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Allgemeine Fundstücke / [G1]
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Strike wusste aus Erfahrung, dass es einen bestimmten Frauentyp
gab, der ihn außerordentlich attraktiv fand. Gemeinsame Merkmale
waren Intelligenz und eine flackernde Intensität – wie bei
Glühbirnen mit einem Wackelkontakt. Die Frauen waren häufig gut
aussehend und meistens, wie sein ältester Freund Dave Polworth es
gern ausdrückte, "arschklar total durchgeknallt". Was genau an
ihm diesen Typ Frau anzog, hatte Strike noch nie analysiert,
obwohl Polworth, ein Mann mit vielen markigen Theorien, die
Ansicht vertrat, dass derlei Frauen ("nervös, überzüchtet")
unbewusst nach etwas suchten, was er "Karrengaulblut" nannte.
(Robert Galbraith: Der Seidenspinner)
Das im achtzehnten Jahrhundert als Schachclub für Gentlemen
gegründete Simpson’s sprach zu ihm in einer alten und vertrauten
Sprache: von Hierarchie, Ordnung und würdevollem Anstand. Hier
dominierten die dunklen, erdigen Clublandfarben, die Männer
wählten, wenn sie nicht von ihren Frauen beraten wurden, massive
Marmorsäulen, solide Ledersessel für den betrunkenen Dandy. (...)
Für eine vollends vertraute Atmosphäre fehlten hier nur mehr
Regimentsfahnen und ein Porträt der Königin. Solide Stühle mit
hölzernen Rückenlehnen, schneeweiße Tischdecken und
Silbertabletts, auf denen gewaltige Rinderbraten ruhten. (...)
"Haben Sie beim Hereinkommen die Uhr über der Tür gesehen?",
fragte Waldegrave und setzte seine Brille wieder auf. "Sie ist
angeblich stehen geblieben, als 1984 die erste Frau hier
aufgetaucht ist. Kleiner Insiderscherz." (Robert Galbraith: Der
Seidenspinner)
Jago Ross. In jeder Hinsicht das genaue Gegenteil von Strike:
schön wie ein edler Prinz, im Besitz eines Treuhandfonds,
geboren, um seinen vorbestimmten Platz innerhalb seiner Familie
und der Welt einzunehmen; gesegnet mit allem Selbstvertrauen, das
einem ein über zwölf Generationen exakt dokumentierter Stammbaum
verleihen konnte. Er hatte eine Reihe hoch dotierter Jobs sausen
lassen, ein hartnäckiges Alkoholproblem entwickelt und legte die
Bösartigkeit eines überzüchteten, unerzogenen Tieres an den Tag.
(Robert Galbraith: Der Ruf des Kuckucks)
Herr General, dieser Mensch vertraute noch nicht einmal
seinem Spiegel, er faßte seine Beschlüsse, ohne sie mit
jemandem zu besprechen, nachdem er die Informationen
seiner Agenten empfangen hatte, nichts geschah im Land,
noch tat ein Verbannter an irgendeinem Ort des Planeten
einen Seufzer, ohne das Jose Ignacio Saenz de la Barra
es nicht unverzüglich durch die Fäden seines
unsichtbaren Denunziations- und Bestechungsspinnnetzes
erfuhr, mit dem er den Erdball überzogen hatte, dafür
gab er sein Geld aus, Herr General, denn es trifft
nicht zu, daß die Folterer Ministergehälter bezogen,
wie behauptet wurde, sie boten sich im Gegenteil
umsonst an, um zu beweisen, daß sie imstande waren,
ihre Mutter zu vierteilen und ihre Teile den Schweinen
vorzuwerfen, ohne daß sich der Tonfall ihrer Stimme
veränderte. (Gabriel Garcia Marquez: Der Herbst des
Patriarchen, S. 223f.)
Die Söhne der Witwe de Asis kamen am Sonntag zur
Messe. Sie waren sieben, Roberto Asis nicht
mitgerechnet. Alle waren vom gleichen Schlag: Massig
und ungeschlacht und zu schwerer Arbeit geboren wie
die Maultiere, waren sie der Mutter in blindem
Gehorsam ergeben. Roberto Asis, der jüngste und als
einziger verheiratet, hatte mit seinen Brüder nur die
Verdickung im Nasenbein gemeinsam. Mit seiner
zarten Gesundheit und seinen höflichen Manieren war
er für die Witwe de Asis eine Art Trostpreis für die
Tochter, die sie sich vergeblich gewünscht hatte.
(Gabriel Garcia Marquez: Die böse Stunde)
Der Fußboden war mit Petroleum geölt, die Spiegel
waren mit Bleiweiß eingerieben. Der Friseur polierte
sie mit einem Lappen, während Richter Arcadio es
sich im Stuhl bequem machte. "Es dürfte gar keinen
Montag geben", klagte der Richter. Der Barbier hatte
begonnen, ihm die Haare zu schneiden. "Der Sonntag
ist schuld. Wäre nicht der Sonntag", meinte er heiter,
"gäbe es keinen Montag." Richter Ercadio schloß die
Augen. Diesmal, nach zehn Stunden Schlaf, einem
ungestümen Liebesakt und einem ausgiebigen Bad,
war dem Sonntag nichts vorzuwerfen. Und doch war
es ein bedrückender Montag. (Gabriel Garcia Marquez:
Die böse Stunde)
Er war der erste Mann gewesen, den Fermina Daza
urinieren hörte. Sie hörte ihn in der Hochzeitsnacht,
in der Kabine des Schiffs, das sie nach Frankreich
trug, während sie seekrank darniederlag, und das Tosen
seines Pferdewasserfalls erschien ihr so machtvoll und
so herrisch, daß es ihre Angst vor den befürchteten
Verletzungen noch steigerte. Diese Erinnerung kam ihr
häufig in den Sinn, als die Jahre den Wasserfall nach
und nach abschwächten, weil sie sich nicht damit
abfinden konnte, daß er jedesmal einen nassen
Klosettrand hinterließ. Doktor Urbino versuchte sie mit
für jeden, der sie verstehen wollte, leicht
einsichtigen Argumenten davon zu überzeugen, daß dieses
Mißgeschick sich nicht, wei sie behauptete, wegen
seiner Unachtsamkeit täglich wiederholte, sondern aus
einem organischen Grund: Sein jugendlicher Strahl war
so bestimmt und direkt gewesen, daß er in der Schule
mit seiner Zielsicherheit beim Flaschenfüllen Turniere
gewonnen hatte, doch durch den Altersverschleiß war der
Strahl nicht nur schwächer geworden, sondern hatte sich
auch gekrümmt, verzweigt und schließlich in ein
eigenwilliges Brünnlein verwandelt, und das trotz aller
Anstrengungen, ihn zu begradigen. Er sagte: "Das
Klosett muß jemand erfunden haben, der nichts von
Männern verstand." Zum häuslichen Frieden trug er mit
einer täglichen Geste bei, die eher ein Zeichen von
Demütigung als von Demut war: Er wischte die Ränder des
Klosetts nach jeder Benutzung mit Klopapier ab. Sie
wußte das, sagte aber nie etwas, solange die
Ammoniakdämpfe im Bad nicht zu offenkundig wurden, dann
erklärte sie, als decke sie ein Verbrechen auf: "Hier
stinkt es nach Kaninchenstall." Am Vorabend des
Greisenalters brachte ihn die Körperstörung selbst auf
die endgültige Lösung: Er pinkelte wie sie im Sitzen,
was die Brille sauber und ihn im Zustand der Gnade
ließ. (Gabriel Garcia Marquez: Liebe in den Zeiten der
Cholera, S. 45f.)
Er versuchte neuartige Maßstäbe im Hospital de la
Misericordia zu setzen, was aber nicht so leicht war,
wie er es sich in seiner jugendlichen Begeisterung
gedacht hatte, da das altehrwürdige Krankenhaus an
abergläubischen Atavismen festhielt. Da wurden
beispielsweise die Beine der Krankenbetten in
Wassertöpfe gestellt, um zu verhindern, daß die
Krankheiten heraufkrochen, man hielt sich auch noch an
die Vorschrift, im Operationssaal Gesellschaftskleidung
und Wildlederhandschuhe zu tragen, da man es für
erwiesen hielt, daß Eleganz eine wesentliche
Voraussetzung der Asepsis sei. Sie alle ertrugen es
nicht, daß der neuangekommene Spunt vom Urin eines
Kranken kostete, um den Zuckergehalt festzustellen, daß
er Charcot und Trousseau zitierte, als seien sie seine
Zimmergenossen, daß er im Unterricht nachdrücklich vor
den tödlichen Vertrauen in die neuerfundenen
Suppositorien setzte. Er eckte überall an: Sein
Erneuerungsdrang, sein staatsbürgerlicher Übereifer,
sein bedächtiger Sinn für Humor in einem Land
unausrottbarer Witzbolde, all das, was ihn in Wahrheit
so schätzenswert machte, trug ihm das Mißtrauen seiner
älteren Kollegen und den verdeckten Spott der jungen
ein. (Gabriel Garcia Marquez: Liebe in den Zeiten der
Cholera, S. 152)
Florentino Ariza wollte ihr helfen, den Haken des
Leibchens zu lösen, doch sie kam ihm mit einem
geschickten Griff zuvor, da sie in fünf Jahren
ehelicher Ergebenheit gelernt hatte, bei allen
Erledigungen der Liebe, sogar beim Vorspiel, ohne Hilfe
zurechtzukommen. Zuletzt schlüpfte sie aus dem
Spitzenhöschen, ließ es mit der raschen Bewegung einer
Schwimmerin die Beine hinabgleiten und stand nackt da.
Sie war achtundzwanzig Jahre alt und hatte drei Kinder
geboren, doch ihre Nacktheit hatte sich das
Schwindelerregende einer Unverheirateten bewahrt. Für
Florentino Ariza blieb es unbegreiflich, wie ein
Büßergewand den Drang jener jungen Bergstute hatte
verdecken können, weil er sie sonst für ein Flittchen
gehalten hätte. In einem einzigen Anlauf versuchte sie,
immer noch befangen und unerfahren nach fünf Jahren
Eheleben, die eiserne Abstinenz der Trauer
wettzumachen. Vor dieser Nacht und seit jener
gnadenreichen Stunde, in der ihre Mutter sie geboren
hatte, hatte sie nie mit einem anderen Mann als ihrem
verstorbenen Ehegatten auf demselben Bett auch nur
gelegen. Sie erlaubte sich nicht die Stillosigkeit von
Gewissensbissen. Ganz im Gegenteil. Da die
Leuchtkugeln, die über die Ziegeldächer schwirrten, sie
nicht schlafen ließen, beschwor sie bis zum
Morgengrauen die Vorzüge des Ehemanns, dem sie keine
andere Untreue vorzuwerfen hatte als die, ohne sie
gestorben zu sein. Darüber tröstete sie sich aber mit
der Gewißheit, daß er nie so ganz ihr gehört hatte wie
jetzt, da er in einem mit zwölf Dreizollnägeln
zugenagelten Sarg zwei Meter unter der Erde lag.
