Allgemeine Fundstücke  / [D1]


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Dahl, Roald: Kuschelmuschel [1]

  Wie gern fliege ich dahin, neuen Menschen und neuen Städten entgegen, und lasse die alten hinter mir! Nichts in der Welt vermag mich mehr zu beschwingen. Und wie sehr verachte ich den Durchschnittsbürger, der in seinem kleinen Häuschen mit seiner dümmlichen Frau zusammenhockt, im eigenen Saft dahinschmort und langsam vermodert, bis er das Ende seines Lebens erreicht. Und immer mit derselben Frau! Ich kann es einfach nicht begreifen, wie ein Mann, der seine fünf Sinne beisammen hat, Tag um Tag und Jahr um Jahr diesselbe Frau erträgt. Gewiß, nicht alle bringen dieses Kunststück fertig. Aber Millionen tun so als ob. (Roald Dahl: Kuschelmuschel, S. 22)


Dahl, Roald: Kuschelmuschel [2]

  Er mußte die ekelhafte Krankheit schon Jahre und jahrelang haben, sonst hätte sie sich nicht zur Ataxie entwickelt. Tabes dorsalis nennt man das in Fachkreisen. Pathologisch bedeutet diese Bezeichnung, daß das Opfer an einer Degeneration des Rückenmarks im unteren Teil der Wirbelsäule leidet. Doch, oh, meine Freunde, und ach, meine Feinde, in Wirklichkeit ist es viel schlimmer als das: es ist ein schleichender und unerbittlicher Verfall der entscheidenden Nervenfasern des Körpers, hervorgerufen durch die Gifte der Syphilis. Der Mann - der Araber, wie ich ihn nennen werde - blieb genau neben der Wagentür auf meiner Seite stehen und glotzte durch das Fenster. Ich lehnte mich etwas zur anderen Seite hin und betete, daß er bloß nicht noch einen Millimeter näher kommen möge. Zweifellos war er einer der lädiertesten Menschen, die ich je gesehen habe. Sein Gesicht glich einer zernagten und von Würmern zerfressenen alten Holtschnitzerei. Bei diesem Anblick fragte ich mich, an wie vielen anderen Krankheiten außer der Syphilis der Mann wohl noch leiden mochte. (Roald Dahl: Kuschelmuschel, S. 33)


Delius F.C.: Ein Held der ...

  Die Eltern lieferten Roland noch eine Schwester, die ihm immer unwichtig blieb, und als das Fernsehen zu kaufen war, entstand ein ruhiges Familienleben. Allmählich verlor auch die Mutter ihre Angst beim unerwarteten Klingeln, und Vater floh jeden Abend mit drei oder vier abgezählten Flaschen Bier zu den Bildern aus fremden Gegenden, zu den bewegten Blicken in größere Schicksale. Manchmal jammerte er um seinen in Afrika gebliebenen linken Arm, und weil ihm der Stumpf bei Regentagen mal weh tat, durfte er beim Fernsehen das ganze Jahr über auf dem Sofa liegen, die Kinder apportierten die Bierflaschen einzeln aus dem Kühlschrank. (F.C. Delius: Ein Held der inneren Sicherheit, S. 126)


Delius F.C.: Ein Held der inneren... [2]

  Er fühlte, wie etwas von ihm abblätterte. Wenn er weitergedacht hätte, dann hätte er vielleicht gemerkt, auf welchem Tiefpunkt er sich schon bequem eingerichtet hatte. Die Unruhe seiner Erfahrungslosigkeit trieb seine Gedanken nur unsystematisch weiter, und so blieb er, wo er schon lange sich eingerichtet hatte, im Kokon seiner Omnipotenz. Er merkte nur schwach, wie er gegen irgend etwas rebellierte, vielleicht nur gegen sich selber, und wie gern er etwas gegen jede Unruhe getan hätte, etwas ganz Eindeutiges, Unwiderrufliches, etwas, das keine weiteren Gedanken erforderte. (F.C. Delius: Ein Held der inneren Sicherheit, S. 145)


Delius F.C.: Adenauerplatz

  ...steigerte den Wunsch hin zu einer Spiegelreflex, ein Teleobjektiv mußte sein, lange Brennweiten, das Fernbild, die unbegrenzte Tiefenschärfe, ein Vergrößerungsapparat, der nie erfüllte Leica-Traum begann, gigantische Pubertätsphantasien hypertrophierender Fotozubehörsytseme, mit denen er der Wahrheit endlich auf die Schliche käme. (Friedrich Christian Delius: Adenauerplatz, S. 76)


Delius F.C.: Adenauerplatz [2]


  Das Gespräch war nicht zu Ende. Felipe spürte die Verwandtschaft zu dem alten Nachtwächter. Einmal im Krieg gewesen, und immer das Gefühl, es wird etwas passieren, wenn du schläfst. Es trieb ihn, Vogelsang etwas nachzurufen. Er wußte nicht was. Die Angst, solch ein Nachtmensch zu werden. Verrückt wie alle Nachtwächter, die sich eingraben in die Nacht, verlieben in die Nacht und nicht mehr zurechtfinden in der Helligkeit. Verrückt wie die umnachteten Kerle, die die Menschen sortieren in Straftäter, Vandalen oder Kontrolleure. (Friedrich Christian Delius: Adenauerplatz, S. 249)

Delius F.C.: Die Frau, für die ich...

