|
Allgemeine Fundstücke / [H1]
A
B
C
D
E
F
G
H
I
J
K
L
M
N
O
P
Q
R
S
T
U
V
W
X
Y
Z
[^]
In unserer immer pubertierenden Vorstellung ist ein
Frauenarzt ein Mann, der morgens mit einem Lächeln
auf den Lippen aufsteht und dessen beneidenswerter
Arbeitstag mit den Worten beginnt: "Dann machen
Sie sich doch mal bitte frei!" Aus eigener bitterer
Erfahrung kann ich Ihnen allerdings verraten, wie Sie
dieses bohrenden Neids Herr werden. Gehen Sie doch
mal mit Ihrer Freundin zum Frauenarzt und sehen sich
im Wartezimmer unauffällig ein bißchen um. Und
dann bemühen Sie wieder Ihre Phantasie und stellen
sich alles textilfrei vor, was sich da Ihrem Auge
bietet. Und schon wissen Sie, daß man einen
Frauenarzt nicht immer nur am Lächeln, sondern
manchmal auch am grünlichen Gesicht erkennt. (Jens
Oliver Haas: 101 Gründe ohne Frauen zu leben, S.
25f.)
Viel Gemüse, Körner und Salate, kein Fleisch. Dazu
keinen Alkohol, keine Zigaretten und nichts Süßes.
Das, so wird Ihnen immer wieder erklärt, reinige
Körper und Geist und führe zu einem langen und
gesunden Leben. Ich bin ja grundsätzlich dafür, das
jede These, die meine Gesundheit betrifft, erst mal
im Tierversuch überprüft wird. Und soviel ich weiß,
sind Gemüse, Körner und Salate die bevorzugten
Nahrungsmittel von Goldhamstern. Davon hatte ich
zwei Stück - und keiner ist älter als fünf Jahre
geworden. Soviel zum langen Leben. (Jens Oliver
Haas: 101 Gründe ohne Frauen zu leben, S. 51)
"Wann beginnt eigentlich der Winterschlußverkauf?"
Woher sollen wir das wissen? Wir könnten uns das
vielleicht merken, wenn man den Winterschlußverkauf
endlich mit dem Beginn der Winterpause in der
Fußballbundesliga zusammenlegen würde. Außerdem
erinnern wir uns an den Termin grundsätzlich nie, weil
wir den Winterschlußverkauf hassen. Denn für uns
endet er immer gleich: Mit einem Minus von 1200
Mark auf unserer Kreditkarte. Und einer
Frau/Freundin, die uns versichert, sie habe uns mit
ihren Einkäufen mindestens weitere 2000 Mark
gespart. Denn schließlich hätten wir dafür jetzt für
wenig Geld diese superschicke Thermoausrüstung für
Schlittenhundeführer, die Bergstiefel mit Gasheizung
und den Tibet-Schlafsack, der garantiert bis minus 50
Grad warm hält. Womit wir natürlich wenig anfangen
können, weil wir seit 10 Jahren keinen Winterurlaub
mehr gemacht haben und in der deutschen Stadt
leben, die seit 5 Jahren keine Schneeflocke mehr
gesehen hat, die länger als 10 Sekunden
liegengeblieben wäre. (Jens Oliver Haas: 101 Gründe
ohne Frauen zu leben, S. 79)
Vom Farbfernseher haben sie damals beim
Löschenkohl nur träumen können, und beim
Schwarzweißen hast du am Anfang froh sein müssen,
wenn du ein Bild gehabt hast. Weil oft einmal nur
Ton, ohne Bild, und dann wieder nur Bild, aber kein
Ton. Und da hast du einen Knopf gehabt, da hast du
es dir aussuchen können, lieber ein gutes Bild oder
lieber einen guten Ton. Oder ein Kompromiß,
schlechteres Bild, aber dafür ein bißchen Ton. Oder du
hast den lästigen Streifen drinnen gehabt, ein halbes
Bild über dem Streifen, ein halbes Bild darunter, und
der Pele ist mit seinen Puma-Schuhen auf seinem
eigenen Kopf spazierengegangen. (Wolf Haas: Der
Knochenmann)
Er hat sich jetzt erinnert, wie sie bei der Kripo einmal
eine ganze Nacht im Bereitschaftsraum gesessen
sind, und nicht ein einziger Einsatz ist
hereingekommen. Sie haben bis vier Uhr früh Mau-
Mau gespielt, um einen Schilling pro Punkt, und auf
einmal ist der Oberascher zum Giftschrank
hinausgegangen und mit dem Kokain, das sie am
Vortag beschlagnahmt haben, wieder
hereingekommen. Und das ist ja das Gefährliche an
diesem Teufelszeug, daß du oft Jahre danach noch so
einen Rückfall haben kannst, auf einmal reißt es dich
wieder hinein in den Rausch, mitten am hellichten
Tag, obwohl du seit Jahren nichts mehr genommen
hast. Und da haben sie sogar ein eigenes Wort dafür:
backlash, also englisch, weil das muß so furchtbar
sein, daß man es sich auf deutsch gar nicht sagen
traut. (Wolf Haas: Der Knochenmann)
Der Brenner ist sowieso Spezialist gewesen, wenn er
etwas nicht hören hat wollen. Weil wenn du zwei
Jahrzehnte in Wachstuben und Polizeibüros
verbringst, dann bist du vielleicht ein bißchen
Spezialist beim Rauschgift, oder ein bißchen
Spezialist bei Mord, oder ein bißchen Spezialist bei
Betrug. Aber voller Spezialist bist du immer nur beim
Weghören. Weil Tag und Nacht der Kollege am
anderen Schreibtisch, und die Sekretärin handelt am
Telefon ihre Scheidung aus, wer letzten Endes den
Wellensittich bekommt und wer nur Besuchsrecht.
Wenn du da nicht Weghörspezialist bist, überlebst du
kein halbes Jahr. (...) Aber die Kunst beim Weghören
ist natürlich, daß du im richtigen Moment wieder
zuhörst. Darum sage ich ja: Spezialist. Weil weghören
kann bald einmal einer. Aber mitten im totalen
Weghören im entscheidenden Moment wieder
zuhören, das macht den Könner aus. (Wolf Haas:
Der Knochenmann)
An den Wänden sind noch ein paar verrostete
Werkzeuge gehängt, zum Teil schon richtig
überwachsen von dem Moos und Gras, das sich in den
Jahren zwischen den Holzbalken breitgemacht hat.
Weil natürlich, die Natur ist da erbarmungslos. Zuerst
ist der Mensch erbarmungslos, baut alles in die Natur
hinein, was ihm einfällt, aber die Natur auch nicht
vornehm, wenn der Mensch kurz nicht hinschaut, ist
schon wieder alles zugewachsen. Da sind wirklich
einmal zwei Brutale zusammengekommen, und tut
mir keiner leid. (Wolf Haas: Der Knochenmann)
Der Brenner hat eine Leistung gezeigt, da hätte man direkt an
eine ausgleichende Gerechtigkeit glauben können. Dass ein Mensch,
der jahrzehntelang die Dynamik ein bisschen unter Verschluss
hält, es dann alles auf einmal zurückkriegt, quasi Lawine. Wo man
schon fast sagen muss, Vorsicht, nicht dass es dir geht wie
diesen Hunden, die man nach drei Tagen Hausarrest wieder aus der
Hundehütte lässt und die sich dann oft vor lauter Lebensfreude am
Gartenzaun das Genick brechen. (Wolf Haas: Wie die Tiere)
Wenn du heute als Politiker einen Hund nur schief anschaust,
Wahldebakel schon fertig, da brauchst du gar nicht mehr antreten.
Ja im Gegenteil, du musst als Politiker selber einen Hund haben
oder zumindest einen Ehepartner mit einem schönen Hund. Schöner
Hund viel wichtiger als schöner Ehepartner, haben sie
herausgefunden, weil schöner Ehepartner löst Neid aus, schöner
Hund aber nicht Neid, sondern Liebe, so sind die Leute. (Wolf
Haas: Wie die Tiere)
Jetzt natürlich großer Fragesturm bei den Früchtchen-Eltern.
(...) Was ist eine Verkehrte? Verkehrte natürlich leicht zu
erklären, mit der flachen Hand klatscht die Ohrfeige zwar lauter,
brennt ein bisschen, beschämt dich bis auf die Knochen, tut aber
weiter nicht weh, außer du hast Pech und es zerreißt dir das
Trommelfell. Mit der Verkehrten klatscht es viel weniger, ist
aber natürlich schon am halben Weg zum Faustschlag, weil die
Knöchel sind hart und das Jochbein ist ja beim Menschen nicht
viel wert, das geht schon aus dem Leim, wenn du falsch hustest.
(Wolf Haas: Wie die Tiere)
Weil die Kinder von den reichen Leuten haben es auch nicht immer
leicht. Natürlich, 90 Prozent zum Vergessen, weil die Ausbildung
zum Cabriofahrer überstehen ja nur die wenigsten ohne
Hirnverkühlung. Aber andererseits, 90 Prozent von den normalen
Leuten auch zum Vergessen! Ist natürlich schon wahr, daß Geld den
Charakter verdirbt, bin ich der letzte, der das bestreitet. Aber
Armut verdirbt auch den Charakter, Mitteldings verdirbt auch den
Charakter. Charakter überhaupt ein sehr empfindliches Gemüse.
