]

  Stephen wanderte denselben Weg durch die Wiesen zum Pfarrhaus zurück, den er gekommen war, umgeben von der sanften Melodie des Wassers, das durch kleine Wehre plätscherte, dem verhaltenen Mondlicht, dem aufkommenden Duft des Taus, der rings sich verbreitete. Es war eine Zeit, da bloßes Sehen schon stille Betrachtung ist und stille Betrachtung Friede. Stephen war kaum Philosoph genug, vom Angebot der Natur Gebrauch zu machen. Seine Veranlagung war im einzelnen ganz schlicht, zudem von einer Art, die selten ist in der Frühzeit der Zivilisationen, die aber sehr häufig zu werden scheint, wenn Nationen altern, Individualität sich verliert und die Bildung sich ausbreitet; sein Gehirn war nämlich außerordentlich aufnahmefähig, aber nur wenig schöpferisch. Schnell im Erwerb jedweden Wissens, das er um sich wahrnahm, ausgestattet mit einer anpassungsfähigen Formbarkeit, wie sie sonst eher Frauen als Männern eignet, wechselte er die Farbe wie ein Chamäleon, sobald die Gesellschaft, in der er sich befand, eine höhere und künstlerische Tönung annahm. Er besaß nicht viele eigene Ideen, und doch gab es kaum eine Idee, der er - unter ensprechender Anleitung - kein annehmbares Seitenstück hätte beifügen können. (Thomas Hardy: Blaue Augen)


Hardy, Thomas: Blaue Augen [8]

  "Du schreibst aber so, als wärst du hundertmal verlobt gewesen, wenn ich das sagen darf", sagte Stephen verletzt. "Ja, mag schon sein. Aber, mein lieber Stephen, nur diejenigen, die eine Sache halb verstehen, halten es der Mühe nicht für wert. Alles, was ich von Frauen weiß und von Männern auch, ist eine Masse von Verallgemeinerungen. Ich plack' mich ab, und manchmal heb' ich die Augen und laß' einen Blick über die unruhige Oberfläche der Menschheit schweifen, wie sie sich zwischen mir und dem Horizont wälzt - wie eine Krähe vielleicht; das ist alles." (Thomas Hardy: Blaue Augen)


Hardy, Thomas: Blaue Augen [9]

  "Schau dir nur im Wagen dort drüben diese Mama vom Typ Töchterleins Schwester an", fuhr sie zu Elfride gewendet fort, nur mit einer Augenbewegung hindeutend. "Das alles überwältigende Wissen um die eigene Stellung, das ihre Miene zur Schau trägt, ist doch niederschmetternd für jeden, der stolz auf dieses unser Land sein will. Man kann es doch kaum glauben, nicht wahr, daß Mitglieder einer Eleganten Welt, deren vorgebliche Null noch weit über der höchsten Höhe des Fußvolkes steht, so überhaupt keine Ahnung von der grundlegenden Natürlichkeit der Zurückhaltung haben." "Inwiefern?" "Insofern, als sie auf ihren Gesichtern, deutlich wie auf jüdischen Schriftrollen, die Inschrift tragen: Beachten Sie bitte die Wappenkrone auf meiner Wagentür." "Wirklich, Charlotte, sagte der Pfarrer, "du liest in Gesichter fast mehr hinein als der Theaterautor ins Nicken des Kritikers." (Thomas Hardy: Blaue Augen)


Hardy, Thomas: Blaue Augen [10]

  Ungefähr drei Wochen später saßen die drei Swancourts ruhig im Salon von The Crags, Mrs. Swancourts Haus in Endelstow, und ließen in gemütlichem Geplauder die vorangegangenen ein, zwei Monate in London Revue passieren - eine durchaus ermüdende Angelegenheit selbst für Leute, deren Bekanntschaften dort an zehn Fingern abzuzählen waren. Eine einzige Saison in London mit ihrer erfahrenden Stiefmutter hatte Elfrides Wahrnehmung so geschärft, daß ihr Stephens Werbung um sie blutleer vorkam, als läge sie schon Jahre zurück in einer Vergangenheit. Bei der Betrachtung unserer geistigen Entwicklung geht es uns wie bei der optischen Wahrnehmung: Unser Fortschritt liest sich als ein Kleinerwerden dessen, von dem wir einmal ausgegangen sind. (Thomas Hardy: Blaue Augen)


Hasek, Jaroslav: Der verwirrte Laubfrosch

  Die Jugend der Laubfrösche ist in der Regel unfroh. Zuerst müssen sie als Kaulquappen gewärtig sein, von einem gefräßigen Wassertier verschlungen zu werden, die Dorfjungen fangen sie wie die Kaulquappen anderer Frösche, stecken sie in Gläser und glauben, es seien Fische. Zu Hause belehrt, daß es sich um die Larven von Fröschen handelt, schütten sie das Zeug in den Ausguß oder an noch schlimmere Stellen. Und wenn sich am Ende doch eine dieser Laubfroschlarven rettet, dann erwarten die Menschen von ihm, er müsse ihnen das Wetter vorhersagen. (Jaroslav Hasek: Der verwirrte Laubfrosch und fünfunddreißig andere lustige Geschichten)


Hauptmann, Gerhard: Phantom

  Mein Vater hatte eine bei meinem sanften, zur Unterordnung neigenden Wesen kaum sehr angebrachte militärische Art, mit mir zu verkehren. Klang der Name Lorenz, so hieß ich nämlich, von seiner Stimme gesprochen durchs Haus, so verlor ich fast immer alle Besinnung. In einem solchen Zustand eine Treppe herunterhastend, rutschte ich aus und brach das Bein. Die Knochen wurden von einem Pfuscher schlecht zusammengeleimt, so daß das betroffene Bein kürzer wurde. Um den Schaden zu heben, wurde es von einem anderen Pfuscher gewaltsam nochmals gebrochen, worauf es schließlich, nach der Heilung, noch kürzer geworden war. (Gerhard Hauptmann: Phantom, S. 20)


Hawthorne, Nathaniel: Der Marmorfaun [1]

  Und trotzdem lieben wir die Künstler jedweder Art, sogar diese, deren Verdienste wir nicht recht zu würdigen imstande sind. Bildhauer, Maler, Zeichner, - so wie wir sie an jenem Abend sahen - waren sicherlich erfreulichere Leute als der Durchschnitt, den man in der alltäglichen Gesellschaft antrifft. Sie waren nicht gänzlich an den niederen Bezirk des praktischen Daseins gefesselt, sie besaßen ein Streben, das sie zum Schönen hingeführt hätte, wären sie ihm gefolgt, und immer behielten sie die Richtung dorthin bei, auch noch, wenn sie sich am Wegrand verweilten, um goldenen Unrat aufzulesen. (Nathaniel Hawthorne: Der Marmorfaun, S. 136)


