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Allgemeine Fundstücke / [C]
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"Zeit war für ihn kein Problem, er hatte viele
Methoden, sie sich zu vertreiben - in den Spiegel
gucken war eine davon. Dick hatte einmal zu ihm
gesagt: "Jedesmal, wenn du einen Spiegel siehst,
dann verfällst du in Trance, Mensch. Als ob du da
einen Walfisch oder war weißich anglotzt. Mein Gott,
wird dir das denn nie über?" Nein, das wurde ihm
nicht über, er konnte sich nicht sattsehen an seinem
eigenen Gesicht. Von jedem Blickwinkel aus wirkte es
anders. Es war das Gesicht eines Menschen mit
vielschichtigem, schwankendem Charakter, und vor
dem Spiegel hatte er gelernt, seinen Ausdruck je nach
Laune dutzendfach zu verändern, mal düster
dreinzuschauen, mal pfiffig, und dann wieder
seelenvoll. Ein Neigen des Kopfes, ein zartes
Anheben der Lippen, und schon wurde aus dem
verkommenen Zigeuner ein zartbesaiteter
Romantiker. (Truman Capote: Kaltblütig, S. 23)
Jolene war noch nie mit Nancys "seltsamer" Mutter
allein gewesen, aber trotz allem, was sie über sie
gehört hatte, fühlte sie sich jetzt in ihrer Gegenwart
wohl, denn Mrs. Clutter, obwohl selbst alles andere
als entspannt, wirkte auf andere beruhigend, wie das
oft bei wehrlosen Menschen der Fall ist, einfach weil
man sich nicht von ihnen bedroht fühlt. Und so
erweckten Mrs. Clutter herzförmiges
Missionarinnengesicht und die ätherische Hilflosigkeit
ihres Blickes selbst in Jolene, einem sehr kindlichen
Geschöpf, ein fast mütterliches Mitgefühl. (Truman
Capote: Kaltblütig, S. 32)
Der Malermeister Durrer (...) sieht aus wie Jack Nicholson und
spricht wie ein Dorfpfarrer. Sein Aussehen, das auf Frauen
erstaunlich anziehend wirkt, führt er auf genetisches Glück zurück;
seine geistliche Aura, die auf Frauen erstaunlich abschreckend
wirkt, auf die berufliche Routine. Jeder Flachmaler, sagt der
Durrer, starrt Tag für Tag weiße Wände an und führt Stunde um Stunde
einschläfernd monotone Bewegungen aus, was einer Art
unbeabsichtigter Meditation gleichkommt und in Kombination mit der
Allgegenwart hochprozentiger Lösungsmittel eine gleichsam
buddhistische Gemütsverfassung bewirkt. (Alex Capus: Das Leben ist
gut)
Nun waren Eisenbahntoiletten vor vierzig Jahren noch keine
wohlduftend warmen, hermetisch geschlossenen Wohlfühloasen aus
pastellfarbenem Kunststoff, sondern stinkende, ratternde und
dröhnende Zellen aus rostigem Panzerstahlblech, die durch zahlreiche
Ritzen und Fugen rege mit dem Fahrtwind und der winterlichen
Außenwelt kommunizierten, so dass man zwischen der Milchglasscheibe
und dem Seifenspender, der eine Art Kaffeemühle für steinharte
Kernseife war, jeden Augenblick Schneefall erwarten musste.
(Alex Capus: Das Leben ist gut)
Das sind die Tage ihrer Unzurechnungsfähigkeit, an denen ihr Gang
nicht zu meinem passen will, zu ihrem aber auch nicht. (...)
Manchmal geht sie mir so sehr auf die Nerven, dass ich vergesse, wie
schön die guten Zeiten sind. Dann möchte ich das Ehebett in Brand
stecken oder mit dem Vorschlaghammer die Küche zertrümmern. Um das
nicht zu machen, nehme ich mein Rennrad aus dem Schuppen und fahre
ein paar Stunden übers Land. Während der ersten Kilometer zische ich
krude Flüche und Schimpfwörter in den Fahrtwind. Dann gehe ich dazu
über, klinische Bezeichnungen für verhaltensgestörte weibliche
Paarhufer zu erfinden, sage sie halblaut vor mich hin und ergötze
mich an ihrem Wohlklang. Anorektische Kleekuh mit posttraumatischer
Belastungsstörung. Narzisstisch gekränktes Milchkalb mit
Aufmerksamkeitsdefizit und evangelisch verkorkster Libido.
Autoerotische Bergziege mit analfixierten Allmachtsphantasien.
Paranoides Wollschaf mit dissozialer Persönlichkeitsstörung.