(Gabriel Garcia Marquez: Liebe in den Zeiten der
Cholera, S. 209)
Aus jener Epoche stammten seine eher schlichten
Theorien über den Zusammenhang zwischen dem Körperbau
einer Frau und ihrer Liebesfähigkeit. Er mißtraute dem
sinnlichen Typus, jenen Frauen, die aussahen, als
könnten sie einen Kaiman roh verschlingen, dann aber im
Bett besonders passiv zu sein pflegten. Er zog den
entgegengesetzten Typ vor: Diese mageren Fröschchen,
denen auf der Straße nachzuschauen, sich niemand Mühe
machte, von denen nichts übrigzubleiben schien, wenn
sie sich auszogen, die wegen des Knackens ihrer
Knöchelchen beim ersten Stoß Mitleid erweckten und die
dennoch den großmäuligsten Rammler derart zurichten
konnten, daß er reif für die Mülltonne war. (Gabriel
Garcia Marquez: Liebe in den Zeiten der Cholera, S.
244)
Die Witwe Nazaret hielt selbst in ihren geschäftigsten
Zeiten stets die gelegentlichen Verabredungen mit
Florentino Ariza ein, und immer ohne den Anspruch zu
lieben oder geliebt zu werden, doch immer in der
Hoffnung, etwas zu finden, das wie Liebe war, aber ohne
die Probleme der Liebe. Ab und zu besuchte er sie, und
dann genossen sie es, sich auf der Terasse von der
Salzgischt durchnässen zu lassen, während sie das
Erwachen der Welt am Horizont betrachteten. Er legte
all seinen Ehrgeiz darein, sie die Finessen zu lehren,
die er durch die Gucklöcher des Stundenhotels bei
anderen gesehen hatte, sowie die theoretischen
Anleitungen, die Lothario Thugut in seinen wilden
Nächten herausposaunte. Er stiftete sie dazu an, sich
beim Liebesakt beobachten zu lassen, die konventionelle
Missionarsstellung mit der des Meeresfahrrads, des
Hühnchens am Spieß oder des gevierteilten Engels
abzuwechseln, und eines Tages hätten sie sich beinahe
ums Leben gebracht, als bei dem Versuch, auf der
Hängematte etwas Neues zu erfinden, die Seile rissen.
Es waren sterile Lektionen. Sie war zwar eine
wagemutige Schülerin, aber in Wahrheit fehlte ihr jedes
Talent für den gelenkten Beischlaf. (Gabriel Garcia
Marquez: Liebe in den Zeiten der Cholera, S. 210)
"Ich bete dich an, weil du mich zu einer Dirne gemacht
hast." Anders ausgedrückt, sie hatte nicht unrecht.
Denn Florentino Ariza hatte ihr die Jungfräulichkeit
der konventionellen Ehe geraubt, die verderblicher ist
als jene, mit der man geboren wird, verderblicher auch
als die Enthaltsamkeit der Witwenschaft. Er hatte ihr
beigebracht, daß nichts von dem, was man im Bett
treibt, unmoralisch ist, wenn es nur dazu beiträgt, die
Liebe zu bewahren; und noch etwas, was seitdem zur
Richtschnur ihres Lebens geworden war: Er hatte sie
davon überzeugt, daß man mit gezählten
Fickgelegenheiten zur Welt kommt und daß diejenigen,
die aus irgendeinem inneren oder äußeren Grund
freiwillig oder notgedrungen nicht genutzt werden, für
immer verloren sind. (Gabriel Garcia Marquez: Liebe in
den Zeiten der Cholera, S. 211)
Wenn sie etwas verdroß, dann die lebenslängliche Fron
der täglichen Mahlzeiten. Das Essen mußte nicht nur
pünktlich auf dem Tisch stehen, es mußte exquisit sein
und genau das, was er ungefragt zu essen wünschte. Wenn
sie doch einmal fragte, eine der vielen sinnlosen
Zeremonien des häuslichen Rituals, hob er nicht einmal
den Blick von der Zeitung und antwortete: "Irgend
etwas". Er meinte das wirklich und sagte es in seiner
freundlichen Art, denn man konnte sich keinen Ehemann
vorstellen, der weniger despotisch gewesen wäre. Zur
Essenszeit aber durfte es dann nicht irgend etwas sein,
sondern genau das, was er gerade wünschte, und mußte
allen Ansprüchen genügen: Das Fleisch durfte nicht nach
Fleisch schmecken, der Fisch nicht nach Fisch, das
Schwein nicht nach Krätze, das Hähnchen nicht nach
Federn. Auch wenn es nicht die Zeit des Spargels war,
mußte man, koste es, was es koste, welchen auftreiben,
damit er sich an den Dämpfen seines duftenden Urins
erfreuen konnte. Nicht ihm gab sie die Schuld, sondern
dem Leben. Er aber war ein unerbittlicher Repräsentant
des Lebens. Beim leisesten Zweifel schob er den Teller
beiseite und sagte: "Dieses Essen ist nicht mit Liebe
zubereitet." In diesem Zusammenhang war er zu
phantastischen Höhenflügen der Inspiration fähig.
Einmal gab er, kaum daß er von dem Kamillentee genippt
hatte, die Tasse mit einem einzigen Satz zurück: "Das
Zeug schmeckt nach Fenster." Sie wie auch die
Dienstmädchen waren verblüfft, denn wer hatte schon
jemandem gehört, der ein aufgebrühtes Fenster getrunken
hätte, als sie jedoch alle in dem Bemühen, ihn zu
verstehen, den Tee probierten, begriffen sie: Er
schmeckte nach Fenster. (Gabriel Garcia Marquez: Liebe
in den Zeiten der Cholera, S. 310)
Sie roch an jedem Stück, ohne eine Geste zu machen, die
ihre Wut verraten hätte, knüllte das Kleidungsstück
zusammen und warf es in den geflochtenen Wäschekorb.
Der Geruch war nicht da, aber was hieß das schon:
Morgen kam ein neuer Tag. Bevor er vor dem kleinen
Schlafzimmeraltar niederkniete, schloß er die
Aufzählung seiner Leiden mit einem tiefen und zudem
ehrlichen Seufzer: "Ich glaube, ich sterbe bald." Sie
antwortete, ohne mit der Wimper zu zucken. "Das wäre
das beste", sagte sie. "Dann hätten wir beide unsere
Ruhe." Jahre zuvor, auf dem Höhepunkt einer
gefährlichen Krankheit, hatte er ihr von seinem
möglichen Tod gesprochen, und sie war ihm mit der
gleichen brutalen Antwort gekommen. Doktor Urbino
erklärte es sich mit der den Frauen eigenen
Gnadenlosigkeit, dank derer die Erde weiter um die
Sonne kreisen kann, weil er damals noch nicht wußte,
daß seine Frau stets eine Barrikade des Zorns vor sich
aufbaute, wenn man ihr die Angst nicht anmerken sollte,
und die diesem Fall die furchtbarste aller Ängste: ihn
zu verlieren. (Gabriel Garcia Marquez: Liebe in den
Zeiten der Cholera, S. 348)
Schon eine große Schlacht hatte er mit ganzem Einsatz
geführt und ruhmlos verloren - gegen den Haarausfall.
Als er die ersten Haare entdeckte, die sich in den
Zinken des Kammes verfangen hatten, war ihm bewußt
geworden, daß er zu einer Hölle verdammt war, deren
Qualen jedem, der sie nicht erleidet, unvorstellbar
sind. Er leistete jahrelang Widerstand. Es gab keine
Pomade und kein Haarwasser, das er nicht ausprobiert
hätte, keinen Aberglauben, dem er nicht geglaubt, und
kein Opfer, das er nicht auf sich genommen hätte, um
jeden Zollbreit zu verteidigen. Er lernte die
Enmpfehlungen des Bristolischen Bauernkalenders
auswendig, weil er gehört hatte, daß der Haarwuchs in
unmittelbarer Beziehung zu den Erntezyklen stünde. Er
ließ seinen völlig kahlen Friseur, zu dem er zeitlebens
gegangen war, im Stich und suchte stattdessen einen
Wildfremden auf, der nur bei zunehmendem Mond Haare
schnitt. Der neue Friseur war gerade erst dabei zu
beweisen, daß er eine wahrhaft fruchtbringende Hand
besaß, als sich herausstellte, daß er Novizinnen
vergewaltigt hatte und im ganzen Antillenraum von der
Polizei gesucht wurde; man führte ihn in Ketten ab.
Florentino Ariza hatte schon alle in den Zeitungen der
Karibik erschienenen Anzeigen für Glatzköpfe
ausgeschnitten, diese zeigten stets zwei Bilder
desselben Mannes, der erst kahl wie eine Melone, dann
behaarter als ein Löwe aussah: vor und nach der
Anwendung des unfehlbaren Mittels. Im Laufe von sechs
Jahren hatte er hundertzweiundsiebzig ausprobiert, dazu
noch andere ergänzende Behandlungsmethoden, die auf den
Etiketten der Flaschen empfohlen wurden. Das einzige,
was ihm eines der Mittel eintrug, war ein juckendes und
übelriechendes Schädelekzem, das von den Medizinmännern
aus Martinique als Nordlichtkrätze bezeichnet wurde, da
es im Dunkeln phosphoreszierend schimmerte. Zuletzt
versuchte er sein Glück mit all den Indianerkräutern,
die auf dem Markt feilgeboten wurden, probierte jedes
Zaubermittel und jeden Orienttrank aus, der am Portal
de los Escribanos zu kaufen war, als er dann aber
einsah, wie sehr er betrogen war, hatte er schon die
Tonsur eines Heiligen. (Gabriel Garcia Marquez: Liebe
in den Zeiten der Cholera, S. 367)
Jahrelang konnten wir über nichts anderes reden. Unser
bis dahin von so vielen gradlinigen Gewohnheiten
beherrschtes tägliches Verhalten hatte mit einem Schlag
begonnen, sich um eine gemeinsame Bedrängnis zu drehen.
