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Allgemeine Fundstücke / [D2]
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Die Biographie der Emma, in ihrem Freundeskreise "La
Drobile" genannt, war an dem Punkte, wo wir jetzt mit
ihr halten - am Bach im Haltertale, Sommer 1926 - noch
nicht sehr weit gediehen, denn ihr lächerliches
Lebensalter war wenig über zwanzig. Da sie englisch,
tschechisch und deutsch gleichermaßen zu
stenographieren vermochte, die Handelskorrespondenz
beherrschte und obendrein eine gescheite und sogar
gebildete Person war (beispielsweise: passables
Latein!), so zog das Auftauchen ihres hübschen Gesichts
bei einer sehr bekannten Transportfirma unweigerlich
bald das Angebot einer vorteilhaften Stellung nach
sich, ganz zu schweigen davon, daß die Drobila groß und
gut gewachsen war und ihr hoher Busen in beträchtlicher
Prozession wie ein Herolf vor ihr herzog. (Heimito von
Doderer: Die Dämonen)
Die Weinmann sah aus wie ein in die Märchen von
Tausend-und-eine-Nacht und somit auch in die
orientalische Üppigkeit verschlagenes Schneewittchen:
Milch und Blut, drall und gut, um und um, und all das
um die fünzig herum, oder schon drüber. Sie war immer
sehr wach, es schien unglaubhaft oder schwer
vorstellbar, daß sie auch schlafe. Beim Schlafen wird
man warm. Derartige Benommenheiten aber konnte es bei
Frau Risa gar nicht geben. Wenn sie des Morgens
erwachte (denn sie schlief ja eben doch), wenn sie ihre
Umgebung wieder auffaßte, wenn ihre Vorstellungen und
Gedanken wieder sprangen und sich gegenseitig ergriffen
und miteinander plänkelten oder rangen: das erste, was
sie bei alledem genau ausmachte und alsbald wie mit
Zangen festhielt, war der Punkt, wo der Profit saß. Das
ist die Optik aller Menschen, wird man sagen, aber bei
der Weinmann war's schon in's Geniale übersteigert. Der
zweite Blick galt dann denjenigen, die ihr solchen
Profit etwa würden streitig machen und sie daran
hindern wollen. Solche gab es immer. Wußte sie im
einzelnen Fall einmal nicht sogleich, wer das sein
könnte: dann nahm sie das Vorhandensein des Feindes
oder der Feinde doch als sicher an, sie supponierte
diesen Feind und ging ihn dann suchen. Freilich fand
sie ihn auch. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)
Was Prosodik bedeuten könnte, wußte Leonhard nicht.
Also fragte er. (Damals begann seine Fragerei. Wie der
Neubeginn eines Kindesalters. Eine geistige Entwicklung
kann zunächst sehr wohl mit einer Zunahme der
Unwissenheit verbunden sein.) (...) Sie saßen dann an
des Buchhändlers Schreibtisch. Fiedler entwarf auf
seine Art einen Abriß oder ein Skelett der alten Welt,
ein Gestell, recht geeignet für Leonhard, darin
zunächst eine bescheidene Wissens- Garderobe da und
dort aufzuhängen, und doch nicht in den Irrtum zu
verfallen, es bestehe die sogenannte Weltgeschichte aus
einer Reihe von revue-artig aufeinander folgenden
Kostümwechseln. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)
"Der Rosenkavalier...", wiederholte Frau Trapp und sah
mit verschwimmendem Blick gleichsam den Bildern nach,
die bei diesem Wort vor ihrem inneren Auge nebelten.
Diese Oper war ihr besonders lieb. Sie erkannte wohl
nicht, daß hier vor allem das Unerlaubte sie anzog,
welches durch die 'Kunst' legitimiert erschien (und
gleich im ersten Akt), ganz öffentlich und vor vollem
Hause. Frau Trapp, groß, blond mit grauen Strähnen, im
Gesicht sozusagen verwittert und auch sonst aus dem
Leim gegangen, sah bei derartigen Gefühlsfällen immer
wie ein zergehender Edamer Köse aus. (Heimito von
Doderer: Die Dämonen)
"In dieser Fabrik erzeugt er denn auch Papier - sagen
wir mal für Zwecke der Toilette. Nun hat ihm da vor
einiger Zeit jemand den Gedanken eingegeben, derlei auf
der einen Seite mit Reklamen bedrucken zu lassen, sogar
mit solchen in Versen. Versteht sich, daß dabei nur
ganz giftfreie, harmlose Farben zum Aufdruck verwendet
werden dürfen. Herr Dulnik verspricht sich solchermaßen
einen bedeutenden Einfluß auf die Menschheit und
behauptet, dieses sei die einzige Gelegenheit, wo man
den modernen Menschen noch in einer wirklich
gesammelten und aufgeschlossenen Verfassung antreffen
könne - und eben da müsse der Hebel angesetzt werden.
Mit Dulnik war nämlich vereinbart worden, daß man die
bewußte neu entdeckte Reklame-Fläche ausschließlich mit
Versen Höpfner'scher Herkunft bedrucken dürfe. (...)
... was da draußen von ihm vorgefunden worden war,
zeigte sich als das dilettantische Gestammel
irgendeines Niemand, das sich in einem Wald von
Apostrophen als Folge der zahllosen Weglassungen und
Verkürzungen verlor. (...) "Ja, da sollte man geradezu
die ganze Reklame-Dichterei von einer Prüfung und einem
Gewerbeschein abhängig machen, um jene gräßlichen
Sprachverhunzungen und Patzereien auszuschließen, die
man überall trifft... (...) Es müßte ein Kartell
geschaffen werden, eine Vereinigung, ein geschütztes
Handwerk. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)
Frau Mährischl war ohne Zweifel etwas boshaft
veranlagt, um es gelinde auszudrücken, dabei aber
gescheit. Letzeres konnte von unserer Rosi nicht gerade
behauptet werden. Jedoch für's Boshafte hatte auch die
Frau Direktor eine gewisse, wenn auch eher kindliche
Neigung. Dieser nachzuleben (ein bißchen wenigstens,
natürlich nur so zum Spaß...) war ihr aus eignenen
Mitteln nicht recht möglich, jedenfalls langten diese
eigenen Mittel nicht für eine genügende Wirksamkeit.
Hier sprang nun die neue Freundin ein. Dabei befand
sich aber Rosi sozusagen im unbestrichenen toten Raum,
über welchen die Geschoßbahnen hinzogen, und sie hatte
von ihrer sicheren Stellung aus das Vergnügen, die
Einschläge zu beobachten. (Heimito von Doderer: Die
Dämonen)
Frau Rosi Altschul arbeitete sich eben zwischen Tisch
und Polsterbank heraus. Nun geschah es, daß ihr Kleid
sich verschob, und zwar eine Handbreite über die Knie
hinauf, so daß etwa ein einigermaßen aufmerksamer
Mensch, der eben am Ende der Bank stand und sich in den
Pelz helfen ließ, diese Kniee in ihrer vollen Pracht
betrachten und begutachten konnte, von oben zwischen
den Tisch und das Sitzmöbel hinein sehend. Die Kniee
aber waren schon mehr als beträchtlich, und würdigere
Kapitelle für die Säulen, zu welchen sie gehörten. Frau
Rosi entdeckte jetzt erst, als sie am Ende der Bank
angekommen war, was sie bisher, in ihrer Mühe,
übersehen hatte. Und zugleich spürte sie deutlich, daß
jemand sie von oben ansah. Den Rock hinabstreifen und
aufblicken, war eins. Frau Wolf lächelte. Sie lächelte
ganz offen auf diese Kniee herab und auf diese Hände,
die hastig zogen und glattstrichen, und im lächelnden
Gesicht der Frau Wolf stand geschrieben: zu spät.