Heijden, A.Th.F.: Fallende Eltern [1]

  Eine Katastrophe kommt selten allein. Am liebsten überfallen sie einen im Gruppenverband. Sie trommeln sich gegenseitig zusammen und kündigen einander an: Ein Unglück ist der Hiobsbote des nächsten. Über Nacht schießen sie alle gleichzeitig wie Pilze aus dem Boden, um schon am nächsten Morgen ihren Schirm leer zu schütteln. So hinterläßt jede Katastrophe ihre Spuren in Gestalt ganzer Serien neuer Katastrophen. Sie bilden eine einzige große Familie, weitverzweigt, aber mit festem Zusammenhalt: eine Mafia giftiger Schwämme... ein Hexenring, der sich wie eine Schlinge immer enger um einen zusammenzieht. (A.Th.F. van der Heijden: Fallende Eltern, S. 9)


Heijden, A.Th.F.: Fallende Eltern [2]

  Ungehindert, ohne irgendeine Schwelle, zogen Schnecken, die, aus dem Garten kommend, "nicht rechtzeitig zu bremsen verstanden" - wie Thjum es ausdrückte -, Schleimspuren über seinen Teppichboden. Er beklagte sich über den obszönen Anblick, den der glasig getrocknete Schleim bot. "Willst du dir nicht endlich mal ein Mädchen zulegen", hatte sein ältester Bruder Gidi einmal mit angewidertem Blick auf den Boden gesagt - aber für diesen Sportsmann waren Mädchen ja auch in erster Linie Spüllappen, in denen man seinen Kolben schneuzt. (A.Th.F. van der Heijden: Fallende Eltern, S. 12)


Heijden, A.Th.F.: Fallende Eltern [3]

  Berendina Schwantje wurde "Beertje" genannt, ein Kosename aus der Zeit, als sie noch als pummeliges Kleinkind in Geldrop herumstapfte, der aber nicht mehr zutraf. Lang und dünn war sie mittlerweile, fast schon mager zu nennen, und sie tanzte auch nicht gerade so, wie es ein Bär zu tun pflegt. In Berendina Schwantje hatten wir eine Ballettänzerin ersten Ranges, voll versteckter Drahtigkeit wie ein Windspiel. Ich hatte sie im Nimwegener Theater gesehen... von Kopf bis Fuß fließende Bewegung. Wenn man im Saal saß, gewann man rasch den Eindruck, höchstpersönlich der Unbewegte Beweger zu sein - so sehr entsprach ihr Tanz den Wünschen und Vorstellungen des Zuschauers. Aber auch im Ruhezustand und mit den Absätzen auf dem Boden bot Berendina einen prächtigen Anblick. Jeder Zoll eine Primaballerina: hohe, glatte Stirn, auf der ich nie auch nur das leiseste Runzeln gesehen hatte... schrägstehende Katzenaugen unter fast senkrechten Augenbrauen, die sie in dieser Position gar nicht runzeln konnte... obligatorisch sichtbare Wangenknochen, die jeden Moment die straffe Haut durchstoßen konnten... keine Wangen... dominierende Nase: lang, schmal, gebogen... hochmütiges Kinn... und dann diese abwärts zeigenden Mundwinkel, die ihr paradoxerweise eher einen unbestimmt lächelnden als einen mißmutigen Ausdruck verliehen. (A.Th.F. van der Heijden: Fallende Eltern, S. 21f.)


Heijden, A.Th.F.: Fallende Eltern [4]

  Ich hatte nicht so viel am Hut mit Thjums Brüdern. Gideon hatte ich sowieso gefressen, seit er Marike de Swart in Schwierigkeiten gebracht hatte (obwohl ich zugeben mußte, daß meine Schwierigkeiten dadurch aufhörten). Davon abgesehen, waren sie mir zu sportlich, das heißt... zu sportwütig. Sie spielten Tennis, ritten... sie besaßen Sportwagen und ein Speedboot. Die üblichen Reicheleutesöhnchen eben. Crist wurde von der Polizei verdächtigt, etliche Hektar Naturschutzgebiet aus Rache niedergebrannt zu haben, weil er mit seinem Rennrad dort nicht fahren durfte... (A.Th.F. van der Heijden: Fallende Eltern, S. 90)


Heijden, A.Th.F.: Fallende Eltern [5]

  Die Augen zu schließen und das Leben in die Breite zu dehnen... das hatte ich verlernt. Viel zu lange schon wieder hatte es sich einzig und allein "in die Länge" entrollt, schneller noch als die Zeiger der Uhr, die durch Zutun von Alkohol seltsame Sprünge machen und oft große Löcher in einen Tag schlagen. Die Spannung war raus. Muskeln, die lange nicht benutzt worden sind, erschlaffen - das gilt auch für geistige Muskelgeweben. Für mich gab's nicht mal die leiseste Spur von Ewigkeit. Ich hatte mein Recht auf eine Seele verscherzt. Es war vorhersehbar, daß wir den Weg des geringsten Widerstands wählen würden: uns dem Suff ergeben. Alkohol schien die Lösung für fast alles - eine Art Leim, freilich von der Sorte, die sich jeden Tag wieder löst. (A.Th.F. van der Heijden: Fallende Eltern, S. 99)


Heijden, A.Th.F.: Fallende Eltern [6]

  Manchmal ging ich mit Spokie zu so einer Tee trinken. Was mir auffiel, war ihre kultivierte Trägheit, das völlige Fehlen jeglicher Form von Eile: Jede Handlung durfte sich endlos dehnen. Sie konnten sich für alles "Zeit lassen". Ich fragte mich, ob das ihr Leben verlängere oder verkürze. Ich beneidete sie um die Ruhe, mit der sie vor dem Spiegel ihren Lidstrich zogen, die Präzision, mit der ein Joint gedreht wurde - während auf dem Gaskocher in der Ecke das Teewasser verkochte. Ich weidete mich an ihrer Trägheit, die mich im tiefsten Grunde meines Wesens ansprach. Nein, diese Frauengeneration litt nicht unter der Arbeitslosigkeit. Sie hatte auch noch nie gearbeitet... Ein schlechtes Vorbild für Bewegung, die ich in mein Leben bringen wollte. (A.Th.F. van der Heijden: Fallende Eltern, S. 155f)


Heijden, A.Th.F.: Fallende Eltern [7]