Jetzt vielleicht kleiner Trost: Manche Gemüse schmecken erst so
richtig, wenn sie schon ein bißchen am Hinübersinken sind. (Wolf
Haas: Silentium!)
Seine Begabung war ganz gering, er sah aus, als
nähme er sehr viel Nahrung zu sich, er war dick und
tierisch kräftig. Aber es schien etwas Ungesundes,
etwas Idiotisches über ihm zu sein, seine Ergebenheit
in sein Schicksal war zu unverständlich. Solche
Hoffnungsfreudigkeit setzt einige Dummheit voraus,
dachte ich, es bedarf eines gewissen Grades von
Minderwertigkeit, um dauernd mit dem Leben
zufrieden zu sein und sich noch dazu etwas neues
und Gutes zu erwarten. (Knut Hamsun: Gedämpftes
Saitenspiel, S.14)
Der Doktor (...) war ein braver Bauernjunge, der
studiert hatte. Aber kein Zweifel, er meinte es gut,
das zeigte er in seiner Sorge um die Patienten. Wer
war ein so seelenguter Allerweltsfreund wie er! Oft
übertrieb er und machte sich selber klein, um andern
zu dienen, ja, andern zuliebe konnte er sogar die
Bedeutung seiner Stellung als Arzt verwischen und
etwa sagen: Dies oder jenes Übel können Sie, Herr
Bertelsen, bei Ihrer Bildung und Intelligenz leichter
durch Massage kurieren, als ich es mit meinen
Tropfen kann. Konnte ein Arzt so etwas sagen, ohne
dabei zu verlieren? Die Folge war, daß Herr Bertelsen,
der an die Tropfen glaubte, aufhörte, an den Arzt zu
glauben. Doktor Öyens Fehler war, daß er zuviel
redete, er verhielt sich nicht schweigend und
geheimnisvoll: Einen Doktor muß man mit
Aberglauben betrachten, er soll verstehen lassen, daß
er ein Teil mehr kann als sein Vaterunser. (Knut
Hamsun: Das letzte Kapitel)
Wie aber die Kirchspielleute unten im Grase auf dem
Bauche lagen und guckten, bekamen sie halbwegs
den Eindruck, als ob auch die Menschen, die sich um
die Häuser und auf den Wegen herumtrieben, nur
gedachte Menschen wären. Du lieber Gott, viele
waren Schatten, fast keiner war gesund; da gab es
Männer mit blauen Nasen, obgleich es nicht kalt war,
und dafür wieder ein paar Kinder mit bloßen Knien,
obschon es kühl war. Was bedeutete das alles? Da
gab es Damen, die hysterisch kreischten, wenn ihnen
eine Ameise auf den Ärmel gekrochen war. Oh, aber
Menschen gab es wirklich genug, es fehlte nicht
daran. Sie gingen umher, sie sprachen, hatten Kleider
an, einige husteten, daß man es weit fort hörte.
Einige waren mager wie Gespenster und durften nicht
körperlich arbeiten, sondern mußten still in der Sonne
sitzen, andere quälten sich mit einer Art Maschine
einen Berg hinan, eine sogenannte 'Kraftprobe', um
das Fett los zu werden. Allen fehlte dieses oder
jenes, aber Gott hatte es unter ihnen verteilt. Am
schlimmsten waren die Nervenschwachen, die hatten
alle Krankheiten zwischen Himmel und Erde auf
einmal, und man mußte mit ihnen reden, als wären
sie Kinder. Frau Ruben zum Beispiel, die so dick war,
daß sie kaum durch die Tür in ihr Zimmer kommen
konnte, es aber nicht übelnahm, wenn man ihre
Korpulenz auf das gewönliche Maß reduzierte, ja, sie
leugnete geradezu, daß sie besonders dick wäre -
nein, sie lächelte nur freundlich darüber; wenn aber
der Doktor an ihrer Schlaflosigkeit zweifelte, einen
Scherz über ihre Nerven machte, dann wurde sie
wütend, und ihre Augen glühten. Eine Tages sagte
der Doktor im Vorübergehen: Es ist merkwürdig, wie
Sie hier erholt haben, Frau Ruben. Ihnen fehlte nichts
mehr! Frau Ruben antwortete nicht, spie aber hinter
dem Doktor aus und ging ihres Weges. (Knut
Hamsun: Das letzte Kapitel, S. 445)
Ruud war keiner von den Schlimmsten, kein
Verbrecher, kein Teufel, oh, weit entfernt. Wenn er
ging, hielt er die Augen auf den Boden geheftet, und
fand er eine Stecknadel auf dem Teppich, so legte er
sie dem, dem sie gehörte, in auffälliger Weise auf
den Tisch. Er war ein Mann mit grauem und hübsch
gestutztem Vollbart, trug einen Freimaurerring am
Finger und war wohlhabend genug, um ehrlich zu
sein. (Knut Hamsun: Das letzte Kapitel, S. 640)
Ein Feenglanz weilte um diese Zeit über Land und Wald,
die Sonne war untergegangen und färbte den Horizont mit
einem fetten, roten Licht, das still stand wie Öl. Der
Himmel war überall offen und rein, ich starrte in
dieses klare Meer, und es war, als läge ich von
Angesicht zu Angesicht dem Grund der Welt gegenüber und
als schlüge mein Herz innig diesem nackten Grund
entgegen und wäre dort daheim. (Knut Hamsun: Pan, S.
15)
Elfride Swancourt war ein Mädchen, dessen
Gefühlsregungen dicht an der Oberfläche lagen. Ihre
genaue Beschaffenheit und wie sich diese im langsamen
Fluß der Stunden veränderte, verstand nur, wer die
Umstände von Elfrides Entwicklung kannte. Ihr Äußeres
war die Verbindung sehr interessanter Einzelheiten,
deren Besonderheit jedoch mehr in der Verbindung selbst
lag als in den Elementen der Verbindung. Tatsächlich
sah man weder Form noch Gehalt ihrer Züge, wenn man mit
ihr sprach; und diese reizende Fähigkeit, einen
Gesprächspartner am eingehenden Studium ihres Gesichtes
zu hindern, hatte ihren Ursprung nicht in der
verhüllenden Macht verfeinerter Umgangsformen (denn
diese waren kindhaft und kaum gebildet), sondern in der
anziehenden Unmittelbarkeit ihrer Äußerungen selbst.
(Thomas Hardy: Blaue Augen)
Vom Eßzimmer des Pfarrhauses aus gesehen, das vom Feuer
warm erleuchtet war, erschienen das Wetter und die
Landschaft draußen schablonenhaft in gleichen,
einförmigen Grautönen. Die Bäume mit ausladendem Geäst,
die Wacholdersträucher, Zedern und Nadelhölzer waren
grauschwarz. Die Laubbäume samt Bodenbewuchs waren
graugrün; hinter ihnen die unwandelbaren Hügel und der
Turm waren graubraun; der Himmel, Hintergrund des
Ganzen, trug das Grau der reinsten Melancholie. Doch
trotz dieser malerischen Düsternis lastete der Morgen
keineswegs schwer auf dem Gemüt. Er war sogar
herzerfrischend. Denn es regnete nicht, noch war Regen
in Bälde zu erwarten. (Thomas Hardy: Blaue Augen)
An dieser Behauptung erschien gewiß nichts übertrieben.
Bei Tageslicht zeigte sich Mr. Swancourt als ein Mann,
der wie die anderen beiden Personen unter seinem Dach
berechtigterweise als gutaussehend gelten durfte -
gutaussehend in dem Sinn, in dem auch der Mond hell
ist: Die Schluchten und Täler, die bei näherem Hinsehen
seine Oberfläche zerklüftet erscheinen lassen, bleiben
außer Betracht. Sein Gesicht hatte eine Färbung, die
weder auf den Wangen dunkler wurde noch auf der Stirn
heller, sondern überall gleich blieb; die übliche
Lachsfarbe eines Mannes, der sich gut - vielleicht zu
gut - ernährt und nicht angestrengt denken muß; jede
Pore, das sah man, arbeitete gut. Der Gesamteindruck
war der eines höchst gebildeten Bauern, der die
falschen Kleider trägt; eines fest im Leben stehenden,
aufrechten Mannes, der nur rückwärts hätte stürzen
können, hätte er je das Gleichgewicht verloren. (Thomas
Hardy: Blaue Augen, S. 25)
Stephen schritt eine Zeitlang für sich allein dahin, in
jene strenge Zurückhaltung gehüllt, die ihr Ton ihm
aufzwang. Dann, als es ihm offenbar eingefallen war,
daß es nur Mädchen zustand zu schmollen, kam er heiter
an ihre Seite und bot ihr seinen Arm mit spanischer
Grandezza, um ihr auf den letzten drei Vierteln des
Anstieges beizustehen. Das war eine Versuchung. Zum
erstenmal in ihrem Leben war Elfride auf diese Weise
wie eine erwachsene Frau behandelt worden - ein Arm
bot sich ihr dar unter der Voraussetzung, daß sie ihn
zurückweisen dürfe. Vor heute abend hatte sie nie
männliche Aufmerksamkeiten entgegengenommen, außer
solchen, wie sie simplen Bemerkungen ihres Vaters
enthalten mochten, etwas 'Elfride, gibt mir die Hand;
Elfride, häng dich bei mir ein'. In ihrem unreifen
Herzen machte das Ereignis Epoche. Sie erwog das Für
und Wider ihrer Gefühle. Gemeinsam waren sie dafür, das
Angebot anzunehmen; das einzige Gefühlchen der
Gekränktheit bestimmte sie; Stephen mit Ablehnung zu
strafen. "Nein, danke, Mr. Smith; ich komme besser
alleine zurecht." Es war Elfrides erster schwacher
Versuch, einen Liebhaber zu tyrannisieren. (Thomas
Hardy: Blaue Augen, S. 44)
"Ich muß Ihnen sagen, wie sehr ich Sie liebe! All die
Monate, als ich weg war, habe ich Sie angebetet."