Höhnisch grinse ich in die Welt hinaus. Mein Rad fliegt, die
Landschaft ist mir untertan. (...) Auf dem Rückweg stimmt mich dann
jeweils schon die Vorstellung milder, dass Tina – falls noch ein
Rest Wahrheitsliebe in ihrer Seele glimmt – nicht anders können
wird, als mir in sämtlichen Punkten bedingungslos zuzustimmen und
mich wenn nicht gar um Verzeihung, so doch mindestens um Milde zu
bitten. Die verbleibende Zeit der Heimfahrt verwende ich darauf, die
Kraft meines Vortrags noch zu erhöhen, indem ich ihn weiter straffe,
bis nur noch ein hochverdichtetes Konzentrat, die eigentliche Essenz
meiner Tirade, übrig bleibt. Diese besteht meist aus der
Umschreibung eines verhaltensgestörten weiblichen Paarhufers, wobei
ich das Medizinerlatein nach Möglichkeit durch
allgemeinverständliche Wörter ersetze, bis nur noch eine klassische
Beschimpfung von allergrößter Verständlichkeit und Ausdruckskraft
übrig bleibt. "Du dumme Kuh!", zum Beispiel.
(Alex Capus: Das Leben ist gut)
Wenn ein Dozent oder Kommilitone sie mit Bildung und Eloquenz
beeindruckte, erwies er sich in kürzester Zeit als weibischer
Ränkeschmied, der um des akademischen Fortkommens willen jede
Wahrheit zu opfern bereit war. In den Kneipen und Straßenbahnen fand
sie weinerliche Muttersöhnchen, hölzerne Grobiane und erbsenhirnige
Schönlinge vor, und im Yachtclub, dem sie wegen ihrer Leidenschaft
fürs Segeln beitrat, wimmelte es von schwächlichen Muskelprotzen und
einfältigen Prahlhansen. Die Geburtstagspartys, Diplomfeiern und
Hochzeiten, an denen sie teilnahm, waren bevölkert von
gemeingefährlichen Soziopathen und missgestalteten Gnomen, und wenn
ihr doch einmal einer über den Weg lief, der wirklich gut aussah und
sich benehmen konnte, hatte er mit Sicherheit eine Katzenallergie
oder trank heimlich Karottensaft aus einer mitgebrachten
Plastikflasche. (Alex Capus: Das Leben ist gut)
Während ich ihr jede amüsante Klatschgeschichte aus meiner Familie
erzählte, die mir einfiel, saß sie verkrümmt und doch kraftvoll in
ihren farbenfrohen Gewändern vor mir. Sie sah stark aus und
gebrochen, großherzig und tyrannisch, eine humorvolle und ziemlich
boshafte alte Frau, die das Leben für seine Rückschläge haßte und
für seine Kapriolen liebte. Ich erinnerte mich wieder an ihr
zorniges Lachen und daran, wie sie jeden Schicksalschlag, jeden
Kummer mit diesem trockenen, triumphierenden Glucken aufgenommen
hatte, das zu sagen schien: "Aha, ein weiterer Beweis für die
abscheuliche Ungerechtigkeit, die Gott in dieser Welt zuläßt!"
(Willa Cather: Mein ärgster Feind)
Der Choleriker. Ist gallig und im Gesicht gelblich-
grau. Die Nase ein wenig schief, die Augen rollen in
den Höhlen wie Wölfe in einem zu engen Käfig. Reizbar.
Wegen eines Flohbisses oder Nadelstiches ist er bereit,
die ganze Welt in Fetzen zu reißen. Wenn er spricht,
versprüht er Speichel und zeigt seine dunkelbraunen
oder sehr weißen Zähne. Ist zutiefst davon überzeugt,
daß es im Winter "weiß der Teufel wie kalt" ist, im
Sommer "weiß der Teufel wie heiß"... Wechselt
wöchentlich die Köchin. Fühlt sich beim Essen
miserabel, denn immer ist alles zu lange gebraten,
versalzen... Größtenteils Junggeselle, ist er jedoch
verheiratet, hält er seine Frau unter Verschluß und
sperrt sie ein. Eifersüchtig wie der Teufel. Versteht
keinen Spaß. Kann dauernd etwas nicht ausstehen.
Zeitungen liest er nur, um auf die Journalisten zu
schimpfen. War schon im Mutterleib davon überzeugt, daß
alle Zeitungen lügen. Als Ehemann und Freund ist er
unmöglich; als Untergebener - kaum denkbar; als
Vorgesetzter - unerträglich und unerwünscht. Nicht
selten ist er, leider, Pädagoge. Er unterrichtet
Mathematik und Griechisch. In einem Raum mit ihm zu
schlafen rate ich nicht; er hustet die ganze Nacht,
spuckt in die Gegend und flucht laut über Flöhe. Hört
er nachts den Gesang von Katzen und Hähnen, räuspert er
sich und schickt mir klirrender Stimme den Diener aufs
Dach, um den Sänger einzufangen und, koste es, was es
wolle, zu erwürgen. Stirbt an Schwindsucht oder
Lebererkrankungen. Die Cholerikerin ist ein Teufel im
Rock, ein Krokodil. (Anton Cechov: Die Temperamente)
Jungfer Podzytylkina ist darin bemerkenswert, daß sie in
nichts bemerkenswert ist. Verstand hat nie ein Mensch an
ihr beobachtet, über ihn deshalb - kein Wort. Ihr Aussehen
ist das allergewöhnlichste: die Nase von Papa, das Kinn von
Mama, Katzenaugen, mittelmäßiger Busen. Klavier spielen
kann sie, aber nur ohne Noten; sie hilft Mama in der Küche,
geht nie ohne Korsett, Fastenöl verträgt sie nicht, in der
geistigen Durchdringung des Buchstabens "ß" sieht sie
Anfang und Ende aller Weisheit, und über alles auf der Welt
liebt sie stattliche Männer und den Vornamen "Roland".
