Allgemeine Fundstücke  / [G1]


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Galbraith, Robert: Der Seidenspinner [1]

  Strike wusste aus Erfahrung, dass es einen bestimmten Frauentyp gab, der ihn außerordentlich attraktiv fand. Gemeinsame Merkmale waren Intelligenz und eine flackernde Intensität – wie bei Glühbirnen mit einem Wackelkontakt. Die Frauen waren häufig gut aussehend und meistens, wie sein ältester Freund Dave Polworth es gern ausdrückte, "arschklar total durchgeknallt". Was genau an ihm diesen Typ Frau anzog, hatte Strike noch nie analysiert, obwohl Polworth, ein Mann mit vielen markigen Theorien, die Ansicht vertrat, dass derlei Frauen ("nervös, überzüchtet") unbewusst nach etwas suchten, was er "Karrengaulblut" nannte. (Robert Galbraith: Der Seidenspinner)


Galbraith, Robert: Der Seidenspinner [2]

  Das im achtzehnten Jahrhundert als Schachclub für Gentlemen gegründete Simpson’s sprach zu ihm in einer alten und vertrauten Sprache: von Hierarchie, Ordnung und würdevollem Anstand. Hier dominierten die dunklen, erdigen Clublandfarben, die Männer wählten, wenn sie nicht von ihren Frauen beraten wurden, massive Marmorsäulen, solide Ledersessel für den betrunkenen Dandy. (...) Für eine vollends vertraute Atmosphäre fehlten hier nur mehr Regimentsfahnen und ein Porträt der Königin. Solide Stühle mit hölzernen Rückenlehnen, schneeweiße Tischdecken und Silbertabletts, auf denen gewaltige Rinderbraten ruhten. (...) "Haben Sie beim Hereinkommen die Uhr über der Tür gesehen?", fragte Waldegrave und setzte seine Brille wieder auf. "Sie ist angeblich stehen geblieben, als 1984 die erste Frau hier aufgetaucht ist. Kleiner Insiderscherz." (Robert Galbraith: Der Seidenspinner)


Galbraith, Robert: Der Ruf des Kuckucks [1]

  Jago Ross. In jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von Strike: schön wie ein edler Prinz, im Besitz eines Treuhandfonds, geboren, um seinen vorbestimmten Platz innerhalb seiner Familie und der Welt einzunehmen; gesegnet mit allem Selbstvertrauen, das einem ein über zwölf Generationen exakt dokumentierter Stammbaum verleihen konnte. Er hatte eine Reihe hoch dotierter Jobs sausen lassen, ein hartnäckiges Alkoholproblem entwickelt und legte die Bösartigkeit eines überzüchteten, unerzogenen Tieres an den Tag. (Robert Galbraith: Der Ruf des Kuckucks)


Garcia Marquez, Gabriel: Der Herbst des Patriarchen

  Herr General, dieser Mensch vertraute noch nicht einmal seinem Spiegel, er faßte seine Beschlüsse, ohne sie mit jemandem zu besprechen, nachdem er die Informationen seiner Agenten empfangen hatte, nichts geschah im Land, noch tat ein Verbannter an irgendeinem Ort des Planeten einen Seufzer, ohne das Jose Ignacio Saenz de la Barra es nicht unverzüglich durch die Fäden seines unsichtbaren Denunziations- und Bestechungsspinnnetzes erfuhr, mit dem er den Erdball überzogen hatte, dafür gab er sein Geld aus, Herr General, denn es trifft nicht zu, daß die Folterer Ministergehälter bezogen, wie behauptet wurde, sie boten sich im Gegenteil umsonst an, um zu beweisen, daß sie imstande waren, ihre Mutter zu vierteilen und ihre Teile den Schweinen vorzuwerfen, ohne daß sich der Tonfall ihrer Stimme veränderte. (Gabriel Garcia Marquez: Der Herbst des Patriarchen, S. 223f.)


Garcia Marquez, Gabriel: Die böse Stunde [1]

  Die Söhne der Witwe de Asis kamen am Sonntag zur Messe. Sie waren sieben, Roberto Asis nicht mitgerechnet. Alle waren vom gleichen Schlag: Massig und ungeschlacht und zu schwerer Arbeit geboren wie die Maultiere, waren sie der Mutter in blindem Gehorsam ergeben. Roberto Asis, der jüngste und als einziger verheiratet, hatte mit seinen Brüder nur die Verdickung im Nasenbein gemeinsam. Mit seiner zarten Gesundheit und seinen höflichen Manieren war er für die Witwe de Asis eine Art Trostpreis für die Tochter, die sie sich vergeblich gewünscht hatte. (Gabriel Garcia Marquez: Die böse Stunde)


Garcia Marquez, Gabriel: Die böse Stunde [2]

  Der Fußboden war mit Petroleum geölt, die Spiegel waren mit Bleiweiß eingerieben. Der Friseur polierte sie mit einem Lappen, während Richter Arcadio es sich im Stuhl bequem machte. "Es dürfte gar keinen Montag geben", klagte der Richter. Der Barbier hatte begonnen, ihm die Haare zu schneiden. "Der Sonntag ist schuld. Wäre nicht der Sonntag", meinte er heiter, "gäbe es keinen Montag." Richter Ercadio schloß die Augen. Diesmal, nach zehn Stunden Schlaf, einem ungestümen Liebesakt und einem ausgiebigen Bad, war dem Sonntag nichts vorzuwerfen. Und doch war es ein bedrückender Montag. (Gabriel Garcia Marquez: Die böse Stunde)


Garcia Marquez, Gabriel: Liebe in Zeiten der Cholera [1]

  Er war der erste Mann gewesen, den Fermina Daza urinieren hörte. Sie hörte ihn in der Hochzeitsnacht, in der Kabine des Schiffs, das sie nach Frankreich trug, während sie seekrank darniederlag, und das Tosen seines Pferdewasserfalls erschien ihr so machtvoll und so herrisch, daß es ihre Angst vor den befürchteten Verletzungen noch steigerte. Diese Erinnerung kam ihr häufig in den Sinn, als die Jahre den Wasserfall nach und nach abschwächten, weil sie sich nicht damit abfinden konnte, daß er jedesmal einen nassen Klosettrand hinterließ. Doktor Urbino versuchte sie mit für jeden, der sie verstehen wollte, leicht einsichtigen Argumenten davon zu überzeugen, daß dieses Mißgeschick sich nicht, wei sie behauptete, wegen seiner Unachtsamkeit täglich wiederholte, sondern aus einem organischen Grund: Sein jugendlicher Strahl war so bestimmt und direkt gewesen, daß er in der Schule mit seiner Zielsicherheit beim Flaschenfüllen Turniere gewonnen hatte, doch durch den Altersverschleiß war der Strahl nicht nur schwächer geworden, sondern hatte sich auch gekrümmt, verzweigt und schließlich in ein eigenwilliges Brünnlein verwandelt, und das trotz aller Anstrengungen, ihn zu begradigen. Er sagte: "Das Klosett muß jemand erfunden haben, der nichts von Männern verstand." Zum häuslichen Frieden trug er mit einer täglichen Geste bei, die eher ein Zeichen von Demütigung als von Demut war: Er wischte die Ränder des Klosetts nach jeder Benutzung mit Klopapier ab. Sie wußte das, sagte aber nie etwas, solange die Ammoniakdämpfe im Bad nicht zu offenkundig wurden, dann erklärte sie, als decke sie ein Verbrechen auf: "Hier stinkt es nach Kaninchenstall." Am Vorabend des Greisenalters brachte ihn die Körperstörung selbst auf die endgültige Lösung: Er pinkelte wie sie im Sitzen, was die Brille sauber und ihn im Zustand der Gnade ließ. (Gabriel Garcia Marquez: Liebe in den Zeiten der Cholera, S. 45f.)


Garcia Marquez, Gabriel: Liebe in Zeiten der Cholera [2]

  Er versuchte neuartige Maßstäbe im Hospital de la Misericordia zu setzen, was aber nicht so leicht war, wie er es sich in seiner jugendlichen Begeisterung gedacht hatte, da das altehrwürdige Krankenhaus an abergläubischen Atavismen festhielt. Da wurden beispielsweise die Beine der Krankenbetten in Wassertöpfe gestellt, um zu verhindern, daß die Krankheiten heraufkrochen, man hielt sich auch noch an die Vorschrift, im Operationssaal Gesellschaftskleidung und Wildlederhandschuhe zu tragen, da man es für erwiesen hielt, daß Eleganz eine wesentliche Voraussetzung der Asepsis sei. Sie alle ertrugen es nicht, daß der neuangekommene Spunt vom Urin eines Kranken kostete, um den Zuckergehalt festzustellen, daß er Charcot und Trousseau zitierte, als seien sie seine Zimmergenossen, daß er im Unterricht nachdrücklich vor den tödlichen Vertrauen in die neuerfundenen Suppositorien setzte. Er eckte überall an: Sein Erneuerungsdrang, sein staatsbürgerlicher Übereifer, sein bedächtiger Sinn für Humor in einem Land unausrottbarer Witzbolde, all das, was ihn in Wahrheit so schätzenswert machte, trug ihm das Mißtrauen seiner älteren Kollegen und den verdeckten Spott der jungen ein. (Gabriel Garcia Marquez: Liebe in den Zeiten der Cholera, S. 152)


Garcia Marquez, Gabriel: Liebe in Zeiten der Cholera [3]

  Florentino Ariza wollte ihr helfen, den Haken des Leibchens zu lösen, doch sie kam ihm mit einem geschickten Griff zuvor, da sie in fünf Jahren ehelicher Ergebenheit gelernt hatte, bei allen Erledigungen der Liebe, sogar beim Vorspiel, ohne Hilfe zurechtzukommen. Zuletzt schlüpfte sie aus dem Spitzenhöschen, ließ es mit der raschen Bewegung einer Schwimmerin die Beine hinabgleiten und stand nackt da. Sie war achtundzwanzig Jahre alt und hatte drei Kinder geboren, doch ihre Nacktheit hatte sich das Schwindelerregende einer Unverheirateten bewahrt. Für Florentino Ariza blieb es unbegreiflich, wie ein Büßergewand den Drang jener jungen Bergstute hatte verdecken können, weil er sie sonst für ein Flittchen gehalten hätte. In einem einzigen Anlauf versuchte sie, immer noch befangen und unerfahren nach fünf Jahren Eheleben, die eiserne Abstinenz der Trauer wettzumachen. Vor dieser Nacht und seit jener gnadenreichen Stunde, in der ihre Mutter sie geboren hatte, hatte sie nie mit einem anderen Mann als ihrem verstorbenen Ehegatten auf demselben Bett auch nur gelegen. Sie erlaubte sich nicht die Stillosigkeit von Gewissensbissen. Ganz im Gegenteil. Da die Leuchtkugeln, die über die Ziegeldächer schwirrten, sie nicht schlafen ließen, beschwor sie bis zum Morgengrauen die Vorzüge des Ehemanns, dem sie keine andere Untreue vorzuwerfen hatte als die, ohne sie gestorben zu sein. Darüber tröstete sie sich aber mit der Gewißheit, daß er nie so ganz ihr gehört hatte wie jetzt, da er in einem mit zwölf Dreizollnägeln zugenagelten Sarg zwei Meter unter der Erde lag. (Gabriel Garcia Marquez: Liebe in den Zeiten der Cholera, S. 209)