  Die Schwantjes kannten keinen Hunger, nur Appetit. Wenn die Lust auf leckeres Essen gestillt war, begannen Thjums Brüder, in ihrem Essen herumzumanschen. Ich kam aus einem Milieu, in dem jede Scheibe Brot, jede Kartoffel zählte. Mit Essen spielte oder spottete man nicht. Natürlich hatte ich auch schon mal einen kleinen Graben in einem Eintopf gezogen, den ich nicht mochte, und den mit Soße vollaufen lassen... aber für so etwas behielt sich meine Mutter ihre strengen Verweise vor. Mich grauste, wenn ich auf der Höheren Bürgerschule das Söhnchen von Rechtsanwalt Tuinman mit verwöhnter Miene den Brotbelag inspizieren und sein Pausenbrot dann in die Mülltonnen pfeffern sah. Mir kam die Galle hoch, wenn ich mitbekam, wie Kartoffeln oder Suppenreste die Toilette hinuntergespült wurden... Essen war heilig - auf eine selbstverständliche Art und Weise, ohne daß es als solches verehrt werden mußte. (A.Th.F. van der Heijden: Fallende Eltern, S. 206)


Heijden, A.Th.F.: Fallende Eltern [8]

  Er litt bereits seit einer Weile an Arbeitslosigkeit, einem auferzwungenen Leiden. Als die Firma, in die er fast zwanzig Jahre lang seine Arbeitskraft getragen hatte, sich nicht wohl fühlte, steckte sie sich ohne viel Aufhebens einen Finger in den Hals und kotzte einen Teil des Mageninhalts aus. Nur ein paar Hundert Arbeitnehmer... kaum der Rede wert. Zuwenig, um auch nur ein Wort darüber zu verlieren, aber genug, um sich wieder prima zu fühlen. Die Gewerkschaft, diese treue Krankenschwester, hatte den Spucknapf halten dürfen. Uff! War das eine Erleichterung! Was weg war, war weg - Schluß aus. Um eine vorübergehende Übelkeit seines Arbeitsgebers vertreiben zu helfen, saß mein ausgekotzter Vater auf einmal mit einem Virus fürs ganze Leben da. Er selbst konnte so viel spucken, wie er wollte, er wurde ihn nicht mehr los. Sie behielten einen gerade so lange, bis man versauert und aufgebraucht war und zu fertig, um noch für eine andere Arbeit umgeschult zu werden, die es im übrigen, wie sich zeigte, auch nicht mehr gab. Nein, was uns die Wunderdoktoren der Volkswirtschaft auch vorgaukeln wollten, Arbeitslosigkeit war und blieb ebenso unheilbar wie Krebs. Und wer sich das eine verbiß, konnte beim In-sich-Hineinfressen leicht auch das andere kriegen. (A.Th.F. van der Heijden: Fallende Eltern, S. 301)


Heijden, A.Th.F.: Fallende Eltern [9]

  Von Karl Marx' Exegeten hatte ich immer zu hören bekommen, ein Mensch sei erst dann wieder glücklich und von seiner Entfremdung erlöst, wenn er morgens angele, nachmittags jagen oder im Garten werkeln könne und abends nach dem Essen noch ein Stündchen Zeit zum Philosophieren finde. Und zur Abwechslung Hühner oder Pferde züchten, denn das Leben dürfe nicht zu eintönig werden. Hauptsache, man konnte seine Tätigkeiten von Anfang bis zum Ende überblicken... So hatte ich es immer gelernt. Doch die sozialistischen Herren von der Gewerkschaft hatten, wie sich herausstellte, ganz andere Eisen im Feuer. Es sollten möglichst wenig entfremdende Arbeitsplätze abgebaut werden. Und wurde jemand auf die Straße gesetzt, so bekam er bestenfalls eine Umschulung für eine Arbeit, die ihm noch fremder war, anstatt daheim die Hühner zu füttern oder selbstgeschossenen Hasen das Fell über die Ohren zu ziehen. Nach dem Abendessen zu philosophieren stand natürlich jedermann frei, sofern er es nicht laut tat. In der Praxis war dafür allerdings bitter wenig Zeit, denn um sieben Uhr fingen die Sendungen im Fernsehen an, die einem alle Lust zum Philosphieren nehmen sollten. Im übrigen, was war denn auch schon umzuschulen an einem ungeschulten Arbeiter, wie mein Vater einer war? Womit füllte er seine Zeit an diesem Tisch, den er nur verließ, um aufs Klo zu gehen und Henna spazierenzuführen? Er rauchte, und zwar eine Zigarette nach der anderen, trank Kaffee, eine unübersehbare Zahl von Tassen, und unterhielt sich von Zeit zu Zeit mit seinem Hund, der neben seinem Stuhl oder unter dem Tisch zu seinen Füßen lag. Er hatte alle möglichen Kosenamen für die alte Hündin parat, zum Beispiel "Mädelchen", "Zecken- Zicke", "Dolle Minna", "Närrische Trulla", "Olles Weibsbild", "Schlappohr", "Mißglücktes Eichhörnchen", "Flitscherl", "Herrchens Weibi"... "Ist sie nicht Herrchens Weibi? Ja, sie ist Herrchens Weibi." Manchmal richtete sich die Hündin in ihrem abgetragenen Pelzmantel wie eine alte Tragödin schmachtend auf, um sich das Nackenfell kraulen zu lassen - woraufhin sie mit einem Seufzer wieder in einer Wolke aus Plüsch und Plunder niedersank. (A.Th.F. van der Heijden: Fallende Eltern, S. 301f.)


Heijden, A.Th.F.: Fallende Eltern [10]

  "Was ich den Menschen vor allem vorgeworfen habe, Thjum, ist ihr schlechtes Gedächtnis. Nur was in der Werbung kommt und die Tophits auf Hilversum 3 können sie auf Dauer behalten und mitpfeifen... Wo wir nun doch schon mal dieses Gedächtnis haben... warum wird es dann nicht benutzt? Manche Menschen, die sich verdammt gut merken können, wieviel Geld sie noch von dir bekommen, hört man oft verächtlich schnaubend sagen - und zwar mit dem gleichen merkwürdigen Stolz, mit dem sie bekennen, 'nie ein Buch aufzuschlagen' -, daß sie sich aus der Zeit von ihrem achten oder neunten Lebensjahr 'sowieso an nichts erinnern". Bestenfalls kommen sie dann noch, nachdem sie einen Moment grinsend nachgedacht haben, achselzuckend, fast entschuldigend mit der Erinnerung an eine Tante an (dieselbe, die immer von dem stellvertretenden Bürgermeister sagte: 'Der ist so eingebildet wie ein Hund mit sieben Pimmeln'), bei der an einem sonnigen Tag - sie spielten im Garten - ein roter Schlagball in der offenen Küchentür verschwunden war. (A.Th.F. van der Heijden: Fallende Eltern, S. 475)