(Anton Cechov: Das Leben in Fragen und Ausrufen.
Humoresken und Satiren 1880-1884, S. 28)
Wenn ich die Zunge eines Patienten untersuche, erinnert
mich das an meine Frau, und diese Erinnerung verursacht
mir Herzklopfen. Recht hatte der Philosoph, der sagte:
Lingua est hostis hominum amicusque diaboli et feminorum"
An demselben Fehler leidet auch mater feminae - meine
Schwiegermutter (aus der Gattung der Mammalia). Und
wenn beide 23 Stunden am Tag schreien, leide ich an einer
Disposition zu Geistesverwirrung und Selbstmord. Nach
Zeugnis meiner verehrten Kollegen leiden neun Zehntel der
Frauen an einer Krankheit, die Charcot Hyperaesthesie des
Sprechzentrum genannt hat. Charcot empfiehlt die
Amputation der Zunge. Mit dieser Operation verspricht er,
die Menschheit von einer der schrecklichsten Krankheiten zu
erlösen, aber - oweh! - Billroth, der diese Operation
wiederholt durchgeführt hat, sagt in seinen klassischen
Memoiren, die Frauen hätten nach der Operation schnell
gelernt, mit den Fingern zu sprechen, und auf diese Weise
die Wirkung der Rede auf die Ehemänner nur noch
verschlimmert: sie hypnotisierten ihre Männer. Ich empfehle
eine andere Behandlung. Ohne die von Charcot empfohlene
Amputation der Zunge zu verwerfen und im Vertrauen auf
die Worte einer Autorität wie Billroth, empfehle ich, die
Amputation der Zunge zu kombinieren mit dem Tragen von
Fäustlingen. Meine Beobachtungen haben gezeigt, daß
Taubstumme, die Fäustlinge mit nur einem Daumen tragen,
sprachlos sind und bleiben, selbst wenn sie Hunger haben.
(Anton Cechov: Das Leben in Fragen und Ausrufen.
Humoresken und Satiren 1880-1884, S. 142f.)
Das Männchen in dem dünnen Hasenpelz hatte schreckliche
Ähnlichkeit mit Ivan Kapitonyc, einem meiner
Kanzleischreiber... Ivan Kapitonyc ist ein kleines, getretenes,
platt gedrücktes Wesen, das nur lebt, um fallengelassene
Taschentücher aufzuheben und an Feiertagen zu gratulieren.
Er ist jung, aber sein Rücken ist gekrümmt wie ein Bogen,
die Knie sind ewig gebeugt, die Hände verfleckt und immer
an der Hosennaht... Sein Gesicht sieht aus wie von einer Tür
eingeklemmt oder mit einem nassen Lappen geschlagen. Es
ist sauer und erbärmlich; wenn man hineinsieht, möchte
man die "Lucinuska" singen und sich der Schwermut
ergeben. Bei meinem Anblick fängt er an zu zittern, wird
blaß und rot, als ob ich ihn fressen oder erstechen wollte,
und wenn ich an ihn anpfeife, überläuft es ihn kalt und
schüttelt ihn an allen Gliedern. Ich kenne keinen
unterwürfigeren, schweigsameren und unbedeutenderen
Menschen als ihn. Ich kenne nicht einmal Tiere, die stiller
wären als er. (Anton Cechov: Das Leben in Fragen und
Ausrufen. Humoresken und Satiren 1880-1884, S. 146f.)
"Es hat bei uns keinerlei gesellschaftliche Strömungen
gegeben, und es gibt auch keine", rief der Doktor
laut. "Was da die neue Literatur nicht alles erfindet!
Sie hat sich sogar ausgedacht, es gäbe in den Dörfern
intelligente Arbeiter, doch schauen Sie sich einmal in
unseren Dörfern um - Sie werden höchstens einen
Faulenzer im Jackett oder im schwarzen Rock finden,
der bei dem Wörtchen 'noch' vier Rechtschreibfehler
macht. Ein kultiviertes Leben hat bei uns noch nicht
angefangen. Es herrscht die gleiche Grausamkeit, die
gleiche Kriecherei und die gleiche Gewissenlosigkeit
wie vor fünfhundert Jahren. Strömungen,
Anschauungen - ja, natürlich, doch sie sind so seicht,
so miserabel und so eng mit gemeinen materiellen
Interessen verknüpft, daß wohl kaum jemand etwas
Ernstes dahinter vermuten dürfte! Wenn Sie glauben,
eine tiefe gesellschaftliche Strömung gefunden zu
haben, und Sie nun, dieser folgend, ihr Leben solchen
dem heutigen Geschmack entsprechenden Aufgaben
widmen wie der Befreiung der Insekten von der
Sklaverei oder dem Verzicht auf den Genuß von
Rinderkoteletts - dann gratuliere ich Ihnen, meine
Gnädigste!" (Anton Cechov: Drei Jahre. Mein Leben, S.