Garcia Marquez, Gabriel: Liebe in Zeiten der Cholera [4]

  Aus jener Epoche stammten seine eher schlichten Theorien über den Zusammenhang zwischen dem Körperbau einer Frau und ihrer Liebesfähigkeit. Er mißtraute dem sinnlichen Typus, jenen Frauen, die aussahen, als könnten sie einen Kaiman roh verschlingen, dann aber im Bett besonders passiv zu sein pflegten. Er zog den entgegengesetzten Typ vor: Diese mageren Fröschchen, denen auf der Straße nachzuschauen, sich niemand Mühe machte, von denen nichts übrigzubleiben schien, wenn sie sich auszogen, die wegen des Knackens ihrer Knöchelchen beim ersten Stoß Mitleid erweckten und die dennoch den großmäuligsten Rammler derart zurichten konnten, daß er reif für die Mülltonne war. (Gabriel Garcia Marquez: Liebe in den Zeiten der Cholera, S. 244)


Garcia Marquez, Gabriel: Liebe in Zeiten der Cholera [5]

  Die Witwe Nazaret hielt selbst in ihren geschäftigsten Zeiten stets die gelegentlichen Verabredungen mit Florentino Ariza ein, und immer ohne den Anspruch zu lieben oder geliebt zu werden, doch immer in der Hoffnung, etwas zu finden, das wie Liebe war, aber ohne die Probleme der Liebe. Ab und zu besuchte er sie, und dann genossen sie es, sich auf der Terasse von der Salzgischt durchnässen zu lassen, während sie das Erwachen der Welt am Horizont betrachteten. Er legte all seinen Ehrgeiz darein, sie die Finessen zu lehren, die er durch die Gucklöcher des Stundenhotels bei anderen gesehen hatte, sowie die theoretischen Anleitungen, die Lothario Thugut in seinen wilden Nächten herausposaunte. Er stiftete sie dazu an, sich beim Liebesakt beobachten zu lassen, die konventionelle Missionarsstellung mit der des Meeresfahrrads, des Hühnchens am Spieß oder des gevierteilten Engels abzuwechseln, und eines Tages hätten sie sich beinahe ums Leben gebracht, als bei dem Versuch, auf der Hängematte etwas Neues zu erfinden, die Seile rissen. Es waren sterile Lektionen. Sie war zwar eine wagemutige Schülerin, aber in Wahrheit fehlte ihr jedes Talent für den gelenkten Beischlaf. (Gabriel Garcia Marquez: Liebe in den Zeiten der Cholera, S. 210)


Garcia Marquez, Gabriel: Liebe in Zeiten der Cholera [6]

  "Ich bete dich an, weil du mich zu einer Dirne gemacht hast." Anders ausgedrückt, sie hatte nicht unrecht. Denn Florentino Ariza hatte ihr die Jungfräulichkeit der konventionellen Ehe geraubt, die verderblicher ist als jene, mit der man geboren wird, verderblicher auch als die Enthaltsamkeit der Witwenschaft. Er hatte ihr beigebracht, daß nichts von dem, was man im Bett treibt, unmoralisch ist, wenn es nur dazu beiträgt, die Liebe zu bewahren; und noch etwas, was seitdem zur Richtschnur ihres Lebens geworden war: Er hatte sie davon überzeugt, daß man mit gezählten Fickgelegenheiten zur Welt kommt und daß diejenigen, die aus irgendeinem inneren oder äußeren Grund freiwillig oder notgedrungen nicht genutzt werden, für immer verloren sind. (Gabriel Garcia Marquez: Liebe in den Zeiten der Cholera, S. 211)


Garcia Marquez, Gabriel: Liebe in Zeiten der Cholera [7]

  Wenn sie etwas verdroß, dann die lebenslängliche Fron der täglichen Mahlzeiten. Das Essen mußte nicht nur pünktlich auf dem Tisch stehen, es mußte exquisit sein und genau das, was er ungefragt zu essen wünschte. Wenn sie doch einmal fragte, eine der vielen sinnlosen Zeremonien des häuslichen Rituals, hob er nicht einmal den Blick von der Zeitung und antwortete: "Irgend etwas". Er meinte das wirklich und sagte es in seiner freundlichen Art, denn man konnte sich keinen Ehemann vorstellen, der weniger despotisch gewesen wäre. Zur Essenszeit aber durfte es dann nicht irgend etwas sein, sondern genau das, was er gerade wünschte, und mußte allen Ansprüchen genügen: Das Fleisch durfte nicht nach Fleisch schmecken, der Fisch nicht nach Fisch, das Schwein nicht nach Krätze, das Hähnchen nicht nach Federn. Auch wenn es nicht die Zeit des Spargels war, mußte man, koste es, was es koste, welchen auftreiben, damit er sich an den Dämpfen seines duftenden Urins erfreuen konnte. Nicht ihm gab sie die Schuld, sondern dem Leben. Er aber war ein unerbittlicher Repräsentant des Lebens. Beim leisesten Zweifel schob er den Teller beiseite und sagte: "Dieses Essen ist nicht mit Liebe zubereitet." In diesem Zusammenhang war er zu phantastischen Höhenflügen der Inspiration fähig. Einmal gab er, kaum daß er von dem Kamillentee genippt hatte, die Tasse mit einem einzigen Satz zurück: "Das Zeug schmeckt nach Fenster." Sie wie auch die Dienstmädchen waren verblüfft, denn wer hatte schon jemandem gehört, der ein aufgebrühtes Fenster getrunken hätte, als sie jedoch alle in dem Bemühen, ihn zu verstehen, den Tee probierten, begriffen sie: Er schmeckte nach Fenster. (Gabriel Garcia Marquez: Liebe in den Zeiten der Cholera, S. 310)


Garcia Marquez, Gabriel: Liebe in Zeiten der Cholera [8]

  Sie roch an jedem Stück, ohne eine Geste zu machen, die ihre Wut verraten hätte, knüllte das Kleidungsstück zusammen und warf es in den geflochtenen Wäschekorb. Der Geruch war nicht da, aber was hieß das schon: Morgen kam ein neuer Tag. Bevor er vor dem kleinen Schlafzimmeraltar niederkniete, schloß er die Aufzählung seiner Leiden mit einem tiefen und zudem ehrlichen Seufzer: "Ich glaube, ich sterbe bald." Sie antwortete, ohne mit der Wimper zu zucken. "Das wäre das beste", sagte sie. "Dann hätten wir beide unsere Ruhe." Jahre zuvor, auf dem Höhepunkt einer gefährlichen Krankheit, hatte er ihr von seinem möglichen Tod gesprochen, und sie war ihm mit der gleichen brutalen Antwort gekommen. Doktor Urbino erklärte es sich mit der den Frauen eigenen Gnadenlosigkeit, dank derer die Erde weiter um die Sonne kreisen kann, weil er damals noch nicht wußte, daß seine Frau stets eine Barrikade des Zorns vor sich aufbaute, wenn man ihr die Angst nicht anmerken sollte, und die diesem Fall die furchtbarste aller Ängste: ihn zu verlieren. (Gabriel Garcia Marquez: Liebe in den Zeiten der Cholera, S. 348)


Garcia Marquez, Gabriel: Liebe in Zeiten der Cholera [9]

  Schon eine große Schlacht hatte er mit ganzem Einsatz geführt und ruhmlos verloren - gegen den Haarausfall. Als er die ersten Haare entdeckte, die sich in den Zinken des Kammes verfangen hatten, war ihm bewußt geworden, daß er zu einer Hölle verdammt war, deren Qualen jedem, der sie nicht erleidet, unvorstellbar sind. Er leistete jahrelang Widerstand. Es gab keine Pomade und kein Haarwasser, das er nicht ausprobiert hätte, keinen Aberglauben, dem er nicht geglaubt, und kein Opfer, das er nicht auf sich genommen hätte, um jeden Zollbreit zu verteidigen. Er lernte die Enmpfehlungen des Bristolischen Bauernkalenders auswendig, weil er gehört hatte, daß der Haarwuchs in unmittelbarer Beziehung zu den Erntezyklen stünde. Er ließ seinen völlig kahlen Friseur, zu dem er zeitlebens gegangen war, im Stich und suchte stattdessen einen Wildfremden auf, der nur bei zunehmendem Mond Haare schnitt. Der neue Friseur war gerade erst dabei zu beweisen, daß er eine wahrhaft fruchtbringende Hand besaß, als sich herausstellte, daß er Novizinnen vergewaltigt hatte und im ganzen Antillenraum von der Polizei gesucht wurde; man führte ihn in Ketten ab. Florentino Ariza hatte schon alle in den Zeitungen der Karibik erschienenen Anzeigen für Glatzköpfe ausgeschnitten, diese zeigten stets zwei Bilder desselben Mannes, der erst kahl wie eine Melone, dann behaarter als ein Löwe aussah: vor und nach der Anwendung des unfehlbaren Mittels. Im Laufe von sechs Jahren hatte er hundertzweiundsiebzig ausprobiert, dazu noch andere ergänzende Behandlungsmethoden, die auf den Etiketten der Flaschen empfohlen wurden. Das einzige, was ihm eines der Mittel eintrug, war ein juckendes und übelriechendes Schädelekzem, das von den Medizinmännern aus Martinique als Nordlichtkrätze bezeichnet wurde, da es im Dunkeln phosphoreszierend schimmerte. Zuletzt versuchte er sein Glück mit all den Indianerkräutern, die auf dem Markt feilgeboten wurden, probierte jedes Zaubermittel und jeden Orienttrank aus, der am Portal de los Escribanos zu kaufen war, als er dann aber einsah, wie sehr er betrogen war, hatte er schon die Tonsur eines Heiligen. (Gabriel Garcia Marquez: Liebe in den Zeiten der Cholera, S. 367)


Garcia Marquez, Gabriel: Chronik eines angekündigten Todes

  Jahrelang konnten wir über nichts anderes reden. Unser bis dahin von so vielen gradlinigen Gewohnheiten beherrschtes tägliches Verhalten hatte mit einem Schlag begonnen, sich um eine gemeinsame Bedrängnis zu drehen. Frühmorgens überraschten uns die Hähne bei dem Versuch, die zahlreichen ineinander verzahnten Zufälle zu ordnen, die das Ungereimte möglich gemacht hatten, und es lag auf der Hand, daß wir das nicht im Verlangen taten, Geheimnisse aufzuklären, sondern weil keiner von uns weiterleben konnte, ohne genau zu wissen, welches Platz und Auftrag waren, die ihm das Verhängnis zugewiesen hatte. (Gabriel Garcia Marquez: Chronik eines angekündigten Todes, S. 97)