(Heimito von Doderer: Die Dämonen)
Jener beschwingende Rausch des Schnees ergriff uns
alle, und ich sah mich veranlaßt, dem Rittmeister ein
wenig Vorsicht nahezulegen: denn sein linkes Knie war
im Jahre 1915 zum Teil an der bekannten Straßenkreuzung
bei Ypern geblieben, und der entsprechende Teil unter
seiner Haut bestand jetzt aus Silber. Eulenfeld schien
jedoch dieses Umstandes gänzlich vergessen zu haben;
und, was noch wichtiger schien, auch das Knie erinnerte
sich nicht mehr an seine kriegerische Vergangenheit.
(Heimito von Doderer: Die Dämonen)
Wer sie nicht kannte, hätte auf der Straße kaum mit dem
ersten Blicke erfassen können, welch eine
wohlausgestattete Weibsperson diese Laura Konterhonz
eigentlich war. Nur die Gestalt fiel sogleich in's
Auge: etwas über mittelgroß, aber kräftig, nicht ganz
dem heutigen Ideal entsprechend, sozusagen eine
musterhafte Karyatide nach akademischen Maßen. Jedoch
war dieses Wesen stets mit derart besonderer
Geschmacklosigkeit gekleidet, daß ihre Vorzüge dadurch
geradezu mattgesetzt und abgeblendet wurden. Wie man
weiß, ist solches Ungeschick in Wien eine höchst
seltene Ausnahme. Und es bildete einen großen Nachteil
für Fräulein Konterhonz, der allerdings ebenso ein vom
Schöpfer gewollter Zug ihres Wesens war, wie etwa ihre
winzig kleinen und schön geformten Hände und Füße, oder
ihre recht bescheidene Intelligenz. (Heimito von
Doderer: Die Dämonen)
"Gleichwohl muß man sagen", fuhr Eulenberg bedächtig
fort, "diese alten Knochen allesamt hatten doch eine
verdammt gute Art, ihre Grenzen zu wahren. Derlei fehlt
uns heute." "Das heißt", ergänzte Körger, "diese
Knochen waren liberal bis auf die Knochen, aber die
Knochen selbst waren eben nicht liberal, und so fand
bei solchen alten Knochen der Liberalismus seine
Grenzen." "Sehr geistreich", sagte Eulenberg, "man
spürt allbereits den Esprit und die Dialektik des
künftigen Rechtsanwaltes. Es läßt sich prophezeien, daß
du dereinst eine Zierde der Verteidigerbank sein
wirst." (Heimito von Doderer: Die Dämonen)
In Heimito von Doderes 'Die Dämonen' nannte man das
Herausekeln von Mitarbeitern, welches heute Mobbing
heißt, noch Abtreibung, zumindest in dem Metier, das er
beschreibt: der Redaktion, in dem sich Journalisten und
ihre Helfershelfer um die Arbeit und die Anerkennung
prügeln. Er bschreibt dann das Gefühle wie folgt:
"Wer aber hier ganz unsicher im Sattel saß, das
waren jene Leute, die zwar lang und breit auf den
Gängen Unterhaltungen führten, deren Genealogie jedoch
nicht besonders weit hinauf reichte. Sie waren
sozusagen da und dort dazwischengestreut und mit guten
Bezügen geduldet. Ihr Stellung gründete sich auf
Spinnweben, nämlich auf jene feinen Fäden von Mann zu
Mann, welche im ganzen das ganze Gewebe der sogenannten
'Beliebtheit' ausmachen. Zu dieser bildete allerdings
unbedingte Fügsamkeit die Voraussetzung, welche
Fügsamkeit oder Schmiegsamkeit auf die Dauer nur aus
einer ehrlichen und wesenechten Verwandtschaft mit der
ganzen Allianz- Welt heraus produziert werden konnte.
Diese Leute ohne Genealogie, oder wenigstens ohne
wirklich edle Genealogie, hatten ein sehr feines
Fingerspitzengefühl und tasteten mit unsichtbaren
Tentakeln ständig den Boden rundum ab, hier jemand
anlächelnd, da mit einer kleinen Schmeichelei
vorschnellend, dort wieder eine ganz knappe, sachliche
Frage stellend: durchwegs Sonden, um festzustellen, ob
alles in Ordnung sei, ob nichts gegen sie vorgehe."
(Heimito von Doderer: Die Dämonen)
Bereits saß Frau Käthe auf der Chaiselongue, ja,
wirklich, jetzt stellte sie die beiden blauen Keks-
Büchsen daneben auf den Boden, legte das Pistazien-
Säckchen oben drauf - und schlug einfach die Hände
vor's Gesicht. Mehr als dieses auf 'frei' gestellte
Einfahrtssignal brauchte der jetzt einherbrausende
Expreß-Zug der Lust nicht. Sie sank zurück. Stangelers
Hände flogen. Er pflückte ihre Kleider weg, wie man
Blüten-Blätter von einem Blumenkelch zupft, es war auch
Blütenweißes dabei. Die Dinge lagen zerstreut, er hatte
Frau Käthe fast ganz entblättert. Sie sank glatt dahin
in seinen Armen, sie schien wie bewußtlos. Die
Kraftentwicklung war kolossalisch, unter einem
Platzregen von Küssen, schließlich rasten sie beide
zusammen durch's Ziel. (Heimito von Doderer: Die
Dämonen)
Im deutschen Aufsatz aber mußte sie bei Fella immer
noch ein wenig einspringen, sei's in der Klasse, oder
bei häuslicher Bearbeitung geistreicher Themen. Lilly
vermochte es leicht. Ihr eignete die Gabe des
schnellhinfließenden gefälligen Geschwätzes im höchsten
Grade - ihre Rede-Übungen in der Klasse waren berühmt -
und es galt nur, in Aufsätzen für Fella jene Glätte
etwas aufzurauhen und mit dem linken Fuße dann und wann
zu stolpern, um nicht Verdacht zu erregen. (Heimito von
Doderer: Die Dämonen)
Am nächsten Tage sah Trix sich München an. Sie war
vordem nie hier gewesen. Auf Kunstgenüsse weniger
bedacht, zog sie um so tiefer die Aura einer Stadt ein,
die ihr, im Vergleiche zu jener, aus der sie kam, als
jünger, als klarer und blanker erschien; und dies ohne
jeden Hinblick auf historische Daten, welche ja Trix
ganz unbekannt waren. Es schien ihr, alles in allem,
hier leichter zu leben als daheim (eine Täuschung, die,
mehr oder weniger deutlich, usn in jeder fremden Stadt
befällt, wenn sie schön und lebhaft ist). (Heimito von
Doderer: Die Dämonen)
Dem bäuerlichen Menschen, wenn er nicht mehr den Acker
bestellt, und jetzt in geschlossener Straßenzeile
zwischen städtischem Hausrate wohnt, kommt leicht ein
merklicher Grad von Unappetitlichkeit zu. Das gilt auch
von bäuerlichen Menschen, welche in die Großstadt
verschlagen wurden. Sie bewahren dort zum Beispiel
Schmalz und Eier in großen Gefäßen auf dem polierten
Schrank des frostigen Schlafzimmers. Dieses entbehrt
jeder Bequemlichkeit. Jedoch sind die weißen Kissen
parademäßig in den Betten aufgerichtet. Trennt man den
Ackerbauer vom Boden, so werden seine Säfte sauer. Er
wird anfällig für jedes Übel, von der Lungenschwindsucht
bis zur Heimat-Dichtung, die nicht immer nur in der
heiligen Stille der Bergwelt passiert. Es gibt Böotier
auch mitten im literarischen Leben von Athen oder Wien.