  Das Jägerschnitzel wird systematisch verkannt und verleumdet, und Sie kennen mich ja ein bißchen, Sie haben meine Memoiren gelesen, das haben Sie jedenfalls behauptet. Dann verstehen Sie, daß einer, der selber verkannt und verleumdet wurde ungefähr dreißig Jahre lang, verkannt als Erfinder und verleumdet als Spinner, daß einer wie ich für das verkannte und verleumdete Jägerschnitzel eine bestimmte, sagen wir, verwandtschaftliche Vorliebe hegt... Scherz beiseite, aber eins steht fest: Wenn ich mit Geschäftspartnern essen gehe und was erreichen will, darf ich auf keinen Fall Jägerschnitzel bestellen oder gar Eisbein, dann hab ich verloren. Einmal Eisbein bestellt am Tisch mit feinen Leuten, das können Sie nie wieder gutmachen, das ist die einzige Sünde, die Ihnen nie wieder gutmachen, das ist die einzige Sünde, die Ihnen nie vergeben und vergessen wird bis ans Lebensende. Sie können wegen Korruption verurteilt werden, Sie können Ihrem schärfsten Konkurrenten die Frau ausspannen, Sie können IBM in die Hacken treten, alles wird verziehen, nur das Eisbein nicht... (F.C. Delius: Die Frau, für die ich den Computer erfand, S. 15)


Dickens, Charles: David Copperfield [1]

  Nachdem der Doktor oben gewesen und wieder heruntergekommen war und offenbar vermutete, daß er mit der unbekannten Dame einige Stunden würde zusammenbleiben müssen, bemühte er sich, höflich und gesellig zu erscheinen. Er war der sanfteste seines Geschlechts, der mildeste aller kleinen Männer. Er drückte sich beim Ein- und Ausgehen seitwärts durch die Türen, um möglichst wenig Raum einzunehmen. Er ging so leise wie der Geist des Hamlet, aber noch viel langsamer. Er trug den Kopf auf eine Seite geneigt, teils aus Bescheidenheit, teils aus Entgegenkommen. Es wäre zu wenig gesagt, daß er nicht einmal für einen Hund ein böses Wort gehabt hätte. Er hätte nicht einmal einem tollen Hund ein böses Wort sagen können. Höchstens ein sanftes oder ein halbes oder ein Bruchstück davon - denn er sprach so langsam, wie er ging-, aber er würde nicht grob gegen ihn gewesen sein. Nicht einmal ein rasches, nicht um alles in der Welt. (Charles Dickens: David Copperfield, S. 17)


Dickens, Charles: David Copperfield [2]

 In meinem Liebessiechtum schwand mein Appetit. Ich freute mich darüber, denn ich hätte es als Treulosigkeit gegen Dora aufgefaßt, Genuß an einem Mittagessen zu finden. Meine ausgedehnten Spaziergänge verfehlten die gewöhnliche Wirkung, da der Gram meiner Seele der frischen Luft entgegenwirkte. Ich habe auch meine Zweifel, die sich auf die damals erlangte drückende Erfahrung gründen, ob sich ein gesunder Appetit im Menschen entwickeln kann, wenn er beständig von zu engen Schuhen gepeinigt wird. (Charles Dickens: David Copperfield, S. 447)


Dickens, Charles: David Copperfield [3]

  Jedermann, der mit uns in Berührung kam, schien uns zu betrügen. Unser Eintritt in einen Laden gab das Signal, auf das alle verdorbenen Waren sogleich herbeigeschleppt wurden. Wenn wir einen Hummer kauften, war er voll Wasser. Unser Fleisch war immer zäh und auf dem Brot niemals Rinde. Um das Prinzip herauszufinden, nach dem eine Keule gebraten werden mußt, um gerade richtig gar zu sein, sah ich selbst im Kochbuch nach und fand dort eine Viertelstunde für jedes Pfund angegeben. Aber das Prinzip gelangte durch seltsames Mißgeschick niemals zur Anwendung, und niemals konnten wir den Mittelweg zwischen rohem Fleisch und Kohle treffen. (Charles Dickens: David Copperfield, S. 696)


Dickens, Charles: Bleakhaus [1]