Impulsiv wie der Jüngling war, sprang er von seinem
Stuhle auf, glitt an ihre Seite, und beinah bevor sie
es vermuten konnte, lag sein Arm um ihre Taille, und
beider Lockenpracht verwirrte sich. So gänzlich neu war
Elfrides voll erblühte Liebe, daß sie vor der Neuheit
des Gefühls ebenso erbebte wie vor dem Gefühl selbst.
Dann entzog sie sich plötzlich und stand auf,
verärgert, daß sie sich wiederstandslos sogar diesem
nur ganz kurzen Druck ergeben hatte. Sie beschloß,
diese Eröffnung als verfrüht zu betrachten. "Mit
solchen Sachen dürfen Sie nicht anfangen", sagte sie
mit kokettem Hochmut, der nur allzuleicht zu
durchschauen war. "Und - Sie dürfen das nicht wieder
tun - und Papa kommt." "Einen Kuß nur - einen kleinen",
sagte er mit der ihm eigenen Zartheit und ohne der
Künstlichkeit ihres Benehmens innezuwerden. "Nein,
keinen." "Nur auf die Wange?" "Nein." "Stirn?"
"Bestimmt nicht." "Sie fühlen also für einen anderen?
Ach, das dacht' ich mir!" "Ich bin sicher: nein." "Und
für mich auch nicht?" "Wie soll ich das wissen", fragte
sie schlicht, wobei die Schlichtheit nur in den groben
Konturen von Gebaren und Redeweise lag. Es gab da jenen
Unterton in der Stimme und jenen halbverborgenen
Augenausdruck, der dem Eingeweihten verrät, wie gar
zerbrechlich das Eis der Selbstbeherrschung bei solchen
Gelegenheiten ist. (Thomas Hardy: Blaue Augen, S. 52
f.)
Mit einem Blick machte er deutlich, daß es unter den
gegebenen Umständen keine große Vergünstigung sei, eine
Hand durch einen Handschuh, einen Reithandschuh gar, zu
küssen. "Also gut. Ich zieh' den Handschuh aus. Ist das
nicht eine hübsche, weiße Hand? Ach, Sie wollen sie gar
nicht küssen, und Sie sollen's jetzt auch nicht!" "Wenn
ich's nicht tue, will ich nie wieder küssen, du strenge
Elfride! Du weißt, du bist mehr, als ich sagen kann; du
bist meine Königin. Ich würde für dich sterben,
Elfride!" Wieder überzog ein schnelles Rot ihre Wangen,
und sie sah ihn nachdenklich an. Welch ein stolzer
Augenblick das nun für Elfride war! Zum erstenmal in
ihrem Leben herrschte sie über ein Herz gänzlich
uneingeschränkt. Stephen haschte verstohlen nach ihrer
Hand. "Nein, nein nicht!" sagte sie eigensinnig: "und
Sie sollten Überraschungsversuche bleibenlassen." Es
folgte ein kleines Gerangel um den Besitz der ach so
begehrten Hand, an dem die Ausgelassenheit von Junge
und Mädchen weit größeren Anteil hatte als die
Gesetztheit von Mann und Frau. (Thomas Hardy: Blaue
Augen)
Stephen wanderte denselben Weg durch die Wiesen zum
Pfarrhaus zurück, den er gekommen war, umgeben von der
sanften Melodie des Wassers, das durch kleine Wehre
plätscherte, dem verhaltenen Mondlicht, dem
aufkommenden Duft des Taus, der rings sich verbreitete.
Es war eine Zeit, da bloßes Sehen schon stille
Betrachtung ist und stille Betrachtung Friede. Stephen
war kaum Philosoph genug, vom Angebot der Natur
Gebrauch zu machen. Seine Veranlagung war im einzelnen
ganz schlicht, zudem von einer Art, die selten ist in
der Frühzeit der Zivilisationen, die aber sehr häufig
zu werden scheint, wenn Nationen altern, Individualität
sich verliert und die Bildung sich ausbreitet; sein
Gehirn war nämlich außerordentlich aufnahmefähig, aber
nur wenig schöpferisch. Schnell im Erwerb jedweden
Wissens, das er um sich wahrnahm, ausgestattet mit
einer anpassungsfähigen Formbarkeit, wie sie sonst eher
Frauen als Männern eignet, wechselte er die Farbe wie
ein Chamäleon, sobald die Gesellschaft, in der er sich
befand, eine höhere und künstlerische Tönung annahm. Er
besaß nicht viele eigene Ideen, und doch gab es kaum
eine Idee, der er - unter ensprechender Anleitung -
kein annehmbares Seitenstück hätte beifügen können.
(Thomas Hardy: Blaue Augen)
"Du schreibst aber so, als wärst du hundertmal verlobt
gewesen, wenn ich das sagen darf", sagte Stephen
verletzt. "Ja, mag schon sein. Aber, mein lieber
Stephen, nur diejenigen, die eine Sache halb verstehen,
halten es der Mühe nicht für wert. Alles, was ich von
Frauen weiß und von Männern auch, ist eine Masse von
Verallgemeinerungen. Ich plack' mich ab, und manchmal
heb' ich die Augen und laß' einen Blick über die
unruhige Oberfläche der Menschheit schweifen, wie sie
sich zwischen mir und dem Horizont wälzt - wie eine
Krähe vielleicht; das ist alles." (Thomas Hardy: Blaue
Augen)
"Schau dir nur im Wagen dort drüben diese Mama vom Typ
Töchterleins Schwester an", fuhr sie zu Elfride
gewendet fort, nur mit einer Augenbewegung hindeutend.
"Das alles überwältigende Wissen um die eigene
Stellung, das ihre Miene zur Schau trägt, ist doch
niederschmetternd für jeden, der stolz auf dieses unser
Land sein will. Man kann es doch kaum glauben, nicht
wahr, daß Mitglieder einer Eleganten Welt, deren
vorgebliche Null noch weit über der höchsten Höhe des
Fußvolkes steht, so überhaupt keine Ahnung von der
grundlegenden Natürlichkeit der Zurückhaltung haben."
"Inwiefern?" "Insofern, als sie auf ihren Gesichtern,
deutlich wie auf jüdischen Schriftrollen, die Inschrift
tragen: Beachten Sie bitte die Wappenkrone auf meiner
Wagentür." "Wirklich, Charlotte, sagte der Pfarrer, "du
liest in Gesichter fast mehr hinein als der
Theaterautor ins Nicken des Kritikers." (Thomas Hardy:
Blaue Augen)
Ungefähr drei Wochen später saßen die drei Swancourts
ruhig im Salon von The Crags, Mrs. Swancourts Haus in
Endelstow, und ließen in gemütlichem Geplauder die
vorangegangenen ein, zwei Monate in London Revue
passieren - eine durchaus ermüdende Angelegenheit
selbst für Leute, deren Bekanntschaften dort an zehn
Fingern abzuzählen waren. Eine einzige Saison in London
mit ihrer erfahrenden Stiefmutter hatte Elfrides
Wahrnehmung so geschärft, daß ihr Stephens Werbung um
sie blutleer vorkam, als läge sie schon Jahre zurück in
einer Vergangenheit. Bei der Betrachtung unserer
geistigen Entwicklung geht es uns wie bei der optischen
Wahrnehmung: Unser Fortschritt liest sich als ein
Kleinerwerden dessen, von dem wir einmal ausgegangen
sind. (Thomas Hardy: Blaue Augen)
Die Jugend der Laubfrösche ist in der Regel unfroh. Zuerst müssen
sie als Kaulquappen gewärtig sein, von einem gefräßigen Wassertier
verschlungen zu werden, die Dorfjungen fangen sie wie die
Kaulquappen anderer Frösche, stecken sie in Gläser und glauben, es
seien Fische. Zu Hause belehrt, daß es sich um die Larven von
Fröschen handelt, schütten sie das Zeug in den Ausguß oder an noch
schlimmere Stellen. Und wenn sich am Ende doch eine dieser
Laubfroschlarven rettet, dann erwarten die Menschen von ihm, er
müsse ihnen das Wetter vorhersagen. (Jaroslav Hasek: Der verwirrte
Laubfrosch und fünfunddreißig andere lustige Geschichten)
Mein Vater hatte eine bei meinem sanften, zur
Unterordnung neigenden Wesen kaum sehr
angebrachte militärische Art, mit mir zu verkehren.