169)
Die Feldarbeit macht mir keinen Spaß. Ich verstand
nichts von Landwirtschaft und mochte sie nicht,
vielleicht kam das daher, weil meine Vorfahren keine
Bauern waren und in meinen Adern reines Städterblut
floß. Die Natur liebte ich innig, ich liebte auch die
Felder, Wiesen und Gärten, doch der Bauer, der mit
seinem Holzflug die Erde zerfurchte, seinen dürren
Klepper antrieb, zerlumpt und durchnäßt war und den
Kopf vorstreckte, war für mich der Inbegriff einer
rohen, wilden, unschönen Kraft, und wenn ich seine
schwerfälligen Bewegungen sah, dachte ich jedesmal
unwillkürlich an jenes längst vergangene, legendäre
Zeitalter, in dem die Menschen noch nichts vom
Gebrauch des Feuers gewußt hatten. (Anton Cechov:
Drei Jahre. Mein Leben, S. 188)
Als zweiter Gang wurde Spinat mit hartgekochten
Eiern gereicht; Nadezda Fedorovna bekam als Kranke
Fruchtspeise mit Milch. Als sie mit sorgenvollem
Gesicht zuerst die Speise mit dem Löffel berührte,
dann träge zu essen begann und er ihr Schlucken
hörte, als sie die Milch dazu trank, packte ihn ein so
wilder Haß, daß ihm sogar der Kopf zu jucken anfing.
Er war sich bewußt, daß ein solches Gefühl sogar für
einen Hund kränkend gewesen wäre, aber er ärgerte
sich nicht über sich selbst, sondern über Nadezda
Fedorovna, weil sie dieses Gefühl in ihm geweckt
hatte, und er konnte nun verstehen, weshalb
Liebhaber manchmal ihre Geliebten umbrachten.
Selbst hätte er natürlich nicht gemordet, aber wenn
er jetzt hätte Geschworener sein müssen, er hätte
den Mörder freigesprochen. (Anton Cechov: Das Duell)
Die Erde war zur Hölle geworden. Die Nachmittagssonne
brannte so unbarmherzig, daß sogar der im Arbeitszimmer
des Steuereinnehmers hängende Reaumur in Verwirrung
geriet: Er stieg bis auf 35,8 Grad und blieb dann
unschlüssig stehen... Die Einwohner waren
schweißbedeckt, wie abgehetzte Pferde, der Schweiß
trocknete ihnen am Leibe; man war zu faul, ihn
abzuwischen. (Anton Cechov: Ein unbedeutender Mensch.
Erzählungen 1883-1885, S. 137)
Er war bartlos, hatte große starre Augen, eine
breitgedrückte Nase und derart struppiges Haar, daß man
bei seinem Anblick den Wunsch verspürte, sich damit die
Stiefel zu putzen... Sein Gesicht war so glücklich
konstruiert, daß man, wenn man es nur einmal anblickte,
schon alles wußte: nämlich, daß er ein Trinker, ein
Baßsänger und dumm war, aber wiederum nicht so dumm,
daß er sich nicht für einen sehr klugen Menschen hielt.
(Anton Cechov: Ein unbedeutender Mensch. Erzählungen
1883-1885, S. 155)
Der Verteidiger hat seinen Lockenkopf in die Faust
gestützt und döst vor sich hin. Unter dem Einfluß des
Summens des Sekretärs haben seine Gedanken jegliche
Ordnung verloren und schweifen umher. Was doch dieser
Gerichtsdiener für eine lange Nase hat, denkt er und
blinzelt mit den schwer gewordenen Lidern. Das bringt
auch nur die Natur fertig, ein kluges Gesicht so zu
verpfuschen! Wenn alle Menschen so zwei, drei Sazen
lange Nasen hätten, dann wäre es gewiß zu eng um das
Leben, und die Häuser müßten geräumiger werden...