  Er hat sie aus Liebe geheiratet. Man flüstert sich sogar zu, daß sie nicht einmal von "Familie" sei, aber Sir Leicester hatte für beide "Familie" genug, und sie besaß Schönheit, Stolz, Ehrgeiz, Arroganz und Verstand genug, um es mit einer ganzen Legion vornehmer Damen aufzunehmen. Reichtum und Rang, mit diesen Gaben vereint, setzten sie bald an die Spitze, und seit Jahren hat Lady Dedlock den Mittelpunkt der vornehmen Welt gebildet und in der Mode die Führung an sich gerissen. Daß Alexander der Große Tränen vergoß, als er keine Welten mehr zu erobern hatte, weiß jedermann oder sollte es wenigstens wissen, denn der Umstand wird häufig genug erwähnt. Als Lady Dedlock ihre Welt eroberte, verriet ihre Temperatur mehr den Gefrier- als den Schmelzpunkt. Eine erschöpfte Gelassenheit, eine müde Ruhe, ein gelangweilter Gleichmut, die sich weder durch Interesse noch durch Befriedigung stören ließen, waren ihre Sigestrophäen. Sie ist durch und durch vornehm. Wenn sie morgen in den Himmel versetzt werden sollte, würde sie fraglos ohne die mindeste Verzückung emporschweben. (Charles Dickens: Bleakhaus, S. 20f.)


Dickens, Charles: Bleakhaus [2]

  Das Meer weiß große Männer nicht zu würdigen und schüttelt sie herum wie unbedeutende Plebejer. Es pflegt stets hart auf Sir Leicester einzuwirken und auf seinem Gesicht grüne Flecken wie auf Salbeikäse hervorzubringen und in seiner aristokratischen Konstitutionen erschreckliche Revolutionen zu verursachen. Das Meer bedeutete für ihn das Radikale in der Natur. (Charles Dickens: Bleakhaus, S. 191)


Dickens, Charles: Bleakhaus [3]

  Sämtliche Dedlocks in direkter männlicher Linie haben während eines Zeitraumes, weit über Menschengedenken hinaus, die Gicht gehabt. Es läßt sich beweisen. Die Väter anderer Leute sind vielleicht an Rheumatismus gestorben oder haben sich an dem verdorbenen Blute des kranken Pöbels angesteckt, aber das Haus Dedlock hat dem nivellierenden Prozeß des Sterbens den Stempel des Exklusiven aufgedrückt, indem alle seine Mitglieder an ihrer eignen Familiengicht gestorben sind. Sie hat sich in dem illustren Geschlecht vererbt wie das Silber, die Gemälde oder die Besitzung in Lincolnshire. Sie zählt mit zu den Würden. (Charles Dickens: Bleakhaus, S. 266)


Dickens, Charles: Bleakhaus [4]

  "Aber dein Vater und ich waren Kompagnons, Bart", fährt der alte Herr fort, "und nach meinem Tode bekommen du und Judy alles. Es ist ein großes Glück für euch, daß ihr zeitig in die Lehre gegangen seid. Judy ins Blumengeschäft und du in die Kanzlei. Ihr werdet das Geld nicht anzugreifen brauchen. Ihr verdient euch auch so euren Lebensunterhalt und spart noch mehr dazu. Wenn ich tot bin, geht Judy wieder ins Blumengeschäft, und du bleibst in der Kanzlei." Nach Judys Aussehen könnte man eher auf eine Beschäftigung mit Dornen als mit Blumen schließen, aber sie ist frühzeitig in die Mysterien der Verfertigung künstlicher Blumen eingeweiht worden. Ein scharfer Beobachter hätte sowohl in ihrem als in ihres Bruders Auge, während ihr ehrwürdiger Großvater von seinem Tode sprach, ein klein wenig Ungeduld, wann er wohl sterben würde, und ein wenig Groll, daß es schon so lange dauere, entdecken können. (Charles Dickens: Bleakhaus, S. 353)


Dickens, Charles: Bleakhaus [5]

  Charley wird also hereingerufen und setzt sich unter einem heftigen Kreuzfeuer von Blicken zu ihrem Tee und einer druidischen Ruine von Butterbrot hin. Bei der Beaufsichtigung des Mädchens scheint Judy Smallweed ein wahrhaft geologisches Alter zu erreichen und auszusehen, als ob sie aus den fernsten Zeitepochen herstamme. Ihr System, mit oder ohne Anlaß über das Kind herzufallen, es auszuschimpfen, ist geradezu wunderbar und beweist eine Fertigkeit im Mißhandeln von Dienstboten, die selbst jahrhundertalte Übung nur selten verleiht. (Charles Dickens: Bleakhaus, S. 353)


Dickens, Charles: Bleakhaus [6]

  Mr. Chadband hat die übliche Kanzelpredigergewohnheit, ein Mitglied der Gemeinde zu fixieren und mit fettigem Wohlwollen seine Argumente insbesondere an diese Person zu richten. Von dem Angeredeteten wird in solchen Fällen gewöhnlich erwartet, daß er sich zu gelegentlichen Stöhnen, Seufzen, Ächzen oder andern hörbaren Äußerungen des Innelebens aufschwingt. Diese Äußerung der Seele pflegt dann von einer ältlichen Dame im nächsten Kirchenstuhl zumeist wiederholt zu werden, geht dann wie beim Pfänderspiel im Kreis der leichter gärbaren Sünder unter den Anwesenden herum, erfüllt den Zweck des parlamentarischen "Hört, hört!" und erhält den Prediger in Volldampf. (Charles Dickens: Bleakhaus, S. 429)