Frühmorgens überraschten uns die Hähne bei dem
Versuch, die zahlreichen ineinander verzahnten Zufälle
zu ordnen, die das Ungereimte möglich gemacht hatten,
und es lag auf der Hand, daß wir das nicht im Verlangen
taten, Geheimnisse aufzuklären, sondern weil keiner von
uns weiterleben konnte, ohne genau zu wissen, welches
Platz und Auftrag waren, die ihm das Verhängnis
zugewiesen hatte. (Gabriel Garcia Marquez: Chronik
eines angekündigten Todes, S. 97)
Sie war eine üppige Frau, ziemlich schön; doch wenn ich
sie anblickte, bekam ich jedesmal Appetit, unabhängig
davon, wann es sich zutrug. Selbst wenn es unmittelbar
nach einem reichhaltigen Dejeuner geschah, rief ihr
Anblick trotzdem die Vorstellung von Essen hervor, und
wenn ich die Augen schloss, schwebten mir
Schinkenkeulen, Stör, Lachs oder Hummer vor; diese Frau
trug eine ganze Welt gastronomischer Visionen mit sich
und stimulierte sie, ohne es zu wissen. (Gaito
Gasdanow: Das Phantom des Alexander Wolf)
Seit Richards Kopf nicht mehr mitmacht, merkt man ihm
den Verfall auch körperlich an. Seine Vergeßlichkeit
hat den weniger unangenehmen Alterserscheinungen, die
längst sichtbar waren, das Charmante genommen und sie
in etwas Schrundiges und Krummes verwandelt. Richards
Gang ist knieweich und absatzschleifend, und jeder
Schritt bedarf einer genauen Beobachtung durch die
Augen, als könnte jeder Schritt mitttendrin abreißen.
Für Richard bezeichnet der Tod keinen Endpunkt mehr,
auf den man nach und nach zustrebt, sondern eine
Bedrohung in unmittelbarer Nähe, mit der er rechnet,
wenn er Pläne schmiedet, die über einen absehbaren
Zeitraum hinausreichen. (Arno Geiger: Es geht uns gut,
S. 19)
Alles, was sie sagt, ist am Ende lächerlich oder banal
oder überdreht. Davon verstehst du nichts, hört sie
dann meistens. Und dazu dieses siebengescheite
Minister-Getue. Immer das gleiche. Wie oft schon. Sie
reagiert gar nicht mehr darauf, denn jede Widerrede
wird mit dem unweigerlichen Standardargument quittiert,
daß sie (Alma) an Verfolgungswahn leide. Was soll's. Es
lohnt sich nicht. In so eine Rolle wächst man mit der
Zeit hinein. Sie begnügt sich damit, es sich selbst zu
erklären, daß Richards Haltung eine Spezialität der
Männer ist, die noch vor dem ersten Krieg geboren sind,
nicht nur von denen, aber von denen ganz besonders. Es
hat mit dem zu tun, was diese Männer als Buben in den
sogenannten guten Häusern und in der Schule gelernt
haben: Daß Frauen haushalten sollen, ab und zu im Bett
funktionieren (aber nicht zu oft und wenn, dann im
Schweinsgalopp) und daß zum Kinderkriegen und
-großziehen Intelligenz nicht erforderlich ist, weil das
nötige Hirnschmalz durch die sporadische Anwesenheit
des Haushaltsvorstandes eingebracht wird. Oder durch
reine Gedankenübertragung, da der Mann mit den Kindern
ja ohnehin nicht redet. Was aber Entscheidungen,
Finanzen und technische Dinge angelangt, haben Frauen
das Maul zu halten, ja. (Arno Geiger: Es geht uns gut,
S. 26)
Es ist nicht so, daß er nicht wüßte, ja, um es leichter
zu haben, hat er seine Erinnerung ein wenig korrigiert,
er weiß aber doch, daß seine Ehe nicht das war, was sie
sich vorgestellt hatten, und daß die Zutaten für ein
haltbares Glück nicht gereicht hatten und daß
wenigstens Sissi alt genug war, die Misere
mitzubekommen. Und er weiß auch, daß die Jahre vor
Ingrid Tod die am wenigsten erfolgreichen Jahre seines
Lebens waren, das will was heißen bei einem, der auch
davor und danach meistens auf seiten der Verlierer
gestanden ist, bei dem sich die Niederlagen eingelagert
haben wie Arteriosklerose. (Arno Geiger: Es geht uns
gut, S. 302)
Er ist der Sproß eines Nebenzweiges einer
österreichischen Schauspielerfamilie und zur Einsicht
in die Uneinheitlichkeit seines Charakters erzogen
worden, in die Vielfalt von Wünschen, Antrieben und
Inkonsequenzen. Alma mag ihn. Zwar hat er sich mit den
Jahren ein bißchen zu sehr auf die Rolle des charmanten
Schwerenöters abonniert, der weiß, daß seine Zeit
abgelaufen ist. Dennoch ist er ein Mensch mit einem
beträchtlichen Repertoire an Unbeständigkeit. (Arno
Geiger: Es geht uns gut, S. 47)
Wann immer ich meine nackten Füße ansehe, sind sie
ungefähr fünfzehn Jahre älter als ich. Ich betrachte die stark
nach außen getretenen Adern, die polsterartig vergrößerten
Knöchel und die immer härter werdenden Fußnägel, die
immer mehr jene schwefelgelbe Farbe annehmen, die für
die Zehennägel nicht mehr ganz junger Menschen
charakteristisch sind! Nihct mehr ganz junger Menschen!
Diese Floskel geht mir nur durch den Kopf, weil ich den
Schreck über meine Zehennägel abdämpfen muß. (Wilhelm
Genazino: Ein Regenschirm für diesen Tag, S. 34)
Ich bin gern in der Nähe von Verwirrten, Halbverrückten und
Durchgedrehten. Ich stelle mir dann vor, daß ich bald zu
ihnen gehören werde. Dann werde ich davon befreit sein,
mit einen endgültigen Beruf suchen und mein Leben so
gestalten zu müssen, daß es zu diesem endgültigen und
sicheren Beruf paßt. Und ich werde, wenn ich erst selber
verwirrt bin, endlich die Kraft haben, alles niederzuhauen und
totzumachen, was nicht in dieses endlich gefundene Leben
paßt. (Wilhelm Genazino: Ein Regenschirm für diesen Tag,
S. 62f.)
Ich mache einen Kurs als Sterbebegleiterin, sagt Regine.
Ohh, mache ich und muß ein wenig lachen. Das ist eine
ernste Sache, sagt Regine. Ich möchte fragen, was man in
einem solchen Kurs lernt, aber ich traue mich nicht. Und,
frage ich statt dessen, kommst du klar? Neulich wollten sie
mich zum ersten Mal einer Einundneunzigjährigen beistehen
lassen, aber die Frau hat mich nach einer halben Stunde
weggeschickt. Jetzt lachen wir beide und sehen dabei
aneinander vorbei. Du bist ihr wahrscheinlich wie der Tod
persönlich vorgekommen, sage ich. So habe ich das noch
nie gesehen. Als Sterbender ist man doch gekränkt über
jeden, der weiterlebt, sage ich. Du sprichst, sagt Regine, als
wärst du schon einmal gestorben. Klar doch, sage ich,
schon öfter, du etwas nicht? (Wilhelm Genazino: Ein
Regenschirm für diesen Tag, S. 86)
Der Junge löffelt aus einem Glasschälchen Blaubeeren mit
Milch. Viele Beeren zerdrückt er, so daß sich die Milch mehr
und mehr blau verfärbt. Milchblau, gibt es diese Farbe? Es
gibt sie wohl nicht, aber sie leuchtet bis zu mir herüber. Die
Frau neben dem Jungen beklagt sich über die Größe der
Erdbeeren auf ihrem Obstkuchen. Der Junge weist sie
zurecht: Wenigstens an den Erdbeeren soll sie nicht
herumkritteln. Auch der ältere Ehemann rechts von mir wird
kritisiert. Schau nicht immerzu auf deine kaputte Uhr, sagt
die Frau neben ihm. Der Junge hat die Blaubeeren
aufgegegessen und beugt seinen Oberkörper nach vorne.
Mußt du dein Haar auf den Tisch legen, sagt die zuvor von
den Jungen kritisierte Frau. Ich begreife, mein Glück ist, daß
mich niemand beanstandet. Der Junge kabbelt unter den
Tisch. Er legt sich auf den Rücken und schaut sich den Tisch
von unten an. Mußt du mit deinem neuen Hemd den Boden
aufwischen, ruft die andere Frau unter den Tisch. Es werden
schon lange keine Beweise mehr gebraucht, daß man es auf
der Welt nicht aushalten kann, aber hier wird gerade einer
geliefert. (Wilhelm Genazino: Ein Regenschirm für diesen
Tag, S. 114)
Meine ganze Jugend lang hatte ich den Eindruck, mich retten
zu müssen, egal wo und egal wie. Und erst in diesen Jahren,
stell dir das vor, ist dieses Gefühl endlich von mir gewichen.
Ich bin ein bißchen verwirrt darüber, daß mir die Rettung
geglückt ist. Ich lebe ganz und gar zurückgezogen. Weil ich
mich gerettet habe, mag ich keinen Lärm, Und weil ich mich
vor Leuten fürchte, die dauernd den Mund zu voll nehmen,
mag ich keine Kultur. (Wilhelm Genazino: Ein Regenschirm
für diesen Tag, S. 120)
Susanne drehte mich küssend auf den Rücken. Sie kann
nicht abwarten, bis meine Erektion für eine Beischlaf
ausreicht. Sie setzt sich auf mein halb erigiertes Geschlecht
und legt ihren Oberkörper dann auf den meinen. Vielleicht
schämt sie sich ihrer nicht mehr festen Brüste. Wir haben
einen falschen Anfang erwischt, wir müßten noch einmal von
vorn anfangen dürfen. Ich dringe in sie ein, aber weil ich
noch nicht fest genug bin, rutsche ich gleich wieder heraus.
Dabei sehe ich, daß ich vergessen habe, die Socken
abzulegen. Ich habe sofort die Vorstellung, das wird
Susanne nicht dulden können. Es ist mir im Augenblick nicht
möglich, die Strümpfe unbemerkt abzustreifen und
verschwinden zu lassen. Mich selber beeinträchtigt das
Mißgeschick nicht, im Gegenteil. Mißgeschicke bringen
Unschuld hervor; sie erinnern mich unmerklich daran, daß
ich mich im Leben nicht genügend auskenne und nie
ausgekannt habe. Prompt rutsche ich in mein Grundgefühl
hinein, daß ich mich immer nur halbwegs zurechtfinde und
deswegen wie aus Versehen lebe. (Wilhelm Genazino: Ein
Regenschirm für diesen Tag, S. 142)
Eine neue Hose! Ich konnte schon zur damaligen Zeit
nicht ausdrücken, wie wenig ich an Hosen interessiert
war, und zwar an allen Hosen, an alten und neuen, an
modischen und nichtmodischen. Als es Edda noch
gab, mußte ich mich nicht einmal mit der
Zurückweisung solcher Probleme beschäftigen. Mit
wunderbarer Beiläufigkeit führte sie mich von Zeit zu
Zeit in ein Kaufhaus, nahm von einem Kleiderständer
dieses und jenes herunter und schickte mich damit in
eine Umkleidekabine. Und erledigt war der Vorgang.