(Heimito von Doderer: Die Dämonen)
Vielleicht brauchte Herzka länger als Rene, um zu
erkennen, daß dies ein grauenvolles Bild war, sowohl
was die sehr routinierte Malerei, als auch, was die
dargestellte Person betraf. Der Pinsel eines in der
Zeit vor dem ersten Weltkriege zu Wien sehr bekannten
Modemalers hatte hier, von keinerlei Divination
gelenkt, an einer Natur so lange herumgeleckt und
geschwänzelt, bis von dieser Natur eine Art Abziehbild
im Großformat entstanden war: dieses enthielt dann den
ganzen Schrecken, und der Maler konnte so wenig dafür,
wie ein Photograph, dessen Funktion er ja hier durchaus
erfüllt hatte. Das Bild zeigte eine junge Frau in großer
Gesellschaftstoilette. Ihr Antlitz war derart, daß
Stangeler wünschte, es einschlagen zu können, wie man
eine Scheibe einschlägt. Eine hübsche Person; schwarze
Flechten um eine weiße Stirn. Aber der Ausdruck des
Hohnes, der Frechheit und zugleich völliger Nichtigkeit
in diesem Antlitz - in welchem die Augen sehr eng
beisammenstanden - war vom Maler nicht distanziert,
sondern einfach kopiert worden, gewissermaßen ohne
jeden Widerstand, in einer Art profunder
Gesinnungslumperei. Darum fiel dieses ganze Gesicht aus
dem Bilde heraus und dem Beschauer entgegen, aus einem
Bilde, das gar kein Bild war, sicher aber ähnlich bis
zur Gemeinheit. 'Er hat nichts gegen sie unternommen,
mit seiner Malerei', dachte Stangeler. 'Wahrscheinlich
war sie ihm gar nicht widerwärtig. Vielleicht war er
selbst so.' (Heimito von Doderer: Die Dämonen)
Die Tochter sah dem Vater ähnlich. Dies lag auf der
Hand; es lag so oben auf, wie die Bilder in der
Kassette zu oberst gelegen hatten; aber eben nur dies,
und weiter nichts. Was da eigentlich zwischen Vater und
Tochter getreten war, ob nun von der Mutter, ob von
anderen Vorfahren herkommend, blieb unergründlich. Aber
es mußte stark gewesen sein. Es mußte die väterliche
Erbmasse aufgespalten haben, wie eine Axt den Baumklotz
spaltet. Oder, sanfter und nicht weniger wirksam: jenes
Erbgut war zersetzt worden wie von einer Säure.
(Heimito von Doderer: Die Dämonen)
Mir ist nie mehr im Leben ein Mensch begegnet, der bei
aller Freiheit und Unfeierlichkeit im Satzbau und in
der Wortwahl so überaus deutlich seine Rede in den Raum
entlassen hätte, wie dieser Prinz Croix. Er setzte
sozusagen einen freien Raum dafür ohne weiteres voraus:
und damit war dieser auch schon vorhanden. (...) Ich
verwunderte mich über die Krüdität seiner
Ausdrucksweise. Er war viele allein, seine Sprache
unterlag weniger der Zensur von der Konvention her, als
jener vom Gesichtspunkt des Treffens, der Genauigkeit.
(...) Mucki war dem Intellekt gegenüber fügsam, er
schluckte ihn, mit dem er nichts anzufangen wußte, wie
ein braves Kind die Medizin; vielleicht spielte er bei
dem Prinzen überhaupt die Rolle eines allerdings sehr
unergiebigen Miniatur-Eckermann. (Heimito von Doderer:
Die Dämonen)
Es steht außer Zweifel, daß Frau Mary nicht nur sehr
schön und klug ist, sondern daß sie auch eine ungeheure
Kraft bewiesen hat. Sie hat sich wie der berühmte Baron
Münchhausen sozusagen am eigenen Zopf aus dem Sumpf
gezogen. Dadurch fasziniert sie. Jede Überwindung wirkt
faszinierend. Aber mitsamt dieser ist Frau Mary jetzt
in einen anderen Sumpf hineingraten. Dieser Triumph,
den sie da feiert, kassiert in meinen Augen den
siegreichen Feldzug." "Jeder Triumph kassiert", sagte
Williams. "Jeder Erfolg überhaupt. Die ausgleichende
Gerechtigkeit hebt die Spannung auf. Das gibt einen
faden Nachgeschmack. Im Grunde hat jeder Mensch, der
nach langer Mühe durch den Erfolg sozusagen
rehabilitiert wird, etwas widerwärtiges an sich oder um
sich, etwas widerwärtiges Braves. Es ist auf jeden Fall
ein bedenkliches Lebensstadium." (Heimito von Doderer:
Die Dämonen)
Es hatte sie doch im großen und ganzen herumgeworfen,
wie eine Windfahne... klar blieb indessen, daß sie in
kurzer Zeit über ein Bankkonto von 250.000 - weniger
1000 - verfügen würde. Eine weit vorausgestreckte
sorglose Zeit. Noch begann Quapp nicht zu rechnen.
Dieser Zustand sollte erst abends eintreten, an ihrem
kleinen Schreibtisch. Aber, was erstaunlicherweise
schon jetzt eintrat, war ein ganz plötzlicher Impuls
zur - Sparsamkeit, ein Widerstand gegen das
Geldausgeben: Friseur - Hütchen, zum Kleid mit den
braun-gelben Karos passend (sie trug es, jedoch keinen
Hut) - etwa Blumen oder Bonbons für die Tante? Von ihr
hatte sie was abzuholen, ein Päckchen, und dieses
sogleich anderswo hinzutragen: Alte-Damen-
Angelegenheiten (Quapp erwog nicht, wie die alten Damen
es eigentlich fertig brachten, oft mit einem Minimum
von Mitteln in anständiger Weise auszulangen, ohne
irgendwem zur Last zu fallen - und daß dies nur durch
mäusepfötchenhafte Kleinst-Sorgfalt bewirkt werden
konnte. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)
Die Modistin hieß Pauli und hatte ihr Atelier in der
Schulerstraße. Sie besaß außer diesem noch ein
exzellentes Mundwerk, dessen Aussprüche in Damenkreisen
kolportiert wurden. Anläßlich der Heirat eines schon
sehr älteren Fräuleins etwa, welche einen einzigen,
aber ins Auge springenden Reiz für sich buchen konnte,
hatte die Pauli einer über die späte Verlobung
erstaunten Kundin gegenüber geäußert: "Wundert Sie das,
Gnädige? Mich nicht. Bei dem impertinenten Busen!"
(Heimito von Doderer: Die Dämonen)
Frau Kapsreiter war ganztägige Kaffeetrinkerin; sie
trank nur den besten, auf türkische Art bereitet;
tropfenweis, wie ein Vogel. Die Quantitäten waren daher
verschwindend; im ganzen dürfte sie täglich eine Tasse
voll zu sich genommen haben. Das schadete ihr freilich
nicht. Sie war gut beisammen für ihre einundsechzig
Jahre. Mäßig schlank, weißes Haar, rosiges und glattes
Gesicht. Täglich rauchte sie fünf billige Zigaretten.