Dickens, Charles: Bleakhaus [7]

  Der Geburtstag seiner Alten (...) ist der größte Festtag und der am rötesten angestrichne Tag in Mr. Bagnets Kalender. Das glückliche Ereignis wird stets streng nach gewissen Normen gefeiert, die Mr. Bagnet schon vor einigen Jahren ein für allemal ausgearbeitet und festgelegt hat. Er ist fest überzeugt, daß ein paar Hühner auf dem Mittagstisch den Gipfelpunkt eines geradezu kaiserlichen Luxus bilden, und geht daher regelmäßig schon sehr zeitig an diesem Tag aus, um ein paar zu kaufen, wird ebenso regelmäßig von dem Geflügelhändler übers Ohr gehauen und ersteht jedesmal die beiden ältesten Hühner von ganz Europa. Dann bindet er diese Triumphe von Zähigkeit in ein reines, blauweiß gestreiftes Taschentuch - ein wesentliches Requisit der Feier-, kehrt nach Hause zurück und fordert Mrs. Bagnet beim Frühstück gelegentlich auf, zu sagen, was sie am liebsten zu Mittag essen würde. Durch ein unerklärliches Zusammentreffen, das noch niemals versagt hat, erwidert Mrs. Bagnet prompt: "Geflügel", worauf das Familienoberhaupt unter allgemeinem Staunen und Händezusammenschlagen das Bündel aus einem Versteck hervorzieht. Er verlangt ferner, daß die Alte den ganzen Tag lang nichts machen darf, als in ihrem Staatskleid zur Parade dazusitzen und sich von ihm und dem jungen Volk bedienen zu lassen. Da er wegen seiner Kochkunst keinen besondern Ruf genießt, so ist anzunehmen, daß diese Maßregel mehr Sache der Zeremonie ist, als daß sie einen Genuß für die Alte bildet. Aber trotzdem behält Mrs. Bagnet stets unentwegt die Miene großer Fröhlichkeit bei. (...) Mit Angstschweiß auf der Stirn sieht Mrs. Bagnet eines der Hühner am Feuer aufhören sich zu drehen und zu brennen anfangen. "Du sollst ein Essen haben, Alte" sagt Mr. Bagnet, "wie eine Königin." Mrs. Bagnet zeigt heiter ihre weißen Zähne, aber ihr Sohn nimmt eine so große seelische Beunruhigung an ihr wahr, daß ihn die Gebote der Kindesliebe zwingen, mit dem Auge zu fragen, was denn los sei, wobei er natürlich auf die Hühner noch viel weniger achtgibt als früher und auch die letzte Spur von Hoffnung, er könne zur Erkenntnis der Sachlage kommen, im Keime erstickt. Zum Glück entdeckt seine ältere Schwester die Ursache der Aufregung in Mrs. Bagnets Busen und erinnert ihn mit einem Rippenstoß an seine Pflicht. Die Hühner fangen an sich wieder zu drehen, und Mrs. Bagnet schließt, von der Wonne der Erleichterung überwältigt, die Augen. (Charles Dickens: Bleakhaus, S. 792f.)


Dickens, Charles: Bleakhaus [8]

  Da Miss Volumnia in ihrer Jugend ein hübsches Talent besaß, allerlei nette Ornamente aus bunten Papier auszuschneiden, zur Gitarre spanische Lieder zu singen und auf Herrschaftsitzen französische Wortspiele zum besten zu geben, so verbrachte sie die zwei Dezennien ihres Lebens zwischen dem zwanzigsten und vierzigsten auf eine hinreichend angenehme Art. Als sie dann aus der Mode kam und ihre spanischen Lieder der Menschheit langweilig wurden, zog sie sich nach Bath zurück, wo sie bescheiden von einem jährlichen Geschenk Sir Leicesters lebt und gelegentlich in den Herrschaftssitzen ihrer Vettern aufersteht. In Bath erfreut sie sich einer ausgedehnten Bekanntschaft unter entsetzlich alten Herrn mit dürren Beinen und Nankinghosen und nimmt in dieser öden Stadt eine hohe Stellung ein. Aber andernwärts fürchtet man sie ein wenig wegen einer gewissen indiskreten Verschwendung von roter Schminke und eines ewigen altmodischen Perlenhalsbandes, das ihr wie ein Rosenkranz aus kleinen Vogeleiern um den Hals hängt. (Charles Dickens: Bleakhaus, S. 466)


Dickens, Charles: Bleakhaus [9]