(Wilhelm Genazino: Die Kassiererinnen, S. 68)
Am Friedberger Platz kam ich wie fast jeden Tag an
dem Supermarkt Prezzoprezzo vorbei. Dicht hinter den
breiten Schaufensterscheiben sah ich die Rücken der
Kassiererinnen, die ruhig nebeneinander saßen wie
vor hundert Jahren die Tippdamen in den Kontoren.
Ich war schon öfter im Prezzoprezzo gewesen und
wußte, daß die Kassiererinnen an ihren weißen Kutten
kleine Schildchen trugen, auf denen nur ihre
Vornamen standen. Die Frauen mußten es sich
gefallen lassen, von den Geschäftführern jeden Tag
herbeigerufen oder herumgeschickt oder an andere
Kassen versetzt zu werden. In früheren Jahren ertrug
ich den Anblick der Kassiererinnen nicht, ohne mich
einem Gefühl der Weltbitternis hinzugeben. Jetzt kam
mir meine neue zärtliche Gleichgültigkeit zu Hilfe und
redete mir ein, daß die Kassiererinnen der Fatalität
ihres Schicksals vermutlich gewachsen wären.
(Wilhelm Genazino: Die Kassiererinnen, S. 10)
Was mir an Wanda inzwischen am meisten gefiel, war
ihre Fähigkeit, klaglos durch die Welt zu gehen. Fast
täglich betrachtete sie, genau wie ich,
Drogenabhängige, Alkoholiker, Arbeitslose,
Motorradfahrer und endgültig verstummte
Sozialhilfeempfänger, die mit schwammartiger
Traurigkeit in die Schaufenster blickten. Ich empfand
sie wie Leute, die kurz zuvor hingefallen waren. Sie
waren nicht hingefallen, sie sahen nur so aus.
Trotzdem wollte ich auf sie zugehen und fragen:
Haben Sie sich verletzt? Und ich war sicher, sie
würden sofort über ihre Stürze reden. (Wilhelm
Genazino: Die Kassiererinnen, S. 76)
Ich kann dir nicht sagen, wie sehr mir dieser Dr.
Wolters auf die Nerven geht. Jedes Mal, wenn ich ihn
sehe, redet er über Hegel und Schopenhauer, über die
Sprechakttheorie, über die Seinsgelassenheit oder
über den unbewegten Beweger! Ich kann's nicht mehr
hören! Als könnte man sein ganzes Leben lang immer
mit dem gleichen Kochlöffel im gleichen Topf
herumrühren! Grauenhaft! Dieser Bildungskrüppel!
Diese Blindschleiche! (Wilhelm Genazino: Die
Kassiererinnen, S. 107)
Die Verkäuferin in der neuen Bäckerei war freundlich
und fast ein wenig verlegen. Ich sagte, daß ich ein
Stück Schokoladentorte wollte und sah der
Verkäuferin dabei zu, wie sie sich einen Pappdeckel
für das Stück Torte zurechtlegte. Da fragte sie mich,
ob sie das Tortenstück auf den Pappdeckel legen
durfte oder ob es aufgestellt bleiben mußte. Eine
derartig einfühlsame Frage hatte ich in einer Bäckerei
noch nie gehört. Die Frage rührte mich und machte
auch mich verlegen. Ich hatte nicht einmal gewußt,
daß eine solche Frage überhaupt gestellt werden
konnte. Deswegen wußte ich auch keine Antwort,
jedenfalls nicht so schnell. Ich gab einen
ausweichenden Laut von mir, den die Verkäuferin
offenbar so auslegte, daß ich ein aufgestelltes Stück
Torte bevorzugte. Die Wahrheit war viel
komplizierter. Ich begann erst jetzt darüber
nachzudenken, was ich mehr schätzte, liegende oder
stehende Tortenstücke. Da ich die Frage nicht
beantworten konnte, beschäftigte ich mich mit der
nächstfolgenden Frage, wie ich es in der
Vergangenheit damit gehalten hatte. Auch diese
Frage war nicht zu beantworten. Sie verlor sich im
Dunkel der Unerinnerbarkeit. So schwieg ich und
bewunderte die Handgriffe, die nötig sind, ein Stück
Torte von einer Kuchenplatte zu lösen und es aufrecht
und ohne irgendwelche Schäden und Einbußen auf
einem Pappdeckel zu heben. (Wilhelm Genazino: Die
Kassiererinnen, S. 121f.)
Eckhard begrüßte ungläubig Tante Käthe, eine
Schwester des Vaters, die er schon lange nicht mehr
getroffen hatte. Auch sie war in ein Alter gekommen,
dessen Anblick in Eckhard Verwunderung hervorrief.
Wie diese alleinstehende Frau bisher überhaupt
durchs Leben gekommen war, blieb ihm rätselhaft.
Mit dreiundzwanzig Jahren war sie ein halbes Jahr mit
einem Finanzbeamten verlobt gewesen, und danach
hatte sie, wie sie seit gut fünfzig Jahren immer
wieder gesagt hatte, mit Männern nichts mehr zu tun
gehabt. Diese Mitteilung machte sie in der Regel in
einer Art, aus der die anderen schließen mußten,
dieser Verzicht sei der größte Erfolg ihres Lebens
gewesen oder geworden. Ihr Entsetzen vor Männern
hatte sich in all den Jahren in einen Angst vor
Einbrechern und Räubern verwandelt. Seit fünfzig
Jahren hingen an ihrer Garderobe zwei große dunkel
Männerhüte, von denen sie glaubte, ein Einbrecher
werde bei ihrem Anblick seine Absicht, in ihre
Wohnung einzudringen, wieder aufgeben. Je älter sie
wurde, desto mehr war sie überzeugt davon, es werde
ihr etwas zustoßen. Aus Angst vor Schnaken und
Insekten schnitt sie sich Masken aus Zeitungspapier
aus, die sie sich nachts über das Gesicht zog. Und
wenn sie zu Bett ging, packte sie sich ein wie für eine
Polarexpedition. Ihre Zudecke bestand aus einem
Laken, einem schweren Federbett, einer heizbaren
Unterdecke. Dieses mehrschichtige Lager schnallte
sie sich mit drei Gummibändern über dem Körper fest,
aus Angst, es werde in der Nacht herunterrutschen.
(Wilhelm Genazino: Die Ausschweifung, S. 280f.)
Unter allen Umständen mußte er vermeiden, daß sie
zu weinen anfing, was bei ihr leicht möglich war,
wenn sie sich allzu sehr in ihn einfühlte. Wenn sie
weinte, dann weinte sie aufwendig und gründlich, und
eben dies machte ihn aggressiv. Sie hielt sich dann
die Hände vor das Gesicht und ließ sich die Tränen
zwischen den Fingern hervorquellen und das
Armgelenk herunterlaufen, bis sie aussah wie eine
verarmte Reisigsammlerin aus einem Märchenbuch.
(Wilhelm Genazino: Die Ausschweifung, S. 314)
Ich eile durch vermurkste Seitenstraßen, ich bemühe mich,
abstoßenden Möbelgeschäften und ekligen Billigmärkten nicht
zu nahe zu kommen. Eine Frau geht an einer Drogerie vorüber
und faßt die draußen aufgestellten Sonderangebote an. Ich
schaue ihr dabei zu, wie sie kurz nacheinander einen
Vorteilspack Kindercreme, einen Waschhandschuh, ein
Päckchen Puffreis, eine Packung Spritzgebäck, eine
Strumpfhose und einen Zwölferpack Teelichter mit den
Fingerspitzen berührt. Ich betrachte die Leute, die zu bequem
oder zu faul oder zu traurig sind, sich zu Hause ein Frühstück
zu machen. Mit verhangenen Gesichtern sitzen sie hinter einer
Tasse Kaffee und bittern leise vor sich hin. Personen, die
schon morgens mehr als zwei volle Plastiktüten herumtragen,
wirken ordinär. Speckige Säuglingsbeine baumeln wie
Weißwürste aus den Tragtüchern ihrer Mütter. Rosa Blüten
fallen von den Kastanien herunter. Ich fühle mich frei; ich
merke es daran, daß ich mit niemandem und nicht innerlich
abrechnen muß. Ich finde es bemerkenswert, wie elegant und
beinahe unbemerkt ich mich selber beschwindle. (Wilhelm
Genazino: Die Liebesblödigkeit, S. 17)
Später erzählte mir Sandra die neuesten Turbulenzen aus
dem Leben eines schwulen Kollegen. Dieser wohnt
neuerdings mit einem erheblich jüngeren Schwulen zusammen
und wird von diesem laufend betrogen. Ich höre diesen
Geschichten mit mäßigem Interesse zu, muß allerdings
zugeben, daß sie mich in einem lebenszugewandte Stimmung
versetzen, die ich, wenn ich allein bin, nicht so ohne weiteres
zustande bringe. (Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit, S.
12)
Mehr aus Versehen schaue ich auf meinen Schreibtisch. Seit
Tagen schon schiebe ich eine Menge Arbeit vor mir her. Von
Beruf bin ich freischaffender Apokalyptiker. Ich lebe von
Vorträgen, Kolloquien, Tagungen und Essays in
Fachzeitschriften. In Hotels veranstalte ich sogenannte
Seminare und beeindrucke die Leute mit meinen erstaunlichen
Vorhersagen. Ich muß sofort präzisieren: Ich bin kein
Universalapokalyptiker, sondern ein Zivilisationsapokylptiker,
das heißt, ich bin kein Fundamentalist, sondern ein
Fortschrittsrevionist, ein Besinnungskonservativer. Ich glaube,
man hört mir gern zu, weil ich die Welt nicht völlig aufgebe. Ich
gehöre nicht zu den Finsterlingen, die beinahe wöchentlich
eine Klimakatastrophe vorhersagen und aus Europa einen
tropischen Erdteil machen, über den bald Taifune hinwegjagen
werden. Nie wird man von mir hören, daß ganze Länder
(Holland und Dänemark werden von diesen
Unglückspropheten oft genannt) von der Landkarte
verschwinden und daß neuartige Krankheitserreger weite
Bevölkerungsteile hinwegraffen werden. Diese immer noch
gängige und durch Wiederholung fast schon gemütlich
gewordene Apokalypse ist nichts weiter als ein
Schreckensszenario für Weltanschauungsneurotiker, von
denen es freilich sehr viele gibt. Ich beschäftige mich mehr mit
einer absehbar gewordenen Zivilisationsapokalypse, das heißt
mit Deformationen, die unscheinbar in unser Leben eindringen
und uns allmählich die Luft abdrücken. Es gibt ein gewisses
Verlangen in der Gesellschaft nach der neuesten Version
ihres möglichen Untergangs. (Wilhelm Genazino: Die
Liebesblödigkeit, S. 25)
Ich kann die dauerhafte Liebe zu zwei Frauen nur empfehlen.