Klang der Name Lorenz, so hieß ich nämlich, von
seiner Stimme gesprochen durchs Haus, so verlor ich
fast immer alle Besinnung. In einem solchen Zustand
eine Treppe herunterhastend, rutschte ich aus und
brach das Bein. Die Knochen wurden von einem
Pfuscher schlecht zusammengeleimt, so daß das
betroffene Bein kürzer wurde. Um den Schaden zu
heben, wurde es von einem anderen Pfuscher
gewaltsam nochmals gebrochen, worauf es
schließlich, nach der Heilung, noch kürzer geworden
war. (Gerhard Hauptmann: Phantom, S. 20)
Und trotzdem lieben wir die Künstler jedweder Art,
sogar diese, deren Verdienste wir nicht recht zu
würdigen imstande sind. Bildhauer, Maler, Zeichner, -
so wie wir sie an jenem Abend sahen - waren
sicherlich erfreulichere Leute als der Durchschnitt, den
man in der alltäglichen Gesellschaft antrifft. Sie
waren nicht gänzlich an den niederen Bezirk des
praktischen Daseins gefesselt, sie besaßen ein
Streben, das sie zum Schönen hingeführt hätte,
wären sie ihm gefolgt, und immer behielten sie die
Richtung dorthin bei, auch noch, wenn sie sich am
Wegrand verweilten, um goldenen Unrat aufzulesen.
(Nathaniel Hawthorne: Der Marmorfaun, S. 136)
Eine Katastrophe kommt selten allein. Am liebsten
überfallen sie einen im Gruppenverband. Sie
trommeln sich gegenseitig zusammen und kündigen
einander an: Ein Unglück ist der Hiobsbote des
nächsten. Über Nacht schießen sie alle gleichzeitig
wie Pilze aus dem Boden, um schon am nächsten
Morgen ihren Schirm leer zu schütteln. So hinterläßt
jede Katastrophe ihre Spuren in Gestalt ganzer Serien
neuer Katastrophen. Sie bilden eine einzige große
Familie, weitverzweigt, aber mit festem
Zusammenhalt: eine Mafia giftiger Schwämme... ein
Hexenring, der sich wie eine Schlinge immer enger um
einen zusammenzieht. (A.Th.F. van der Heijden:
Fallende Eltern, S. 9)
Ungehindert, ohne irgendeine Schwelle, zogen
Schnecken, die, aus dem Garten kommend, "nicht
rechtzeitig zu bremsen verstanden" - wie Thjum es
ausdrückte -, Schleimspuren über seinen
Teppichboden. Er beklagte sich über den obszönen
Anblick, den der glasig getrocknete Schleim bot.
"Willst du dir nicht endlich mal ein Mädchen zulegen",
hatte sein ältester Bruder Gidi einmal mit
angewidertem Blick auf den Boden gesagt - aber für
diesen Sportsmann waren Mädchen ja auch in erster
Linie Spüllappen, in denen man seinen Kolben
schneuzt. (A.Th.F. van der Heijden: Fallende Eltern,
S. 12)
Berendina Schwantje wurde "Beertje" genannt, ein
Kosename aus der Zeit, als sie noch als pummeliges
Kleinkind in Geldrop herumstapfte, der aber nicht
mehr zutraf. Lang und dünn war sie mittlerweile, fast
schon mager zu nennen, und sie tanzte auch nicht
gerade so, wie es ein Bär zu tun pflegt. In Berendina
Schwantje hatten wir eine Ballettänzerin ersten
Ranges, voll versteckter Drahtigkeit wie ein
Windspiel. Ich hatte sie im Nimwegener Theater
gesehen... von Kopf bis Fuß fließende Bewegung.
Wenn man im Saal saß, gewann man rasch den
Eindruck, höchstpersönlich der Unbewegte Beweger zu
sein - so sehr entsprach ihr Tanz den Wünschen und
Vorstellungen des Zuschauers. Aber auch im
Ruhezustand und mit den Absätzen auf dem Boden
bot Berendina einen prächtigen Anblick. Jeder Zoll
eine Primaballerina: hohe, glatte Stirn, auf der ich nie
auch nur das leiseste Runzeln gesehen hatte...
schrägstehende Katzenaugen unter fast senkrechten
Augenbrauen, die sie in dieser Position gar nicht
runzeln konnte... obligatorisch sichtbare
Wangenknochen, die jeden Moment die straffe Haut
durchstoßen konnten... keine Wangen... dominierende
Nase: lang, schmal, gebogen... hochmütiges Kinn...
und dann diese abwärts zeigenden Mundwinkel, die
ihr paradoxerweise eher einen unbestimmt lächelnden
als einen mißmutigen Ausdruck verliehen. (A.Th.F.
van der Heijden: Fallende Eltern, S. 21f.)
Ich hatte nicht so viel am Hut mit Thjums Brüdern.
Gideon hatte ich sowieso gefressen, seit er Marike de
Swart in Schwierigkeiten gebracht hatte (obwohl ich
zugeben mußte, daß meine Schwierigkeiten dadurch
aufhörten). Davon abgesehen, waren sie mir zu
sportlich, das heißt... zu sportwütig. Sie spielten
Tennis, ritten... sie besaßen Sportwagen und ein
Speedboot. Die üblichen Reicheleutesöhnchen eben.
Crist wurde von der Polizei verdächtigt, etliche Hektar
Naturschutzgebiet aus Rache niedergebrannt zu
haben, weil er mit seinem Rennrad dort nicht fahren
durfte... (A.Th.F. van der Heijden: Fallende Eltern, S.
90)
Die Augen zu schließen und das Leben in die Breite
zu dehnen... das hatte ich verlernt. Viel zu lange
schon wieder hatte es sich einzig und allein "in die
Länge" entrollt, schneller noch als die Zeiger der Uhr,
die durch Zutun von Alkohol seltsame Sprünge
machen und oft große Löcher in einen Tag schlagen.
Die Spannung war raus. Muskeln, die lange nicht
benutzt worden sind, erschlaffen - das gilt auch für
geistige Muskelgeweben. Für mich gab's nicht mal die
leiseste Spur von Ewigkeit. Ich hatte mein Recht auf
eine Seele verscherzt. Es war vorhersehbar, daß wir
den Weg des geringsten Widerstands wählen
würden: uns dem Suff ergeben. Alkohol schien die
Lösung für fast alles - eine Art Leim, freilich von der
Sorte, die sich jeden Tag wieder löst. (A.Th.F. van der
Heijden: Fallende Eltern, S. 99)
Manchmal ging ich mit Spokie zu so einer Tee trinken.
Was mir auffiel, war ihre kultivierte Trägheit, das
völlige Fehlen jeglicher Form von Eile: Jede Handlung
durfte sich endlos dehnen. Sie konnten sich für alles
"Zeit lassen". Ich fragte mich, ob das ihr Leben
verlängere oder verkürze. Ich beneidete sie um die
Ruhe, mit der sie vor dem Spiegel ihren Lidstrich
zogen, die Präzision, mit der ein Joint gedreht wurde
- während auf dem Gaskocher in der Ecke das
Teewasser verkochte. Ich weidete mich an ihrer
Trägheit, die mich im tiefsten Grunde meines Wesens
ansprach. Nein, diese Frauengeneration litt nicht
unter der Arbeitslosigkeit. Sie hatte auch noch nie
gearbeitet... Ein schlechtes Vorbild für Bewegung, die
ich in mein Leben bringen wollte. (A.Th.F. van der
Heijden: Fallende Eltern, S. 155f)
Die Schwantjes kannten keinen Hunger, nur Appetit.
Wenn die Lust auf leckeres Essen gestillt war,
begannen Thjums Brüder, in ihrem Essen
herumzumanschen. Ich kam aus einem Milieu, in dem
jede Scheibe Brot, jede Kartoffel zählte. Mit Essen
spielte oder spottete man nicht. Natürlich hatte ich
auch schon mal einen kleinen Graben in einem Eintopf
gezogen, den ich nicht mochte, und den mit Soße
vollaufen lassen... aber für so etwas behielt sich
meine Mutter ihre strengen Verweise vor. Mich
grauste, wenn ich auf der Höheren Bürgerschule das
Söhnchen von Rechtsanwalt Tuinman mit verwöhnter
Miene den Brotbelag inspizieren und sein Pausenbrot
dann in die Mülltonnen pfeffern sah. Mir kam die Galle
hoch, wenn ich mitbekam, wie Kartoffeln oder
Suppenreste die Toilette hinuntergespült wurden...
Essen war heilig - auf eine selbstverständliche Art
und Weise, ohne daß es als solches verehrt werden
mußte. (A.Th.F. van der Heijden: Fallende Eltern, S.
206)
Er litt bereits seit einer Weile an Arbeitslosigkeit,
einem auferzwungenen Leiden. Als die Firma, in die
er fast zwanzig Jahre lang seine Arbeitskraft getragen
hatte, sich nicht wohl fühlte, steckte sie sich ohne
viel Aufhebens einen Finger in den Hals und kotzte
einen Teil des Mageninhalts aus. Nur ein paar
Hundert Arbeitnehmer... kaum der Rede wert.
Zuwenig, um auch nur ein Wort darüber zu verlieren,
aber genug, um sich wieder prima zu fühlen. Die
Gewerkschaft, diese treue Krankenschwester, hatte
den Spucknapf halten dürfen. Uff! War das eine
Erleichterung! Was weg war, war weg - Schluß aus.