  Er fühle, daß er die Gesundheit um so höher schätze, wenn jemand anders krank sei, und sagte, er wisse durchaus nicht, ob er nicht im Schöpfungsplan läge, daß A. schielen müsse, um B. wegen seines eignen geraden Blickes glücklich zu machen, oder daß C. ein hölzernes Bein habe, um D. zufriedener mit seinem eignen aus Fleisch und Blut in einem seidnen Strumpf zu machen. (Charles Dickens: Bleakhaus, S. 619)


Dickens, Charles: Bleakhaus [10]

  Volumnia, die immer rosiger wird, je mehr die Zeit verrauscht, liest Sir Leicester an den langen Abenden vor und muß, um ihr Gähnen zu verbergen, ihre Zuflucht zu verschiedenen Kunstgriffen nehmen, deren vornehmster und wirksamster darin besteht, daß sie das Perlenhalsband zwischen ihre Blütenlippen nimmt. Hauptsächlich liest sie langatmige Abhandlungen über die Buffy-und-Boodle- Frage, die zeigen, daß Buffy ein unbefleckter Patriot und Boodle ein Schurke ist, und wie das Vaterland zugrunde gehen muß, wenn es nur für Boodle und nicht für Buffy stimmt, oder wie es gerettet werden kann, wenn es nur für Buffy und nicht für Boodle ist, wenn einer von den beiden muß es sein, und andre kommen nicht in Betracht. Sir Leicester ist es ziemlich gleich, was sie vorliest, und er scheint ihr nicht sehr aufmerksam zu folgen, aber doch wird er auf der Stelle munter, sowie sie wagt aufzuhören, und fragt, jedesmal mit sonorer Stimme ihr letztes Wort wiederholend, verdrießlich, ob sie müde sei. Volumnia ist nun aber bei Gelegenheit ihres vogelartigen Herumhüpfens und Anpickens von Papieren auf die Notiz einer sie betreffenden Testamentsklausel gestoßen (im Fall ihrem Verwandten "etwas passieren sollte"), und solche Chancen vor Augen als Entschädigung für einen langen Vorlesekurs, nimmt sie sogar den Kampf mit dem Drachen Langeweile auf. (Charles Dickens: Bleakhaus, S. 1024)


Dickens, Charles: Der Raritätenladen [1]

  ... wurde Herr Swiveller durch ein täuschendes Möbelstück unterstützt, das in Wirklichkeit eine Bettstatt, dem äußern Anscheine nach aber ein Bücherschrank war und eine so augenfällige Stellung in seinem Gemach einnahm, daß es allem Verdacht Hohn zu sprechen und die Untersuchung herauszufordern schien. Auch unterliegt es keinem Zweifel, daß Herr Swiveller bei Tage fest daran glaubte, dieses geheimnisvolle Dekorationsstück sei nichts anderes als ein Bücherschrank, und um keinen Preis sich eingestehen wollte, daß es ein Bett sei, fest entschlossen, das Vorhandensein von Leintüchern und Decken zu ignorieren und die Kissen absolut nicht zu kennen. Kein Wort über seinen wahren Zweck, kein Hinweis auf seinen nächtlichen Dienst, keine Anspielung auf seine besondern Eigentümlichkeiten waren je zwischen ihm und seinen intimsten Freunden gewechselt worden. Unbedingter Glaube an diese Täuschung war der erste Artikel seines Credos; um Herrn Swivellers Freund zu sein, mußte man alle Indizienbeweise, alle Vernunft, alle Beobachtung und alle Erfahrung verwerfen und sich einem blinden Glauben an den Bücherschrank hingeben. (Charles Dickens: Der Raritätenladen)


Dickens, Charles: Der Raritätenladen [2]

  Was für eine Hitze! Fragt jenen Knaben dort, dessen Sitz in der Nähe der Tür ihm Gelegenheit gibt, in den Garten hinauszuschlüpfen und seine Kameraden zum Wahnsinn zu treiben, indem sie zusehen müssen, wie er sein Gesicht in den Brunnentrog taucht und sich dann im Grase umherkugelt; fragt ihn, ob es je einen Tag gab wie diesen, an dem selbst die Bienen sich tief in die Blumenkelche versenkten und darin blieben, als hätten sie den festen Entschluß gefaßt, sich vom Geschäft zurückzuziehen und die Honigfabrikation aufzugeben. Der Tag war ganz dazu geschaffen, träge zu sein, auf dem Rücken im grünen Grase zu liegen und das Firmament anzustarren, bis man von der Helle gezwungen wird, die Augen zu schließen und einzuschlafen. Und das war eine Zeit, um über muffigen Büchern zu brüten? Und noch obendrein in einer düstern Stube, die sogar von der Sonne vernachlässigt wurde! Gräßlich! (Charles Dickens: Der Raritätenladen)


Dickens, Charles: Der Raritätenladen [3]