(Anton Cechov: Ein unbedeutender Mensch. Erzählungen
1883-1885, S. 311)
Auf der Oberlippe sprossen die ersten Ansätze eines echten
Männerschnurrbarts, während das Kinnbärtchen zu jener Sorte
völlig untauglicher Bärte gehörte, die bei den Seminaristen aus
irgendeinem Grund Kitzelbart heißen: es war dünn und sehr
schütter, solche Bärte lassen sich weder glätten noch kämmen, man
kann sie nur zure chtzupfen... Diese spärliche Vegetation war
dazu noch ungleichmäßig verteilt, in kleinen Büscheln, es sah
aus, als habe sich Vater Jakov als Geistlicher maskieren wollen
und als habe er beim Ankleben des Bartes mitten in der Arbeit
aufhören müssen. (Anton Cechov: Gespräch eines Betrunkenen mit
einem nüchternen Teufel. Erzählungen)
Mit Augen voller Tränen schaut sie auf sein verwildertes Haar,
betrachtet es mit Wehmut und Entzücken. Und verwildert ist Egor
Savviv bis zur Häßlichkeit, der ähnelt fast einem Tier. Seine
Haare reichen bis zu den Schultern, der Bart wächst ihm am Halse,
aus den Nasenlöchern und aus den Ohren, seine Augen sind unter
dichten, buschigen Brauen versteckt. Sie sind so dicht, so
verwildert, daß eine Fliege oder Schabe, die in diese Haare
geriete, bis ans Ende der Zeiten nicht wieder aus diesem Urwald
herausfände. (Anton Cechov: Gespräch eines Betrunkenen mit einem
nüchternen Teufel. Erzählungen)
Zapojkin besaß, wie vielen Lesern bekannt ist, das seltene
Talent, aus dem Stegreif Hochzeits-, Jubiläums- und Leichenreden
zu halten. Er kann sprechen, wann immer es verlangt wird: noch im
Schlaf, auf nüchternen Magen, völlig betrunken oder im Fieber.
Seine Rede fließt glatt, gleichmäßig und ununterbrochen dahin wie
das Wasser aus einer Leitungsröhre. In seinem rednerischen
Wortschatz gibt es bedeutend mehr Klagewörter als in einer
beliebigen Kneipe Küchenschaben. Er spricht immer schön und
lange, so daß man manchmal, besonders bei Kaufmannshochzeiten,
die Polizei in Anspruch nehmen muß, um ihn zum Schweigen zu
bringen. (Anton Cechov: Gespräch eines Betrunkenen mit einem
nüchternen Teufel. Erzählungen)
Es war ein niedriger Leuchter aus alter Bronze, eine kunstvolle
Arbeit. Er stellte eine Gruppe dar: auf einem Sockel standen zwei
weibliche Figuren im Evakostüm und in einer Pose, zu deren
Beschreibung ich weder kühn genug bin noch das entsprechende
Temperament besitzte. Die Figuren lächelten kokett und sahen
überhaupt aus, als würden sie, wären sie nicht verpflichtet
gewesen, den Leuchter zu halten, von dem Sockel herunterspringen
und in dem Zimmer eine solche Orgie veranstalten, daß es schon
unanständig ist, lieber Leser, daran auch nur zu denken. (Anton
Cechov: Gespräch eines Betrunkenen mit einem nüchternen Teufel.
Erzählungen)
Ich brauchte nur mit den Augen zu zwinkern, mit den Sporen zu
klirren und meinen Schnurrbart zu drehen - und die sprödeste
Schöne verwandelte sich in ein folgsames Lämmchen. Ich war hinter
den Frauen her wie eine Spinne hinter den Fliegen, und wenn ich
jetzt anfinge, meine Damen, Ihnen all die Polinnen und Jüdinnen
aufzuzählen, die seinerzeit an meinem Halse hingen, so würde, das
darf ich versichern, das Zahlensystem der Mathematik dafür nicht
ausreichen. (Anton Cechov: Gespräch eines Betrunkenen mit einem
nüchternen Teufel. Erzählungen)
Don Jaime ist ganz sicher ein ehrlicher Mensch, nur
hat er eben kein Glück, keine glückliche Hand bei
Geldgeschäften. Ein ausgesprochener Liebhaber von
Arbeit ist er allerdings auch nicht. Aber er hat wirklich
kein Glück. Andere, die ebensolche Müßiggänger sind
wie er oder sogar noch ärgere, ergattern durch
glückliche Zufälle einige tausend Duros, können ihre
Wechsel zahlen und stolzieren nun umher, rauchen
teuren Tabak und fahren den lieben, langen Tag im
Taxi umher. Don Jaime ist es nicht so ergangen, ganz
im Gegenteil. Er sucht nun nach einem Wink des
Schicksals, findet ihn aber nicht. Er hätte sich in jede
Arbeit gestürzt, in die erste beste. Aber es bot sich
gar nichts an, was der Mühe wert gewesen wäre. Und
so verbrachte er seine Tage im Kaffeehaus, den Kopf
an die samtene Rückenlehne des Sofas gebettet.
(Camilio Jose Cela: Der Bienenkorb, S. 8)
"Hör mal, Roque, gestern war mit deiner lieben
Schwägerin aber schlecht Kirschen essen!" Don Roque
macht eine wegwerfende Handbewegung, als ginge
ihn das gar nichts mehr an. "Die ist immer so. Ich
glaube, die ist schon mit schlechter Laune zur Welt
gekommen. Meine Schwägerin ist ein Scheusal.
Wenn's nicht wegen der Mädels wär', ich hätte längst
das Tischtuch zwischen uns zerschnitten. Aber was
will man machen? Geduld, Geduld... Diese dicken,
halb versoffenen Tanten werden meist nicht alt."