Um eine vorübergehende Übelkeit seines
Arbeitsgebers vertreiben zu helfen, saß mein
ausgekotzter Vater auf einmal mit einem Virus fürs
ganze Leben da. Er selbst konnte so viel spucken, wie
er wollte, er wurde ihn nicht mehr los. Sie behielten
einen gerade so lange, bis man versauert und
aufgebraucht war und zu fertig, um noch für eine
andere Arbeit umgeschult zu werden, die es im
übrigen, wie sich zeigte, auch nicht mehr gab. Nein,
was uns die Wunderdoktoren der Volkswirtschaft auch
vorgaukeln wollten, Arbeitslosigkeit war und blieb
ebenso unheilbar wie Krebs. Und wer sich das eine
verbiß, konnte beim In-sich-Hineinfressen leicht auch
das andere kriegen. (A.Th.F. van der Heijden:
Fallende Eltern, S. 301)
Von Karl Marx' Exegeten hatte ich immer zu hören
bekommen, ein Mensch sei erst dann wieder glücklich
und von seiner Entfremdung erlöst, wenn er morgens
angele, nachmittags jagen oder im Garten werkeln
könne und abends nach dem Essen noch ein
Stündchen Zeit zum Philosophieren finde. Und zur
Abwechslung Hühner oder Pferde züchten, denn das
Leben dürfe nicht zu eintönig werden. Hauptsache,
man konnte seine Tätigkeiten von Anfang bis zum
Ende überblicken... So hatte ich es immer gelernt.
Doch die sozialistischen Herren von der Gewerkschaft
hatten, wie sich herausstellte, ganz andere Eisen im
Feuer. Es sollten möglichst wenig entfremdende
Arbeitsplätze abgebaut werden. Und wurde jemand
auf die Straße gesetzt, so bekam er bestenfalls eine
Umschulung für eine Arbeit, die ihm noch fremder
war, anstatt daheim die Hühner zu füttern oder
selbstgeschossenen Hasen das Fell über die Ohren zu
ziehen. Nach dem Abendessen zu philosophieren
stand natürlich jedermann frei, sofern er es nicht laut
tat. In der Praxis war dafür allerdings bitter wenig
Zeit, denn um sieben Uhr fingen die Sendungen im
Fernsehen an, die einem alle Lust zum Philosphieren
nehmen sollten. Im übrigen, was war denn auch
schon umzuschulen an einem ungeschulten Arbeiter,
wie mein Vater einer war? Womit füllte er seine Zeit
an diesem Tisch, den er nur verließ, um aufs Klo zu
gehen und Henna spazierenzuführen? Er rauchte, und
zwar eine Zigarette nach der anderen, trank Kaffee,
eine unübersehbare Zahl von Tassen, und unterhielt
sich von Zeit zu Zeit mit seinem Hund, der neben
seinem Stuhl oder unter dem Tisch zu seinen Füßen
lag. Er hatte alle möglichen Kosenamen für die alte
Hündin parat, zum Beispiel "Mädelchen", "Zecken-
Zicke", "Dolle Minna", "Närrische Trulla", "Olles
Weibsbild", "Schlappohr", "Mißglücktes Eichhörnchen",
"Flitscherl", "Herrchens Weibi"... "Ist sie nicht
Herrchens Weibi? Ja, sie ist Herrchens Weibi."
Manchmal richtete sich die Hündin in ihrem
abgetragenen Pelzmantel wie eine alte Tragödin
schmachtend auf, um sich das Nackenfell kraulen zu
lassen - woraufhin sie mit einem Seufzer wieder in
einer Wolke aus Plüsch und Plunder niedersank.
(A.Th.F. van der Heijden: Fallende Eltern, S. 301f.)
"Was ich den Menschen vor allem vorgeworfen habe,
Thjum, ist ihr schlechtes Gedächtnis. Nur was in der
Werbung kommt und die Tophits auf Hilversum 3
können sie auf Dauer behalten und mitpfeifen... Wo
wir nun doch schon mal dieses Gedächtnis haben...
warum wird es dann nicht benutzt? Manche Menschen,
die sich verdammt gut merken können, wieviel Geld
sie noch von dir bekommen, hört man oft verächtlich
schnaubend sagen - und zwar mit dem gleichen
merkwürdigen Stolz, mit dem sie bekennen, 'nie ein
Buch aufzuschlagen' -, daß sie sich aus der Zeit von
ihrem achten oder neunten Lebensjahr 'sowieso an
nichts erinnern". Bestenfalls kommen sie dann noch,
nachdem sie einen Moment grinsend nachgedacht
haben, achselzuckend, fast entschuldigend mit der
Erinnerung an eine Tante an (dieselbe, die immer von
dem stellvertretenden Bürgermeister sagte: 'Der ist
so eingebildet wie ein Hund mit sieben Pimmeln'), bei
der an einem sonnigen Tag - sie spielten im Garten -
ein roter Schlagball in der offenen Küchentür
verschwunden war. (A.Th.F. van der Heijden: Fallende
Eltern, S. 475)
Paris hatte ich nie mit etwas anderem als mit 'Milch'
assoziiert. Einmal, mit sechszehn, war ich einen
halben Tag dagewesen. Auf der Durchreise von
Spanien in die Niederlande. Im Laufe dieses halben
Tages hatte ich auf verschiedenen Cafetassen
zwanzig bis fünfundzwanzig Gläser Milch getrunken.
Ich war selbst überrascht über diesen einseitigen
Durst. Um ihn zu löschen, konnte ich nicht warten, bis
ich wieder in Bussum, bei meiner Mutter, war. In
meiner Unwissenheit brachte ich diesen Durst nach
Milch nicht mit dem Tequila in Verbindung, den ich in
Spanien, zum erstenmal in meinem Leben, in
Unmengen gekippt hatte. Ich wußte damals noch
nicht, daß Alkohol unersättliche Babys aus uns macht,
die am Morgen danach wie Lämmer nach einer
Milchzitze blöken. (A.F.Th. van der Heijden: Die
Drehtür, S. 87)
"Zuerst war der Mensch in all seiner Nacktheit der
Witterung ausgesetzt. Seit er seine Schutzschicht
wieder hat, hört man, wie sich das Gespräch über das
Wetter allmählich zum Gespräch über das Auto
verlagert. In the very beginning war die Welt
ja auch so beängstigend groß... In alle Richtungen
dehnte sich das All aus. Dem Erdenbewohner
schwindelte es. Er benötigte dringend einen Gott...
und bekam ihn. Im zwanzigsten Jahrhundert jedoch
holte der Mensch das Himmelsgewölbe zu sich
herunter und zog es fest um sich. Jedem sein eigenes
Himmelszelt. Die Seelen sanken sozusagen auf die
Erde herab... wurden von dort oben zur Schnellstraße
gerufen. Das regenbeständige Töfftöff ist der Grund,
weshalb der moderne Mensch, wie das Tier, keine
Religion benötigt. Ja, hier und da wird noch eine
Religion gepflegt ... als Kuriosum. Das ist alles. Das
Königreich Gottes ist mittlerweile ja... wie soll ich
das sagen ... um ihn herum." (A.F.Th. van der
Heijden: Die Schlacht um die Blaubrücke, S. 15)
"Der Traum eines jeden braven Familienvaters ist die
Stoßzeit", sagte er sofort. "Oder haben Sie auf dem
Zebrastreifen noch nie ihre Stoßstangen als
Bedrohung empfunden? Wenn Ihre Ampel grün zeigt,
dann grollen sie schon, in Viererreihen, vor Mordlust,
Gas... etwas mehr Gas... noch zehn Zentimeter
weiter auf die Fußknöchel zu... noch einen
Zentimeter, wenn es irgend geht... Und wenn Ihre
Ampel auf Rot springt, bevor Sie die andere Seite
erreicht haben, werden Sie nichts lieber tun, als Sie
mit dem Gesetz im Rücken maustot zu fahren.
Schließlich haben Sie kein teures Auto gekauft,
Versicherung bezahlt, Kfz-Steuer entrichtet,
kostspieliges Benzin getankt etcetera, um sich von
irgendeinem hergelaufenen son of a bitch,
der mit den Turnschuhen die weißen Streifen
ausradiert, bremsen zu lassen." (A.F.Th. van der
Heijden: Die Schlacht um die Blaubrücke, S. 21)
"Der Traum eines jeden braven Familienvaters ist die
"Meine Bewunderung für dieses nacktgeborene, am
stärksten benachteiligte Wesen der Schöpfung, dem
es gelungen ist, mit seinem mühsam erworbenen
Intellekt ein Ding wie das Auto zu realisieren, ist
ungebrochen. Meine Enttäuschung setzt erst da ein,
wo es seinen intelligenten Blick nicht weiter als bis
zu seiner Nasenspitze gerichtet hat: in die Zukunft,
um die Autoschlangen der siebziger Jahre zwischen
Den Haag und Scheveningen zu sehen... zwischen
Amsterdam und Zandvoort... an stickendheißen
Sonntagen. Jedem Arbeiter sein eigenes Töfftöff...