Gasdanow, Gaito: Das Phantom des Alexander Wolf

  Sie war eine üppige Frau, ziemlich schön; doch wenn ich sie anblickte, bekam ich jedesmal Appetit, unabhängig davon, wann es sich zutrug. Selbst wenn es unmittelbar nach einem reichhaltigen Dejeuner geschah, rief ihr Anblick trotzdem die Vorstellung von Essen hervor, und wenn ich die Augen schloss, schwebten mir Schinkenkeulen, Stör, Lachs oder Hummer vor; diese Frau trug eine ganze Welt gastronomischer Visionen mit sich und stimulierte sie, ohne es zu wissen. (Gaito Gasdanow: Das Phantom des Alexander Wolf)


Geiger, Arno: Es geht uns gut

  Seit Richards Kopf nicht mehr mitmacht, merkt man ihm den Verfall auch körperlich an. Seine Vergeßlichkeit hat den weniger unangenehmen Alterserscheinungen, die längst sichtbar waren, das Charmante genommen und sie in etwas Schrundiges und Krummes verwandelt. Richards Gang ist knieweich und absatzschleifend, und jeder Schritt bedarf einer genauen Beobachtung durch die Augen, als könnte jeder Schritt mitttendrin abreißen. Für Richard bezeichnet der Tod keinen Endpunkt mehr, auf den man nach und nach zustrebt, sondern eine Bedrohung in unmittelbarer Nähe, mit der er rechnet, wenn er Pläne schmiedet, die über einen absehbaren Zeitraum hinausreichen. (Arno Geiger: Es geht uns gut, S. 19)


Geiger, Arno: Es geht uns gut [2]

  Alles, was sie sagt, ist am Ende lächerlich oder banal oder überdreht. Davon verstehst du nichts, hört sie dann meistens. Und dazu dieses siebengescheite Minister-Getue. Immer das gleiche. Wie oft schon. Sie reagiert gar nicht mehr darauf, denn jede Widerrede wird mit dem unweigerlichen Standardargument quittiert, daß sie (Alma) an Verfolgungswahn leide. Was soll's. Es lohnt sich nicht. In so eine Rolle wächst man mit der Zeit hinein. Sie begnügt sich damit, es sich selbst zu erklären, daß Richards Haltung eine Spezialität der Männer ist, die noch vor dem ersten Krieg geboren sind, nicht nur von denen, aber von denen ganz besonders. Es hat mit dem zu tun, was diese Männer als Buben in den sogenannten guten Häusern und in der Schule gelernt haben: Daß Frauen haushalten sollen, ab und zu im Bett funktionieren (aber nicht zu oft und wenn, dann im Schweinsgalopp) und daß zum Kinderkriegen und -großziehen Intelligenz nicht erforderlich ist, weil das nötige Hirnschmalz durch die sporadische Anwesenheit des Haushaltsvorstandes eingebracht wird. Oder durch reine Gedankenübertragung, da der Mann mit den Kindern ja ohnehin nicht redet. Was aber Entscheidungen, Finanzen und technische Dinge angelangt, haben Frauen das Maul zu halten, ja. (Arno Geiger: Es geht uns gut, S. 26)


Geiger, Arno: Es geht uns gut [3]

  Es ist nicht so, daß er nicht wüßte, ja, um es leichter zu haben, hat er seine Erinnerung ein wenig korrigiert, er weiß aber doch, daß seine Ehe nicht das war, was sie sich vorgestellt hatten, und daß die Zutaten für ein haltbares Glück nicht gereicht hatten und daß wenigstens Sissi alt genug war, die Misere mitzubekommen. Und er weiß auch, daß die Jahre vor Ingrid Tod die am wenigsten erfolgreichen Jahre seines Lebens waren, das will was heißen bei einem, der auch davor und danach meistens auf seiten der Verlierer gestanden ist, bei dem sich die Niederlagen eingelagert haben wie Arteriosklerose. (Arno Geiger: Es geht uns gut, S. 302)


Geiger, Arno: Es geht uns gut [4]

  Er ist der Sproß eines Nebenzweiges einer österreichischen Schauspielerfamilie und zur Einsicht in die Uneinheitlichkeit seines Charakters erzogen worden, in die Vielfalt von Wünschen, Antrieben und Inkonsequenzen. Alma mag ihn. Zwar hat er sich mit den Jahren ein bißchen zu sehr auf die Rolle des charmanten Schwerenöters abonniert, der weiß, daß seine Zeit abgelaufen ist. Dennoch ist er ein Mensch mit einem beträchtlichen Repertoire an Unbeständigkeit. (Arno Geiger: Es geht uns gut, S. 47)


Genazino, Wilhelm: Ein Regenschirm für diesen Tag [1]

  Wann immer ich meine nackten Füße ansehe, sind sie ungefähr fünfzehn Jahre älter als ich. Ich betrachte die stark nach außen getretenen Adern, die polsterartig vergrößerten Knöchel und die immer härter werdenden Fußnägel, die immer mehr jene schwefelgelbe Farbe annehmen, die für die Zehennägel nicht mehr ganz junger Menschen charakteristisch sind! Nihct mehr ganz junger Menschen! Diese Floskel geht mir nur durch den Kopf, weil ich den Schreck über meine Zehennägel abdämpfen muß. (Wilhelm Genazino: Ein Regenschirm für diesen Tag, S. 34)


Genazino, Wilhelm: Ein Regenschirm für diesen Tag [2]

  Ich bin gern in der Nähe von Verwirrten, Halbverrückten und Durchgedrehten. Ich stelle mir dann vor, daß ich bald zu ihnen gehören werde. Dann werde ich davon befreit sein, mit einen endgültigen Beruf suchen und mein Leben so gestalten zu müssen, daß es zu diesem endgültigen und sicheren Beruf paßt. Und ich werde, wenn ich erst selber verwirrt bin, endlich die Kraft haben, alles niederzuhauen und totzumachen, was nicht in dieses endlich gefundene Leben paßt. (Wilhelm Genazino: Ein Regenschirm für diesen Tag, S. 62f.)


Genazino, Wilhelm: Ein Regenschirm für diesen Tag [3]

  Ich mache einen Kurs als Sterbebegleiterin, sagt Regine. Ohh, mache ich und muß ein wenig lachen. Das ist eine ernste Sache, sagt Regine. Ich möchte fragen, was man in einem solchen Kurs lernt, aber ich traue mich nicht. Und, frage ich statt dessen, kommst du klar? Neulich wollten sie mich zum ersten Mal einer Einundneunzigjährigen beistehen lassen, aber die Frau hat mich nach einer halben Stunde weggeschickt. Jetzt lachen wir beide und sehen dabei aneinander vorbei. Du bist ihr wahrscheinlich wie der Tod persönlich vorgekommen, sage ich. So habe ich das noch nie gesehen. Als Sterbender ist man doch gekränkt über jeden, der weiterlebt, sage ich. Du sprichst, sagt Regine, als wärst du schon einmal gestorben. Klar doch, sage ich, schon öfter, du etwas nicht? (Wilhelm Genazino: Ein Regenschirm für diesen Tag, S. 86)


Genazino, Wilhelm: Ein Regenschirm für diesen Tag [4]

  Der Junge löffelt aus einem Glasschälchen Blaubeeren mit Milch. Viele Beeren zerdrückt er, so daß sich die Milch mehr und mehr blau verfärbt. Milchblau, gibt es diese Farbe? Es gibt sie wohl nicht, aber sie leuchtet bis zu mir herüber. Die Frau neben dem Jungen beklagt sich über die Größe der Erdbeeren auf ihrem Obstkuchen. Der Junge weist sie zurecht: Wenigstens an den Erdbeeren soll sie nicht herumkritteln. Auch der ältere Ehemann rechts von mir wird kritisiert. Schau nicht immerzu auf deine kaputte Uhr, sagt die Frau neben ihm. Der Junge hat die Blaubeeren aufgegegessen und beugt seinen Oberkörper nach vorne. Mußt du dein Haar auf den Tisch legen, sagt die zuvor von den Jungen kritisierte Frau. Ich begreife, mein Glück ist, daß mich niemand beanstandet. Der Junge kabbelt unter den Tisch. Er legt sich auf den Rücken und schaut sich den Tisch von unten an. Mußt du mit deinem neuen Hemd den Boden aufwischen, ruft die andere Frau unter den Tisch. Es werden schon lange keine Beweise mehr gebraucht, daß man es auf der Welt nicht aushalten kann, aber hier wird gerade einer geliefert. (Wilhelm Genazino: Ein Regenschirm für diesen Tag, S. 114)


Genazino, Wilhelm: Ein Regenschirm für diesen Tag [5]

  Meine ganze Jugend lang hatte ich den Eindruck, mich retten zu müssen, egal wo und egal wie. Und erst in diesen Jahren, stell dir das vor, ist dieses Gefühl endlich von mir gewichen. Ich bin ein bißchen verwirrt darüber, daß mir die Rettung geglückt ist. Ich lebe ganz und gar zurückgezogen. Weil ich mich gerettet habe, mag ich keinen Lärm, Und weil ich mich vor Leuten fürchte, die dauernd den Mund zu voll nehmen, mag ich keine Kultur. (Wilhelm Genazino: Ein Regenschirm für diesen Tag, S. 120)


Genazino, Wilhelm: Ein Regenschirm für diesen Tag [6]

  Susanne drehte mich küssend auf den Rücken. Sie kann nicht abwarten, bis meine Erektion für eine Beischlaf ausreicht. Sie setzt sich auf mein halb erigiertes Geschlecht und legt ihren Oberkörper dann auf den meinen. Vielleicht schämt sie sich ihrer nicht mehr festen Brüste. Wir haben einen falschen Anfang erwischt, wir müßten noch einmal von vorn anfangen dürfen. Ich dringe in sie ein, aber weil ich noch nicht fest genug bin, rutsche ich gleich wieder heraus. Dabei sehe ich, daß ich vergessen habe, die Socken abzulegen. Ich habe sofort die Vorstellung, das wird Susanne nicht dulden können. Es ist mir im Augenblick nicht möglich, die Strümpfe unbemerkt abzustreifen und verschwinden zu lassen. Mich selber beeinträchtigt das Mißgeschick nicht, im Gegenteil. Mißgeschicke bringen Unschuld hervor; sie erinnern mich unmerklich daran, daß ich mich im Leben nicht genügend auskenne und nie ausgekannt habe. Prompt rutsche ich in mein Grundgefühl hinein, daß ich mich immer nur halbwegs zurechtfinde und deswegen wie aus Versehen lebe. (Wilhelm Genazino: Ein Regenschirm für diesen Tag, S. 142)