Heijden, A.Th.F.: Die Drehtür

  Paris hatte ich nie mit etwas anderem als mit 'Milch' assoziiert. Einmal, mit sechszehn, war ich einen halben Tag dagewesen. Auf der Durchreise von Spanien in die Niederlande. Im Laufe dieses halben Tages hatte ich auf verschiedenen Cafetassen zwanzig bis fünfundzwanzig Gläser Milch getrunken. Ich war selbst überrascht über diesen einseitigen Durst. Um ihn zu löschen, konnte ich nicht warten, bis ich wieder in Bussum, bei meiner Mutter, war. In meiner Unwissenheit brachte ich diesen Durst nach Milch nicht mit dem Tequila in Verbindung, den ich in Spanien, zum erstenmal in meinem Leben, in Unmengen gekippt hatte. Ich wußte damals noch nicht, daß Alkohol unersättliche Babys aus uns macht, die am Morgen danach wie Lämmer nach einer Milchzitze blöken. (A.F.Th. van der Heijden: Die Drehtür, S. 87)


Heijden, A.Th.F.: Die Schlacht um die... [1]

  "Zuerst war der Mensch in all seiner Nacktheit der Witterung ausgesetzt. Seit er seine Schutzschicht wieder hat, hört man, wie sich das Gespräch über das Wetter allmählich zum Gespräch über das Auto verlagert. In the very beginning war die Welt ja auch so beängstigend groß... In alle Richtungen dehnte sich das All aus. Dem Erdenbewohner schwindelte es. Er benötigte dringend einen Gott... und bekam ihn. Im zwanzigsten Jahrhundert jedoch holte der Mensch das Himmelsgewölbe zu sich herunter und zog es fest um sich. Jedem sein eigenes Himmelszelt. Die Seelen sanken sozusagen auf die Erde herab... wurden von dort oben zur Schnellstraße gerufen. Das regenbeständige Töfftöff ist der Grund, weshalb der moderne Mensch, wie das Tier, keine Religion benötigt. Ja, hier und da wird noch eine Religion gepflegt ... als Kuriosum. Das ist alles. Das Königreich Gottes ist mittlerweile ja... wie soll ich das sagen ... um ihn herum." (A.F.Th. van der Heijden: Die Schlacht um die Blaubrücke, S. 15)


Heijden, A.Th.F.: Die Schlacht um die... [2]

  "Der Traum eines jeden braven Familienvaters ist die Stoßzeit", sagte er sofort. "Oder haben Sie auf dem Zebrastreifen noch nie ihre Stoßstangen als Bedrohung empfunden? Wenn Ihre Ampel grün zeigt, dann grollen sie schon, in Viererreihen, vor Mordlust, Gas... etwas mehr Gas... noch zehn Zentimeter weiter auf die Fußknöchel zu... noch einen Zentimeter, wenn es irgend geht... Und wenn Ihre Ampel auf Rot springt, bevor Sie die andere Seite erreicht haben, werden Sie nichts lieber tun, als Sie mit dem Gesetz im Rücken maustot zu fahren. Schließlich haben Sie kein teures Auto gekauft, Versicherung bezahlt, Kfz-Steuer entrichtet, kostspieliges Benzin getankt etcetera, um sich von irgendeinem hergelaufenen son of a bitch, der mit den Turnschuhen die weißen Streifen ausradiert, bremsen zu lassen." (A.F.Th. van der Heijden: Die Schlacht um die Blaubrücke, S. 21)


Heijden, A.Th.F.: Die Schlacht um die... [3]

 "Der Traum eines jeden braven Familienvaters ist die "Meine Bewunderung für dieses nacktgeborene, am stärksten benachteiligte Wesen der Schöpfung, dem es gelungen ist, mit seinem mühsam erworbenen Intellekt ein Ding wie das Auto zu realisieren, ist ungebrochen. Meine Enttäuschung setzt erst da ein, wo es seinen intelligenten Blick nicht weiter als bis zu seiner Nasenspitze gerichtet hat: in die Zukunft, um die Autoschlangen der siebziger Jahre zwischen Den Haag und Scheveningen zu sehen... zwischen Amsterdam und Zandvoort... an stickendheißen Sonntagen. Jedem Arbeiter sein eigenes Töfftöff... Warum hat der große Ingenieur die künftigen Segnungen des Sozialismus bei seinen Berechnungen nicht mit einkalkuliert? Sehen Sie, dann hätte mir die menschliche Intelligenz wirklich Bewunderung abgenötigt: Wenn er die Verwirklichung des Autos auf ein einziges vollkommenes Museumsexemplar beschränkt hätte, das der Welt keinen Schaden zufügen könnte. Als Beweis dafür, wozu er imstande ist, ohne seiner Erfindung die Chance zu geben, ihm über den Kopf zu wachsen. (A.F.Th. van der Heijden: Die Schlacht um die Blaubrücke, S. 21)


Heijden, A.Th.F.: Die Schlacht um die... [4]

 Immer mehr große Kisten waren mit einer Alarmanlage ausgestattet. In der näheren Umgebung brauchte nur eine Gehwegplatte locker zu sein, und schon ging beim ersten schweren Passanten die Sirene los wie in einem Juwelierladen während eines schweren Gewitters. Kinder bei mir im Viertel De Pijp wußten genau, wo man an so einem Auto herumfummeln mußte, um den Alarm auszulösen. Es war mehr als ein alltäglicher Lausbubenstreich. Sie ließen jedermann hören, auf welch schwachsinnige Weise die Leute heutzutage ihren Besitz schützen... ließen die falsche Stimme der habgier aus den Besitztümern heraus ertönen. In jedem banalen Eigentum ist so eine Heulboje eingeschlossen - das war es, was sie vorführten. (A.F.Th. van der Heijden: Die Schlacht um die Blaubrücke, S. 24)


Heijden, A.Th.F.: Die Schlacht um die... [5]

  Sie teilte das Zimmer mit einer kleinen, molligen Frau, die, sehr jung noch, zu schnell nacheinander zu viele Kinder geboren hatte. Alles nach Plan. Sechs waren es jetzt; nach dem siebten oder achten wollte die Familie nach Belgien auswandern, wo das Kindergeld bekanntlich soviel üppiger ausfiel als in den Niederlanden. Die Brutmaschine war auf vollen Touren gelaufen und mußte sich, bevor sie erneut in Gebrauch genommen wurde, einer Wartung unterziehen. (A.F.Th. van der Heijden: Die Schlacht um die Blaubrücke, S. 27)


Heijden, A.Th.F.: Die Schlacht um die... [6]

  Mütterlicherseits entstammte ich einer Familie, in der keiner jemals etwas wegwerfen konnte. Es gab nichts, das nicht irgendwann mal "von Nutzen sein" konnte. In Ermangelung von Geld haben wir jahrzehntelang allen möglichen wertlosen Krempel gehortet, und unser Zins war Staub. Wir wurden Spezialisten für ausrangierte Sachen. Jeder Mist, der weggeworfen zu werden verdiente, fror auf der Stelle an unseren Fingern fest wie ein Nagel, bestimmt für das Rettende Haus auf Nowaja Semlja. Unsere Familienkrankheit. (A.F.Th. van der Heijden: Die Schlacht um die Blaubrücke, S. 73)