  Miß Sally Braß also war eine Dame von ungefähr fünfunddreißig Jahren, von hoher, knöcherner Gestalt und entschlossenem Auftreten, das, wenn es auch die sanfteren Regungen der Liebe zurückscheuchte und das Heer der Bewunderer fernhielt, jedenfalls ein Gefühl, das nahe an heilige Scheu grenzte, in der Brust jener männlichen Neulinge erweckte, die das Glück hatten, ihr nahe zu kommen. Ihr Gesicht hatte eine sprechende Ähnlichkeit mit dem ihres Bruders Sampson, ja die Ähnlichkeit zwischen beiden war so groß, daß es dem ältesten Freund der Familie schwergefallen sein würde, Sampson von Sally zu unterscheiden, falls es sich mit der jungfräulichen Bescheidenheit und der zarten Weiblichkeit der letzteren vertragen haben würde, in einer heitern Laune die Kleider ihres Bruders anzuziehen und sich neben ihn zu setzen; um so mehr, da sich auf der Oberlippe der Dame rötliche Andeutungen vorfanden, die man, wenn der Einbildungskraft durch die Veränderung der Kleidung nachgeholfen worden wäre, irrtümlicherweise recht wohl für einen Bart hätte halten können. Aller Wahrscheinlichkeit nach waren aber diese nichts weiter als Augenwimpern am unrechten Platze, da die Augen der Miß Braß derartiger Ungehörigkeiten der Natur vollständig entbehrten. (Charles Dickens: Der Raritätenladen)


Dickens, Charles: Der Raritätenladen [4]

  Das Wetter war nicht ganz so, wie man es liebt, wenn man in Sommerhäusern Tee trinken will, geschweige denn in Sommerhäusern, deren Verfall schon ziemlich vorgerückt ist und die zur Zeit der Ebbe einen Ausblick auf die schlammigen Ufer eines großen Flusses gewähren. Trotzdem aber ließ Herr Quilp in dieses auserlesene Winkelchen einen kalten Imbiß bringen, und unter seinem brüchigen und schadhaften Dache empfing er zur bestimmten Stunde Herrn Sampson und dessen Schwester Sally. "Sie lieben die Schönheiten der Natur", sagte Quilp mit einem Grinsen. "Ist dies nicht bezaubernd, Braß? Ist es nicht ungewöhnlich, unverdorben, einfach?" "Wirklich ganz entzückend, Sir!" versetzte der Rechtsgelehrte. "Kühl?" sagte Quilp. "Ni-nicht gerade besonders, glaube ich, Sir", entgegnete Braß, während ihm die Zähne im Munde klapperten. "Vielleicht ein bißchen feucht und sumpfluftig?" meinte Quilp. "Gerade feucht genug, um fröhlich zu sein", erwiderte Braß. "Nicht ärger, Sir, nicht ärger." "Und Sally?" sprach der entzückte Zwerg. "Wie behagts ihr?" "Es wird ihr besser behagen", versetzte diese starkgeistige Dame, "wenn sie Tee bekommen hat. Lassen Sie ihn also bringen und schwatzen Sie nicht!" (Charles Dickens: Der Raritätenladen)


Dinev, Dimitré: Ein Licht über dem Kopf [1]

  Polizeiinspektor Evlogi Ditschev hatte eine Seele, die verwüstet war. Zertreten von seiner Geliebten und angeödet von seiner Frau. Alles nur Staub und Asche in ihm. Und weil er damals, als die Liebe zu seiner Frau erloschen war, nicht gelitten hatte, litt er jetzt doppelt. Vera, eine Sängerin, deren Stimme ihn zum Beben und deren Unterwäsche ihn zum Beten brachte, liebte einen anderen. Insepektor Ditschev hatte Verdacht geschöpft, als ihm der Weg zu ihrem Bett, dem Ort der Offenbarungen und des Segens, immer öfter versperrt geblieben war. Er ließ sie beschatten, forschte nach, und seine Befürchtungen wurden bestätigt. Vera traf sich mit einem jungen, mittelmäßigen Dichter. Die Nacht, nachdem er diese schwindelerregende Nachricht erhalten hatte, begann früher als sonst. Sie begann in seinem Kopf, ging erst dann auf die Welt über und endete im Bett von Fräulein Sina. Eine Meisterin, wenn es darum ging, hereinbrechendes Dunkel in Licht zu verwandeln. "Ihre Samen waren heute sehr bitter, Herr General", sagte Fräulein Sina. Es war der Anfang einer bitteren Zeit für Inspektor Ditschev. (Dimitré Dinev: Ein Licht über dem Kopf)


Dinev, Dimitré: Ein Licht über dem Kopf [2]