Genazino, Wilhelm: Die Kassiererinnen [1]

  Eine neue Hose! Ich konnte schon zur damaligen Zeit nicht ausdrücken, wie wenig ich an Hosen interessiert war, und zwar an allen Hosen, an alten und neuen, an modischen und nichtmodischen. Als es Edda noch gab, mußte ich mich nicht einmal mit der Zurückweisung solcher Probleme beschäftigen. Mit wunderbarer Beiläufigkeit führte sie mich von Zeit zu Zeit in ein Kaufhaus, nahm von einem Kleiderständer dieses und jenes herunter und schickte mich damit in eine Umkleidekabine. Und erledigt war der Vorgang. (Wilhelm Genazino: Die Kassiererinnen, S. 68)


Genazino, Wilhelm: Die Kassiererinnen [2]

  Am Friedberger Platz kam ich wie fast jeden Tag an dem Supermarkt Prezzoprezzo vorbei. Dicht hinter den breiten Schaufensterscheiben sah ich die Rücken der Kassiererinnen, die ruhig nebeneinander saßen wie vor hundert Jahren die Tippdamen in den Kontoren. Ich war schon öfter im Prezzoprezzo gewesen und wußte, daß die Kassiererinnen an ihren weißen Kutten kleine Schildchen trugen, auf denen nur ihre Vornamen standen. Die Frauen mußten es sich gefallen lassen, von den Geschäftführern jeden Tag herbeigerufen oder herumgeschickt oder an andere Kassen versetzt zu werden. In früheren Jahren ertrug ich den Anblick der Kassiererinnen nicht, ohne mich einem Gefühl der Weltbitternis hinzugeben. Jetzt kam mir meine neue zärtliche Gleichgültigkeit zu Hilfe und redete mir ein, daß die Kassiererinnen der Fatalität ihres Schicksals vermutlich gewachsen wären. (Wilhelm Genazino: Die Kassiererinnen, S. 10)


Genazino, Wilhelm: Die Kassiererinnen [3]

  Was mir an Wanda inzwischen am meisten gefiel, war ihre Fähigkeit, klaglos durch die Welt zu gehen. Fast täglich betrachtete sie, genau wie ich, Drogenabhängige, Alkoholiker, Arbeitslose, Motorradfahrer und endgültig verstummte Sozialhilfeempfänger, die mit schwammartiger Traurigkeit in die Schaufenster blickten. Ich empfand sie wie Leute, die kurz zuvor hingefallen waren. Sie waren nicht hingefallen, sie sahen nur so aus. Trotzdem wollte ich auf sie zugehen und fragen: Haben Sie sich verletzt? Und ich war sicher, sie würden sofort über ihre Stürze reden. (Wilhelm Genazino: Die Kassiererinnen, S. 76)


Genazino, Wilhelm: Die Kassiererinnen [4]

  Ich kann dir nicht sagen, wie sehr mir dieser Dr. Wolters auf die Nerven geht. Jedes Mal, wenn ich ihn sehe, redet er über Hegel und Schopenhauer, über die Sprechakttheorie, über die Seinsgelassenheit oder über den unbewegten Beweger! Ich kann's nicht mehr hören! Als könnte man sein ganzes Leben lang immer mit dem gleichen Kochlöffel im gleichen Topf herumrühren! Grauenhaft! Dieser Bildungskrüppel! Diese Blindschleiche! (Wilhelm Genazino: Die Kassiererinnen, S. 107)


Genazino, Wilhelm: Die Kassiererinnen [5]

  Die Verkäuferin in der neuen Bäckerei war freundlich und fast ein wenig verlegen. Ich sagte, daß ich ein Stück Schokoladentorte wollte und sah der Verkäuferin dabei zu, wie sie sich einen Pappdeckel für das Stück Torte zurechtlegte. Da fragte sie mich, ob sie das Tortenstück auf den Pappdeckel legen durfte oder ob es aufgestellt bleiben mußte. Eine derartig einfühlsame Frage hatte ich in einer Bäckerei noch nie gehört. Die Frage rührte mich und machte auch mich verlegen. Ich hatte nicht einmal gewußt, daß eine solche Frage überhaupt gestellt werden konnte. Deswegen wußte ich auch keine Antwort, jedenfalls nicht so schnell. Ich gab einen ausweichenden Laut von mir, den die Verkäuferin offenbar so auslegte, daß ich ein aufgestelltes Stück Torte bevorzugte. Die Wahrheit war viel komplizierter. Ich begann erst jetzt darüber nachzudenken, was ich mehr schätzte, liegende oder stehende Tortenstücke. Da ich die Frage nicht beantworten konnte, beschäftigte ich mich mit der nächstfolgenden Frage, wie ich es in der Vergangenheit damit gehalten hatte. Auch diese Frage war nicht zu beantworten. Sie verlor sich im Dunkel der Unerinnerbarkeit. So schwieg ich und bewunderte die Handgriffe, die nötig sind, ein Stück Torte von einer Kuchenplatte zu lösen und es aufrecht und ohne irgendwelche Schäden und Einbußen auf einem Pappdeckel zu heben. (Wilhelm Genazino: Die Kassiererinnen, S. 121f.)


Genazino, Wilhelm: Die Ausschweifung

  Eckhard begrüßte ungläubig Tante Käthe, eine Schwester des Vaters, die er schon lange nicht mehr getroffen hatte. Auch sie war in ein Alter gekommen, dessen Anblick in Eckhard Verwunderung hervorrief. Wie diese alleinstehende Frau bisher überhaupt durchs Leben gekommen war, blieb ihm rätselhaft. Mit dreiundzwanzig Jahren war sie ein halbes Jahr mit einem Finanzbeamten verlobt gewesen, und danach hatte sie, wie sie seit gut fünfzig Jahren immer wieder gesagt hatte, mit Männern nichts mehr zu tun gehabt. Diese Mitteilung machte sie in der Regel in einer Art, aus der die anderen schließen mußten, dieser Verzicht sei der größte Erfolg ihres Lebens gewesen oder geworden. Ihr Entsetzen vor Männern hatte sich in all den Jahren in einen Angst vor Einbrechern und Räubern verwandelt. Seit fünfzig Jahren hingen an ihrer Garderobe zwei große dunkel Männerhüte, von denen sie glaubte, ein Einbrecher werde bei ihrem Anblick seine Absicht, in ihre Wohnung einzudringen, wieder aufgeben. Je älter sie wurde, desto mehr war sie überzeugt davon, es werde ihr etwas zustoßen. Aus Angst vor Schnaken und Insekten schnitt sie sich Masken aus Zeitungspapier aus, die sie sich nachts über das Gesicht zog. Und wenn sie zu Bett ging, packte sie sich ein wie für eine Polarexpedition. Ihre Zudecke bestand aus einem Laken, einem schweren Federbett, einer heizbaren Unterdecke. Dieses mehrschichtige Lager schnallte sie sich mit drei Gummibändern über dem Körper fest, aus Angst, es werde in der Nacht herunterrutschen. (Wilhelm Genazino: Die Ausschweifung, S. 280f.)


Genazino, Wilhelm: Die Ausschweifung [2]

  Unter allen Umständen mußte er vermeiden, daß sie zu weinen anfing, was bei ihr leicht möglich war, wenn sie sich allzu sehr in ihn einfühlte. Wenn sie weinte, dann weinte sie aufwendig und gründlich, und eben dies machte ihn aggressiv. Sie hielt sich dann die Hände vor das Gesicht und ließ sich die Tränen zwischen den Fingern hervorquellen und das Armgelenk herunterlaufen, bis sie aussah wie eine verarmte Reisigsammlerin aus einem Märchenbuch. (Wilhelm Genazino: Die Ausschweifung, S. 314)


Genazino, Wilhelm: Die Liebesblödigkeit [1]

  Ich eile durch vermurkste Seitenstraßen, ich bemühe mich, abstoßenden Möbelgeschäften und ekligen Billigmärkten nicht zu nahe zu kommen. Eine Frau geht an einer Drogerie vorüber und faßt die draußen aufgestellten Sonderangebote an. Ich schaue ihr dabei zu, wie sie kurz nacheinander einen Vorteilspack Kindercreme, einen Waschhandschuh, ein Päckchen Puffreis, eine Packung Spritzgebäck, eine Strumpfhose und einen Zwölferpack Teelichter mit den Fingerspitzen berührt. Ich betrachte die Leute, die zu bequem oder zu faul oder zu traurig sind, sich zu Hause ein Frühstück zu machen. Mit verhangenen Gesichtern sitzen sie hinter einer Tasse Kaffee und bittern leise vor sich hin. Personen, die schon morgens mehr als zwei volle Plastiktüten herumtragen, wirken ordinär. Speckige Säuglingsbeine baumeln wie Weißwürste aus den Tragtüchern ihrer Mütter. Rosa Blüten fallen von den Kastanien herunter. Ich fühle mich frei; ich merke es daran, daß ich mit niemandem und nicht innerlich abrechnen muß. Ich finde es bemerkenswert, wie elegant und beinahe unbemerkt ich mich selber beschwindle. (Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit, S. 17)


Genazino, Wilhelm: Die Liebesblödigkeit [2]

  Später erzählte mir Sandra die neuesten Turbulenzen aus dem Leben eines schwulen Kollegen. Dieser wohnt neuerdings mit einem erheblich jüngeren Schwulen zusammen und wird von diesem laufend betrogen. Ich höre diesen Geschichten mit mäßigem Interesse zu, muß allerdings zugeben, daß sie mich in einem lebenszugewandte Stimmung versetzen, die ich, wenn ich allein bin, nicht so ohne weiteres zustande bringe. (Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit, S. 12)


Genazino, Wilhelm: Die Liebesblödigkeit [3]

  Mehr aus Versehen schaue ich auf meinen Schreibtisch. Seit Tagen schon schiebe ich eine Menge Arbeit vor mir her. Von Beruf bin ich freischaffender Apokalyptiker. Ich lebe von Vorträgen, Kolloquien, Tagungen und Essays in Fachzeitschriften. In Hotels veranstalte ich sogenannte Seminare und beeindrucke die Leute mit meinen erstaunlichen Vorhersagen. Ich muß sofort präzisieren: Ich bin kein Universalapokalyptiker, sondern ein Zivilisationsapokylptiker, das heißt, ich bin kein Fundamentalist, sondern ein Fortschrittsrevionist, ein Besinnungskonservativer. Ich glaube, man hört mir gern zu, weil ich die Welt nicht völlig aufgebe. Ich gehöre nicht zu den Finsterlingen, die beinahe wöchentlich eine Klimakatastrophe vorhersagen und aus Europa einen tropischen Erdteil machen, über den bald Taifune hinwegjagen werden. Nie wird man von mir hören, daß ganze Länder (Holland und Dänemark werden von diesen Unglückspropheten oft genannt) von der Landkarte verschwinden und daß neuartige Krankheitserreger weite Bevölkerungsteile hinwegraffen werden. Diese immer noch gängige und durch Wiederholung fast schon gemütlich gewordene Apokalypse ist nichts weiter als ein Schreckensszenario für Weltanschauungsneurotiker, von denen es freilich sehr viele gibt. Ich beschäftige mich mehr mit einer absehbar gewordenen Zivilisationsapokalypse, das heißt mit Deformationen, die unscheinbar in unser Leben eindringen und uns allmählich die Luft abdrücken. Es gibt ein gewisses Verlangen in der Gesellschaft nach der neuesten Version ihres möglichen Untergangs. (Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit, S. 25)