(Camilio Jose Cela: Der Bienenkorb, S. 103)
Rabelais ist ein sehr gefährlicher Papagei, ein sehr
frecher, ein entarteter Papagei, ohne Grundsätze,
einer, an dem Hopfen und Malz verloren ist. im
besten Fall ist er eine Zeitlang etwas zahmer und
sagt "Schokolade" oder "Portugal" oder andere Worte,
die alle anständigen Papageien sagen können. Da er
aber völlig verantwortungslos ist, so schreit er, wenn
man es am wenigsten erwartet, los und kreischt die
ordinärsten und sündhaftesten Worte heraus mit
seiner brüchigen Stimme wie eine alte Jungfer. Und
am liebsten immer, wenn seine Herrin einen
wichtigen Besuch hat. (Camilio Jose Cela: Der
Bienenkorb, S. 142)
Don Jose Sierra macht ein merkwürdiges Geräusch im
Hals, ein Geräusch, das sowohl "ja" als "nein"
bedeuten kann oder auch "vielleicht" oder "wer weiß".
Don Jose ist ein Mann, der nun mal seine Frau
ertragen muß und es fertig gebracht hat, ganze
Stunden, ja manchmal ganze Tage lang nichts weiter
zu sagen als "Mm" und nach einer Weile wieder "Mm"
und so fort. Das ist eine sehr diskrete Art, seiner Frau
verstehen zu geben, daß sie eine dumme Gans ist,
ohne es ihr direkt zu sagen. (Camilio Jose Cela: Der
Bienenkorb, S. 161)
So zwischen halb zwei und zwei schließt sich die
Nacht über dem seltsamen Herzen der Stadt.
Tausende von Männern schlafen in dem Armen von
Frauen, ohne ans Geld zu denken, an den grausamen
Tag, der sie vielleicht in wenigen Stunden wieder
erwartet, auf sie lauert wie ein Bergkatze. Hundert
und aber hundert Junggesellen verfallen dem intimen,
dem empfindsamen, dem delikaten Laster der
Einsamen. Und ein paar Dutzend junger Mädchen
liegen voller Erwartungen da - ja um Gottes willen,
was erwarten sie eigentlich? - warum werden sie nur
so betrogen? - den Kopf voller goldener Träume.
(Camilio Jose Cela: Der Bienenkorb, S. 200)
Schüchtern und voller Bedenken fragen ihn manche
Patienten nach Sulfonamidenpräparaten. Stest rät
ihnen Don Francisco beinah unfreundlich davon ab.
Don Francisco pflichtet nur sehr unwilligen Herzens
dem Fortschritt der pharmazeutischen Forschung bei.
"Es wird noch der Tag kommen", denkt er, "an dem
wir Ärzte völlig überflüssig geworden sind, wo die
Apotheker Listen von allen Medikamenten haben und
die Kranken sie sich selbst verschreiben können."
Wenn man Don Francisco zum Beispiel nach den
Sulfonamidenpräparaten fragt, so pflegt er zu
antworten. "Machen Sie, was Sie wollen. Aber
kommen Sie nicht mehr zu mir. ich übernehme nicht
die Verantwortung, die Gesundheit eines Menschen zu
überwachen, der sich freiwllig das Blut verdirbt."
(Camilio Jose Cela: Der Bienenkorb, S. 214)
Sie war an die zwanzig, klein und schnuckelig
ziseliert, sah aber ganz so aus, als ob sie einiges
verkraften könnte. Sie trug blaßblaue Hosen und sah
gut darin aus. Sie ging, als ob sie schwebte. Sie
hatte hübsches lohfarbenes Haar, das viel kürzer
geschnitten war, als es die derzeitige Mode mit ihren
eingerollten Pagenkopffransen verlangte. Ihre Augen
waren schiefergrau und fast völlig ausdruckslos, als
sie mich ansahen. Sie kam auf mich zu und lächelte
mit dem Mund und hatte kleine scharfe
Raubtierzähne, weiß wie frisches Orangenmark und
schimmernd wie Porzellan. Sie blitzten zwischen
dünnen, gestrafften Lippen Ihr Gesicht war fahl und
wirkte nicht sehr gesund. "Sind Sie aber groß", sagte
sie. "Ich hab's mir nicht ausgesucht." Ihre Augen
kullerten. Sie war verdutzt. Sie dachte nach. Ich
merkte schon nach dieser kurzen Bekanntschaft, daß
sie mit dem Denken ihre liebe Not hatte. (Raymond
Chandler: Der große Schlaf, S. 6)
Es begann alles an einem Herbstnachmittag - und wer
kann, nach all diesen Jahrhunderten, noch die
Stimmung eines Herbsttages beschreiben? Man kann
so tun, als hätte man zuvor noch keinen erlebt oder,
was dann schon besser ist, als sei kein anderer wie
dieser eine. Die klaren und tastenden Sonnenstrahlen
auf den Rasenflächen warfen ein Licht, schöner als