Im Grund war diese Frau rätselhaft. Sie hatte nie
Kinder gehabt und ihren um zehn jüngeren Mann vor
geraumer Zeit verloren. Dieser war als städtischer
Beamter schon in vorgerückter und gehobener Stellung
gewesen und obendrein vierzehn Tage vor seinem Ableben
noch einmal befördert worden. Das wirkte sich dann
bestens auf die Bemessung der Witwenpension aus (in
Österreich sind übrigens Leute, die keinerlei
staatliche oder städtische Bezüge, Pensionen, Renten
oder ähnliches genießen, sehr selten und gelten auch
als minderwertig). Man fragt sich nun, was Frau
Kapsreiter, außer dem Kaffeetrinken, den ganzen Tag über
zu tun hatte? Nichts hatte sie zu tun. Und hier eben
beginnt das Großartige ihrer Existenz: denn sie
erfüllte diesen leeren Raum, darin sie nichts zu tun
hatte, nicht mit Nichtigkeiten. (Heimito von Doderer:
Die Dämonen)
Anders die beiden Mädchen, die er vor Freud's
Branntweinschank verlassen hatte. In ihnen waren
Intelligenz und Tiefsinn der Jugend straff aufgerichtet
wie Tulpen im taufrischen Beet. Traf ein erschlaffender
Wind ein, drückte ein Mißbehagen: sie erlebten's
wirklich, keine schützenden Blenden gab es, alles ging
bis auf den Grund, der glatt und rein war wie ein bei
beginnender Ebbe vom Wasser verlassener Sandstrand. So
war der Grund ihrer Seelchen noch nicht verkritzelt vom
Linienwerk zahlloser Vergleiche, wie bei den
Erwachsenen, sondern alles Eintreffende zeichnete seine
Kerbe immer als wär' sie die allererste und sie stand
allein und überdeutlich in der reinen Fläche, und
störte und beschwerte diese fremden Fläche über jedes
Maß. (Heimito von Doderer: Die Dämonen)
Es gibt Tage, an denen man ungewohnt früh erwacht, und
man ist am Abend vorher doch keineswegs zeitig ins Bett
gekommen. Man erwacht, es ist noch dunkel. Aber die
glimmenden Zeiger und Ziffern der Armbanduhr auf dem
Nachttisch sprechen uns überraschend zu und sagen von
einer schon morgendlichen Zeit. Man liegt im Dunklen
auf dem Rücken, in jenem merkwürdigen Zustande der
Wahl- und fast Willensfreiheit, als wäre man aller
seiner habituellen Schwächen durch den Schlaf über
Nacht ledig geworden - oder als schliefen diese eben
noch, und nur ganz man selbst im höchsten Grade sei
wach. Man ist wirklich ausgeschlafen; und wie aus allen
üblen Gleisen gesprungen, deren man ja täglich welche
befährt, mit dem fahrplanmäßigen Zügen des Charakters.
Man ist wachsam , und ist aus jenem inneren
Kleinbahnverkehr wie ausgestiegen. (Heimito von
Doderer: Die Dämonen)
Wohl befand er sich seit elf Jahren eingefügt in den
Grundrost von Tatsächlichkeiten, der uns beruht, in
unser Bewußtsein herauf jedoch eine bloß verzeichnende
Kenntnis sendet. Nur wenn man lügt und Sachen ganz
anders erzählt, als sie wirklich gewesen sind, oder
solche, die überhaupt nie waren, dann spannt und
staucht sich dieser Rost ein wenig, und es entsteht
eine Art Schwellung, ein Tumor der Lüge, welcher den
redenden Mund als solchen isoliert und ihn von seinen
Quellen und einer eigentlichen Sprache trennt. Viele
Menschen neigen in solchen Fällen auch zu einer
wirklich geschwollenen Redeweise, hinter der natürlich
die Wahrheit ganz verschwindet. Niemandem ist recht
wohl dabei. (...) Jetzt sandte jener Grundrost, jenes
Gitterwerk, das dann bei vorschreitenden Lebensjahren
immer mehr im wachsenden Aschenhaufen verbrannter und
konsumierter Tatsächlichkeitern verschwindet, nicht
eine bloß verzeichnende kataloghafte Kenntnis herauf
in's Bewußtsein Rene's, sondern ein Teil solchen Rostes
erglühte selbst, leuchtete her wie ein Stückchen
besonders weiß und hell glühender Kohle, das in den
Aschenfänger des summenden Samowars gefallen war und
jetzt hinter den Schlitzen lag und erstrahlte. (Heimito
von Doderer: Die Dämonen)
Als Frau Mayrinker endlich schlafen ging, war die
Mitternacht längst vorbei. Sie machte ihre Toilette und
entblätterte sich dazu, so daß ihre ganz weißen
Rundlichkeiten sichtbar wurden, weiße Schultern und
Arme, baby-haft. Darin lag der starke Reiz, den sie auf
ihren Mann wirkte. Endlich stieg sie säuberlich in's
Bett, im langen, frisch aus dem Schrank genommenen
Nachthemd, dessen scharfe Plättfalten jetzt von
durchaus sphärischen Gebilden da und dort aus der
geraden Planimetrie gedrängt wurden. Sie lag am Rücken,
öffnete plötzlich ein kleines Kindermäulchen, so weit
es eben ging, und gähnte tief. Der Roman lag wohl am
Nachttisch bereit (sie wählte jedes Jahr mit
unfehlbarem Instinkt das jeweils dümmste aller neuen
Bücher und wußte allem anderen aus dem Wege zu gehen,
mit der Sicherheit einer Fledermaus, die den gespannten
Draht vermeidet - und ihr Mann las ja nur Schriften,
die sich auf seine Drachen-Puzzis bezogen). Heute ging
es nicht mehr mit dem Lesen. Sie schaltete das Licht
aus und rollte sich zu einem glatten weißen runden Ei
unter dem Nachthemd zusammen. (Heimito von Doderer: Die
Dämonen)
... wäre der Verfasser zum Beispiel Präsidentin einer
internationalen Frauenliga - wozu er glücklicherweise
ganz untauglich! - er ließe in den Parlamenten einen
Gesetzentwurf einbringen, der den Mannsbildern das
Meditieren verböte: denn allzu leicht können die Kerle
dabei auf eine Art Archimedischen Punkt gelangen, wo
man ihnen nicht mehr beizukommen vermag, alias, sie
nicht mehr einseifen kann. Es müßte also denen Weibern
das Recht zugebilligt werden, derartige
Hochverrätereien gegenüber der Obmacht des Rosenpopo-
Flügerlgottes auf ganz konkrete Weise zu stören.
(Heimito von Doderer: Die Dämonen)
Es war äußerst bemerkenswert, mit welcher Disziplin sie
das Bild einer Frau aufrechterhielt, die allein am
glücklichsten war. (...) Sie fand keine Lücke in der
Lebenslüge ihrer Unabhängigkeit. (...) Mit der Zeit
wurde sie ungeduldig und hätte Beate am liebsten die
Maske der Genügsamkeit vom Gesicht gerissen, bis sie
auf einmal begriff, daß es ebendiese Ausgeglichenheit
und Glätte war, der sie mißtraute. Das Leben war nicht
so. (...) (...) Im Gegensatz zu Beates konstanter
Gemütsverfassung unterlag sie erheblichen
Stimmungschwankungen, die sie nur mit Mühe in den Griff
bekam und vermutlich noch schlechter verbergen konnte,
als sie glaubte. (John von Düffel: Houwelandt, S. 236)
Beherzt - fast grimmig - griff er zu, schnitt sich ein
fingerdickes Stück Braten ab (...), machte sich über
das widerspenstige Stück Fleisch her, das nicht nur
genauso aussah wie das vorige, sondern auch ebenso zäh
und sehnig schmeckte. Immer wieder mußte Christian sich
sagen, daß es sich nur um einen Fall von täuschender
Ähnlichkeit handelte, nicht aber um ein und diesselbe
Fleischscheibe, obwohl er in seinem tiefsten Inneren
davon überzeugt war, daß eben darin seine Strafe
bestand. Er war dazu verdammt, diesen einen
immergleichen Brocken totes Rind wieder und wieder
hinunterzuwürgen. (...) Dann nahm er einen Schluck
Rioja, vertilgte den ledrigen Fleischklumpen, der seine
Kiefer seit geraunmer Zeit beschäftigte, und ließ einen
als Genußseufzer getarntes Stöhnen hören. (John von
Düffel: Houwelandt, S. 253f.)