Warum hat der große Ingenieur die künftigen
Segnungen des Sozialismus bei seinen Berechnungen
nicht mit einkalkuliert? Sehen Sie, dann hätte mir
die menschliche Intelligenz wirklich Bewunderung
abgenötigt: Wenn er die Verwirklichung des Autos auf
ein einziges vollkommenes Museumsexemplar
beschränkt hätte, das der Welt keinen Schaden
zufügen könnte. Als Beweis dafür, wozu er imstande
ist, ohne seiner Erfindung die Chance zu geben, ihm
über den Kopf zu wachsen. (A.F.Th. van der Heijden:
Die Schlacht um die Blaubrücke, S. 21)
Immer mehr große Kisten waren mit einer
Alarmanlage ausgestattet. In der näheren Umgebung
brauchte nur eine Gehwegplatte locker zu sein, und
schon ging beim ersten schweren Passanten die
Sirene los wie in einem Juwelierladen während eines
schweren Gewitters. Kinder bei mir im Viertel De Pijp
wußten genau, wo man an so einem Auto
herumfummeln mußte, um den Alarm auszulösen. Es
war mehr als ein alltäglicher Lausbubenstreich. Sie
ließen jedermann hören, auf welch schwachsinnige
Weise die Leute heutzutage ihren Besitz schützen...
ließen die falsche Stimme der habgier aus den
Besitztümern heraus ertönen. In jedem banalen
Eigentum ist so eine Heulboje eingeschlossen - das
war es, was sie vorführten. (A.F.Th. van der Heijden:
Die Schlacht um die Blaubrücke, S. 24)
Sie teilte das Zimmer mit einer kleinen, molligen
Frau, die, sehr jung noch, zu schnell nacheinander zu
viele Kinder geboren hatte. Alles nach Plan. Sechs
waren es jetzt; nach dem siebten oder achten wollte
die Familie nach Belgien auswandern, wo das
Kindergeld bekanntlich soviel üppiger ausfiel als in
den Niederlanden. Die Brutmaschine war auf vollen
Touren gelaufen und mußte sich, bevor sie erneut in
Gebrauch genommen wurde, einer Wartung
unterziehen. (A.F.Th. van der Heijden: Die Schlacht
um die Blaubrücke, S. 27)
Mütterlicherseits entstammte ich einer Familie, in der
keiner jemals etwas wegwerfen konnte. Es gab
nichts, das nicht irgendwann mal "von Nutzen sein"
konnte. In Ermangelung von Geld haben wir
jahrzehntelang allen möglichen wertlosen Krempel
gehortet, und unser Zins war Staub. Wir wurden
Spezialisten für ausrangierte Sachen. Jeder Mist, der
weggeworfen zu werden verdiente, fror auf der Stelle
an unseren Fingern fest wie ein Nagel, bestimmt für
das Rettende Haus auf Nowaja Semlja. Unsere
Familienkrankheit. (A.F.Th. van der Heijden: Die
Schlacht um die Blaubrücke, S. 73)
An ihrem heuchlerischen Geschmeichel konnte Albert
hören, daß irgend etwas nicht stimmte. Die Sau wurde in
einen Hinterhalt gelockt. Über die zuckersüßen Worte
ihrer Henker war Trude aber längst hinaus. Sie schrie,
daß sie am Leben bleiben wolle und nicht mehr verlange,
als sich im eigenen Mist von der einen Seite auf die
andere wälzen zu dürfen... Das Herumgewühle in Kot und
Schlamm und Modder, dem Albert so oft zugeschaut hatte,
war offenbar dem weit vorzuziehen, was ihr nun
bevorstand. Der Junge konnte noch von ihr lernen...
(...) Ein Stück weiter, im Schatten der Grobküche,
beugte sich eine fröhliche Gruppe über das Schwein, das
zum Abschied über die Schnauze gestreichelt und am
Hintern getätschelt wurde. Nachdem alle sich entfernt
hatten, steigerte sich das röchelnde Geschrei noch
einmal. Das Einmannexekutionskommando legte an und
betätigte dreimal kurz nacheinander den Abzug. Gleich
der erste Schuß erlegte der Sau ein verblüfftes
Schweigen auf. Sie machte den Eindruck, sehr schnell
über etwas nachdenken zu müssen. Unbewegt und ohne
einen Mucks von sich zu geben, steckte Trude die beiden
nächsten Kugeln ein, als drängten sie nicht wirklich zu
ihr durch. Albert war von dem Knall enttäuscht. Es war
eher ein dumpfes Klicken - das trotzdem in Berntje
Boezaardts Taubenschlag für Aufruhr sorgte. Es war, als
bekäme das so abrupt abgebrochene Kreischen ein Echo in
dem Tumult der Tauben hoch über dem Hof... Ihr harten
Federn rührten die Schlagtrommel, ein monoton
anschwellender Wirbel... Das Schwein blieb reglos
stehen, die Schlappohren wie Hände vor den Augen, als
könnte es sich so besser auf den letzten Gedanken
konzentrieren. Gleichzeitig war es eine Haltung, die
unerträgliche Scham auszudrücken schien... (A.F.Th. van
der Heijden: Das Gefahrendreieck, S. 74f.)
Begierige Teilnehmerin an diesen Tanzereien war die
Nachbarin, die mit einem Homosexuellen verheiratet war
beziehungsweise, wie Maaike Kopland es ausdrückte,
"sich einen vom anderen Ufer hatte unterjubeln lassen."
(Hatten Flix oder Govert einen Wind gelassen, dann
sprach Tante Maya die für Albert rätselhaften Worte:
"Der Nachbar würde sagen: Hier riecht's nach Liebe...
aber ich find da nix dran.") Der Sohn aus der verqueren
Ehe litt an einer Anomalie, die der Frau zufolge auf
die Veranlagung ihres Mannes zurückzuführen war: Das
Kind hatte den ganzen Tag die Hände in der Unterhose.
Der Uringeruch war so tief in die Haut gedrungen, daß
er auch nach unzähligen Waschungen den Seifengeruch
übertönte. Sie tat alles, um dem Kleinen das Gefummel
abzugewöhnen, da es unweigerlich zur Homosexualität
führen würde, sofern die Krankheit nicht überhaupt
schon erblich war. Sie band dem Kind sogar zwei steife
Waschhandschuhe mit Schleifen um die Handgelenke... So
ging das also bei Leuten zu, die ein "Monatsgehalt"
bezogen anstatt wie üblich den Wochenlohn nach getaner
Arbeit. (A.F.Th. van der Heijden: Das Gefahrendreieck,
S. 146)
Kurz bevor Willy van 't Woudt zu Ostern wegen
unzureichender Leistungen auf die Geldroper
Mittelschule geschickt wurde, informierte er Albert
über seine neueste Entdeckung in puncto "Kindermachen".
"Also, so 'ne Tussi, die hatte'n Häutchen über ihrm
Schlitz ... ja? Also, das reißt du ihr mit deim Steifen
ab... und dann, äh, dann stopfste das in ihrn Nabel
und... und sorgst dafür, daß du's ordentlich
feststampfst. So macht man das." Das schien Albert
nicht schwer. Er stellte es sich tausendmal vor, als
äußerst zärtliches Spiel, mit einem Häutchen, nicht
dicker als jenes, das auf sich abkühlender Milch
entsteht... Erst als ihm durch Mitteilungen wieder
anderer klar wurde, daß man "mit seim Steifen"
versuchen mußte, tief in das Mädchen einzudringen, und
Kraft anzuwenden war, um sie ganz zu öffnen, da, ja da
erfaßte ihn ein gewaltiger Schreck. Sie dort, wo sie so
gut wie geschlossen war, mit Gewalt aufzubrechen... so
daß es krachte... und das mit etwas so Empfindlichem
wie der Spitze seines steifen Glieds, von der er, aus
Angst sich zu verletzen, sogar beim höchsten Genuß die
Haut nie ganz wegzuziehen wagte... 'ihm' würde das nie
gelingen... 'ihm' war so etwas nicht beschieden... So
intensiv er sie im Geist auch untersuchte, Frauen
blieben geschlossene Wesen für ihn. Im Schwimmbad
tastete er sie mit Blicken ab, suchte verzwifelt nach
einem Relief, Zeichen eines Eingangs... doch alles war
straff eingeschnürt in ihren Trikotbadenazügen. Seine
Blicke glitten an ihren Körpern ab, ohne Halt zu
finden, und zerschellten auf den Steinplatten, (A.F.Th.
van der Heijden: Das Gefahrendreieck, S. 246)
Schließlich bat ihn der Weißkittel, sich hinter einem
Wandschirm auszuziehen. "Unterhose vorläufig noch
anbehalten." Nackt bis auf den Slip, mußte Albert sich
zu Füßen des Mannes hinhocken. "Nein, andersrum. Mit
dem Rücken zu mir. Hose ein bißchen runterziehen... so,
ja. Weit vorbeugen. Kopf zwischen die Knie. Gut so."
Der Arzt wollte offenbar seine Wirbelsäule inspizieren.
Wenn übermäßiges Masturbieren tatsächlich zu
Rückgratverkrümmungen führte, schlug jetzt die Stunde
der Wahrheit. (A.F.Th. van der Heijden: Das
Gefahrendreieck, S. 254)
Alberts erster Gang führte ihn in die Mensa in der
Prof. van Weliestraat, wo sich auch die Studentische
Wohnungsvermittlung befand. Dort war er bereits seit
gut anderhalb Jahren für ein Zimmer in einem
Studentenwohnheim eingeschrieben, doch auf der
Warteliste kletterte sein Name nur äußerst mühsam
weiter nach oben. Seit Albert sich vor fünf Monaten zum
letztenmal erkundigt hatte, war er achtundzwanzig
Plätze aufgerückte: von Nummer 547 auf Nummer 519 -
"alles in allem nicht schlecht", wie der Mitarbeiter
gemeint hatte. (...) "Das Problem ist, daß die Zahl der
dringenden Fälle - die sogenannten psychischen und
körperlichen Problemfälle - immer mehr zunimmt. Ich sag
dir, hier regnet's ärztliche Atteste! Was sag ich da?