  Sechs Monate nach der Hochzeit erblickte Lazarus die Welt. Er empfand sie als unheimlich und trostlos. Da ihm noch nie etwas Schlimmeres passiert war, begann er laut zu weinen. Dann wurde sein Mund an etwas Weiches gepreßt, sein Wesen von etwas Warmen erfüllt. Er brauchte seine Augen noch nicht. Für ihn waren Licht und Muttermilch das gleiche. Also trank er. Durch seinen zahnlosen Mund floß die Welt. Sie schmeckte ihm. Fürs erste reichte das, um ihn zu beruhigen. Lazarus' Vater arbeitete in der Kaserne einer Luftabwehrabteilung. Seine Kunst beschränkte sich auf Soldatenköpfe, Unteroffiziersnacken und Offizierschnurrbärte. Besondere Aufmerksamkeit widmete er dem Schnurrbart von Major Sverev. (Ein jähzorniger Mann, der, immer wenn er nachts Streit mit seiner Frau hatte, in die Kaserne kam, um die Alarmbereitschaft der Abteilung zu überprüfen. Nur beim Anblick laufender Soldaten konnte er sich entspannen. So aber wußten die Soldaten nie genau, ob er sich tatsächlich um einen Luftalarm handelte oder ob Major Sverevs Frau ihrem Mann wieder einmal den Beischlaf verweigert hatte.) (Dimitré Dinev: Ein Licht über dem Kopf, S. 59f.)


Dinev, Dimitré: Ein Licht über dem Kopf [3]

  Von Bistra hörte er, daß sie in Varna einen Reiseführer geheiratet hatte, der drei Fremdsprachen perfekt beherrschte und dadurch problemlos mit den drei Kindern aus seinen drei früheren Ehen telefonieren konnte. Bistra erwartete ein Kind von ihm, mit dem er dann endlich auch Bulgarisch sprechen konnte. Bistra war also berufen, den Traum eines Polyglotten zu vollenden. (Dimitré Dinev: Ein Licht über dem Kopf, S. 67)


Dinev, Dimitré: Ein Licht über dem Kopf [4]

  Seine zukünftige Frau Nedelka lernte er bei einer Erste-Mai- Manifestation kennen. Es war der Tag der Arbeit, der Tag, an dem sich jeder Proletarier freuen sollte. Wie immer mußten die Arbeiter in perfekt geordneten Reihen mit Klassenbewußtsein und festem Lächeln aufmarschieren. Es hatte aber so stark geschüttet, als ob Gott sich rächen wollte, daß man alles ohne ihn geplant hatte, daß man ihn gar nicht mehr brauchte. Doch was konnte Gott schon anrichten. Er war für das Wetter zuständig und es regnete. Die Parteisekretäre waren für die Ordnung der Reihen und das Klassenbewußtsein zuständig, und die Reihen blieben perfekt, und das Lächeln der Arbeiter fest wie Beton. Gott war für die Ewigkeit, das Licht und den Regen da, das Proletariat für die Freude. Also freute sich das Proletariat und kümmerte sich weder um Gott, noch um die strengen Blicke der Parteisekretäre. Denn was gab es Schöneres für die Arbeiter, seit der Erschaffung der Welt, als einen arbeitsfreien Tag. (Dimitré Dinev: Ein Licht über dem Kopf, S. 68)


Dinev, Dimitré: Ein Licht über dem Kopf [5]

  Das Glück hatte den langen Umweg von Bulgarien über Jugoslawien und Ungarn nach Österreich gebraucht, um zum Einwandererherz von Nikodim Stawrev zu finden. Der Tod dagegen wählte einen kürzeren. Er erschien kurz nach der Mittagspause bei der Baufirma Pokorny, sah sich die schlechten Arbeits- und Sicherheitsbedingungen an, suchte sich den lustigen Arbeiter aus, kitzelte ihn so lange am Kopf, bis dieser seinen Helm abnahm, um sich dort zu kratzen, ließ einen Kübel Mörtel vom Gerüst auf ihn herunterfallen und unterbrach sein Leben im einundvierzigsten Jahr. Nikodim hatte noch den Geschmack von Extrawurstsemmeln im Mund, als er die Welt verließ, um die längste Mittagspause zu genießen, bevor er vor dem größten aller Baumeister erscheinen sollte. Sein ganzes Leben hatte Nikodim gescherzt. Deswegen nahm Pavlina die Nachricht von seinem Tod anfangs nicht ernst. Sie glaubte es nicht einmal, als sie ihn im Krankenhaus frisch gekämmt und reglos daliegen sah. Sie sagte nur zu dem Arzt: "Gleich wird er auferstehen", und begann die Leiche zu ohrfeigen. "Das ist nicht lustig", schrie sie Nikodims Leiche an, bis man sie mit vereinten Kräften wegzerrte. "Wer wird mich jetzt zum Lachen bringen", dachte sie noch, bevor sie ohnmächtig wurde. (Dimitré Dinev: Ein Licht über dem Kopf, S. 172)


Dinev, Dimitré: Ein Licht über dem Kopf [6]