Er erwischte den Postboten auf halbem Weg über den Hof
vor der "Hundehütte", wie die Geschwister ihr
Elternhaus nannten, einen zweistöckigen Bau aus der
Vorgründerzeit, der zu schmal, zu grau und zu
verwinkelt geraten war, um eine Villa am Stadtrand zu
sein. Fast schien es, als habe ihr Erbauer seinerzeit
voller Mißtrauen in die Zukunft geblickt und für sich
und die Seinen keine Vermehrung von Reichtum und
Ansehen erwartet. Die "Hundehütte" war eine Trutzburg
des Erreichten. Weder Personal noch Gäste hatten in ihr
Platz, weshalb sämtliche de Houwelandts, deren
Geschäfte prosperierten, mit Anbauten wie dem
Gesindehaus um 1900 und dem Kinderhaus Anfang der
siebziger Jahre eine Spur von Großzügigkeit in die
gotische Verschmocktheit und pastorale Enge ihres
Familienbesitzes zu bringen versuchten. Doch
Bedienstete gab es, wenn Thomas von sich selbst einmal
absah, schon lange nicht mehr. Soweit seine Erinnerung
reichte, wohnten im Gesindehaus ältliche Paare und
einsame Pensionäre, die geräuschlos vor sich
hinstarben. Auch wurde das Kinderhaus entgegen seiner
Bestimmung nie von ihm oder den Geschwistern bezogen.
Sie alle hatten das steingewordene Angebot, sich mit
ihren Familien an der Seite ihres Vaters
niederzulassen, abgelehnt. Zwar standen pro Wohnung
zwei Kinderzimmer bereit, was einer Aufforderung zur
Fortpflanzung gleichkam, doch mieteten sich auch dort
wiederum nur alte Leute ein, die offenbar zu schwach
und hinfällig waren, um gegen die reizlosen
schuhkartonförmigen Siebziger-Jahre-Räume
aufzubegehren. Thomas war nicht nur der einzige de
Houwelandt, der hier lebte. Er war mit seinen
siebenundfünfzig Jahren auch der Jüngste, was ihm noch
immer das Gefühl gab, ein Rebell zu sein.
(John von Düffel: Houwelandt, S. 19)
Luisa Mejia führte das bis vor wenigen Jahren einzige
Lokal am Ort, das mangels Verwechslungsgefahr einfach
nur das "Restaurant" hieß, eine Bezeichnung, auf der
sie bestand, obwohl es sich eher um eine Bar handelte.
Luisas erster und einziger Ehemann war früh verstorben
oder existierte seit jeher nur als Legende. Man konnte
sich die Frau kaum anders vorstellen als allein. Sie
war eine strenge, hart arbeitende Andalusierin mit
wuchtigen Oberarmen und einer durchdringenden Stimme,
die es ihr erlaubte, ihre Söhne und Töchter bis hinaus
auf die Straße zu kommandieren. Tag und Nacht stand sie
am Tresen, hielt ihre Kinder auf Trab und verschwand
nur gelegentlich in der dreiviertelhohen Tür zur Küche,
um den Extrawunsch eines Gastes persönlich zu erfüllen.
Doch sie bediente nicht, Luisa Mejia herrschte.
Ihr Reich bestand aus einem niedrigen, tunnelartigen
Gewölbe mit einer Flucht schmaler Tische und Bänke.
Jedes Jahr ließ sie die Decke neu streichen, doch dem
"Restaurant" haftete trotz allem etwas Spelunkenhaftes
an. Wer sich zum ersten Mal dorthin verirrte, dachte
unweigerlich an die verraucht-verruchten Dorftavernen
des iberischen Hinterlands, wo sich Bauern mit knotigen
Händen und bizarren Gebissen im Laufe der Nacht die
einzige Dorfhure teilten. Dabei waren ihre Stammgäste,
die dort vom späten Vormittag an hockten und sich Luft
zufächelten, in aller Regel weder Freier noch Zecher,
sondern brave deutsche Rentner und Senioren, die einem
längst fälligen Arztbesuch oder Krankenhausaufenthalt
zu entgehen hofften, indem sie sich Unmengen von Luisa
Mejias legendärem Kräutertee einverleibten. (John von
Düffel: Houwelandt, S. 93)
Marita war seine "vorläufig dritte Frau", wie er sagte.
Er bot ihr ein sorgloses Leben und das Gefühl, mit Ende
Vierzig noch vergleichsweise jung zu sein. Dafür mußte
sie seine Launen ertragen und sich in aller
Öffentlichkeit von ihm "mein kleines Bettschwein"
nennen lassen. Das war der Handel. Doch Marita schien
es recht zu sein, solange sie sich die Illusion von
Jugendlichkeit bewahren konnte, die durch den
Altersunterschied entstand - was in den Kreisen, in
denen sie mit Hermann Lobeck verkehrte, kein Problem
war. (John von Düffel: Houwelandt, S. 32)
Wie die meisten Kleinfamilien versuchten auch sie ab
einem gewissen Punkt miteinander auszukommen, indem sie
sich nicht störten. Die Momente echter Ohnmacht und
Hilflosigkeit, die ihm von früher im Gedächtnis
geblieben waren, ließen sich an einer Hand abzählen und
erschienen ihm rückblickend eher läppisch: die paar
Male, wo er nachts an stark befahrenen Straßen stand,
weil seine Eltern vergessen hatten ihn abzuholen und er
alleine nicht nach Hause fand; die Versprechungen, die
sein Vater nicht gehalten hatte und an die er sich
später nicht mehr erinnern konnte; die pädagogischen
Experimente seiner Mutter, die immer dann zu Hochform
auflief, wenn sie ihn wie einen Schüler behandeln
konnte, und die seine Freizeit am liebsten in ein
endloses Nachsitzen verwandelt hätte. Es war nicht
gerade vergnüglich gewesen, damals. (John von Düffel:
Houwelandt, S. 254)
Vor ihrer Abreise würde sie den Kühlschrank mit
reichlich Fleisch, Käse und Eiern auffüllen. Es war die
einzige Möglichkeit, sicherzugehen, daß Jorge in ihrer
Abwesenheit nicht nur von Resten lebte. Sie mußte ihn
zwingen, nicht immer das gleiche zu essen, genauso wie
sie ihn zwingen mußte, sich den Menschen um ihn herum
nicht völlig zu verschließen. Jorge reagierte immer nur
auf Zwang. Es machte sie traurig, daß sie so berechnend
sein mußte, um auf Jorges Leben Einfluß zu nehmen, das
sonst auf seiner einsamen Bahn um immer diesselben
Fixpunkte gekreist wäre. Sie kannte Jorge als einen
Mann, der keine Vorstellung davon hatte, was ihm
fehlte. (John von Düffel: Houwelandt, S. 50)
"Oh", sagte Madame de Fontanin, "diese okkulten
Phänomene sind so häufig!" "Was für Phänomene?" Sie war
stehengeblieben; ihre Miene war ernst und abwesend. "Die
Gedankenübertragung." Die Erklärung wie auch der Ton, in
dem sie vorgebracht wurde, waren so neu für Antoine, daß er
Madame de Fontanin neugierig ansah. Ihr Antlitz war nicht nur
ernst, sondern wie verklärt, und auf ihren Lippen spielte das
Lächeln einer Gläubigen, die gewohnt ist, in diesen Dingen der
Skepsis der anderen zu begegnen. (Roger Martin DuGard:
Die Thibaults, S. 20)
"Ich fühlte mich unverstanden", erklärte er mit dumpfer
Stimme, "unverstanden von allen, selbst von meinem Bruder,
oft sogar von Daniel." Genau wie ich, sagte sie sich. "Während
dieser Perioden war ich unfähig, mich für irgendeine
Schularbeit zu interessieren. Ich las, las wie ein Wahnsinniger
alles, was ich in Antoines Bücherschrank fand, alles, was
Daniel mir geben konnte. Fast alle modernen Romane,
französische, englische, russische, habe ich verschlungen.