jedes andere in diesem Jahr. Irgendwo wurde Laub
verbrannt, und der Rauch roch durch seinen Gebalt an
Ammoniak wie der Anfang aller Welt. Wie ein
Trommelfell spannte sich der grenzenlose blaue
Himmel über den Zenit. (John Cheever: Der
Schwimmer. Stories, S. 46)
Mr. Flannagan stellte Zungenspatel aus Plastik her. Er
bereiste die ganze Welt. Sie jedoch war nur ungern
unterwegs. Flugzeuge machten sie krank, und in
Tokio, wo sie im letzten Sommer gewesen waren,
hatte man ihr rohen Fisch zum Frühstück vorgesetzt,
und daraufhin war sie sofort nach Hause
zurückgekehrt. Sie und ihr Mann hatten früher in New
York gelebt, wo sie auch viele Bekannte hatte, aber
Mr. Flannagan war der Meinung, daß es Falle eines
Krieges auf dem Lande sicherer war. Ihr wäre es
lieber gewesen, in Gefahr zu leben, als vor
Einsamkeit und Langeweile zu sterben. (John
Cheever: Der Schwimmer. Stories, S. 50)
Die Firma war patriarchalisch organisiert, das heißt,
der Alte halste einem eine Sache auf und beorderte
einen dann zur nächsten, und er steckte seine Nase
in jeden Dreck - auch in die Fabrik in Jersey und in
den im Bau befindlichen Veredlungsbetrieb in
Nashville - und tat so, als hätte er die ganze Firma
während eines Nickerchens so ganz nebenbei aus
dem Ärmel geschüttelt. Ich ging dem Alten aus dem
Wege, wo ich konnte, und tat in seiner Gegenwart,
als hätte er mich höchsteigenhändig aus einem
Klumpen Lehm geschaffen und mir den Atem des
Lebens eingehaucht. Er gehörte zu der Art von
Despoten, die ein Aushängeschild brauchen, und das
war Gil Bucknams Aufgabe. Er war die rechte Hand
des Alten, sein Aushängeschild und sein
Friedensstifter und konnte jeden Geschäftsabschluß
mit der Menschlichkeit verbrämen, die dem Alten
abging. (John Cheever: Der Schwimmer. Stories, S.
72)
Meine Nachbarn sind zwar reich, aber in diesem Fall
bedeutet Reichtum Muße, und sie machen weisen
Gebrauch von ihrer Zeit. Sie reisen um die Welt,
hören gute Musik, und wenn sie auf dem Flugplatz
unter den dort ausliegenden Taschenbüchern ihre
Wahl treffen, so suchen sie sich Thukydides aus und
manchmal auch einen Thomas von Aquin. Trotz der
dringenden Empfehlung, Luftschutzbunker zu bauen,
pflanzen sie Bäume und Rosen, und ihre Gärten sind
prächtig und bunt. (John Cheever: Der Schwimmer.
Stories, S. 82)
Was mich erschreckte, war eher das Gefühl, nur noch
von Dieben und Spekulanten umgeben zu sein, seit
ich selbst ein Dieb geworden war. Mein linkes Auge
hatte wieder angefangen zu zucken, und die
Unfähigkeit der einen Hälfte meines Ich, sich gegen
die Vorwürfe zu behaupten, mit denen sie von der
andern Hälfte überhäuft wurde, ließ mich verzweifelt
nach jemand anders Ausschau halten, dem ich die
Schuld in die Schuhe schieben konnte. Ich hatte oft
genug in der Zeitung gelesen, daß eine Scheidung
manchmal zu Verbrechen führt. Meine Eltern hatten
sich scheiden lassen, als ich ungefähr fünf war. Das
war ein guter Anhaltspunkt und brachte mich schnell
auf noch bessere Gedanken. (John Cheever: Der
Schwimmer. Stories, S. 86)
Man könnte sagen, daß Mrs. Trencher eine
unscheinbare Frau ist, aber ihre Unscheinbarkeit ist
schwer im einzelnen zu beschreiben. Sie ist klein, hat
eine gute Figur und gleichmäßige Gesichtszüge, und
ich möchte eher annehmen, daß der Eindruck der
Unscheinbarkeit von innerer Anspruchslosigkeit
herrührt, von irgendeiner ungerechtfertigt niedrigen
Einschätzung ihrer Chancen. Dr. Trencher raucht und
trinkt nicht, und ich weiß nicht, ob da ein
Zusammenhang besteht oder nicht, aber sein
schmales Gesicht wirkt frisch - seine Wangen sind
rosig, und der Blick seiner blauen Augen ist klar und
scharf. Er trägt den einzigartigen Optimismus des
erfolgreichen Arztes zur Schau - die Überzeugung, daß
der Tod nichts als ein zufälliges Mißgeschick und die
physische Welt nur ein Betätigungsfeld für
wissenschaftlichen Eroberungsdrang sei. So
unscheinbar seine Frau wirkt, so jung wirkt er. (John
Cheever: Der Schwimmer. Stories, S. 123f.)