  Sein Vater, erinnerte sich Wlado, sei auch so blöd gestorben. Er habe nur den grauen Star gehabt, und den wollte er entfernen lassen. Er sei ins Spital gegangen und habe zuversichtlich auf die Operation gewartet. Gut. Aber an diesem Tag hätten die Ärzte ein ganz neues Lasergerät bekommen. Sie hätten es gerade ausgepackt, bewundert, hier und da gedrückt und dann ein Versuchsobjekt gebraucht. Sie hätten einen Blick ins Krankenzimmer geworfen, und wer sei da zufällig gelegen, sein Vater natürlich. Den grauen Star hätten sie zwar entfernt, aber der Strahl habe auch irgend etwas in seinem Gehirn beschädigt. Nun habe sein Vater zwar alles gut gesehen, aber dafür kein Familienmitglied mehr erkannt. Ihn, Wlado, zum Beispiel, habe er wegen seiner Postuniform für einen Schaffner gehalten und dauernd gefragt, wann der Zug endlich in Burgas ankommen werde. Zwei Monate später sei er in fröhlicher Wirrnis gestorben.. Bora erzählte seinerseits von drei Freunden aus seinem Heimatdorf in Serbien, die ein Schwein schlachten wollten. Sie hätten es aber humander erledigen wollen und anstelle eines Messers hätten sie ein Stromschlaggerät benutzt. Was da genau passiert sei, wisse niemand, aber am Ende seien alle tot gewesen, außer dem Schwein. Es habe in der Nähe gewühlt und gegrunzt. Das habe man davon, wenn man neue Technologien benutze und nicht der Tradition vertraue. (Dimitré Dinev: Ein Licht über dem Kopf, S. 176f.)


Dinev, Dimitré: Ein Licht über dem Kopf [7]

  "Ein Prachtkerl war er! Und erst sein Schnurrbarrt! Schaut wie fesch der ist. So einen hab ich mir immer gewünscht", sagte Josef und zeigte mit einem Pfefferoni auf die Leiche. "Und das alles sollen jetzt die Würmer fressen, die keine Ahnung haben, was schön und was unschön ist. Ich hab Würmer immer gehaßt, und ihn habe ich geliebt, sehr geliebt. Für ihn hätt' ich sogar eine Niere gespendet, wenn er sie gebraucht hätte. Das mein' ich ernst." Josef klopfte sich dorthin, wo er glaubte, daß sich seine Niere befand. "Ich will ihm einen Kuß geben." Er erhob sich, strich zuerst dem Toten über den Kopf und gab ihm einen Kuß. "Hab nichts Falsches gemacht, oder?" fragte er anschließend. "Keineswegs. Man kann alles tun, was der Verstorbene auch gerne getan hätte", meldete sich Zeko. "Schaut, seine Schubänder sind nicht gebunden. Ich bin' sie gleich. "Nein. Die sollen offen bleiben! Keine gebundenen Schuhe, keine geschlossenen Gürtelschnallen. Sonst bleibt seine Seele hier hängen", erklärte Zeko. "Na so was", kratzte sich Josef am Kopf und versuchte, jene Zentren in seinem Hirn zu aktivieren, die für solche unentwirrbaren Angelegenheiten zuständig waren. "Eine heikle Sache, diese Seele", stellte er fest. Virgil nickte zustimmend. "Er hat auch seinen Hochzeitsanzug an", fuhr Zeko mit seiner Aufklärung fort, "damit ihn später seine Frau im Jenseits erkennt." "Gut, daß du mir das sagst. Ich werd' noch morgen mein Hochzeitsgewand verbrennen", jauchzte Josef. Alle lachten und ihre Augen füllten sich mit Tränen, als ob der Rauch von Josefs verbranntem Hochzeitsanzug sie schon reizte. (Dimitré Dinev: Ein Licht über dem Kopf, S. 178)


Dische, Irene: Großmama packt aus

  Schon mit sechszehn und dann ihr Leben lang fehlten Renate gewisse Hemmungen, die den weiblichen Teil der Menschheit vor Selbstzerstörung schützen sollen. Das zeigte sich in ihrem Münchner Unterschlupf. Unsere größte Sorge war natürlich, jemand könnte herausbekommen, was mit ihr los war. Nicht reinrassig. Jede Mitschülerin, die davon erfuhr, würde es vor lauter Schreck sofort weitererzählen. Nur die Schulleiterin wußte Bescheid, und nachdem sie einmal beschlossen hatte, Renate aufzunehmen, konnte sie die Wahrheit nicht mehr preisgeben, sonst würde sie ihre Stelle verlieren. Deshalb hatte Renate im Unterschied zu den anderen Schülerinnen ein Zimmer für sich allein. Erklären ließ sich das mit ihrer Unordentlichkeit. Denn kaum hatte Renate ein neues Kleid angezogen, da verwandelte es sich in ein Knäuel aus Falten und Knittern. Einen Tag, nachdem sie ein Zimmer bezogen hatte, sah es dort aus wie auf einem Schlachtfeld. Ihr Haar sträubte sich gegen Einzäunungen jeder Art. Ihr Bett blieb ungemacht. Das Durcheinander war ihr Element. Andererseits besaß sie einen klaren, methodischen Verstand - und den brauchte sie auch, um den Überblick über ihre Lügen nicht zu verlieren. (Irene Dische: Großmama packt aus, S. 57)


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