Sie wirkt wie eine wunderbare Doppelverankerung in der Welt.
Man wird mit Liebe gemästet, und das ist genau das, was ich
brauche. Die Liebe zu zwei Frauen ist weder obszön noch
gemein noch besonders triebhaft oder lüstern. Sie ist im
Gegenteil völlig normal (und normalisierend), sie ist eine
bedeutsame Vertiefung aller Lebensbelange. Ich vergleiche
sie oft mit der Elternliebe. Niemand hat je gefordert, daß wir
nur die Mutter oder nur den Vater lieben dürfen. Im Gegenteil,
alle Welt verlangt von uns, daß wir Mutter und Vater lieben,
und zwar gleichzeitig, und stets heftig und ein Leben lang oder
sogar länger. Wehe, wenn wir in der Liebe zum einen oder
anderen nachlassen! Immer wieder frage ich mich, warum uns
in dem einen Fall eine Doppelliebe möglich sein soll, während
sie in dem anderen Fall untersagt ist. Mir jedenfalls ist das
Bewußtsein dafür, daß mein Sexualleben polygam genannt
wird und nach den herrschenden Auffassungen niederträchtig
ist, im Laufe der Jahre abhanden gekommen. Wenn ich
längere Zeit mit nur einer Frau Umgang habe (weil Sandra
verreist ist oder weil Judith alleine sein möchte), erleide ich
prompt die Zustände der Verlassenheit und des
Ausgeliefertseins, das heißt, es ergreift mich das Dauerleiden
aller Monogamen. (Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit, S.
23f.)
Für einen zur Zeit zur Melancholie neigenden Menschen wie
mich ist die Nähe von Straßenmusikern immer wichtig. Ich
bleibe zwei Minuten stehen und lasse mir meine
Restverhangenheit wegflöten. Nur drei Straßen weiter sitzt ein
elender Gitarrenspieler, der kaum die Grundgriffe beherrscht.
Es reizt mich, ihm zuzuflüstern: Sie sollten höchstens vor
Heuschrecken und Maikäfern aufspielen! In Wahrheit
vergnügt mich auch das schlechte Gitarrenspiel. Ein
melancholischer Mensch sich gerne lustig über das, was ihn
kurz zuvor noch geströstet hat. Auf der anderen Straßenseite
geht Bausback, der Postfeind. Er ist überzeugt, daß die Post
wichtige Briefe an ihn entweder verschlampft oder vernichtet
und sich dadurch an seinem Lebensglück vergeht. (Wilhelm
Genazino: Die Liebesblödigkeit, S. 32)
Judith beklagt sich zuweilen darüber, wie schwer es ist, ein
bißchen Glanz in das Leben zu bringen. Etwas von diesem
Glanz verspricht sie sich vom Lauschen in der Natur. Sandra
hingegen vermißt keinen Glanz. Sie neigt dazu, die Tatsachen
des Lebens ohne Aufbesserung hinzunehmen. Ihre Meinung
nach ist es ohnehin das geheime Ziel aller Menschen, einen
friedlichen Weg in die Langeweile zu finden. (Wilhelm
Genazino: Die Liebesblödigkeit, S. 29)
Im Augenblick fesseln mich die Schweißerarbeiten an den
Straßenbahnschienen. Die Straßenschlucht ist grau, aber an
mehreren Stellen gleißt jetzt das weiße kalte Licht der
Schweißgeräte auf. Dr. Blaul, der Ekelreferent, geht stumm
vorüber und beachtet das schöne Licht der Schweißer nicht.
Vermutlich ist er in seine Projekte vertieft. Dr. Blaul ist
eigentlich Geisteswissenschaftler (sein Spezialgebiet: Die
Glücksrhetorik in den Eheanzeigen der Aufklärung), aber weil
er als Geisteswissenschaftler nicht den Schatten einer Stelle
hat finden könen, wandte er sich den Problemen der
modernen Menschen zu. Mich findet Dr. Blaul zum Glück nicht
interessant, weil ich für ihn ein Mensch mit veralteten Problemen
bin (zwei Frauen und kein Ausweg). Für ihn bin ich jemand, der
mit abgestandenen Resten einer vergangenen Epoche in die
Moderne hineinragt und nur noch musealen Reiz hat. Dr. Blaul
kämpft dafür, daß es Angestellten und Arbeitern erlaubt
werden muß, sich pro Monat wenigstens einen freien Ekeltag
zu nehmen. Die Menschen müssen das Recht haben, findet
Dr. Blaul, ohne Ankündigung und ohne Begründung einen Tag
ihrem Betrieb fernzubleiben, wenn sie plötzlich Ekel
empfinden, sei es über die Firma, über einen Kollegen, über
sich selbst oder worüber auch immer. Ein freier Ekeltag soll
uns helfen, daß wir uns wieder fangen können, ohne gleich
fliehen zu müssen. Denn es gehört zum Ekel, sagt Dr. Blaul,
daß er ohne Vorwarnung die Menschen ergreift; er muß sofort
"beantwortet" werden können. Leider hat Dr. Blaul (soweit ich
weiß) bis jetzt nicht einen einzigen Betrieb für seinen Plan
gewinnen können. (Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit, S.
33)
Ich empfinde derart stark die universale Unerlöstheit der
Menschen, daß ich Lust verspüre, aufzustehen und den paar
Leuten und Kindern ringsum mein Bedauern auszusprechen.
Besonders den schon Erlahmten und Erschöpften unter ihnen
möchte ich kameradschaftlich die Hand drücken. ich kenne
mich im Leben der Erschöpften sehr gut aus, weil ich mich für
die Erschöpfung als Form schon seit langer Zeit interessiere.
Unsere Verhältnisse produzieren unablässig Erschöpfung,
ausreichend Platz für die Erschöpften gibt es aber nicht. Der
Erschöpfte ist eine stigmatisierte Figur. Er bildet das System
ab, das über uns herrscht, und die Lächerlichkeit seiner
Versprechungen. Ich könnte (kann) den Erschöpften
geeignete Ruheplätze zeigen, wo sie sich ungestört hinlagern
können. Ich habe diese Plätze selbst ausprobiert, es sind
Kleinode und Verstecke, absolute Geheimtips. Von ungefähr
fünfzehn Jahren, als ich noch halbwegs jung war und noch
Karriere machen wollte, habe ich einmal ein "Handbuch für
Erschöpfte" schreiben wollen, eine Art Stadtführer mit Angabe
von schattenspendenden Bäumen, unbekannten
Schleichwegen (ohne Werbetafeln links und rechts), stillen
Cafes (ohne Geduld) und so weiter. Leider war ich selber zu
erschöpft, um das Handbuch zu schreiben. (Wilhelm
Genazino: Die Liebesblödigkeit, S. 54f.)
Ich erinnere mich an die Zeit, als ich Judith kennenlernte.
Sonntags fanden wir kaum aus den Kissen heraus. Um das
Bett herum waren Zeitungen, Bücher, Wein, Gebäck, Spiegel,
Gläser und Unterwäsche verstreut. Dazu ein oder zwei Teller
mit Trauben, Feigen und Oliven. Ich entdeckte, daß mir das
Leben gefiel, wenn es stundenlang die Form einer
Hinlagerung annahm. Nach zwei oder drei Stunden hatte ich
das Gefühl, endlich in meinem Versteck am Wildbach
angekommen zu sein. War die Liebe nicht überhaupt ein
Nachspiel zur Kindheit, eine Wiederholung des Wunsches,
eine selbstgebaute Höhle niemals verlassen zu müssen?
(Wilhelm Genazino: Die Liebesblödigkeit, S. 68)
Sandra hat nicht die geringste Möglichkeit, den
Wahrheitsgehalt meines schnell sprudelnden Bildungswissen
zu überprüfen. Sie möchte nur sicher sein (und es selber
hören können), daß der Mann ihrer Wahl sp phantastisch reden
kann. Ich baue in meine Vorträge manchmal ein bißchen
Blödsinn ein, den mir Sandra ahnungslos abnimmt, weswegen
ich sie im stillen ein bißchen verspotte. Wer zuviel verlangt,
muß betrogen werden, sage ich mir dann. Mit Judith ist es mir
möglich, jedenfalls weitgehend, nur über das zu reden,
worüber ich Bescheid weiß, es sei denn, ich spreche über
Bach, um einen Beischlaf zu verhindern. Deswegen erhält
Judith in diesen Augenblicken einen Sonderpunkt für die
Ermöglichung von Authentizität. (Wilhelm Genazino: Die
Liebesblödigkeit, S. 104f.)
Sandras Brüste fallen auseinander wie die Augenpartien einer
zu breiten Maske. Seit langer Zeit bin ich nicht befremdet von
Sandras ausladender Körperlichkeit. Sie stützt sich auf, um an
das seitlich stehende Weinglas heranzukommen. Durch die
Drehung des Körpers legt sich ihr Bauch in ein paar
übereinandergeschichtete Wülste. Wenn auf der vorderen
Ausbuchtung einer der Wülste nicht eine Brustwarze
erkennbar wäre, würde ich nicht wissen, daß es sich dabei um
eine jetzt schräg liegende Frauenbrust handelt. (Wilhelm
Genazino: Die Liebesblödigkeit, S. 129)
Ich betrachte die wild tanzende Bettina. Sie hüpft und springt
über die Einsamkeitsklippen. Es ist möglich, daß ihr
Bewegungsdrang aus reiner Verzwiflung hervorgeht. Bettina
ist jetzt neunundvierzig. In diesem Alter sollte ein Mensch nicht
mehr so fundamental erschüttert werden. Immer wieder
überrascht mich das Gefühl, Bettina könnte sich etwas antun.
Der neue Liebesverlust ist vielleicht zuviel für sie. Übrigbleiben
ist noch schlimmer als Verlassenwerden. Ich wundere mich,
wie einfühlsam ich über Bettina denke. (Wilhelm Genazino: Die
Liebesblödigkeit, S. 171)
Meine Frau ist im südlichen Schwarzwald geboren und
dort auch aufgewachsen. Ihre hervorstechendste
Eigenschaft ist, daß sie sich ein Leben außerhalb des
Schwarzwalds nicht vorstellen kann. Ich war einmal von
ihrem Lob des einfachen Lebens im Schwarzwald so
hingerissen, daß ich ihr in den Schwarzwald folgte.