Genazino, Wilhelm: Die Liebesblödigkeit [4]

  Ich kann die dauerhafte Liebe zu zwei Frauen nur empfehlen. Sie wirkt wie eine wunderbare Doppelverankerung in der Welt. Man wird mit Liebe gemästet, und das ist genau das, was ich brauche. Die Liebe zu zwei Frauen ist weder obszön noch gemein noch besonders triebhaft oder lüstern. Sie ist im Gegenteil völlig normal (und normalisierend), sie ist eine bedeutsame Vertiefung aller Lebensbelange. Ich vergleiche sie oft mit der Elternliebe. Niemand hat je gefordert, daß wir nur die Mutter oder nur den Vater lieben dürfen. Im Gegenteil, alle Welt verlangt von uns, daß wir Mutter und Vater lieben, und zwar gleichzeitig, und stets heftig und ein Leben lang oder sogar länger. Wehe, wenn wir in der Liebe zum einen oder anderen nachlassen! Immer wieder frage ich mich, warum uns in dem einen Fall eine Doppelliebe möglich sein soll, während sie in dem anderen Fall untersagt ist. Mir jedenfalls ist das Bewußtsein dafür, daß mein Sexualleben polygam genannt wird und nach den herrschenden Auffassungen niederträchtig ist, im Laufe der Jahre abhanden gekommen. Wenn ich längere Zeit mit nur einer Frau Umgang habe (weil Sandra verreist ist oder weil Judith alleine sein möchte), erleide ich prompt die Zustände der Verlassenheit und des Ausgeliefertseins, das heißt, es ergreift mich das Dauerleiden aller Monogamen. (Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit, S. 23f.)


Genazino, Wilhelm: Die Liebesblödigkeit [5]

  Für einen zur Zeit zur Melancholie neigenden Menschen wie mich ist die Nähe von Straßenmusikern immer wichtig. Ich bleibe zwei Minuten stehen und lasse mir meine Restverhangenheit wegflöten. Nur drei Straßen weiter sitzt ein elender Gitarrenspieler, der kaum die Grundgriffe beherrscht. Es reizt mich, ihm zuzuflüstern: Sie sollten höchstens vor Heuschrecken und Maikäfern aufspielen! In Wahrheit vergnügt mich auch das schlechte Gitarrenspiel. Ein melancholischer Mensch sich gerne lustig über das, was ihn kurz zuvor noch geströstet hat. Auf der anderen Straßenseite geht Bausback, der Postfeind. Er ist überzeugt, daß die Post wichtige Briefe an ihn entweder verschlampft oder vernichtet und sich dadurch an seinem Lebensglück vergeht. (Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit, S. 32)


Genazino, Wilhelm: Die Liebesblödigkeit [6]

  Judith beklagt sich zuweilen darüber, wie schwer es ist, ein bißchen Glanz in das Leben zu bringen. Etwas von diesem Glanz verspricht sie sich vom Lauschen in der Natur. Sandra hingegen vermißt keinen Glanz. Sie neigt dazu, die Tatsachen des Lebens ohne Aufbesserung hinzunehmen. Ihre Meinung nach ist es ohnehin das geheime Ziel aller Menschen, einen friedlichen Weg in die Langeweile zu finden. (Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit, S. 29)


Genazino, Wilhelm: Die Liebesblödigkeit [7]

  Im Augenblick fesseln mich die Schweißerarbeiten an den Straßenbahnschienen. Die Straßenschlucht ist grau, aber an mehreren Stellen gleißt jetzt das weiße kalte Licht der Schweißgeräte auf. Dr. Blaul, der Ekelreferent, geht stumm vorüber und beachtet das schöne Licht der Schweißer nicht. Vermutlich ist er in seine Projekte vertieft. Dr. Blaul ist eigentlich Geisteswissenschaftler (sein Spezialgebiet: Die Glücksrhetorik in den Eheanzeigen der Aufklärung), aber weil er als Geisteswissenschaftler nicht den Schatten einer Stelle hat finden könen, wandte er sich den Problemen der modernen Menschen zu. Mich findet Dr. Blaul zum Glück nicht interessant, weil ich für ihn ein Mensch mit veralteten Problemen bin (zwei Frauen und kein Ausweg). Für ihn bin ich jemand, der mit abgestandenen Resten einer vergangenen Epoche in die Moderne hineinragt und nur noch musealen Reiz hat. Dr. Blaul kämpft dafür, daß es Angestellten und Arbeitern erlaubt werden muß, sich pro Monat wenigstens einen freien Ekeltag zu nehmen. Die Menschen müssen das Recht haben, findet Dr. Blaul, ohne Ankündigung und ohne Begründung einen Tag ihrem Betrieb fernzubleiben, wenn sie plötzlich Ekel empfinden, sei es über die Firma, über einen Kollegen, über sich selbst oder worüber auch immer. Ein freier Ekeltag soll uns helfen, daß wir uns wieder fangen können, ohne gleich fliehen zu müssen. Denn es gehört zum Ekel, sagt Dr. Blaul, daß er ohne Vorwarnung die Menschen ergreift; er muß sofort "beantwortet" werden können. Leider hat Dr. Blaul (soweit ich weiß) bis jetzt nicht einen einzigen Betrieb für seinen Plan gewinnen können. (Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit, S. 33)


Genazino, Wilhelm: Die Liebesblödigkeit [8]

  Ich empfinde derart stark die universale Unerlöstheit der Menschen, daß ich Lust verspüre, aufzustehen und den paar Leuten und Kindern ringsum mein Bedauern auszusprechen. Besonders den schon Erlahmten und Erschöpften unter ihnen möchte ich kameradschaftlich die Hand drücken. ich kenne mich im Leben der Erschöpften sehr gut aus, weil ich mich für die Erschöpfung als Form schon seit langer Zeit interessiere. Unsere Verhältnisse produzieren unablässig Erschöpfung, ausreichend Platz für die Erschöpften gibt es aber nicht. Der Erschöpfte ist eine stigmatisierte Figur. Er bildet das System ab, das über uns herrscht, und die Lächerlichkeit seiner Versprechungen. Ich könnte (kann) den Erschöpften geeignete Ruheplätze zeigen, wo sie sich ungestört hinlagern können. Ich habe diese Plätze selbst ausprobiert, es sind Kleinode und Verstecke, absolute Geheimtips. Von ungefähr fünfzehn Jahren, als ich noch halbwegs jung war und noch Karriere machen wollte, habe ich einmal ein "Handbuch für Erschöpfte" schreiben wollen, eine Art Stadtführer mit Angabe von schattenspendenden Bäumen, unbekannten Schleichwegen (ohne Werbetafeln links und rechts), stillen Cafes (ohne Geduld) und so weiter. Leider war ich selber zu erschöpft, um das Handbuch zu schreiben. (Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit, S. 54f.)


Genazino, Wilhelm: Die Liebesblödigkeit [9]

  Ich erinnere mich an die Zeit, als ich Judith kennenlernte. Sonntags fanden wir kaum aus den Kissen heraus. Um das Bett herum waren Zeitungen, Bücher, Wein, Gebäck, Spiegel, Gläser und Unterwäsche verstreut. Dazu ein oder zwei Teller mit Trauben, Feigen und Oliven. Ich entdeckte, daß mir das Leben gefiel, wenn es stundenlang die Form einer Hinlagerung annahm. Nach zwei oder drei Stunden hatte ich das Gefühl, endlich in meinem Versteck am Wildbach angekommen zu sein. War die Liebe nicht überhaupt ein Nachspiel zur Kindheit, eine Wiederholung des Wunsches, eine selbstgebaute Höhle niemals verlassen zu müssen? (Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit, S. 68)


Genazino, Wilhelm: Die Liebesblödigkeit [10]

  Sandra hat nicht die geringste Möglichkeit, den Wahrheitsgehalt meines schnell sprudelnden Bildungswissen zu überprüfen. Sie möchte nur sicher sein (und es selber hören können), daß der Mann ihrer Wahl sp phantastisch reden kann. Ich baue in meine Vorträge manchmal ein bißchen Blödsinn ein, den mir Sandra ahnungslos abnimmt, weswegen ich sie im stillen ein bißchen verspotte. Wer zuviel verlangt, muß betrogen werden, sage ich mir dann. Mit Judith ist es mir möglich, jedenfalls weitgehend, nur über das zu reden, worüber ich Bescheid weiß, es sei denn, ich spreche über Bach, um einen Beischlaf zu verhindern. Deswegen erhält Judith in diesen Augenblicken einen Sonderpunkt für die Ermöglichung von Authentizität. (Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit, S. 104f.)


Genazino, Wilhelm: Die Liebesblödigkeit [11]

  Sandras Brüste fallen auseinander wie die Augenpartien einer zu breiten Maske. Seit langer Zeit bin ich nicht befremdet von Sandras ausladender Körperlichkeit. Sie stützt sich auf, um an das seitlich stehende Weinglas heranzukommen. Durch die Drehung des Körpers legt sich ihr Bauch in ein paar übereinandergeschichtete Wülste. Wenn auf der vorderen Ausbuchtung einer der Wülste nicht eine Brustwarze erkennbar wäre, würde ich nicht wissen, daß es sich dabei um eine jetzt schräg liegende Frauenbrust handelt. (Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit, S. 129)


Genazino, Wilhelm: Die Liebesblödigkeit [12]

  Ich betrachte die wild tanzende Bettina. Sie hüpft und springt über die Einsamkeitsklippen. Es ist möglich, daß ihr Bewegungsdrang aus reiner Verzwiflung hervorgeht. Bettina ist jetzt neunundvierzig. In diesem Alter sollte ein Mensch nicht mehr so fundamental erschüttert werden. Immer wieder überrascht mich das Gefühl, Bettina könnte sich etwas antun. Der neue Liebesverlust ist vielleicht zuviel für sie. Übrigbleiben ist noch schlimmer als Verlassenwerden. Ich wundere mich, wie einfühlsam ich über Bettina denke. (Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit, S. 171)


Genazino, Wilhelm: Mittelmäßiges Heimweh [1]