Heijden, A.F.Th.: Das Gefahrendreieck

  An ihrem heuchlerischen Geschmeichel konnte Albert hören, daß irgend etwas nicht stimmte. Die Sau wurde in einen Hinterhalt gelockt. Über die zuckersüßen Worte ihrer Henker war Trude aber längst hinaus. Sie schrie, daß sie am Leben bleiben wolle und nicht mehr verlange, als sich im eigenen Mist von der einen Seite auf die andere wälzen zu dürfen... Das Herumgewühle in Kot und Schlamm und Modder, dem Albert so oft zugeschaut hatte, war offenbar dem weit vorzuziehen, was ihr nun bevorstand. Der Junge konnte noch von ihr lernen... (...) Ein Stück weiter, im Schatten der Grobküche, beugte sich eine fröhliche Gruppe über das Schwein, das zum Abschied über die Schnauze gestreichelt und am Hintern getätschelt wurde. Nachdem alle sich entfernt hatten, steigerte sich das röchelnde Geschrei noch einmal. Das Einmannexekutionskommando legte an und betätigte dreimal kurz nacheinander den Abzug. Gleich der erste Schuß erlegte der Sau ein verblüfftes Schweigen auf. Sie machte den Eindruck, sehr schnell über etwas nachdenken zu müssen. Unbewegt und ohne einen Mucks von sich zu geben, steckte Trude die beiden nächsten Kugeln ein, als drängten sie nicht wirklich zu ihr durch. Albert war von dem Knall enttäuscht. Es war eher ein dumpfes Klicken - das trotzdem in Berntje Boezaardts Taubenschlag für Aufruhr sorgte. Es war, als bekäme das so abrupt abgebrochene Kreischen ein Echo in dem Tumult der Tauben hoch über dem Hof... Ihr harten Federn rührten die Schlagtrommel, ein monoton anschwellender Wirbel... Das Schwein blieb reglos stehen, die Schlappohren wie Hände vor den Augen, als könnte es sich so besser auf den letzten Gedanken konzentrieren. Gleichzeitig war es eine Haltung, die unerträgliche Scham auszudrücken schien... (A.F.Th. van der Heijden: Das Gefahrendreieck, S. 74f.)


Heijden, A.F.Th.: Das Gefahrendreieck [2]

  Begierige Teilnehmerin an diesen Tanzereien war die Nachbarin, die mit einem Homosexuellen verheiratet war beziehungsweise, wie Maaike Kopland es ausdrückte, "sich einen vom anderen Ufer hatte unterjubeln lassen." (Hatten Flix oder Govert einen Wind gelassen, dann sprach Tante Maya die für Albert rätselhaften Worte: "Der Nachbar würde sagen: Hier riecht's nach Liebe... aber ich find da nix dran.") Der Sohn aus der verqueren Ehe litt an einer Anomalie, die der Frau zufolge auf die Veranlagung ihres Mannes zurückzuführen war: Das Kind hatte den ganzen Tag die Hände in der Unterhose. Der Uringeruch war so tief in die Haut gedrungen, daß er auch nach unzähligen Waschungen den Seifengeruch übertönte. Sie tat alles, um dem Kleinen das Gefummel abzugewöhnen, da es unweigerlich zur Homosexualität führen würde, sofern die Krankheit nicht überhaupt schon erblich war. Sie band dem Kind sogar zwei steife Waschhandschuhe mit Schleifen um die Handgelenke... So ging das also bei Leuten zu, die ein "Monatsgehalt" bezogen anstatt wie üblich den Wochenlohn nach getaner Arbeit. (A.F.Th. van der Heijden: Das Gefahrendreieck, S. 146)


Heijden, A.F.Th.: Das Gefahrendreieck [3]

  Kurz bevor Willy van 't Woudt zu Ostern wegen unzureichender Leistungen auf die Geldroper Mittelschule geschickt wurde, informierte er Albert über seine neueste Entdeckung in puncto "Kindermachen". "Also, so 'ne Tussi, die hatte'n Häutchen über ihrm Schlitz ... ja? Also, das reißt du ihr mit deim Steifen ab... und dann, äh, dann stopfste das in ihrn Nabel und... und sorgst dafür, daß du's ordentlich feststampfst. So macht man das." Das schien Albert nicht schwer. Er stellte es sich tausendmal vor, als äußerst zärtliches Spiel, mit einem Häutchen, nicht dicker als jenes, das auf sich abkühlender Milch entsteht... Erst als ihm durch Mitteilungen wieder anderer klar wurde, daß man "mit seim Steifen" versuchen mußte, tief in das Mädchen einzudringen, und Kraft anzuwenden war, um sie ganz zu öffnen, da, ja da erfaßte ihn ein gewaltiger Schreck. Sie dort, wo sie so gut wie geschlossen war, mit Gewalt aufzubrechen... so daß es krachte... und das mit etwas so Empfindlichem wie der Spitze seines steifen Glieds, von der er, aus Angst sich zu verletzen, sogar beim höchsten Genuß die Haut nie ganz wegzuziehen wagte... 'ihm' würde das nie gelingen... 'ihm' war so etwas nicht beschieden... So intensiv er sie im Geist auch untersuchte, Frauen blieben geschlossene Wesen für ihn. Im Schwimmbad tastete er sie mit Blicken ab, suchte verzwifelt nach einem Relief, Zeichen eines Eingangs... doch alles war straff eingeschnürt in ihren Trikotbadenazügen. Seine Blicke glitten an ihren Körpern ab, ohne Halt zu finden, und zerschellten auf den Steinplatten, (A.F.Th. van der Heijden: Das Gefahrendreieck, S. 246)


Heijden, A.F.Th.: Das Gefahrendreieck [4]

  Schließlich bat ihn der Weißkittel, sich hinter einem Wandschirm auszuziehen. "Unterhose vorläufig noch anbehalten." Nackt bis auf den Slip, mußte Albert sich zu Füßen des Mannes hinhocken. "Nein, andersrum. Mit dem Rücken zu mir. Hose ein bißchen runterziehen... so, ja. Weit vorbeugen. Kopf zwischen die Knie. Gut so." Der Arzt wollte offenbar seine Wirbelsäule inspizieren. Wenn übermäßiges Masturbieren tatsächlich zu Rückgratverkrümmungen führte, schlug jetzt die Stunde der Wahrheit. (A.F.Th. van der Heijden: Das Gefahrendreieck, S. 254)


Heijden, A.F.Th.: Das Gefahrendreieck [5]