Edith hat nie woanders gewohnt und wird auch in Zukunft
nirgendwoanders leben wollen und können. Ich gebe zu,
sie hat diese Bedingung von Anfang an klar
ausgesprochen. Es war mir nicht deutlich, was es
bedeutet, sich einem Menschen mit einer so heftigen
Heimatvorstellung auszuliefern. Vor etwa zehn Jahren,
zum Zeitpunkt der Eheschließung, war ich noch
vergleichsweise jung und bildete mir ein, überall leben
zu können. Außerdem gefiel mir, Edith zu zeigen, daß
ich liebeswillfährig war. Es lag eine unaussprechliche
Süße darin, sich dem Liebesdruck eines anders Menschen
zu beugen. (Wilhelm Genazino: Mittelmäßiges Heimweh, S.
16)
Im Grunde lebe ich schon lange auf dieser mittleren
Schreckensebene. Stets bleibe ich zurück mit einer
leeren Heftigkeit, von der ich nie möchte, daß Frau
Grünewald sie bemerkt, aber dafür ist es meistens zu
spät. Nach einer Weile verwandelt sich die innere
Heftigkeit in eine Art Ekel, den ich gut kenne. Der
Ekel sagt mir: Du sollst hier, an deinem Arbeitsplatz,
im Schnellverfahren den Schmerz über den Niedergang
deiner Ehe sowohl bewältigen als auch wegstecken, das
heißt ersticken, indem du dich ganz schnell immer
wieder in deine Arbeit versenkst. Aus Ratlosigkeit
bücke ich mich und binde wenigstens meine Schuhe
fester. Dabei reißt der rechte Schnürsenkel. Warum
zieht Heidemarie jetzt nicht eine Schublade auf und
sagt sanft zu mir: Hier, ich habe einen
Ersatzschnürsenkel für Sie (für dich). Warum unterhält
diese lausige Firma keine Schnürsenkelvorratshaltung!?
Und warum ist Frau Grünewald nicht die
Schnürsenkelbeauftragte? Erst das Wort
Schnürsenkelvorratshaltung erlöst mich von den
nachzitternden Schrecken des letzten Telefongesprächs.
Ich beuge mich nach oben über den Schreibtisch und
sende ein federleichtes Bürolächeln zu Frau Grünewald
hinüber. (Wilhelm Genazino: Mittelmäßiges Heimweh)
Hoffentlich kommt es nicht zu sexuellen... äh ...
Handlungen, denke ich ängstlich. Wenn mein Leben so in
Unordnung ist wie zur Zeit, kann ich ohnehin kaum
beischlafen. Ich kann es nur, wenn ich dem Leben, das
ich führe, als Ganzem zustimmen kann, und das ist mir
aus vielen Gründen zur Zeit nicht möglich. Obwohl ich
mir mit meinen dreiundvierzig Jahren dafür noch zu jung
vorkomme, betrete ich jetzt schon das weite Feld der
vorzeitigen Ermüdungen. (Wilhelm Genazino:
Mittelmäßiges Heimweh)
Meine mich immerzu verwandelnde Hemmung bringt Zartheit
hervor. Frau Schweitzer steigt aus dem Bett und legt
alle Kleider ab bis auf den Büstenhalter, worüber ich
mich wundere, aber ich sage nichts. Frau Schweitzer
entnimmt ihrer Handtasche ein Kondom und streift es
meinem Geschlecht über. Ich schaue dabei zu wie früher,
als ich ein Kind war und meine Mutter mir einen
Wunderverband um einen Finger legte. Noch während des
Beischlafes überlege ich, ob Frau Schweitzer eine
Hausfrauenprostituierte ist. Das ist kein netter
Einfall, ich schäme mich stumm. Weil ich schon lange
nicht mehr beigeschlafen habe, kommt mir rasch der
Same, worüber ich mich noch einmal schäme. Schon kurz
nach dem Beischlaf setzt das Schuldgefühl der Liebe
ein. Es ist die rasch wachsende innere Überzeugung, daß
ich nie genug lieben und mich nie genug verzehren
werde. Ich schaue auf meinen im Herzen verwahrten
Vorbehalt und werde dabei schuldig. ... (Wilhelm
Genazino: Mittelmäßiges Heimweh)
Da sagt die Frau plötzlich auf die sauber in der Mitte
gescheitelten Haare des Mädchens den Satz herunter: Gisela,
hör auf, du kannst es nicht. Der Satz ist wie ein Bann.
Augenblicklich nimmt das Kind das Instrument von den Lippen.
Es schaut zuerst in das Gesicht der Mutter und wandert kurz
in deren Einsamkeit umher, dann läßt es den Blick still in
der U-Bahn umherschweifen wie die anderen Fahrgäste auch.
Dieses überraschend einsetzende allgemeine Beobachten muß
das Zeichen dafür sein, wenn eine Person in die
Weltverlorenheit eintritt. (Wilhelm Genazino: Der Fleck,
die Jacke, die Zimmer, der Schmerz)
Zwei Arbeiter in farbigen Anoraks dringen in unser Abteil ein; sie
reißen Bierdosen auf, reden und trinken. Gesa polstert sich mit
Kleidungsstücken eine Ecke aus und versucht zu schlafen. Es gelingt
ihr nicht, es ist zu laut, die beiden Arbeiter haben die Abteiltür
nicht wieder verschlossen. Jugendliche mit Earphones poltern durch
den Gang. In ihre Köpfe dringt ein metallenes Ticken und Klopfen
ein, das die anderen als ein allgemeines Schaben mithören müssen.
Ich versuche, alle Geräusche zu ignorieren, der Versuch mißlingt und
endet mit einer unsinnigen Anstrengung. Das Knallen der Bierdosen
und das Schaben der Earphones sind die neuen Geräuschen der
öffentlichen Einsamkeit, an der alle teilnehmen müssen. (Wilhelm
Genazino: Der Fleck, die Jacke, die Zimmer, der Schmerz)
Ich habe herausgefunden, daß Gesa teure Cafes nur dann aufsucht,
wenn sie sich selbst nicht gut fühlt und geborgten Glanz braucht.
In den eher mittelmäßigen Lokalen sitzt sie, wenn sie den Tag
ohne Zerwürfnis mit sich selbst hinter sich gebracht hat; dann
macht ihr das geflickte Plastikpolster in einer Eckbank nichts
aus, sie stört sich nicht an den Kippen und Abfällen, die auf
dem Boden liegen, und sie tippt mit dem Zeigefinger den Takt
einer widerwärtigen Musik mit, die sonst ausreicht, ihr das
Gefühl der Weltunbewohnbarkeit zu geben. Und sie übersieht die
Frechheit der jungen Kellner, weil sie ahnt, daß diese selbst
nicht recht verstehen, warum sie in diesem Lokal gelandet sind.
In vornehmen Cafes ist Gesa leise und bewegungsarm, wortkarg,
angespannt, ungeduldig. Sie braucht den leeren Platz zwischen
den Stühlen, weil ihr alles Leben zu nahe geht, sie braucht den
Schimmer der Messingseinfassungen an den Tischen, sie braucht
den Anblick eines jungen Mädchens, das liest, und sie braucht
die Servilität der alten Ober, die jeden Tag neu daran scheitern,
der Bedienung von Menschen durch Menschen das unterwürfige
Moment zu nehmen. (Wilhelm Genazino: Der Fleck, die Jacke,
die Zimmer, der Schmerz)
Mir fiel Carola ein, die vor einiger Zeit eine erstaunliche
Bedingung in die Welt gesetzt hat. Ich gehe mit dir bald nicht mehr
ins Bett, sagte sie, wenn du dir nicht endlich neue Unterwäsche und
mindestens zwei neue Hemden kaufst. (...) Zwei Stationen weiter
stiegen wir aus und erreichten auf kürzestem Weg eine Abteilung
Unterwäsche Herren. Carola verhielt sich routiniert und effektiv.
Sie wusste, dass ich zu den Menschen gehörte, für die das
Aufeinandertreffen von Hitze, Lärm und Gedränge zu den schwereren
Belastungen gehörte. Nach kurzer Zeit standen wir in einer
Unterwäsche-Abteilung von der Ausdehnung einer Autobahn- Tankstelle.
Ich beobachtete einen Mann, der sich hilfesuchend hinter einer Frau
versteckte und empfand sofort Sympathie mit ihm. Da probierte Carola
vor den Augen vieler Leute mehrere Unterhemden an, indem sie mir die
Wäschestücke der Länge nach auf den Oberkörper legte und dann sagte:
Die nehmen wir. Dieser Kauf von Unterhemden war die schnellste
Kaufhandlung, deren Opfer ich je gewesen war. Der Erwerb eines
halben Dutzends Unterhosen verlief noch schneller. Carola wusste, es
war mir gleichgültig, ob eine Unterhose dunkelgrün, hellblau,
schwarz oder gestreift war. Nach wenigen Minuten standen wir schon
an der Kasse. Carola gab mir ein Zeichen, dass ich bezahlen sollte.