  Meine Frau ist im südlichen Schwarzwald geboren und dort auch aufgewachsen. Ihre hervorstechendste Eigenschaft ist, daß sie sich ein Leben außerhalb des Schwarzwalds nicht vorstellen kann. Ich war einmal von ihrem Lob des einfachen Lebens im Schwarzwald so hingerissen, daß ich ihr in den Schwarzwald folgte. Edith hat nie woanders gewohnt und wird auch in Zukunft nirgendwoanders leben wollen und können. Ich gebe zu, sie hat diese Bedingung von Anfang an klar ausgesprochen. Es war mir nicht deutlich, was es bedeutet, sich einem Menschen mit einer so heftigen Heimatvorstellung auszuliefern. Vor etwa zehn Jahren, zum Zeitpunkt der Eheschließung, war ich noch vergleichsweise jung und bildete mir ein, überall leben zu können. Außerdem gefiel mir, Edith zu zeigen, daß ich liebeswillfährig war. Es lag eine unaussprechliche Süße darin, sich dem Liebesdruck eines anders Menschen zu beugen. (Wilhelm Genazino: Mittelmäßiges Heimweh, S. 16)


Genazino, Wilhelm: Mittelmäßiges Heimweh [2]

  Im Grunde lebe ich schon lange auf dieser mittleren Schreckensebene. Stets bleibe ich zurück mit einer leeren Heftigkeit, von der ich nie möchte, daß Frau Grünewald sie bemerkt, aber dafür ist es meistens zu spät. Nach einer Weile verwandelt sich die innere Heftigkeit in eine Art Ekel, den ich gut kenne. Der Ekel sagt mir: Du sollst hier, an deinem Arbeitsplatz, im Schnellverfahren den Schmerz über den Niedergang deiner Ehe sowohl bewältigen als auch wegstecken, das heißt ersticken, indem du dich ganz schnell immer wieder in deine Arbeit versenkst. Aus Ratlosigkeit bücke ich mich und binde wenigstens meine Schuhe fester. Dabei reißt der rechte Schnürsenkel. Warum zieht Heidemarie jetzt nicht eine Schublade auf und sagt sanft zu mir: Hier, ich habe einen Ersatzschnürsenkel für Sie (für dich). Warum unterhält diese lausige Firma keine Schnürsenkelvorratshaltung!? Und warum ist Frau Grünewald nicht die Schnürsenkelbeauftragte? Erst das Wort Schnürsenkelvorratshaltung erlöst mich von den nachzitternden Schrecken des letzten Telefongesprächs. Ich beuge mich nach oben über den Schreibtisch und sende ein federleichtes Bürolächeln zu Frau Grünewald hinüber. (Wilhelm Genazino: Mittelmäßiges Heimweh)


Genazino, Wilhelm: Mittelmäßiges Heimweh [3]

  Hoffentlich kommt es nicht zu sexuellen... äh ... Handlungen, denke ich ängstlich. Wenn mein Leben so in Unordnung ist wie zur Zeit, kann ich ohnehin kaum beischlafen. Ich kann es nur, wenn ich dem Leben, das ich führe, als Ganzem zustimmen kann, und das ist mir aus vielen Gründen zur Zeit nicht möglich. Obwohl ich mir mit meinen dreiundvierzig Jahren dafür noch zu jung vorkomme, betrete ich jetzt schon das weite Feld der vorzeitigen Ermüdungen. (Wilhelm Genazino: Mittelmäßiges Heimweh)


Genazino, Wilhelm: Mittelmäßiges Heimweh [4]

  Meine mich immerzu verwandelnde Hemmung bringt Zartheit hervor. Frau Schweitzer steigt aus dem Bett und legt alle Kleider ab bis auf den Büstenhalter, worüber ich mich wundere, aber ich sage nichts. Frau Schweitzer entnimmt ihrer Handtasche ein Kondom und streift es meinem Geschlecht über. Ich schaue dabei zu wie früher, als ich ein Kind war und meine Mutter mir einen Wunderverband um einen Finger legte. Noch während des Beischlafes überlege ich, ob Frau Schweitzer eine Hausfrauenprostituierte ist. Das ist kein netter Einfall, ich schäme mich stumm. Weil ich schon lange nicht mehr beigeschlafen habe, kommt mir rasch der Same, worüber ich mich noch einmal schäme. Schon kurz nach dem Beischlaf setzt das Schuldgefühl der Liebe ein. Es ist die rasch wachsende innere Überzeugung, daß ich nie genug lieben und mich nie genug verzehren werde. Ich schaue auf meinen im Herzen verwahrten Vorbehalt und werde dabei schuldig. ... (Wilhelm Genazino: Mittelmäßiges Heimweh)


Genazino, Wilhelm: Der Fleck, die Jacke... [1]

  Da sagt die Frau plötzlich auf die sauber in der Mitte gescheitelten Haare des Mädchens den Satz herunter: Gisela, hör auf, du kannst es nicht. Der Satz ist wie ein Bann. Augenblicklich nimmt das Kind das Instrument von den Lippen. Es schaut zuerst in das Gesicht der Mutter und wandert kurz in deren Einsamkeit umher, dann läßt es den Blick still in der U-Bahn umherschweifen wie die anderen Fahrgäste auch. Dieses überraschend einsetzende allgemeine Beobachten muß das Zeichen dafür sein, wenn eine Person in die Weltverlorenheit eintritt. (Wilhelm Genazino: Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz)


Genazino, Wilhelm: Der Fleck, die Jacke... [2]

  Zwei Arbeiter in farbigen Anoraks dringen in unser Abteil ein; sie reißen Bierdosen auf, reden und trinken. Gesa polstert sich mit Kleidungsstücken eine Ecke aus und versucht zu schlafen. Es gelingt ihr nicht, es ist zu laut, die beiden Arbeiter haben die Abteiltür nicht wieder verschlossen. Jugendliche mit Earphones poltern durch den Gang. In ihre Köpfe dringt ein metallenes Ticken und Klopfen ein, das die anderen als ein allgemeines Schaben mithören müssen. Ich versuche, alle Geräusche zu ignorieren, der Versuch mißlingt und endet mit einer unsinnigen Anstrengung. Das Knallen der Bierdosen und das Schaben der Earphones sind die neuen Geräuschen der öffentlichen Einsamkeit, an der alle teilnehmen müssen. (Wilhelm Genazino: Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz)


Genazino, Wilhelm: Der Fleck, die Jacke... [3]

  Ich habe herausgefunden, daß Gesa teure Cafes nur dann aufsucht, wenn sie sich selbst nicht gut fühlt und geborgten Glanz braucht. In den eher mittelmäßigen Lokalen sitzt sie, wenn sie den Tag ohne Zerwürfnis mit sich selbst hinter sich gebracht hat; dann macht ihr das geflickte Plastikpolster in einer Eckbank nichts aus, sie stört sich nicht an den Kippen und Abfällen, die auf dem Boden liegen, und sie tippt mit dem Zeigefinger den Takt einer widerwärtigen Musik mit, die sonst ausreicht, ihr das Gefühl der Weltunbewohnbarkeit zu geben. Und sie übersieht die Frechheit der jungen Kellner, weil sie ahnt, daß diese selbst nicht recht verstehen, warum sie in diesem Lokal gelandet sind. In vornehmen Cafes ist Gesa leise und bewegungsarm, wortkarg, angespannt, ungeduldig. Sie braucht den leeren Platz zwischen den Stühlen, weil ihr alles Leben zu nahe geht, sie braucht den Schimmer der Messingseinfassungen an den Tischen, sie braucht den Anblick eines jungen Mädchens, das liest, und sie braucht die Servilität der alten Ober, die jeden Tag neu daran scheitern, der Bedienung von Menschen durch Menschen das unterwürfige Moment zu nehmen. (Wilhelm Genazino: Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz)


Genazino, Wilhelm: Außer uns spricht niemand...

  Mir fiel Carola ein, die vor einiger Zeit eine erstaunliche Bedingung in die Welt gesetzt hat. Ich gehe mit dir bald nicht mehr ins Bett, sagte sie, wenn du dir nicht endlich neue Unterwäsche und mindestens zwei neue Hemden kaufst. (...) Zwei Stationen weiter stiegen wir aus und erreichten auf kürzestem Weg eine Abteilung Unterwäsche Herren. Carola verhielt sich routiniert und effektiv. Sie wusste, dass ich zu den Menschen gehörte, für die das Aufeinandertreffen von Hitze, Lärm und Gedränge zu den schwereren Belastungen gehörte. Nach kurzer Zeit standen wir in einer Unterwäsche-Abteilung von der Ausdehnung einer Autobahn- Tankstelle. Ich beobachtete einen Mann, der sich hilfesuchend hinter einer Frau versteckte und empfand sofort Sympathie mit ihm. Da probierte Carola vor den Augen vieler Leute mehrere Unterhemden an, indem sie mir die Wäschestücke der Länge nach auf den Oberkörper legte und dann sagte: Die nehmen wir. Dieser Kauf von Unterhemden war die schnellste Kaufhandlung, deren Opfer ich je gewesen war. Der Erwerb eines halben Dutzends Unterhosen verlief noch schneller. Carola wusste, es war mir gleichgültig, ob eine Unterhose dunkelgrün, hellblau, schwarz oder gestreift war. Nach wenigen Minuten standen wir schon an der Kasse. Carola gab mir ein Zeichen, dass ich bezahlen sollte. Ich reichte der Kassiererin zwei Scheine und suchte schon nach dem Ausgang. Wir waren uns einig, dass wir auf den Besuch des sogenannten Erfrischungsraums verzichteten. Ich war in dankbarer Stimmung. Ich hatte niemals für möglich gehalten, dass der Kauf von Unterwäsche glückhafte Momente haben könnte. (Wilhelm Genazino: Außer uns spricht niemand über uns)


Germain, Sylvie: Das Buch der Nächte

  Victor-Flandrin hatte bis dahin nur zwei Frauen gekannt. Der ersten war er im Bergwerk begegnet, wo sie als Sortiererin arbeitete. Solange hieß sie. Sie war ganz ausgemergelt, und ihre Lippen und Hände waren so rauh, daß ihre Küsse und Liebkosungen immer nur den Geschmack eines Reibeisens hatten. Der zweiten war er auf dem Tanzboden begegnet. Er hatte sie um ihres blassen Teints und ihrer stets blau umschatteten Augen willen begehrt. Doch diese Frau fand so wenig Vergnügen und Lust an der Liebe, daß sie, sobald sie sich hingelegt hatte, stets unverzüglich einschlief, so als stürzten die ersten Küsse sie in Lethargie. Er erinnerte sich nicht einmal mehr an ihren Namen, den sie gewiß nie anders als gähnend gesagt hatte. So entdeckte Victor-Flandrin zusammen mit Melanie endlich den wahren Geschmack der Liebe, jene aufreizende Süße, die das Fleisch in einem fort zu erregen vermag. (Sylvie Germain: Das Buch der Nächte, S. 70)


Gesthuysen, Anne: Wir sind doch Schwestern [1]