Wenn Sie wüßten, in welchem Rausch ich dann lebte! Und
hinterher schien mir alles tödlich langweilig: die Stunden, das
Herumklauben an den Texten, die schöne Moral der
Gerechten! Ich war offenbar für das alles nicht gemacht!" Er
sprach von sich selber ohne Dünkel; aber er kannte, von sich
selbst erfüllt, wie jedes junge, kraftvolle Wesen, keinen
echteren Genuß, als sich so vor aufmerksamen Augen zu
analysieren, und das Vergnügen, das er dabei empfand, wirkte
ansteckend. "Das war die Zeit", fuhr er fort, "wo ich an Daniel
Briefe von dreißig Seiten schrieb, wo ich manchmal die ganze
Nacht Papier bekritzelte! Briefe, in die ich alle Begeisterung
und besonders allen Haß des Tages ergoß! Ach, ich sollte
jetzt wohl darüber lachen... Aber nein", sagte er und preßte die
Stirn zwischen seine Hände, "ich habe unter alledem zu sehr
gelitten, ich kann es noch nicht verzeihen..." Ich habe mir diese
Briefe von Daniel wiedergeben lassen, ich habe sie wieder
gelesen. Jeder ist wie die Beichte eines Narren in einem
lichten Augenblick. Sie folgten einander in Zwischenräumen
von wenigen Tagen, manchmal von wenigen Stunden, und
jeder war wie die Explosion einer inneren Krise, die oft zu der
vorhergehenden in schroffstem Widerspruch stand. Eine
religiöse Krise, weil ich mich mit aller Macht auf die Evangelien
oder auf das Alte Testament oder auf den Positivismus von
Auguste Comte gestürzt hatte. Ach, und mein Brief, nachdem
ich Emerson gelesen hatte! Ich habe alle Krankheiten des
Jünglingsalters gehabt: eine heftige 'Vincitis' und eine
verzweifelte 'Baudelairitis'! Aber niemals chronische Leiden!
Eines Morgens wachte ich als Klassiker auf, am Abend war ich
Romantiker - und verbrannte heimlich in Antoines
Laboratorium meinen Malherbe und meinen Boileau. Das tat
ich, ganz allein, mit einem teuflischen Lachen! Am folgenden
Morgen schien mir alles, was Literatur heißt, gleichermaßen
leer, einfach zum Übelwerden. (Roger Martin DuGard: Die
Thibaults, S. 351/52)
Daniel war sich wohl bewußt, daß er Jacques' Schamgefühl
verletzte. Er tat es mit Absicht, weil es ihn irritierte, mit
anzusehen, mit welcher Leichtigkeit sich Jacques monatelang
- vielleicht aus Opposition gegen die Ausschweifungen seines
Freundes - mit einem fast keuschen Leben abfand. Daniel war
sogar naiv genug, sich deswegen Sorgen zu machen, und er
wußte, daß auch Jacques sich manchmal ein wenig über die
gefügige Schläfrigkeit eines Temperaments beunruhigte, das
früher lebhaftere Ansprüche anzukündigen schien. (Roger
Martin DuGard: Die Thibaults, S. 246)
Das Bett war niedrig, die Decken völlig zurückgeschlagen. Die
rosenfarbene Seide, aus der die Vorhänge waren, bedeckte
auch den Hintergrund des Alkovens, in dem Rahels Nacktheit,
großartig ausgebreitet, wie eine allegorische Figur in einer
durchscheinenden Muschel ruhte. "Wenn ich Maler wäre...",
murmelte Antoine. "Siehst du, daß du müde bist", meinte
Rahel und lächelte schnell. "Wenn du Künstler wirst, heißt das
immer, daß du müde bist." (Roger Martin DuGard: Die
Thibaults, S. 359)
Der Anblick Jennys weckte in ihm jeden Augenblick Sehnsucht
nach seiner eigenen Jugend. Wie hatte er heute morgen noch,
auf dem Tennisplatz, darunter gelitten! Die jungen Burschen
und Mädchen mit dem klaren Blick, mit dem vom Spiel
verwirrten Haar, den offenen Kragen, den unordentlich
sitzenden Kleidern - ohne daß irgend etwas dem
triumphierenden Reiz ihrer Jugend Abbruch tun konnte! All
diese geschmeidigen Körper, in Sonnenlicht gebadet, die
noch in der Erhitzung frisch und von Gesundheut duftend
blieben! Ach! Wie grausam hatte er in den zehn Minuten, die
er dort zugebracht hatte, die Entwürdigung durch das Alter
empfunden! Wie grauenhaft und beschämend war ihm dieser
tägliche Kampf gegen sich selbst erschienen, gegen das
Welken, die Unsauberkeit, den Geruch, gegen all jene
Vorboten der endgültigen Zersetzung, die in ihm schon
begann! Und als er seinen schwerfälligen Gang, seinen
hastigen Atem, seine Mühe , frisch zu erscheinen, mit dem
federnden Schritt seines Sohnes verglich, ließ er schroff
Daniles Arm fahren und konnte einen neidischen Ausruf nicht
unterdrücken: "Wie gern wäre ich noch einmal zwanzig Jahre,
so wie du, mein Kleiner!" (Roger Martin DuGard: Die Thibaults,
S. 374)
Für Menschen seines Schlages ist unser Unterrichtsbetrieb
alles in allem ganz ungefährlich: Sie wissen instinktiv zu
wählen; sie haben - wie soll ich sagen? - die Unbezähmbarkeit
der guten Rasse, die sich nicht Fesseln schlagen läßt. Die
Ecole Normale ist nur für die allzu Schüchternen und
Gewissenhaften eine Gefahr... Im übrigen hatte ich den
Eindruck, daß Ihr Bruder mich nur pro forma um Rat fragte,
daß sein Entschluß im Grunde schon gefaßt war. Das ist ja
gerade das Kennzeichen der Berufung, daß sie so
gebieterisch ist. Nicht wahr? Er hat mit einer... einer
jugendlichen Heftigkeit vom Geist der Universitäten
gesprochen, von der Schuldisziplin, von gewissen Professoren
und, wenn ich mich recht entsinne, sogar von seinem
Familienleben und seiner Stellung zur Gesellschaft... Sie sind
darüber erstaunt? Ich liebe die junge Leute. Sie verhelfen mir
dazu, daß ich nicht zu schnell altere; sie erraten, daß sich
hinter dem Literaturprofessor ein unverbesserlicher alter Poet
verbirgt, zu dem sie offen reden können, und auch Ihr Herr
Bruder hat, wenn ich mich recht erinnere, kein Blatt vor den
Mund genommen... Ich habe viel Verständnis für die
Unduldsamkeit der Jugend. Es ist ein gutes Zeichen, wenn ein
junger Mensch sich in natürlicher Opposition gegen alles
befindet. Diejenigen meiner Schüler, die es zu etwas gebracht
haben, waren alle schwierigen Schüler und sind - wie mein
Lehrer Renan sagte - 'mit Schmähungen auf den Lippen' ins
Leben getreten... (Roger Martin DuGard: Die Thibaults, S.