  Alberts erster Gang führte ihn in die Mensa in der Prof. van Weliestraat, wo sich auch die Studentische Wohnungsvermittlung befand. Dort war er bereits seit gut anderhalb Jahren für ein Zimmer in einem Studentenwohnheim eingeschrieben, doch auf der Warteliste kletterte sein Name nur äußerst mühsam weiter nach oben. Seit Albert sich vor fünf Monaten zum letztenmal erkundigt hatte, war er achtundzwanzig Plätze aufgerückte: von Nummer 547 auf Nummer 519 - "alles in allem nicht schlecht", wie der Mitarbeiter gemeint hatte. (...) "Das Problem ist, daß die Zahl der dringenden Fälle - die sogenannten psychischen und körperlichen Problemfälle - immer mehr zunimmt. Ich sag dir, hier regnet's ärztliche Atteste! Was sag ich da? Es hagelt! Episteln von besorgten Eltern, unterschrieben vom Hausarzt. Das asthmatische Klaasje muß sein Zimmmer staubfrei halten können... das labile Mientje erträgt Einsamkeit nicht und muß ständig unter Leuten sein... das arme Pietje pinkelt noch ins Bett, darf aber bei keiner Zimmerwirtin sein Gummituch draußen aufhängen. Und so weiter und so fort. Bronchitis, Neurosen, Ekzeme, Gleichgewichtsstörungen, Bleichsucht... Nach diesen Attesten zu urteilen, werden die Wohnkomplexe hier, Galgenveld, Hoogeveldt und so weiter, immer mehr zu Ghettos für eingeschränkt Leistungsfähige, Pflegeheime, in denen gebrechliche junge Leute mit letzter Kraft schnell noch versuchen, ihr Diplom zu schaffen, damit sie nicht mit ihrem nackten Namen allein bei Petrus anzuklopfen brauchen. Toll, nicht wahr? Und das wird alles nur noch schlimmer, denn die künftigen Studentchen werden immer kränker... mit jedem Jahr geht's ihnen dreckiger, wenn du verstehst, was ich meine. Dem Tode geweiht. Ihre Hausärzte sind Wohnungsvermittler geworden. (A.F.Th. van der Heijden: Das Gefahrendreieck, S. 332)


Heijden, A.F.Th.: Das Gefahrendreieck [6]

  Wenn das jungreife Eindhoven nach nichts schmeckte, dann war Nimwegen ein alter Lochkäse. Zu viele Hohlräume, zu viel Luft. Für so viel Kahlschlag hatte man außerdem noch eine glänzende Ausrede parat. Am zweiundzwanzigsten Februar 1944 hatten amerikanische B-24-Bomber auf dem Weg nach Deutschland ihre Darminhalt nicht länger bei sich behalten können und sich wie Säuglinge entleert. Die Nimwegener Innenstadt in Schutt und Asche. Ach, ein kleines Kriegsversehen... ein strategischer Schönheitsfehler... nichts zu machen. (A.F.Th. van der Heijden: Das Gefahrendreieck, S. 341)


Heijden, A.F.Th.: Das Gefahrendreieck [7]

  Bei Dr. Böhmer-Boudoir folgte der Schnee unmittelbar auf den Lenz: Mit seinen achtunddreißig Jahren war er bereits völlig grau. Unter einem Kammgarnanzug von der Farbe geronnenen Bluts, der aus der Zeit stammte, als er noch Karriere machen wollte, trug Böhmer-Boudoir ein kragenloses Sweatshirt aus zitronengelbem Frotteestoff. Die Kombination war sorgfältig zusammengestellt, um seine wissenschaftliche Zerstreutheit zum Ausdruck zu bringen (Zerstreuter Professor findet kein Hemd und greift in den Karton mit Strandkleidung.) (A.F.Th. van der Heijden: Das Gefahrendreieck, S. 389)


Heijden, A.F.Th.: Das Gefahrendreieck [8]

  Bei Dr. Böhmer-Boudoir folgte der Schnee unmittelbar auf den Lenz: Mit seinen achtunddreißig Jahren war er bereits völlig grau. Unter einem Kammgarnanzug von der Farbe geronnenen Bluts, der aus der Zeit stammte, als er noch Karriere machen wollte, trug Böhmer-Boudoir ein kragenloses Sweatshirt aus zitronengelbem Frotteestoff. Die Kombination war sorgfältig zusammengestellt, um seine wissenschaftliche Zerstreutheit zum Ausdruck zu bringen (Zerstreuter Professor findet kein Hemd und greift in den Karton mit Strandkleidung.) (A.F.Th. van der Heijden: Das Gefahrendreieck)


Heijden, A.F.Th.: Der Gerichtshof der Barmherzigkeit

  Jahrelang übte Albert sich in dem, was er als "Leben in die Breite" bezeichnete: den Geist an möglichst vielem zugleich teilhaben zu lassen. Stand nicht fest, daß die Möglichkeiten des menschlichen Geistes unbegrenzt waren? Sein Auffassungsvermögen uneingeschränkt? Nun, dann mußte es auch möglich sein, eine sehr große Zahl - womöglich gar eine unendliche Menge - von Gedanken und Bildern gleichzeitig aufzurufen. Bis weit über die Horizonte der normalen Gedankenwelt müßten sie sich aneinanderreihen... bis ins Unendliche... Keine Aufeinanderfolge von Gedanken, sondern Gleichzeitigkeit. Nur so ließ sich die unbarmherzig "in die Länge" verstreichende Zeit unschädlich machen. Nur so ließ sich jeder Bruchteil einer Sekunde endlos in die Breite dehnen. (A.F.Th.van der Heijden: Der Gerichtshof der Barmherzigkeit, S. 380)


Heijden, A.F.Th.: Der Gerichtshof der Barmherzigkeit [2]

  Der Erwachsene konnte sich selbst leicht weismachen, während der Pubertät für immer und ewig mit diesem kleine Bitten erfüllenden, wie ein Psychoanalytiker aufmerksam und kritisch zuhörenden Gott gebrochen zu haben - doch auch wenn Albert seine Vertrauensperson abends zwischen den Laken nicht mehr anrief, rechnete er doch weiterhin felsenfest damit, daß ihm nach jeder Folge von Mißgeschicken der Wind schon wieder den Rücken stärken würde. Kein Würfelwurf hatte ihn gelehrt, daß der Wind nun mal nicht ständig aus ein und derselben Richtung wehen konnte... Wer aber, zum Teufel, belohnte einen mit Glück? Woher kam dieses tiefe Vertrauen? (A.F.Th.van der Heijden: Der Gerichtshof der Barmherzigkeit, S. 381)


Heijden, A.F.Th.: Der Gerichtshof der Barmherzigkeit [3]