  Richtig modern war er, dachte Gertrud, als sie jetzt am Fenster stand, ungewöhnlich für jemanden, der noch vor der Gründung des Kaiserreichs geboren worden war. (...) Übertriebene Moralvorstellungen waren Ludwig Franken fremd gewesen, Epikurs Lehre gefiel ihm, und er machte sich eine eigene Mischung aus der griechischen und katholischen Lehre. Seiner Ansicht nach hatte jeder das Recht, im Diesseits nach Glück zu streben, aber nur so sehr, dass man gegebenenfalls auch in einem katholischen Jenseits nicht komplett anecken würde. (Anne Gesthuysen: Wir sind doch Schwestern)


Gesthuysen, Anne: Wir sind doch Schwestern [2]

  Eines Tages dann schien Vater van Treek den Entschluss gefasst zu haben, seiner Tochter einen Ehemann zu kaufen. Wie zu einem Viehmarkt zog er durch die Nachbarschaft und suchte nach einem kräftigen, aber mittellosen Mann um die vierzig. (...) In einem kleinen Ort namens Lerrich lebte Heini Schulten. Er war nicht sonderlich intelligent, möglicherweise lag es daran, dass man in dem Dorf über Jahrhunderte hinweg kein frisches Blut zugelassen hatte. Man heiratete unter sich, und so war irgendwann jeder mit jedem verwandt, was sich fatal auf die Denkfähigkeit einiger Bewohner ausgewirkt hatte. Dieses Phänomen hatte es überall auf dem Land gegeben, überlegte Paula, und all die Orte, die davon nicht betroffen waren, lästerten über die "Inzucht-Dörfer": "Hinter jedem Ofen haste wenigstens einen Doofen." Heini Schulten war also einer von denen, denen der liebe Gott statt Gewitztheit Naivität, aber auch statt Grübelei und Trübsinn einen einfachen Sinn für Freude mit auf den Weg gegeben hatte. Van Treek sprach vor und konnte sein Glück kaum fassen, denn von nun an hatte seine Tochter einen Verlobten. (Anne Gesthuysen: Wir sind doch Schwestern)


Gide, Andre: Der Liebesversuch

  Luc wollte sie lieben, aber er schrak vor dem Besitz ihres Körpers wie vor einer Wunde zurück. Traurige Erziehung, die wir erhielten und die dazu geführt hat, daß wir uns die Wollust schluchzend und tief betrübt vorstellen, oder aber verdrossen und einsam, obgleich sie doch glorreich und heiter ist. Wir werden nicht mehr von Gott verlangen, daß er uns zum Glück erhebe- - Aber nein! Luc war nicht so; was soll diese lächerliche Manie, alle, die wir erfinden, so auszustatten, wie wir selbst es sind? - Also: Luc nahm diese Frau Besitz. (Andre Gide: Der Liebesversuch)


Ginzburg, Natalia: Familienlexikon [1]

  Die Freundinnen meiner Mutter hießen im Sprachgebrauch meines Vaters Schreckschrauben. Wenn sich die Stunde des Abendessen näherte, dann rief mein Vater mit lauter Stimme aus seinem Studierzimmer: Lidia! Lidia! Sind all diese Schreckschrauben endlich gegangen? Etwas später sah man die letzte Schreckschraube erschrocken durch den Korridor eilen und aus der Türe schlüpfen; diese jungen Freundinnen meiner Mutter hatten alle große Angst vor meinem Vater. Beim Abendessen sagte mein Vater zu meiner Mutter: Hast du nun genug geschwatzt? Hast du genug geklatscht? (Natalia Ginzburg: Familienlexikon, S.14)


Ginzburg, Natalia: Familienlexikon [2]

  Mein Vater fühlte sich übrigens sehr arm, vor allem morgens früh, wenn er erwachte; dann weckte er auch meine Mutter und sagte zu ihr: "Ich weiß nicht, wie wir in Zukunft leben werden; hast du gesehen, daß die Immobilienaktien gefallen sind." Die Immobilienaktien fielen immer und stiegen nie; diese verflixte Immobilien, sagte meine Mutter und klagte, mein Vater habe überhaupt keinen Geschäftssinn: Kaum gebe es ein schlechtes Wertpapier, so kaufte er es. Sie bat ihn häufig, sich doch an einen Bankagenten zu wenden; aber dann wurde er wütend; denn er wollte hier wie in allen anderen Dingen nach seinem eigenen Kopf handeln. (Natalia Ginzburg: Familienlexikon, S.15)


Ginzburg, Natalia: Familienlexikon [3]

  Ich weiß nicht, wie es kam, daß aus dem Geschlecht von Bankiers, das die Vorfahren und Verwandten meines Vaters bildeten, mein Vater und sein Bruder Cesare hervorgingen, denen jeglicher Geschäftssinn abging. Mein Vater widmete sein Leben der wissenschaftlichen Forschung, ein Beruf, der ihm kein Geld eintrug; und er hatte vom Geld unbestimmte und wirre Vorstellungen, deren Ursprung eine grundsätzliche Gleichgültigkeit war, so daß er, wenn er je mit Geld zu tun hatte, es meistens verlor oder sich zumindest so anstellte, daß er es verlieren mußte; und wenn er es nicht verlor und alles gutging, so war das ein purer Zufall. (Natalia Ginzburg: Familienlexikon, S. 23)


Ginzburg, Natalia: Familienlexikon [4]

  Mein Vater aß bei Tisch sehr viel, aber so rasch, daß man den Eindruck hatte, er esse nichts, weil sein Teller sofort leer war, und er war selber davon überzeugt, er esse wenig und hatte diese seine Überzeugung auch auf meine Mutter übertragen, die ihn immer bat, doch zu essen. Er aber schimpfte mit meiner Mutter, weil er fand, sie esse zuviel. Iß nicht zuviel! Du verdirbst dir den Magen. Reiß dir nicht die Nagelhäutchen aus! donnerte er von Zeit zu Zeit. Meine Mutter hatte tatsächlich, seit sie ein Kind war, die schlechte Gewohnheit, sich die Nagelhäutchen auszureißen, da sie in ihrem Internat einmal einen Umlauf am Finger gehabt hatte, an dem sich später die Haut schälte. Wir alle aßen nach der Meinung meines Vaters zuviel und verdarben uns den Magen. Von den Speisen, die ihm nicht schmeckten, sagte er, sie seien ungesund, weil sie schwer auf dem Magen liegen; von denen, die ihm schmeckten, sagte er, sie seien gesund, weil sie "die Peristaltik anregen". (Natalia Ginzburg: Familienlexikon, S. 28)


Ginzburg, Natalia: Familienlexikon [5]

  Meine Mutter war immer ein wenig eifersüchtig auf Paolas Freundinnen, und wenn Paola eine neue Freundin hatte, war sie schlechter Laune, weil sie sich beiseite geschoben fühlte. Sie stand dann morgens mit einem grauen Gesicht und schweren Lidern auf und sagte: ich bin verkleistert. So nannte sie diese Mischung von schlechter Laune, Gefühl der Einsamkeit und meistens auch einer Magenverstimmung. Sie verkroch sich dann in den Salon, fror und hüllte sich in wollenen Schals und dachte, Paola habe sie nicht mehr gern und komme sie nicht mehr besuchen und gehe mit ihren Freundinnen spazieren. Ich bin es satt! sagte meine Mutter. Nichts macht mir Spaß. Ich bin es satt. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn einem alles verleidet ist. Wenn ich doch wenigstens eine schöne Krankheit hätte. Manchmal hatte sie die Grippe. Dann war sie zu zufrieden; denn sie fand, Grippe sei vornehmer als ihre gewöhnlichen Magenverstimmungen. Sie maß sich das Fieber: sie hatte siebenunddreißig vier. Weißt du, daß ich krank bin? sagte sie zufrieden zu meinem Vater. Ich habe siebenunddreißig vier! Siebenunddreißig vier? Das ist wenig, sagte mein Vater. Ich gehe noch mit neununddreißig ins Laboratorium! Meine Mutter sagte: Hoffen wir auf diesen Abend! Aber sie wartete nicht bis zum Abend; sie maß sich alle paar Minuten. Immer noch siebenunddreißig vier! Und ich fühle mich doch so schlecht! (Natalia Ginzburg: Familienlexikon, S.109)


Ginzburg, Natalia: Familienlexikon [6]

  Obschon sie versicherte, ihre Fülle zu verabscheuen, unternahm sie nichts, um sie zu bekämpfen, war aber in ihrer Fülle zutiefst heiter und zufrieden und pflegte von sich mit einem Lächeln zu sagen, das ihre großen, weißen, über die Lippen vorstehenden Zähne entblößte: Nigra sum, sed formosa. Die andere war mager, wäre jedoch gern noch magerer gewesen unbd prüfte im Spiegel besorgt ihre Beine, die fest wie Säulen waren; denn sie war durch Willensstärke mager geworden und hatte ihren kräftigen Knochenbau und ihre breiten Hüften bewahrt. Wenn sie mit einem jungen Mann, der ihr wichtig war, eine Verabredung hatte, fastete sie mittags oder aß nur einen Apfel; denn sie nähte sich ihre Kleider selber, und zwar so eng, daß sie fürchtete, sie würden platzen, wenn sie eine ganze Mahlzeit aß. Sie widmete diesen Kleidern eine peinlich genaue und nervöse Aufmerksamkeit; sie nähte mit gerunzelter Stirn, den Mund voller Nadeln, und wollte, daß sie so schlicht und nüchtern wie möglich wurden, da sie an ihrer Schwester nicht nur die Fülle, sondern auch den hang, sie in auffällige Seide zu kleiden, haßte. (Natalia Ginzburg: Familienlexikon, S. 123f.)