Ich reichte der Kassiererin zwei Scheine und suchte schon nach dem
Ausgang. Wir waren uns einig, dass wir auf den Besuch des
sogenannten Erfrischungsraums verzichteten. Ich war in dankbarer
Stimmung. Ich hatte niemals für möglich gehalten, dass der Kauf von
Unterwäsche glückhafte Momente haben könnte. (Wilhelm Genazino:
Außer uns spricht niemand über uns)
Victor-Flandrin hatte bis dahin nur zwei Frauen
gekannt. Der ersten war er im Bergwerk begegnet, wo
sie als Sortiererin arbeitete. Solange hieß sie. Sie war
ganz ausgemergelt, und ihre Lippen und Hände waren
so rauh, daß ihre Küsse und Liebkosungen immer nur
den Geschmack eines Reibeisens hatten. Der zweiten
war er auf dem Tanzboden begegnet. Er hatte sie um
ihres blassen Teints und ihrer stets blau
umschatteten Augen willen begehrt. Doch diese Frau
fand so wenig Vergnügen und Lust an der Liebe, daß
sie, sobald sie sich hingelegt hatte, stets
unverzüglich einschlief, so als stürzten die ersten
Küsse sie in Lethargie. Er erinnerte sich nicht einmal
mehr an ihren Namen, den sie gewiß nie anders als
gähnend gesagt hatte. So entdeckte Victor-Flandrin
zusammen mit Melanie endlich den wahren
Geschmack der Liebe, jene aufreizende Süße, die das
Fleisch in einem fort zu erregen vermag. (Sylvie
Germain: Das Buch der Nächte, S. 70)
Richtig modern war er, dachte Gertrud, als sie jetzt am Fenster
stand, ungewöhnlich für jemanden, der noch vor der Gründung des
Kaiserreichs geboren worden war. (...) Übertriebene
Moralvorstellungen waren Ludwig Franken fremd gewesen, Epikurs
Lehre gefiel ihm, und er machte sich eine eigene Mischung aus der
griechischen und katholischen Lehre. Seiner Ansicht nach hatte
jeder das Recht, im Diesseits nach Glück zu streben, aber nur so
sehr, dass man gegebenenfalls auch in einem katholischen Jenseits
nicht komplett anecken würde. (Anne Gesthuysen: Wir sind doch
Schwestern)
Eines Tages dann schien Vater van Treek den Entschluss gefasst zu
haben, seiner Tochter einen Ehemann zu kaufen. Wie zu einem
Viehmarkt zog er durch die Nachbarschaft und suchte nach einem
kräftigen, aber mittellosen Mann um die vierzig. (...) In einem
kleinen Ort namens Lerrich lebte Heini Schulten. Er war nicht
sonderlich intelligent, möglicherweise lag es daran, dass man in
dem Dorf über Jahrhunderte hinweg kein frisches Blut zugelassen
hatte. Man heiratete unter sich, und so war irgendwann jeder mit
jedem verwandt, was sich fatal auf die Denkfähigkeit einiger
Bewohner ausgewirkt hatte. Dieses Phänomen hatte es überall auf
dem Land gegeben, überlegte Paula, und all die Orte, die davon
nicht betroffen waren, lästerten über die "Inzucht-Dörfer":
"Hinter jedem Ofen haste wenigstens einen Doofen." Heini Schulten
war also einer von denen, denen der liebe Gott statt Gewitztheit
Naivität, aber auch statt Grübelei und Trübsinn einen einfachen
Sinn für Freude mit auf den Weg gegeben hatte. Van Treek sprach
vor und konnte sein Glück kaum fassen, denn von nun an hatte
seine Tochter einen Verlobten. (Anne Gesthuysen: Wir sind doch
Schwestern)
Luc wollte sie lieben, aber er schrak vor dem Besitz
ihres Körpers wie vor einer Wunde zurück. Traurige
Erziehung, die wir erhielten und die dazu geführt hat,
daß wir uns die Wollust schluchzend und tief betrübt
vorstellen, oder aber verdrossen und einsam, obgleich
sie doch glorreich und heiter ist. Wir werden nicht
mehr von Gott verlangen, daß er uns zum Glück erhebe- -
Aber nein! Luc war nicht so; was soll diese lächerliche
Manie, alle, die wir erfinden, so auszustatten, wie wir
selbst es sind? - Also: Luc nahm diese Frau Besitz.
(Andre Gide: Der Liebesversuch)
Die Freundinnen meiner Mutter hießen im
Sprachgebrauch meines Vaters Schreckschrauben.
Wenn sich die Stunde des Abendessen näherte, dann
rief mein Vater mit lauter Stimme aus seinem
Studierzimmer: Lidia! Lidia! Sind all diese
Schreckschrauben endlich gegangen? Etwas später
sah man die letzte Schreckschraube erschrocken durch
den Korridor eilen und aus der Türe schlüpfen; diese
jungen Freundinnen meiner Mutter hatten alle große
Angst vor meinem Vater. Beim Abendessen sagte
mein Vater zu meiner Mutter: Hast du nun genug
geschwatzt? Hast du genug geklatscht? (Natalia
Ginzburg: Familienlexikon, S.14)
Mein Vater fühlte sich übrigens sehr arm, vor allem
morgens früh, wenn er erwachte; dann weckte er auch
meine Mutter und sagte zu ihr: "Ich weiß nicht, wie
wir in Zukunft leben werden; hast du gesehen, daß
die Immobilienaktien gefallen sind." Die
Immobilienaktien fielen immer und stiegen nie; diese
verflixte Immobilien, sagte meine Mutter und klagte,
mein Vater habe überhaupt keinen Geschäftssinn:
Kaum gebe es ein schlechtes Wertpapier, so kaufte er
es. Sie bat ihn häufig, sich doch an einen
Bankagenten zu wenden; aber dann wurde er wütend;
denn er wollte hier wie in allen anderen Dingen nach
seinem eigenen Kopf handeln. (Natalia Ginzburg:
Familienlexikon, S.15)
Ich weiß nicht, wie es kam, daß aus dem Geschlecht
von Bankiers, das die Vorfahren und Verwandten
meines Vaters bildeten, mein Vater und sein Bruder
Cesare hervorgingen, denen jeglicher Geschäftssinn
abging. Mein Vater widmete sein Leben der
wissenschaftlichen Forschung, ein Beruf, der ihm kein
Geld eintrug; und er hatte vom Geld unbestimmte
und wirre Vorstellungen, deren Ursprung eine
grundsätzliche Gleichgültigkeit war, so daß er, wenn
er je mit Geld zu tun hatte, es meistens verlor oder
sich zumindest so anstellte, daß er es verlieren
mußte; und wenn er es nicht verlor und alles gutging,
so war das ein purer Zufall. (Natalia Ginzburg:
Familienlexikon, S. 23)
Mein Vater aß bei Tisch sehr viel, aber so rasch, daß
man den Eindruck hatte, er esse nichts, weil sein
Teller sofort leer war, und er war selber davon
überzeugt, er esse wenig und hatte diese seine
Überzeugung auch auf meine Mutter übertragen, die
ihn immer bat, doch zu essen. Er aber schimpfte mit
meiner Mutter, weil er fand, sie esse zuviel. Iß nicht
zuviel! Du verdirbst dir den Magen. Reiß dir nicht die
Nagelhäutchen aus! donnerte er von Zeit zu Zeit.
Meine Mutter hatte tatsächlich, seit sie ein Kind war,
die schlechte Gewohnheit, sich die Nagelhäutchen
auszureißen, da sie in ihrem Internat einmal einen
Umlauf am Finger gehabt hatte, an dem sich später
die Haut schälte. Wir alle aßen nach der Meinung
meines Vaters zuviel und verdarben uns den Magen.
Von den Speisen, die ihm nicht schmeckten, sagte er,
sie seien ungesund, weil sie schwer auf dem Magen
liegen; von denen, die ihm schmeckten, sagte er, sie
seien gesund, weil sie "die Peristaltik anregen".
(Natalia Ginzburg: Familienlexikon, S. 28)
Meine Mutter war immer ein wenig eifersüchtig auf
Paolas Freundinnen, und wenn Paola eine neue
Freundin hatte, war sie schlechter Laune, weil sie sich
beiseite geschoben fühlte. Sie stand dann morgens
mit einem grauen Gesicht und schweren Lidern auf
und sagte: ich bin verkleistert. So nannte sie diese
Mischung von schlechter Laune, Gefühl der Einsamkeit
und meistens auch einer Magenverstimmung. Sie
verkroch sich dann in den Salon, fror und hüllte sich in
wollenen Schals und dachte, Paola habe sie nicht
mehr gern und komme sie nicht mehr besuchen und
gehe mit ihren Freundinnen spazieren. Ich bin es
satt! sagte meine Mutter. Nichts macht mir Spaß. Ich
bin es satt. Es gibt nichts Schlimmeres, als wenn
einem alles verleidet ist. Wenn ich doch wenigstens
eine schöne Krankheit hätte. Manchmal hatte sie die
Grippe. Dann war sie zu zufrieden; denn sie fand,
Grippe sei vornehmer als ihre gewöhnlichen
Magenverstimmungen. Sie maß sich das Fieber: sie
hatte siebenunddreißig vier. Weißt du, daß ich krank
bin? sagte sie zufrieden zu meinem Vater. Ich habe
siebenunddreißig vier! Siebenunddreißig vier? Das ist
wenig, sagte mein Vater. Ich gehe noch mit
neununddreißig ins Laboratorium! Meine Mutter sagte:
Hoffen wir auf diesen Abend! Aber sie wartete nicht
bis zum Abend; sie maß sich alle paar Minuten.
Immer noch siebenunddreißig vier! Und ich fühle mich
doch so schlecht! (Natalia Ginzburg: Familienlexikon,
S.109)
Obschon sie versicherte, ihre Fülle zu verabscheuen,
unternahm sie nichts, um sie zu bekämpfen, war aber
in ihrer Fülle zutiefst heiter und zufrieden und pflegte
von sich mit einem Lächeln zu sagen, das ihre
großen, weißen, über die Lippen vorstehenden Zähne
entblößte: Nigra sum, sed formosa. Die andere war
mager, wäre jedoch gern noch magerer gewesen unbd
prüfte im Spiegel besorgt ihre Beine, die fest wie
Säulen waren; denn sie war durch Willensstärke
mager geworden und hatte ihren kräftigen
Knochenbau und ihre breiten Hüften bewahrt. Wenn
sie mit einem jungen Mann, der ihr wichtig war, eine
Verabredung hatte, fastete sie mittags oder aß nur
einen Apfel; denn sie nähte sich ihre Kleider selber,
und zwar so eng, daß sie fürchtete, sie würden
platzen, wenn sie eine ganze Mahlzeit aß. Sie
widmete diesen Kleidern eine peinlich genaue und
nervöse Aufmerksamkeit; sie nähte mit gerunzelter
Stirn, den Mund voller Nadeln, und wollte, daß sie so
schlicht und nüchtern wie möglich wurden, da sie an
ihrer Schwester nicht nur die Fülle, sondern auch den
hang, sie in auffällige Seide zu kleiden, haßte.
(Natalia Ginzburg: Familienlexikon, S. 123f.)
Nur in der Religionsstunde versagte er. Denn sein Vater hatte
versäumt, ihm die empirische Voraussetzungslosigkeit biblischer
Ereignisse rechtzeitig beizubringen. (...) Er kompensierte diese
Unfähigkeit, Dinge zu glauben, nur weil sie der Religionslehrer
so erzählte, durch die Turnstunde. Hier war Ferd unser Ideal. Er
beherrschte jede Übung. Mit Kraft verband er Gewandheit. Sein
Vater verbesserte diese schulkorrekte Turnerei durch eine
konsequente sportliche Erziehung. Jeden Morgen um 7 Uhr unterwies
er Ferd auf der Scheunentenne im sportgerechten Boxen. Als
Punchingball figurierte ein Sack, den der Major mit
Zeitungsberichten von Kaiserreden vollgestopft hatte.
(Ernst Glaeser: Jahrgang 1902)
Ich konnte nie begreifen, wie Menschen, sobald sie außerhalb der
Häuser waren, immer noch langsam gehen konnten. Es schien mir
nicht der Bewegung, die durch jeden Halm, jede Staude und in
schimmernden Windwellen über die Kornfelder ging, zu entsprechen.