Es hagelt! Episteln von besorgten Eltern,
unterschrieben vom Hausarzt. Das asthmatische Klaasje
muß sein Zimmmer staubfrei halten können... das labile
Mientje erträgt Einsamkeit nicht und muß ständig unter
Leuten sein... das arme Pietje pinkelt noch ins Bett,
darf aber bei keiner Zimmerwirtin sein Gummituch
draußen aufhängen. Und so weiter und so fort.
Bronchitis, Neurosen, Ekzeme, Gleichgewichtsstörungen,
Bleichsucht... Nach diesen Attesten zu urteilen, werden
die Wohnkomplexe hier, Galgenveld, Hoogeveldt und so
weiter, immer mehr zu Ghettos für eingeschränkt
Leistungsfähige, Pflegeheime, in denen gebrechliche
junge Leute mit letzter Kraft schnell noch versuchen,
ihr Diplom zu schaffen, damit sie nicht mit ihrem
nackten Namen allein bei Petrus anzuklopfen brauchen.
Toll, nicht wahr? Und das wird alles nur noch
schlimmer, denn die künftigen Studentchen werden immer
kränker... mit jedem Jahr geht's ihnen dreckiger, wenn
du verstehst, was ich meine. Dem Tode geweiht. Ihre
Hausärzte sind Wohnungsvermittler geworden. (A.F.Th.
van der Heijden: Das Gefahrendreieck, S. 332)
Wenn das jungreife Eindhoven nach nichts schmeckte,
dann war Nimwegen ein alter Lochkäse. Zu viele
Hohlräume, zu viel Luft. Für so viel Kahlschlag hatte
man außerdem noch eine glänzende Ausrede parat. Am
zweiundzwanzigsten Februar 1944 hatten amerikanische
B-24-Bomber auf dem Weg nach Deutschland ihre
Darminhalt nicht länger bei sich behalten können und
sich wie Säuglinge entleert. Die Nimwegener Innenstadt
in Schutt und Asche. Ach, ein kleines Kriegsversehen...
ein strategischer Schönheitsfehler... nichts zu machen.
(A.F.Th. van der Heijden: Das Gefahrendreieck, S. 341)
Bei Dr. Böhmer-Boudoir folgte der Schnee unmittelbar
auf den Lenz: Mit seinen achtunddreißig Jahren war er
bereits völlig grau. Unter einem Kammgarnanzug von der
Farbe geronnenen Bluts, der aus der Zeit stammte, als
er noch Karriere machen wollte, trug Böhmer-Boudoir ein
kragenloses Sweatshirt aus zitronengelbem Frotteestoff.
Die Kombination war sorgfältig zusammengestellt, um
seine wissenschaftliche Zerstreutheit zum Ausdruck zu
bringen (Zerstreuter Professor findet kein Hemd und
greift in den Karton mit Strandkleidung.) (A.F.Th. van
der Heijden: Das Gefahrendreieck, S. 389)
Bei Dr. Böhmer-Boudoir folgte der Schnee unmittelbar
auf den Lenz: Mit seinen achtunddreißig Jahren war er
bereits völlig grau. Unter einem Kammgarnanzug von der
Farbe geronnenen Bluts, der aus der Zeit stammte, als
er noch Karriere machen wollte, trug Böhmer-Boudoir ein
kragenloses Sweatshirt aus zitronengelbem Frotteestoff.
Die Kombination war sorgfältig zusammengestellt, um
seine wissenschaftliche Zerstreutheit zum Ausdruck zu
bringen (Zerstreuter Professor findet kein Hemd und
greift in den Karton mit Strandkleidung.) (A.F.Th.
van der Heijden: Das Gefahrendreieck)
Jahrelang übte Albert sich in dem, was er als "Leben in
die Breite" bezeichnete: den Geist an möglichst vielem
zugleich teilhaben zu lassen. Stand nicht fest, daß die
Möglichkeiten des menschlichen Geistes unbegrenzt
waren? Sein Auffassungsvermögen uneingeschränkt? Nun,
dann mußte es auch möglich sein, eine sehr große Zahl -
womöglich gar eine unendliche Menge - von Gedanken und
Bildern gleichzeitig aufzurufen. Bis weit über die
Horizonte der normalen Gedankenwelt müßten sie sich
aneinanderreihen... bis ins Unendliche... Keine
Aufeinanderfolge von Gedanken, sondern
Gleichzeitigkeit. Nur so ließ sich die unbarmherzig "in
die Länge" verstreichende Zeit unschädlich machen. Nur
so ließ sich jeder Bruchteil einer Sekunde endlos in
die Breite dehnen. (A.F.Th.van der Heijden: Der
Gerichtshof der Barmherzigkeit, S. 380)
Der Erwachsene konnte sich selbst leicht weismachen,
während der Pubertät für immer und ewig mit diesem
kleine Bitten erfüllenden, wie ein Psychoanalytiker
aufmerksam und kritisch zuhörenden Gott gebrochen zu
haben - doch auch wenn Albert seine Vertrauensperson
abends zwischen den Laken nicht mehr anrief, rechnete
er doch weiterhin felsenfest damit, daß ihm nach jeder
Folge von Mißgeschicken der Wind schon wieder den
Rücken stärken würde. Kein Würfelwurf hatte ihn
gelehrt, daß der Wind nun mal nicht ständig aus ein und
derselben Richtung wehen konnte... Wer aber, zum
Teufel, belohnte einen mit Glück? Woher kam dieses
tiefe Vertrauen? (A.F.Th.van der Heijden: Der
Gerichtshof der Barmherzigkeit, S. 381)
In den ersten Wochen war sie lediglich ein Geräusch für
mich, Mevrouw de Hoogh-Stey - kein Körper, sondern eine
Wolke aus leisem Rauschen und Rascheln, die ganz
langsam über die Treppen in den dritten Stock
hinaufschwebte, begleitet von einem monotonen Gemurmel.
Alle vierzehn Tage hatte sie eine Hilfe (drei Stunden
lang resolutes Staubsaugen und Türengeknalle), aber
einkaufen tat sie noch jeden Tag selbst. Nur das
Treppensteigen fiel ihr schwer. Sie nahm sich Zeit
dafür, übrigens nie länger als insgesamt eine halbe
Stunde, in der sich nur ganz wenig, unter ungeheuerer
Kraftanstrengung auf die zweitunterste Stufe, dann den
einen Fuß auf die unterste, den anderen daneben...
Tasche eine Stufe höher... und so machte sie sich an
den langsamen Aufstieg, oder vielleicht sollte ich
sagen: an ihren täglichen Treppenhausmonolog, dessen
Takt, Aufbau und Rhythmus die drei Treppen auf
irgendeine geheimnisvolle Weise bildeten. (A.F.Th.van
der Heijden: Der Gerichtshof der Barmherzigkeit, S.
385)
"So, und was machen wir jetzt, Brummbär? Gehen wir was
trinken, oder wie ham wir's?" "Ausgeschlossen. Ich bin
heute abend verabredet." "Oh... ist sie hübsch?"
"Bildhübsch. Bloß... es ist keine Sie, sondern ein Er.
Ich habe mich bei nährerer Betrachtung doch zur
Homosexualität bekehrt. Mehr oder weniger auf deinen
Rat hin. Und, wer weiß, vielleicht auch ein bißchen
durch dein Zutun. Durch dich, Suus, habe ich mich an
etwas Hartes und Knochiges zwischen zwei Bäuchen
gewöhnt... Ich bin, wie man so sagt, ein spät
Berufener." (A.F.Th.van der Heijden: Der Gerichtshof
der Barmherzigkeit, S. 533)
Jeden Morgen wollte Maggy sich wiegen, gleich nach dem Aufstehen,
was am vorteilhaftesten war. Weil sie ihre Kontaktlinsen dann
noch nicht eingesetzt hatte, schaute sie kurzsichtig an ihrem
nackten Körper hinunter auf den zitternden Zeiger zu ihren Füßen.
Immer weiter beugte sie sich vor, um die Kilos ablesen zu können,
wodurch die Waage wieder aus dem Gleichgewicht geriet. Von der
Reservebrille, die sie manchmal aufsetzte, wollte sie nichts
wissen, weil die schwere Fassung und die dicken Gläser ihr
Körpergewicht irreführend in die Höhe trieben. Schrecklich, sie
auf diese Weise nackt zu sehen, den makellosen Körper mit nichts
anderem bekleidet als einer scheußlichen Brille, die ihre Augen
zu Stecknadelköpfen verkleinerte: eine steife Bürotrutsche, die
zur Überraschung aller die Kleider abgelegt hat. (A.F.Th. van der
Heijden: Unterm Pflaster der Sumpf)
Nachdem so ungefähr alle garstigen Wetterarten an der Reihe
gewesen waren, setzte Glatteis ein. Es war wirklich das letzte,
was dem Winter noch einfiel. Das Heimtückischste vom
Heimtückischen. Glatteis. Freund Winter hatte alles aus sich
herausgepreßt, hatte sich völlig verausgabt, sich kopfüber unter
Null fallen lassen... alles wieder auftauen... alles wieder
gefrieren lassen... Und jetzt, da die Straßen mit einer
undefinierbaren dumpfgrauen Kruste überzogen waren - Staub,
Asche, Straßenschmutz, Hundekacke, alles war darin enthalten -,
wurde eine Schicht Firnis darübergeklatscht, um das Zeugs
gründlich in Lack zu tauchen, es ordentlich glänzen zu lassen und
noch etwas länger zu konservieren. Kurz und gut, die Vernissage
des Winters, im Freien und ohne billigen Wein. (A.F.Th. van der
Heijden: Unterm Pflaster der Sumpf)
Die tiefgläubigen Auftraggeber waschen ihre Hände in einem
mohammedanischen Sprichwort: "Zum Beten bleibt wenig Zeit, wenn
erst der Teufel gesteinigt werden muß." Ich lese vom Erdbeben.