  In den ersten Wochen war sie lediglich ein Geräusch für mich, Mevrouw de Hoogh-Stey - kein Körper, sondern eine Wolke aus leisem Rauschen und Rascheln, die ganz langsam über die Treppen in den dritten Stock hinaufschwebte, begleitet von einem monotonen Gemurmel. Alle vierzehn Tage hatte sie eine Hilfe (drei Stunden lang resolutes Staubsaugen und Türengeknalle), aber einkaufen tat sie noch jeden Tag selbst. Nur das Treppensteigen fiel ihr schwer. Sie nahm sich Zeit dafür, übrigens nie länger als insgesamt eine halbe Stunde, in der sich nur ganz wenig, unter ungeheuerer Kraftanstrengung auf die zweitunterste Stufe, dann den einen Fuß auf die unterste, den anderen daneben... Tasche eine Stufe höher... und so machte sie sich an den langsamen Aufstieg, oder vielleicht sollte ich sagen: an ihren täglichen Treppenhausmonolog, dessen Takt, Aufbau und Rhythmus die drei Treppen auf irgendeine geheimnisvolle Weise bildeten. (A.F.Th.van der Heijden: Der Gerichtshof der Barmherzigkeit, S. 385)


Heijden, A.F.Th.: Der Gerichtshof der Barmherzigkeit [4]

  "So, und was machen wir jetzt, Brummbär? Gehen wir was trinken, oder wie ham wir's?" "Ausgeschlossen. Ich bin heute abend verabredet." "Oh... ist sie hübsch?" "Bildhübsch. Bloß... es ist keine Sie, sondern ein Er. Ich habe mich bei nährerer Betrachtung doch zur Homosexualität bekehrt. Mehr oder weniger auf deinen Rat hin. Und, wer weiß, vielleicht auch ein bißchen durch dein Zutun. Durch dich, Suus, habe ich mich an etwas Hartes und Knochiges zwischen zwei Bäuchen gewöhnt... Ich bin, wie man so sagt, ein spät Berufener." (A.F.Th.van der Heijden: Der Gerichtshof der Barmherzigkeit, S. 533)


Heijden, A.F.Th.: Unterm Pflaster der Sumpf [1]

  Jeden Morgen wollte Maggy sich wiegen, gleich nach dem Aufstehen, was am vorteilhaftesten war. Weil sie ihre Kontaktlinsen dann noch nicht eingesetzt hatte, schaute sie kurzsichtig an ihrem nackten Körper hinunter auf den zitternden Zeiger zu ihren Füßen. Immer weiter beugte sie sich vor, um die Kilos ablesen zu können, wodurch die Waage wieder aus dem Gleichgewicht geriet. Von der Reservebrille, die sie manchmal aufsetzte, wollte sie nichts wissen, weil die schwere Fassung und die dicken Gläser ihr Körpergewicht irreführend in die Höhe trieben. Schrecklich, sie auf diese Weise nackt zu sehen, den makellosen Körper mit nichts anderem bekleidet als einer scheußlichen Brille, die ihre Augen zu Stecknadelköpfen verkleinerte: eine steife Bürotrutsche, die zur Überraschung aller die Kleider abgelegt hat. (A.F.Th. van der Heijden: Unterm Pflaster der Sumpf)


Heijden, A.F.Th.: Unterm Pflaster der Sumpf [2]

  Nachdem so ungefähr alle garstigen Wetterarten an der Reihe gewesen waren, setzte Glatteis ein. Es war wirklich das letzte, was dem Winter noch einfiel. Das Heimtückischste vom Heimtückischen. Glatteis. Freund Winter hatte alles aus sich herausgepreßt, hatte sich völlig verausgabt, sich kopfüber unter Null fallen lassen... alles wieder auftauen... alles wieder gefrieren lassen... Und jetzt, da die Straßen mit einer undefinierbaren dumpfgrauen Kruste überzogen waren - Staub, Asche, Straßenschmutz, Hundekacke, alles war darin enthalten -, wurde eine Schicht Firnis darübergeklatscht, um das Zeugs gründlich in Lack zu tauchen, es ordentlich glänzen zu lassen und noch etwas länger zu konservieren. Kurz und gut, die Vernissage des Winters, im Freien und ohne billigen Wein. (A.F.Th. van der Heijden: Unterm Pflaster der Sumpf)


Heijden, A.F.Th.: Unterm Pflaster der Sumpf [3]

  Die tiefgläubigen Auftraggeber waschen ihre Hände in einem mohammedanischen Sprichwort: "Zum Beten bleibt wenig Zeit, wenn erst der Teufel gesteinigt werden muß." Ich lese vom Erdbeben. Was für ein Weib, Thjum, diese unsere Erde. Sie litt wieder mal unter Morgenmuffeligkeit. Aber trotzdem keine Sekunde zu spät bei der Arbeit, denk das bloß nicht. Ihre Bahn, ihre Umdrehungen... schon seit Jahrtausenden das perfekte Uhrwerk, der ideale Kalender. Ein Fischbeinstab verrutscht in ihrem Korsett, Menschen werden zermalmt, doch sie platzt nicht wirklich aus den Nähten. Bleibt pünktlich, auf die Minute, alles in bester Ordnung. Ich habe mal die stark vergrößerte Aufnahme einer Eizelle gesehen, die von Spermien bedrängt wurde. Es sah aus wie ein Golfball mit einer Perücke aus Sojasprossen. Analog hat sich von Zeit zu Zeit ein kosmischer Samen in die Erde gebohrt. Kaum absehbare Folgen. Planet und Sonne getrennt von Tisch und Bett, Anbruch einer nie dagwewesenen Eiszeit, aussterbende Tierarten... Aber: Sie kreist weiter. Sie wich nicht einen Millimeter von ihrer Bahn ab. Was für ein Wahnsinn! Und was für ein System! Alte Schlampe! (A.F.Th. van der Heijden: Unterm Pflaster der Sumpf)


Heijden, A.F.Th.: Das Biest [1]

  Und wenn ich bei Tante Tiny in der Küche war: "Du erzählst dem Kind doch wohl nichts Falsches, oder? Pass bloß auf! Du bringst es fertig, den Kleinen für den Rest seines Lebens zu verderben." Ich hörte das so oft, dass ich immer neugieriger wurde und es mir gar nicht so schlimm vorkam, für den Rest meines Lebens versaut zu sein. Ein verdorbenes Kind, aber immerhin mit einem phantastischen Geheimnis, mit dem es seinerseits das Leben anderer vermasseln könnte, falls es Lust dazu hatte. (A.F.Th. van der Heijden: Das Biest)


Heijden, A.F.Th.: Das Biest [2]