Ich haßte Spaziergänger. Ich haßte die Sonntage, wo das Feld wie
ein großer Garten behandelt wurde, in dem man sich auf genau
abgezirkelten Wegen erging. In jenem häßlichen Schritt, dem man
die Absicht der Erholung ansieht. Diese kasernierte
Naturverehrung wurde manchmal durch einen Hasen unterbrochen.
Durch unseren Gänsemarsch und den klirrenden Gesang unserer
Lieder aus seiner Sonnenmüdigkeit geweckt, jagte sehr oft solch
ein Tier in blinder Angst aus der Sicherheit seines Verstecks
mitten auf unseren Weg. "Hoho!" schrie dann mein Vater, "hoho,
ein Hase, sieh da, Bruder Lampe..." Wir nahmen sofort die
Verfolgung auf. Nicht, weil wir dachten, ihn zu fangen, sondern
weil es uns Spaß machte, ihn zu hetzen. Hätte der Hase die
deutschen Beamten gekannt, wäre er sofort vom Weg abgesprungen
und hätte sich in die Sicherheit des freien Feldes gerettet. Tat
er es, stoppte mein Vater sofort, hielt mich fest und sagte sehr
ernst zu mir herunter: "Halt, das Betreten des Feldes ist
verboten. Ich dulde nicht, daß sich mein Sohn strafbar macht."
Der Hase war gerettet, wir gingen wieder langsam. (Ernst Glaeser:
Jahrgang 1902)
In diesen Tagen kam meine Tante aus Weimar zu Besuch. Sie war
eine Art Generalissimus in unserer Familie. Ihre imposante
Gestalt befähigte sie dazu, außerdem war ihr Mann Ministerialrat,
der kurz vor der Ernennung zum Minister stand. Sie hatte mit ihm
eine Weltreise gemacht und spielte sich seitdem in unserer
Familie, deren Mitglieder höchstens Venedig kannten, als
Autorität auf. Ihre Briefe waren Ukasse, sie behauptete, das
Leben zu kennen. Sie hielt sich in allem, besonders in der
Kindererziehung, für letzte Instanz. Sicherlich weil sie keine
Kinder hatte. (Ernst Glaeser: Jahrgang 1902)
"Es sieht aus, als hätte eine ungeschickte
Hand eine intravenöse Injektion versucht.
Und zwar scheint ein beträchtliches Quantum
Gift eingespritzt worden zu sein. Dieses
Gift... - Nun, die Alkaloide des Opiums,
als da sind Heroin, Codein, Morphin,
schalten aus. Von wegen den vergrößerten
Pupillen. Es käme nur die Gruppe der
Tropeine in Betracht, und wir haben die
Auswahl zwischen Atropin, Scopolamin und
Hyoscyamin. Hyoscyamin!" wiederholte
Rosenstock und kostete das Wort aus wie
einen Leckerbissen, "es klingt wie ein
Frauenname aus einem Maeterlinckschen
Stück." (Friedrich Glauser: Der Tee
der drei alten Damen, S. 17)
An dem Abend, an dem drüben in Amerika die
Challenger über Cape Canaveral explodiert, liegt man
zum erstenmal mit einem Mädchen im Bett. Von dem
Unglück ahnt man nichts, man konzentriert sich auf
unsittliche Berührungen. Aus einem
Kassettenrekorder dringt Musik, von der man weiß,
daß sie dem Mädchen gefällt. So ist das Objekt der
Sehnsucht in der gleichen Stimmung wie man selbst.
Auch wenn man das für unmöglich hält. Berührt man
die weibliche Brust, stellt man fest, daß sie sich
ähnlich anfühlt wie ein Tafelschwamm. Hoppla,
Entschuldigung, murmelt man. Claudia schweigt.
Zweifelhafte Gazetten verbilden Jugendliche und
treiben sie scharenweise den Psychoanalytikern in die
Arme. Entgegen deren Informationen schätzen es
Mädchen nämlich unter bestimmten Umständen, an
den Geschlechtsteilen befummelt zu werden, so sehr
die Kirche und der bärtige Schularzt, dessen Atem
nach Marillenlikör riecht, einem das ausreden wollen.
Gottlob sind Neugier und Natur stärker als alle
zusammen. (Thomas Glavinic: Wie man leben soll, S.
7)
Wenn morgens um sechs der Radiowecker dröhnt,
sitzt man in der nächsten Sekunde aufrecht im Bett
und schreit Huuuuch!, weil man enorm schreckhaft ist.
Sobald man sich beruhigt hat, denkt man an Claudia.
Man bleibt fünf Minuten liegen. Mutter klopft an die
Tür und meckert, man sei nie aus dem Bett zu
kriegen. Man ist versucht zu entgegnen, es sei kein
Wunder, daß es ihr leichtfalle aufzustehen bei den
Mengen an Psychopharmaka, die sie sich in den
Frühstückskaffee rühre. Um des lieben Friedens willen
verkneift man sich diesen Hinweis. (Thomas Glavinic:
Wie man leben soll, S. 10)
Sie hat alles mögliche ausprobiert. Einige Jahre lebte
sie auf einem Bauernhof, wo sie versuchte, die
Hühner zu hypnotisieren, um den Eierertrag zu
maximieren. Da es sich sowohl bei Federvieh als auch
bei Schweinen und Schafen um nicht allzu hypnoide
Wesen handelt, gab sie den Bauernhof auf und
versuchte sich mit einer Schmuckkollektion. Darin
zeigte sie solches Geschick, daß sie bis zum Jahr
2017 Zeit hat, die Schulden mit ihrem
Sekretärinnengehalt zu begleichen. (Thomas Glavinic:
Wie man leben soll, S. 14)
Tante Ernestine wohnt am Stadtrand und gilt als das
schwarze Schaf der Familie. Seit Tante Kathis
erfolglosem Versuch, sie entmündigen zu lassen,
haben sich die beiden bei Familienfeiern Plätze
nebeneinander ausbedungen, um einander
schweigend kalte Blicke zuzuwerfen. Man ist der
einzige, der Tante Ernestine besucht. Sie ist
siebenundneunzig Jahre alt, äußerst sparsam, wenn
auch keineswegs geizig, und hat eine rätselhafte
Zuneigung zu Autos. Die in der Familie übliche
physische Robustheit ist ihr geblieben. Wenn vor
ihrem Haus Jugendliche Unfug treiben, kann es sich
nur um neu Zugezogene oder um frühgereifte
Masochisten handeln. Wie der Blitz ist sie unten und
schafft Ordnung. Ab und zu beschweren sich Leute bei
ihr, daß sie ihre Jungen verdroschen hätte, und
drohen mit der Staatsgewalt. Dann schwingt Tante
Ernestine ihren Stock und schaut so irre, daß die
Besucher es in der Regel vorziehen, von weiteren
Verhandlungen Abstand zu nehmen. (Thomas
Glavinic: Wie man leben soll, S. 16)
Wenn man in Claudia verliebt ist und dennoch
romantische Gefühle für deren Freundin hegt, deren
Herz man jedoch nie gewinnen wird, weil man weder
über die dazu erforderliche Schönheit noch über
Ausstrahlung verfügt, ganz zu schweigen vom Mut
und vom Charakter und vom Temperament und von
der Geduld und von der Weisheit, ist das Grund
genug, sich ein wenig dem Weltschmerz zu ergeben.
In verschiedenen Ratgebern, deren Lektüre man seit
längerem schätzt, hat man gelesen, Selbstmitleid sei
eine Haltung, über die man die Nase rümpfen sollte,
aber ein wenig Geschluchze hier und ein paar
Verschwörungstheorien da könne man sich gestatten,
weil man danach wieder freier atme. (Thomas
Glavinic: Wie man leben soll, S. 21)
Zu den Initiationsriten des Erwachsenwerdens zählt
neben dem ersten Alkoholmißbrauch der erste
Geschlechtsverkehr. Wenn man die Angelegenheit mit
Claudia ausführlich erörtert, stellt man fest, daß beide
Partner noch nie Sex hatten, noch nie einer
Bluttransfusion unterzogen wurden und zu keiner Zeit
drogensüchtig waren. Ein negativer HIV-Test bei
beiden ist also wahrscheinlich. Vielliecht sollte man
es einmal ohne Kondom versuchen. Zudem Claudia
die Pille nimmt. Man liegt wieder einmal nach der
Schule neben Claudia nackt im Bett. Eine Erektion
ergibt sich. Diese sogleich einzusetzen ist verboten.
Laut "Kamasutra für Anfänger" brauchen Frauen für
erfüllten Sex ein Vorspiel und viel Zärtlichkeit. Ein
perfides Manöver wie spontanes Eindringen läuft dem
zuwider. Also bereitet man Claudia so lange mit den
Händen vor, bis sie einem "Ja, ich will" ins Ohr
haucht. Man versucht, sein Liebeswerkzeug ins Spiel
zu bringen. Die Yoni einer Sechszehnjährigen ist eng,
und die Yoni einer sich verkrampfenden
Sechszehnjährigen noch enger. Der Lingam eines
Siebzehnjährigen ist hart, aber der unerfahrene
Lingam eines nervösen und frustrierten
Siebzehnjährigen ist kein Instrument, auf das
dauerhaft Verlaß wäre. Doch einmal von der
Ummantelung des Kondoms befreit und vielleicht von
einem gütigen Blick der Liebesgöttin unterstützt,
ereignet sich das Wunder: Man trifft - und man dringt
ein. Unglaube. Große Aufregung. Erschrockene Blicke.
Was ist nun zu tun? Man beginnt sanft, sanft mit
koitalen Bewegungen. Alle zehn bis zwanzig
Sekunden erkundigt man sich bei Claudia, ob man ihr
Schmerzen bereite. Weder ein klares Ja noch ein Nein
ist ihr zu entlocken. Darauf darf man weiter
fuhrwerken. Allem Gazettenwissen zum Trotz
entblödet man sich nicht, Claudia dann und wann zu
fragen, ob sie schon einen Orgasmus hatte. Die
ersten Minuten in Claudia sind aufwühlend, und man
vergißt sie nie. So also fühlt sich das an, denkt man.
Trotz der holprigen Ausführung der Prozedur ist man
begeistert. Daß das Beste bevorsteht, wird einem gar
nicht bewußt. Man agiert wie in ahnungsloser
Autofahrer, der im ersten Gang Vollgas gibt, weil er
den Schalthebel nicht zu bedienen versteht: der Motor
brüllt und heult. Aber anstatt eines technischen
Gebrechens stellt sich unweigerlich der Höhepunkt
ein. Dieses Gefühl, das man vom Masturbieren
(Gasgeben im Leerlauf) schon lange kennt, das beim
Geschlechtsakt jedoch zu etwas Unvergleichlichem
gerät. Großes Glück. (Thomas Glavinic: Wie man
leben soll, S. 37f.)
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