482)
Die Situation drohte schon kritisch zu werden, als Jacques
plötzlich das Fenster öffnete und in das Zimmer zurückwich.
Ein schöner siamseischer Kater mit dichten grauerm Fell und
kohlenrabenschwarzem Maul sprang weich auf den Boden.
"Sieh da, Besuch?" fragte Antoine, über die Anlenkung
erfreut. Jacques lächelte. "Ein Freund." Dann fügte er hinzu:
"Einer von der unschätzbaren Sorte: ein zeitweiliger Freund."
(Roger Martin DuGard: Die Thibaults, S. 519)
Ich sah mich nun mit dem Wesen der Zeit konfrontiert,
diesem Leiden der menschlichen Psyche. Ich hatte - auf
dem Papier - meine Niederlage zugeben müssen. Doch
seltsamerweise hatte der Akt des Schreibens mir noch
eine Art Gewinn gebracht; gerade durch das Versagen der
Worte, die eins ums andere in die bodenlose Kavernen
der Imagination sinken und dort versickern. Ein
kostspieliger Weg, das Leben anzufangen, gewiß, aber
uns Künstler treibt es zu einem Eigenleben, das sich
aus diesen seltsamen Techniken der Beschäftigung mit
dem eigenen Ich nährt. (Lawrence Durrell: Clea, S. 8)
In der früheren Welt hätte ich Clea mit einem ganzen
Schwarm anderer Freunde und Verehrer teilen müssen.
Jetzt nicht. Und seltsam: Zum Teil schenkten diese
äußeren Faktoren, in deren tödliches Ringen wir
hineingezogen wurden, unserer Leidenschaft eine
Erfüllung, die zwar nicht auf Verzweiflung gründete,
sondern, ebenso gewiß, in einem Gefühl der
Vergänglichkeit wurzelte. Wenn auch von anderer Art,
gehörte sie doch in die gleiche Kategorie wie das
stumpfsinnige, orgiastische Treiben der verschiedenen
Soldatenhorden. Man konnte sich unmöglich der wahren
Erkenntnis verschließen, daß der Tod (nicht nah, aber
doch in der Luft liegend) die Küsse schärft, jedem
Lächeln und jedem Händedruck unerträgliches Gewicht
gibt. Obwohl ich kein Soldat war, hing das dunkle
Fragezeichen über unseren Gedanken, denn auch die
wahren Äußerungen des Herzens waren beeinflußt von
etwas, wovon wir alle, wenn auch widerstrebend, Teil
waren: eine ganze Welt. Sofern man den Krieg nicht
einfach als eine Art zu sterben ansah, bedeutete er
eine Art zu altern, die Schalheit der menschlichen
Dinge zu schmecken und zu lernen, jedem Wechsel
gegenüber tapfer standzuhalten. Keiner konnte sagen,
was hinter dem abgeschlossenen Kapitel jedes Kusses
liegen mochte. (Lawrence Durrell: Clea, S. 108)
Man darf die Liebe definieren als eine krebsartige
Wucherung unbekannten Ursprungs, die sich überall
bilden kann, ohne daß der Betroffene es weiß oder
wünscht. Wie oft hast du vergeblich versucht, den
"richtigen" Menschen zu lieben, selbst wenn dein
Herz wußte, ihn nach langem Suchen gefunden zu
haben? Nein, ein Wimpernschlag, ein Parfum, ein
betörender Gang, ein Muttermal am Hals, der
Mandelduft deines Atems - das sind Komplicen, die
sich der Geist aussucht, um uns eine vernichtende
Niederlage beizubringen. (Lawrence Durrell: Clea,
S. 109)
"Heute habe ich fünf Mädchen gehabt. Ich weiß, ihr
findet das ausschweifend. Dabei ging es mir gar nicht
darum, mir etwas zu beweisen. Aber wenn ich gesagt
hätte, ich hätte mir aus den fünf Teesorten eine
Mischung nach meinem Geschmack hergestellt oder fünf
Tabaksorten für meine Pfeife gemischt, dann würdet
ihr überhaupt nichts dabei finden. Ihr würdet, im
Gegenteil, meinen Eklektizismus bewundern, nicht
wahr?" (Lawrence Durrell: Clea, S. 144)
"Dieser Krieg", meinte er schließlich, "ich muß Ihnen
sagen... Er ist ganz anders, als ich ihn mir
vorgestellt hatte." Unterhalb seiner Champagner-
beschwingten Trunkenheit war er plötzlich recht ernst
geworden. Er sagte: "Niemand, der es zum erstenmal
sieht, kann umhin, mit seiner ganzen Vernunft zu
protestieren und auszurufen 'Das muß aufhören!' Mein
lieber Junge, um die Norm der menschlichen Ethik zu
sehen, dazu muß man ein Schlachtfeld gesehen haben. Die
allgemeine Idee läßt sich vielleicht in dem
ausdrucksvollen Satz zusammenfassen: 'Wenn du's nicht
fressen oder ficken kannst, dann scheiß drauf!'
Zweitausend Jahre Zivilisation! Das blättert im Nu ab.
Kratz nur mit dem kleinen Finger, und schon kommst du
auf den Grundanstrich oder die rituelle Kriegsbemalung
unter dem Firnis." (Lawrence Durrell: Clea, S. 194f.)
"Ich bin nicht gut für dich, Darley. Seit wir zusammen
sind, hast du nicht eine Zeile geschrieben. Du hast
keine Pläne. Du liest fast überhaupt nicht mehr." So
hart waren diese strahlenden Augen geworden und so
bekümmert! Dennoch mußte ich lachen. Tatsächlich wußte
ich jetzt oder glaubte zu wissen, daß ich nie ein
Schriftsteller werden würde. Der ganze Impuls, mich auf
diese Art der Welt anzuvertrauen, war erlahmt, war
versiegt. Der Gedanke an die verquälte kleine Welt von
Druck und Papier langweilte mich unerträglich. Doch ich
war nicht unglücklich darüber, daß ich von diesem
Drang befreit war. Ich war im Gegenteil voller
Erleichterung - befreit von der Sklaverei dieser
Redeformeln, die zum Mitteilen wahrer Gefühle so
ungeeignet schienen. (Lawrence Durrell: Clea, S. 253)
Diese Frau in ihrem erbärmlichen 2CV zum Beispiel hätte ja
nun, wenn sie denn eine so gute Autofahrerin gewesen wäre,
vorausschauend erkennen können, daß es gleich ziemlich
eng werden würde, weil ihr nämlich ein Mercedes-Taxi
entgegenkam. (...) Sie lächelte mich hilflos an, als wäre ich
irgendein bescheuerter Mann, bei dem offensiv zur Schau
getragene Dämlichkeit einen erotischen Sanitäterinstinkt
auslösen könnte. Zurücksetzen ging nicht, hinter mir hielten
bereits zwei Autos. Also hob ich die Hände in Schulterhöhe
und schlenkerte der Frau meine Finger entgegen, um ihr zu
signalisieren, daß sie es war, die rückwärts fahren mußte. Die
Frau sah über ihre Schulter und gleich wieder nach vorn und
bekam rote Flecken im Gesicht. Diese Fahrtrichtung
beherrschte sie nicht. Es blieb mir nichts übrig, als das Fenster
herunterzukurbeln, sowohl meinen als auch ihren Rückspiegel
zur Seiten klappen und mich im Schneckentempo an ihrer
mitten auf der Straße parkenden Charleston-Ente
vorbeizuschieben. An jeder Seite meines Taxis war höchstens
noch zwei Finger breit Luft. Die Schnalle selber bewegte sich
natürlich keinen Zentimeter, sondern ließ mich machen und
glotzte noch blöd, ob ich auch ja keine Schrammme in die
Speziallackierung ihres drolligen französischen Kleinwagens
fuhr. Diese Wesen würden es nie schaffen. Sich
dreißigtausend Jahre lang unterdrücken zu lassen, ohne eine
einzige anständige, blutige Revolution auf die Beine zu stellen,
das sagte ja eigentlich alles. (Karen Duve: Taxi, S. 60f.)