  Als wir das Alter erreichten, in dem eine gewisse sexuelle Aufklärung angebracht war, entschieden sich meine Eltern für eine abgeleitete Form: auf dem Weg über pikante Geschichten aus der Realität. Eigentlich war es eine sehr kunstsinnige Weise der Aufklärung: voller Andeutungen in Gestalt vielsagender Lücken, die der mit roten Ohren lauschende Kursteilnehmer selbst ausfüllen durfte. So habe ich viel aus meines Vaters Bericht über das Lido in den Mierloer Wäldern gelernt, das »die hohen Tiere von Philips und DAF mit ihren Flittchen« besuchten und wo »es natürlich nicht so anständig zuging, du verstehst schon«. Und ob ich verstand. Ich durchstreifte den Wald rund ums Lido, das damals schon lange geschlossen war und verfiel, doch von dem Gebäude und dem verrottenden Humus ringsum ging eine derart hinreißende Verderbtheit aus, dass ich hinter einer dicken Kiefer, aus der scharf duftendes Harz hervortrat, wie ein Weltmeister onanierte. So kam meines Vaters sexuelle Aufklärung doch mal zu Ehren. Ich sah die Flittchen nackt über den Teppich aus verdorrten Herbstblättern rennen und ihnen auf den Fersen Fabrikdirektoren, nur bekleidet mit Armbanduhren und Sockenhaltern. (A.F.Th. van der Heijden: Das Biest)


Hein, Christoph: Horns Ende

  Nun war es zu spät. Nun konnten die sich im Wind bewegenden Blätter mir keinen Seelenfrieden mehr geben, nun brauchte ich ihre Ruhe nur noch, weil ich ein alter Mann geworden war, zu schwach, um noch irgendein Ruder herumzureißen, nach irgendeinem anderen Weg zu suchen, aber auch einsichtsvoll genug, zu wissen, daß man einem vertanen Leben nicht noch mit wilder Empörung einen nachträglichen Sinn verleihen kann, sondern es in all seiner Vergeblichkeit mit Würde zu einem Ende zu bringen hat. (Christoph Hein: Horns Ende, S. 159)


Hein, Christoph: Das Napoleon-Spiel [1]

  Die einzige Person, die mittelbar und unmittelbar bei der Bestimmung des Strafmaßes einen erkennbaren Anteil besitzt, ist der Angeklagte. In meiner langjährigen Praxis habe ich immer wieder bemerken müssen, daß das Verhalten des Angeklagten von ausschlaggebender Bedeutung ist. Sein Verhalten vor Gericht, wohlgemerkt, nicht bei der Tat. Der Eindruck, den er vermittelt oder doch zu vermitteln versteht, entscheidet wesentlich, ich möchte sogar behaupten ausschließlich, ob der Richter die höchstmögliche oder eine geringere Strafe verhängt. Ein im Gerichtssaal unverschämt und provozierend auftretender Ladendieb hat tatsächlich weniger Chancen als ein charmanter und zuvorkommender auftretender Herr, der seine Tante mit einem Beil erschlug. Im Grunde seines Herzens würde jeder Richter, wenn das Gesetz es nur zuließe, den liebenswürdigen Mörder auf freien Fuß setzen und den Ladendieb im Gefängnis verschimmeln lassen. Auch der Gerichtssaal ist nur eine Bühne, und wir süielen die zugeteilten Rollen. (Christoph Hein: Das Napoleon-Spiel, S. 8)


Hein, Christoph: Das Napoleon-Spiel [2]

  Zwei Jahre ging ich in Tiefenort zur Schule. Unterrichtet wurde ich von drei sehr alten Lehrern, die in dem Ruf standen, antifaschistisch zu sein (alle drei waren erklärte Monarchisten, hatten deshalb die beiden letzten Regierungen mit Skepsis betrachtet und erschienen dadurch den neuen Behörden geeignet), und zwei jungen Leuten, sogenannten Neulehrern, die ständig verschwitzt wirkten (sie hatten Mühe, ihren Wissensvorsprung uns gegenüber, der genau vierundzwanzig Stunden maß, aufrechtzuerhalten). (Christoph Hein: Das Napoleon- Spiel, S. 34)


Hein, Christoph: Das Napoleon-Spiel [3]

  In Boppard gab es zwei Affären, aber ich will Sie damit nicht langweilen, da sie nichts mit meinem Fall zu tun haben. Ich erwähne sie nur, weil es in einer Kleinstadt schwierig ist, eine Beziehung zu beenden und im gleichen Ort eine neue zu beginnen, wenn man zu den besseren Kreisen zählt, zwangsläufig auch die Eltern des Mädchen kennenlernen muß und dadurch alles recht offiziell wird. Gehen Sie mit einem solchen gehobenen Kleinstadtmädchen dreimal spazieren, und Sie sind verlobt. Beim wiederholten Besuch der Eltern fallen gewisse Andeutungen (die Mama will unbedingt auf die Wangegeküßt werden, der Herr Papa bittet für eine halbe Stunde in sein Arbeitszimmer, um Geschäftliches zu besprechen, und eröffnet Ihnen, wo seine vor der Steuer verheimlichten Gelder angelegt sind), und irgendwann haben Sie nur noch die Wahl, um die Hand zu bitten oder Fersengeld zu geben. (Christoph Hein: Das Napoleon-Spiel, S. 60)


Hein, Christoph: Frau Paula Trousseau [1]

  "Ich weiß nicht, wie Sie zu ihr stehen, aber als Malerin, da taugt das Mädchen nichts. Ich habe ihr gesagt, Mensch, Mädel, so wie du ausschaust, da mußt du doch deine Zeit nicht mit Malen verplempern. Such dir einen Kerl, der Moos hat, und genieße das Leben. Du zerquälst dich doch nur auf der Leinwand. Das ist Tristesse mit Trauerrand, was du da pinselst. Wer soll das kaufen? Oder hast du einen Großauftrag vom Beerdigungsinstitut? Die schöne Paula weiß überhaupt nicht, daß es auch freundliche Farben gibt, ein leuchtendes Gelb, ein Karminrot. Bei ihr ist Terrakotta schon der Gipfel der Lebenslust. (Christoph Hein: Frau Paula Trousseau, S. 10)


Hein, Christoph: Frau Paula Trousseau [2]

  Jan gefiel mir. Er verströmte den angenehmen Geruch eines mit sich zufriedenen Menschen. Unglückliche Menschen kannte ich zur Genüge, beginnend mit meiner Mutter und meinem Vater hatte ich mehr unglückliche als glückliche kennengelernt, und ich fand sie lästig, belästigend. Unglückliche Menschen sollten sich zurückziehen, so wie früher die Pestkranken, sie sollten an entlegenen Plätzen leben, nur mit sich und ihresgleichen, und andere Menschen lauthals vor sich warnen, denn Unglück ist genauso ansteckend wie eine Seuche, mich jedenfalls deprimieren solche Leute. Ich bemühe mich, ihnen auszuweichen, sobald sie nur in meine Nähe kommen. Menschliches Unglück riecht wie verschwitzte Bettlaken, wie essigsaure Tonerde, wie ranziges Firnisöl. (Christoph Hein: Frau Paula Trousseau, S. 324)


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