Glaeser, Ernst: Jahrgang 1902 [1]

  Nur in der Religionsstunde versagte er. Denn sein Vater hatte versäumt, ihm die empirische Voraussetzungslosigkeit biblischer Ereignisse rechtzeitig beizubringen. (...) Er kompensierte diese Unfähigkeit, Dinge zu glauben, nur weil sie der Religionslehrer so erzählte, durch die Turnstunde. Hier war Ferd unser Ideal. Er beherrschte jede Übung. Mit Kraft verband er Gewandheit. Sein Vater verbesserte diese schulkorrekte Turnerei durch eine konsequente sportliche Erziehung. Jeden Morgen um 7 Uhr unterwies er Ferd auf der Scheunentenne im sportgerechten Boxen. Als Punchingball figurierte ein Sack, den der Major mit Zeitungsberichten von Kaiserreden vollgestopft hatte. (Ernst Glaeser: Jahrgang 1902)


Glaeser, Ernst: Jahrgang 1902 [2]

  Ich konnte nie begreifen, wie Menschen, sobald sie außerhalb der Häuser waren, immer noch langsam gehen konnten. Es schien mir nicht der Bewegung, die durch jeden Halm, jede Staude und in schimmernden Windwellen über die Kornfelder ging, zu entsprechen. Ich haßte Spaziergänger. Ich haßte die Sonntage, wo das Feld wie ein großer Garten behandelt wurde, in dem man sich auf genau abgezirkelten Wegen erging. In jenem häßlichen Schritt, dem man die Absicht der Erholung ansieht. Diese kasernierte Naturverehrung wurde manchmal durch einen Hasen unterbrochen. Durch unseren Gänsemarsch und den klirrenden Gesang unserer Lieder aus seiner Sonnenmüdigkeit geweckt, jagte sehr oft solch ein Tier in blinder Angst aus der Sicherheit seines Verstecks mitten auf unseren Weg. "Hoho!" schrie dann mein Vater, "hoho, ein Hase, sieh da, Bruder Lampe..." Wir nahmen sofort die Verfolgung auf. Nicht, weil wir dachten, ihn zu fangen, sondern weil es uns Spaß machte, ihn zu hetzen. Hätte der Hase die deutschen Beamten gekannt, wäre er sofort vom Weg abgesprungen und hätte sich in die Sicherheit des freien Feldes gerettet. Tat er es, stoppte mein Vater sofort, hielt mich fest und sagte sehr ernst zu mir herunter: "Halt, das Betreten des Feldes ist verboten. Ich dulde nicht, daß sich mein Sohn strafbar macht." Der Hase war gerettet, wir gingen wieder langsam. (Ernst Glaeser: Jahrgang 1902)


Glaeser, Ernst: Jahrgang 1902 [3]

  In diesen Tagen kam meine Tante aus Weimar zu Besuch. Sie war eine Art Generalissimus in unserer Familie. Ihre imposante Gestalt befähigte sie dazu, außerdem war ihr Mann Ministerialrat, der kurz vor der Ernennung zum Minister stand. Sie hatte mit ihm eine Weltreise gemacht und spielte sich seitdem in unserer Familie, deren Mitglieder höchstens Venedig kannten, als Autorität auf. Ihre Briefe waren Ukasse, sie behauptete, das Leben zu kennen. Sie hielt sich in allem, besonders in der Kindererziehung, für letzte Instanz. Sicherlich weil sie keine Kinder hatte. (Ernst Glaeser: Jahrgang 1902)


Glauser, Friedrich: Der Tee der drei...

  "Es sieht aus, als hätte eine ungeschickte Hand eine intravenöse Injektion versucht. Und zwar scheint ein beträchtliches Quantum Gift eingespritzt worden zu sein. Dieses Gift... - Nun, die Alkaloide des Opiums, als da sind Heroin, Codein, Morphin, schalten aus. Von wegen den vergrößerten Pupillen. Es käme nur die Gruppe der Tropeine in Betracht, und wir haben die Auswahl zwischen Atropin, Scopolamin und Hyoscyamin. Hyoscyamin!" wiederholte Rosenstock und kostete das Wort aus wie einen Leckerbissen, "es klingt wie ein Frauenname aus einem Maeterlinckschen Stück." (Friedrich Glauser: Der Tee der drei alten Damen, S. 17)


Glavinic, Thomas: Wie man leben soll [1]

  An dem Abend, an dem drüben in Amerika die Challenger über Cape Canaveral explodiert, liegt man zum erstenmal mit einem Mädchen im Bett. Von dem Unglück ahnt man nichts, man konzentriert sich auf unsittliche Berührungen. Aus einem Kassettenrekorder dringt Musik, von der man weiß, daß sie dem Mädchen gefällt. So ist das Objekt der Sehnsucht in der gleichen Stimmung wie man selbst. Auch wenn man das für unmöglich hält. Berührt man die weibliche Brust, stellt man fest, daß sie sich ähnlich anfühlt wie ein Tafelschwamm. Hoppla, Entschuldigung, murmelt man. Claudia schweigt. Zweifelhafte Gazetten verbilden Jugendliche und treiben sie scharenweise den Psychoanalytikern in die Arme. Entgegen deren Informationen schätzen es Mädchen nämlich unter bestimmten Umständen, an den Geschlechtsteilen befummelt zu werden, so sehr die Kirche und der bärtige Schularzt, dessen Atem nach Marillenlikör riecht, einem das ausreden wollen. Gottlob sind Neugier und Natur stärker als alle zusammen. (Thomas Glavinic: Wie man leben soll, S. 7)


Glavinic, Thomas: Wie man leben soll [2]

  Wenn morgens um sechs der Radiowecker dröhnt, sitzt man in der nächsten Sekunde aufrecht im Bett und schreit Huuuuch!, weil man enorm schreckhaft ist. Sobald man sich beruhigt hat, denkt man an Claudia. Man bleibt fünf Minuten liegen. Mutter klopft an die Tür und meckert, man sei nie aus dem Bett zu kriegen. Man ist versucht zu entgegnen, es sei kein Wunder, daß es ihr leichtfalle aufzustehen bei den Mengen an Psychopharmaka, die sie sich in den Frühstückskaffee rühre. Um des lieben Friedens willen verkneift man sich diesen Hinweis. (Thomas Glavinic: Wie man leben soll, S. 10)


Glavinic, Thomas: Wie man leben soll [3]

  Sie hat alles mögliche ausprobiert. Einige Jahre lebte sie auf einem Bauernhof, wo sie versuchte, die Hühner zu hypnotisieren, um den Eierertrag zu maximieren. Da es sich sowohl bei Federvieh als auch bei Schweinen und Schafen um nicht allzu hypnoide Wesen handelt, gab sie den Bauernhof auf und versuchte sich mit einer Schmuckkollektion. Darin zeigte sie solches Geschick, daß sie bis zum Jahr 2017 Zeit hat, die Schulden mit ihrem Sekretärinnengehalt zu begleichen. (Thomas Glavinic: Wie man leben soll, S. 14)


Glavinic, Thomas: Wie man leben soll [4]

  Tante Ernestine wohnt am Stadtrand und gilt als das schwarze Schaf der Familie. Seit Tante Kathis erfolglosem Versuch, sie entmündigen zu lassen, haben sich die beiden bei Familienfeiern Plätze nebeneinander ausbedungen, um einander schweigend kalte Blicke zuzuwerfen. Man ist der einzige, der Tante Ernestine besucht. Sie ist siebenundneunzig Jahre alt, äußerst sparsam, wenn auch keineswegs geizig, und hat eine rätselhafte Zuneigung zu Autos. Die in der Familie übliche physische Robustheit ist ihr geblieben. Wenn vor ihrem Haus Jugendliche Unfug treiben, kann es sich nur um neu Zugezogene oder um frühgereifte Masochisten handeln. Wie der Blitz ist sie unten und schafft Ordnung. Ab und zu beschweren sich Leute bei ihr, daß sie ihre Jungen verdroschen hätte, und drohen mit der Staatsgewalt. Dann schwingt Tante Ernestine ihren Stock und schaut so irre, daß die Besucher es in der Regel vorziehen, von weiteren Verhandlungen Abstand zu nehmen. (Thomas Glavinic: Wie man leben soll, S. 16)


Glavinic, Thomas: Wie man leben soll [5]

  Wenn man in Claudia verliebt ist und dennoch romantische Gefühle für deren Freundin hegt, deren Herz man jedoch nie gewinnen wird, weil man weder über die dazu erforderliche Schönheit noch über Ausstrahlung verfügt, ganz zu schweigen vom Mut und vom Charakter und vom Temperament und von der Geduld und von der Weisheit, ist das Grund genug, sich ein wenig dem Weltschmerz zu ergeben. In verschiedenen Ratgebern, deren Lektüre man seit längerem schätzt, hat man gelesen, Selbstmitleid sei eine Haltung, über die man die Nase rümpfen sollte, aber ein wenig Geschluchze hier und ein paar Verschwörungstheorien da könne man sich gestatten, weil man danach wieder freier atme. (Thomas Glavinic: Wie man leben soll, S. 21)


Glavinic, Thomas: Wie man leben soll [6]

  Zu den Initiationsriten des Erwachsenwerdens zählt neben dem ersten Alkoholmißbrauch der erste Geschlechtsverkehr. Wenn man die Angelegenheit mit Claudia ausführlich erörtert, stellt man fest, daß beide Partner noch nie Sex hatten, noch nie einer Bluttransfusion unterzogen wurden und zu keiner Zeit drogensüchtig waren. Ein negativer HIV-Test bei beiden ist also wahrscheinlich. Vielliecht sollte man es einmal ohne Kondom versuchen. Zudem Claudia die Pille nimmt. Man liegt wieder einmal nach der Schule neben Claudia nackt im Bett. Eine Erektion ergibt sich. Diese sogleich einzusetzen ist verboten. Laut "Kamasutra für Anfänger" brauchen Frauen für erfüllten Sex ein Vorspiel und viel Zärtlichkeit. Ein perfides Manöver wie spontanes Eindringen läuft dem zuwider. Also bereitet man Claudia so lange mit den Händen vor, bis sie einem "Ja, ich will" ins Ohr haucht. Man versucht, sein Liebeswerkzeug ins Spiel zu bringen. Die Yoni einer Sechszehnjährigen ist eng, und die Yoni einer sich verkrampfenden Sechszehnjährigen noch enger. Der Lingam eines Siebzehnjährigen ist hart, aber der unerfahrene Lingam eines nervösen und frustrierten Siebzehnjährigen ist kein Instrument, auf das dauerhaft Verlaß wäre. Doch einmal von der Ummantelung des Kondoms befreit und vielleicht von einem gütigen Blick der Liebesgöttin unterstützt, ereignet sich das Wunder: Man trifft - und man dringt ein. Unglaube. Große Aufregung. Erschrockene Blicke. Was ist nun zu tun? Man beginnt sanft, sanft mit koitalen Bewegungen. Alle zehn bis zwanzig Sekunden erkundigt man sich bei Claudia, ob man ihr Schmerzen bereite. Weder ein klares Ja noch ein Nein ist ihr zu entlocken. Darauf darf man weiter fuhrwerken. Allem Gazettenwissen zum Trotz entblödet man sich nicht, Claudia dann und wann zu fragen, ob sie schon einen Orgasmus hatte. Die ersten Minuten in Claudia sind aufwühlend, und man vergißt sie nie. So also fühlt sich das an, denkt man. Trotz der holprigen Ausführung der Prozedur ist man begeistert. Daß das Beste bevorsteht, wird einem gar nicht bewußt. Man agiert wie in ahnungsloser Autofahrer, der im ersten Gang Vollgas gibt, weil er den Schalthebel nicht zu bedienen versteht: der Motor brüllt und heult. Aber anstatt eines technischen Gebrechens stellt sich unweigerlich der Höhepunkt ein. Dieses Gefühl, das man vom Masturbieren (Gasgeben im Leerlauf) schon lange kennt, das beim Geschlechtsakt jedoch zu etwas Unvergleichlichem gerät. Großes Glück. (Thomas Glavinic: Wie man leben soll, S. 37f.)


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