Trendforscher war auch so ein neuer Trend. Der Trendforscher
hatte sich mit der zunehmenden Vereinzelung der
Westeuropäer beschäftigt und vorausgesagt, daß sich in den
Großstädten demnächst nach Geschlechtern getrennte
Stadtteile herausbilden würden, in denen entweder nur noch
Single-Frauen oder nur noch Single-Männer leben würden. Die
Single-Frauen würden in schnuckligen kleinen Stadtteilen wie
Eppendorf oder Eimsbüttel wohnen. Sie würden
Rüschengardinen an den Fenstern ihrer Altbauten anbringen,
und es würde Cafes und Buchläden geben und Geschäfte, in
denen man hübschen sinnlosen Krimskrams kaufen konnte. In
den Männer-Stadtteilen würden Zweckbauten stehen - ohne
Rüschengardinen. Statt Buchläden und Cafes würde es
Kneipen und Fast-Food-Ketten geben und mindestens eine
Sportarena. Was der Trendforscher bei seinen Prognosen
aber noch nicht berücksichtigt hatte, war, daß die
Männerstadtteile unter einer fortschreitenden Verslumung zu
leiden würden. Ich dachte das für ihn zu Ende: Der Dreck bei
den Männern würde kniehoch in den Straßen liegen. Bei den
Frauen hingegen würde sogar das Laub zusammengeharkt, in
kleine Stoffbeutel gefüllt und mit Samtschleifen in den
neuesten Herbstmodefarben zugebunden und an den
Straßenrand gestellt. (Karen Duve: Taxi, S. 77)
Durch das Taxifahren hatte ich den Kontakt zu allen früheren
Freunden verloren. Meine Telefonrechnung bestand aus der
Grundgebühr, und die Einzige, die anrief, war meine Mutter,
um zu sagen, daß meine Wäsche fertig sei. Post bekam ich
auch nicht. Nicht einmal Werbebriefe. Ich hatte es verratzt.
Einmal falsch abgebogen, einmal den falschen Beruf gewählt,
einmal den falschen Mann geküßt und dein ganzes Leben war
verkorkst. (Karen Duve: Taxi, S. 78)
"Echt, du fährst Taxi? Erzähl doch mal!" Mir wurde klar, was er
und alle anderen in diesem Raum in mir sahen - einen Freak,
ein schrulliges Original, das Auskunft geben konnte über eine
Welt, mit der ein angehender Rechtsanwalt sich
erfreulicherweise erst beschäftigen mußte, wenn es zum
Gerichtstermin kam. Vielleicht sahen sie in mir auch bloß ein
abschreckendes Beispiel dafür, wie es einem ergehen konnte,
wenn man nicht in die Junge Union eintrat. Sie verstanden es
nicht. Sie verstanden nicht, daß das, wovon ich erzählte, die
Welt war, in der auch sie sich aufhielten. Daß es auch sie
etwas anging. Sie dachten, es hätte mit mir zu tun, daß ich
solche Dinge erlebte. (Karen Duve: Taxi, S. 80)
"Hein-Hoyer, Goldener Handschuh, kannst die Uhr
auslassen." Er reckte gereizt das Kinn und legte einen
Fünfzig-Mark-Schein aufs Armaturenbrett. Eine große Narbe
lief über seinen Handrücken. Der Goldene Handschuh war die
Top-Prügel-und-Absturzkneipe in Hamburg, noch vor dem
Blauen Peter I bis IV und vor dem Bronzekeller und lange vor
Hotel Hannovera. Der Mann wog bestimmt an die hundert Kilo.
Er roch nach Schweiß, Alkohol und Gefahr. Unter seinen
rechten Augenwinkel hatte jemand dilettantisch den
schwarzen Umriss einer Träne tätowiert. Ein gewalttätiger
Mensch, nicht imstande, sich zu beherrschen, aber in der
Zivilisation mit ihren strikten Verhaltensregeln liefen seine
Dominanzansprüche jeden Tag ins Leere. Auswildern ging ja
nicht, und so blieb ihm nur der Goldene Handschuh, eines der
letzten Biotope, in dem noch das gute alte
Schimpansengesetz galt. "Was bist du denn für eine süße,
kleine Maus?" Was sollte man einem derart aggressiven
Exemplar auf eine derart dämliche Frage bloß antworten?
Dian Fossey hätte die Situation sofort in den Griff bekommen.
Wenn Dian Fossey es mit einem unangenehmen
Gorillamännchen zu tun bekam, dann machte sie
irgendwelche Schnalzgeräusche und Unterlegenheitsgesten
oder stopfte sich ein Büschel Gras in den Mund, um ihn zu
beschwichtigen. (Karen Duve: Taxi, S. 81)
"Außerdem werde ich auch ständig gefragt, wie alt ich
eigentlich bin", fiel mir noch ein. "Oder die fragen: Seit wann
dürfen Teenager Taxi fahren." "Es ist auch nicht normal, daß
du so jung aussiehst", sagte Rüdiger. "Wenn jemand
auffallend jünger aussieht, als es seinem Alter entspricht,
dann ist meistens auch die geistige Reife verzögert." Ich
verstand selber nicht, wieso ich immer noch wie achtzehn
aussah. Vermutlich lag es daran, daß Dientrich auf
Achtzehnjährige stand. Ich machte ja immer alles so, wie er es
wollte. Oder vielleicht brauchte man auch nicht zu altern, wenn
man nicht lebte. "Das ist aber sowieso bald vorbei mit dem
jünger aussehen", fuhr Rüdiger fort. "Frauen altern nämlich
wesentlich schneller als Männer. Das ist die Strafe dafür, daß
sie so bösartig sind." (Karen Duve: Taxi, S. 95)
Ich fand es gut, wenn Tierarten ausstarben. Dem
ausgestorbenen Bali-Tiger konnte man doch eigentlich nur
gratulieren: Herzlichen Glückwunsch, lieber Bali-Tiger. Nie
mehr Hunger, nie mehr Revierstreitigkeiten, nie mehr
Schmerzen, nie mehr Todesansgt. Und besonders viel verpaßt
hast du auch nicht. Für die noch existierenden Tiere war sein
Aussterben ebenfalls ein Glück. Ich mochte gar nicht
ausrechnen, wie viel hundert Antilopen oder Gazellen, oder
war immer diese Biester fraßen, zerrisssen werden müßten,
um auch nur einen einzigen Bali-Tiger bis zur Geschlechtsreife
zu ernähren. Von mir gab es keinen Pfenning für bedrohte
Großkatzen. (Karen Duve: Taxi, S. 221)
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