Was für ein Weib, Thjum, diese unsere Erde. Sie litt wieder mal
unter Morgenmuffeligkeit. Aber trotzdem keine Sekunde zu spät bei
der Arbeit, denk das bloß nicht. Ihre Bahn, ihre Umdrehungen...
schon seit Jahrtausenden das perfekte Uhrwerk, der ideale
Kalender. Ein Fischbeinstab verrutscht in ihrem Korsett, Menschen
werden zermalmt, doch sie platzt nicht wirklich aus den Nähten.
Bleibt pünktlich, auf die Minute, alles in bester Ordnung. Ich
habe mal die stark vergrößerte Aufnahme einer Eizelle gesehen,
die von Spermien bedrängt wurde. Es sah aus wie ein Golfball mit
einer Perücke aus Sojasprossen. Analog hat sich von Zeit zu Zeit
ein kosmischer Samen in die Erde gebohrt. Kaum absehbare Folgen.
Planet und Sonne getrennt von Tisch und Bett, Anbruch einer nie
dagwewesenen Eiszeit, aussterbende Tierarten... Aber: Sie kreist
weiter. Sie wich nicht einen Millimeter von ihrer Bahn ab. Was
für ein Wahnsinn! Und was für ein System! Alte Schlampe! (A.F.Th.
van der Heijden: Unterm Pflaster der Sumpf)
Und wenn ich bei Tante Tiny in der Küche war: "Du erzählst dem Kind
doch wohl nichts Falsches, oder? Pass bloß auf! Du bringst es
fertig, den Kleinen für den Rest seines Lebens zu verderben." Ich
hörte das so oft, dass ich immer neugieriger wurde und es mir gar
nicht so schlimm vorkam, für den Rest meines Lebens versaut zu sein.
Ein verdorbenes Kind, aber immerhin mit einem phantastischen
Geheimnis, mit dem es seinerseits das Leben anderer vermasseln
könnte, falls es Lust dazu hatte. (A.F.Th. van der Heijden: Das
Biest)
Als wir das Alter erreichten, in dem eine gewisse sexuelle
Aufklärung angebracht war, entschieden sich meine Eltern für eine
abgeleitete Form: auf dem Weg über pikante Geschichten aus der
Realität. Eigentlich war es eine sehr kunstsinnige Weise der
Aufklärung: voller Andeutungen in Gestalt vielsagender Lücken, die
der mit roten Ohren lauschende Kursteilnehmer selbst ausfüllen
durfte. So habe ich viel aus meines Vaters Bericht über das Lido in
den Mierloer Wäldern gelernt, das »die hohen Tiere von Philips und
DAF mit ihren Flittchen« besuchten und wo »es natürlich nicht so
anständig zuging, du verstehst schon«. Und ob ich verstand. Ich
durchstreifte den Wald rund ums Lido, das damals schon lange
geschlossen war und verfiel, doch von dem Gebäude und dem
verrottenden Humus ringsum ging eine derart hinreißende Verderbtheit
aus, dass ich hinter einer dicken Kiefer, aus der scharf duftendes
Harz hervortrat, wie ein Weltmeister onanierte. So kam meines Vaters
sexuelle Aufklärung doch mal zu Ehren. Ich sah die Flittchen nackt
über den Teppich aus verdorrten Herbstblättern rennen und ihnen auf
den Fersen Fabrikdirektoren, nur bekleidet mit Armbanduhren und
Sockenhaltern. (A.F.Th. van der Heijden: Das Biest)
Nun war es zu spät. Nun konnten die sich im Wind
bewegenden Blätter mir keinen Seelenfrieden mehr geben,
nun brauchte ich ihre Ruhe nur noch, weil ich ein alter Mann
geworden war, zu schwach, um noch irgendein Ruder
herumzureißen, nach irgendeinem anderen Weg zu suchen,
aber auch einsichtsvoll genug, zu wissen, daß man einem
vertanen Leben nicht noch mit wilder Empörung einen
nachträglichen Sinn verleihen kann, sondern es in all seiner
Vergeblichkeit mit Würde zu einem Ende zu bringen hat.
(Christoph Hein: Horns Ende, S. 159)
Die einzige Person, die mittelbar und unmittelbar bei
der Bestimmung des Strafmaßes einen erkennbaren
Anteil besitzt, ist der Angeklagte. In meiner
langjährigen Praxis habe ich immer wieder bemerken
müssen, daß das Verhalten des Angeklagten von
ausschlaggebender Bedeutung ist. Sein Verhalten vor
Gericht, wohlgemerkt, nicht bei der Tat. Der Eindruck,
den er vermittelt oder doch zu vermitteln versteht,
entscheidet wesentlich, ich möchte sogar behaupten
ausschließlich, ob der Richter die höchstmögliche oder
eine geringere Strafe verhängt. Ein im Gerichtssaal
unverschämt und provozierend auftretender
Ladendieb hat tatsächlich weniger Chancen als ein
charmanter und zuvorkommender auftretender Herr,
der seine Tante mit einem Beil erschlug. Im Grunde
seines Herzens würde jeder Richter, wenn das Gesetz
es nur zuließe, den liebenswürdigen Mörder auf freien
Fuß setzen und den Ladendieb im Gefängnis
verschimmeln lassen. Auch der Gerichtssaal ist nur
eine Bühne, und wir süielen die zugeteilten Rollen.
(Christoph Hein: Das Napoleon-Spiel, S. 8)
Zwei Jahre ging ich in Tiefenort zur Schule.
Unterrichtet wurde ich von drei sehr alten Lehrern, die
in dem Ruf standen, antifaschistisch zu sein (alle drei
waren erklärte Monarchisten, hatten deshalb die
beiden letzten Regierungen mit Skepsis betrachtet
und erschienen dadurch den neuen Behörden
geeignet), und zwei jungen Leuten, sogenannten
Neulehrern, die ständig verschwitzt wirkten (sie
hatten Mühe, ihren Wissensvorsprung uns gegenüber,
der genau vierundzwanzig Stunden maß,
aufrechtzuerhalten). (Christoph Hein: Das Napoleon-
Spiel, S. 34)
In Boppard gab es zwei Affären, aber ich will Sie
damit nicht langweilen, da sie nichts mit meinem Fall
zu tun haben. Ich erwähne sie nur, weil es in einer
Kleinstadt schwierig ist, eine Beziehung zu beenden
und im gleichen Ort eine neue zu beginnen, wenn
man zu den besseren Kreisen zählt, zwangsläufig
auch die Eltern des Mädchen kennenlernen muß und
dadurch alles recht offiziell wird. Gehen Sie mit einem
solchen gehobenen Kleinstadtmädchen dreimal
spazieren, und Sie sind verlobt. Beim wiederholten
Besuch der Eltern fallen gewisse Andeutungen (die
Mama will unbedingt auf die Wangegeküßt werden,
der Herr Papa bittet für eine halbe Stunde in sein
Arbeitszimmer, um Geschäftliches zu besprechen, und
eröffnet Ihnen, wo seine vor der Steuer
verheimlichten Gelder angelegt sind), und irgendwann
haben Sie nur noch die Wahl, um die Hand zu bitten
oder Fersengeld zu geben. (Christoph Hein: Das
Napoleon-Spiel, S. 60)
"Ich weiß nicht, wie Sie zu ihr stehen, aber als
Malerin, da taugt das Mädchen nichts. Ich habe ihr
gesagt, Mensch, Mädel, so wie du ausschaust, da mußt du
doch deine Zeit nicht mit Malen verplempern. Such dir
einen Kerl, der Moos hat, und genieße das Leben. Du
zerquälst dich doch nur auf der Leinwand. Das ist
Tristesse mit Trauerrand, was du da pinselst. Wer soll
das kaufen? Oder hast du einen Großauftrag vom
Beerdigungsinstitut? Die schöne Paula weiß überhaupt
nicht, daß es auch freundliche Farben gibt, ein
leuchtendes Gelb, ein Karminrot. Bei ihr ist Terrakotta
schon der Gipfel der Lebenslust. (Christoph Hein:
Frau Paula Trousseau, S. 10)
Jan gefiel mir. Er verströmte den angenehmen Geruch
eines mit sich zufriedenen Menschen. Unglückliche
Menschen kannte ich zur Genüge, beginnend mit meiner
Mutter und meinem Vater hatte ich mehr unglückliche als
glückliche kennengelernt, und ich fand sie lästig,
belästigend. Unglückliche Menschen sollten sich
zurückziehen, so wie früher die Pestkranken, sie
sollten an entlegenen Plätzen leben, nur mit sich und
ihresgleichen, und andere Menschen lauthals vor sich
warnen, denn Unglück ist genauso ansteckend wie eine
Seuche, mich jedenfalls deprimieren solche Leute. Ich
bemühe mich, ihnen auszuweichen, sobald sie nur in
meine Nähe kommen. Menschliches Unglück riecht wie
verschwitzte Bettlaken, wie essigsaure Tonerde, wie
ranziges Firnisöl. (Christoph Hein: Frau Paula
Trousseau, S. 324)
[Nach oben]
[Allgemeine Fundstücke]
|
|