Jetzt kam mir der Ernst der Lage zum erstenmal
wirklich zu Bewußtsein, denn ich merkte, daß seine
Hilflosigkeit einer unberechenbaren und gar nicht zu
unterschätzenden Neigung entgegenkam, die Ethel
mit vielen andern Frauen gemeinsam hat - die
Unfähigkeit, sich einem Hilferuf von irgendeiner Seite
zu versagen, wenn er nur erbärmlich genug klingt. Es
ist keine Neigung, die dem Verstand zugänglich wäre,
und ich hätte es beinahe lieber gesehen, wenn sie ihn
begehrt hätte, statt ihn zu bemitleiden. (John
Cheever: Der Schwimmer. Stories, S. 128)
Chester sah seine Frau nicht an, aber allein ihre
Gegenwart wirkte schon wohltuend und ermutigend
auf ihn, denn er war davon überzeugt, daß sie eine
außergewöhnliche Frau war. Er fand, daß ihren
Kochkünsten etwas Geniales anhaftete, ihre
Haushaltsführung den Stempel des Genies trug, sie
ein geniales Gedächtnis hatte und daß ihre Fähigkeit,
die Welt so zu nehmen, wie sie nun mal war, durch
und durch genial war. Sie hatte Maiskuchen zum
Frühstück gemacht, und er aß sie mit einer
Hochachtung, die an Ehrfurcht grenzte. Es war für ihn
eine feststehende Tatsache, daß niemand auf der
Welt so gut Maiskuchen backen konnte wie seine Frau
und daß in Manhattan an diesem Morgen niemand
außer ihr auch nur den Versuch gemacht hätte. (John
Cheever: Der Schwimmer. Stories, S. 207)
Es wäre unfair gewesen, Ralph und Laura Whittemore
als typische und unverbesserliche Schatzsucher
hinzustellen, aber man konnte guten Gewissens
behaupten, daß der Glanz, der Geruch, die ganze
eigentümliche und verheißungsvolle Kraft des Geldes
einen ungünstigen Einfluß auf ihr Leben ausübten. Sie
waren immer auf der Schwelle zum Erfolg, sie
schienen immer ein Eisen im Feuer zu haben. Ralph
war ein gutaussehender junger Mann mit
unerschöpflicher kaufmännischer Phantasie und einem
unerschütterlichen Glauben an das Magische und
Abenteurliche des geschäftlichen Erfolgs, und wenn er
nur einen obskuren Job bei einem Textilfabrikanten
innehatte, so sah er darin doch nie etwas anderes als
eine Übergangslösung. (John Cheever: Marcie Flints
Schwierigkeiten,. Stories, S. 91)
Julia und Francis Weed gingen viel aus. Julia war
gesellig und beliebt, und ihre Begeisterung für Parties
entsprang einer sehr natürlichen Furcht von
verworrenen Verhältnissen und Einsamkeit. Sie sah
morgens ihre Post mit echter Besorgnis durch, stets
auf Einladungen hoffend, und gewöhnlich waren auch
welche dabei, aber sie war unersättlich, und wenn sie
an sieben Abenden der Woche ausging, änderte das
nichts an ihrem nachdenklichen Blick, dem Blick eines
Menschen, der in der Ferne Musik hört, denn sie
argwöhnte immer, daß an einem anderen Ort eine
glanzvollere Party stattfand. (John Cheever: Marcie
Flints Schwierigkeiten,. Stories, S. 188)
Das Zimmer war glänzend sauber und still, und durch
die Fenster, die nach Westen gingen, drang ein
letzter Rest Spätsommer-Sonneschein herein,
strahlend und klar wie Wasser. Nichts war hier
vernachlässigt, nichts war nicht poliert. Es war nicht
die Art von Haushalt, in dem man in einer
klemmenden Zigarettendose, nachdem man sie
mühsam geöffnet hat, einen alten Hemdenknopf und
ein angelaufendes Fünfcentstück findet. (John
Cheever: Marcie Flints Schwierigkeiten,. Stories, S.
182)
Ein neues Mädchen reichte die Getränke herum. Sie
hatte dunkles Haar, und ihr Gesicht war rund und blaß
und kam Francis bekannt vor. Sein
Erinnerungsvermögen war im allgemeinen nicht von
Gefühlswerten bestimmt. Der Rauch eines Holzfeuers,
Flieder und ähnliche Düfte reizten ihn nicht. Sein
Erinnerungsvermögen war so etwas wie sein
Blinddarm: ein verkümmertes Organ. Unfähigkeit, vor
der Vergangenheit zu flüchten, war nicht sein
Problem; eher vielleicht, daß ihm dies nur zu gut
gelang. Er mochte das Mädchen auf anderen Parties
gesehen zu haben oder Sonntag nachmittags auf
einem Spaziergang, aber weder in dem einen noch in
dem anderen Fall würde er jetzt sein Gedächtnis
durchforschen. Ihr Gesicht war auf wundervolle Weise
rund wie der Mond, ein normannisches oder irisches
Gesicht, aber es war nicht schön genug, um sein
Gefühl zu erklären, er habe sie schon einmal
gesehen, unter Umständen, an die er sich eigentlich
erinnern sollte. (John Cheever: Marcie Flints
Schwierigkeiten, Stories, S. 188)
Er erwartete, Mrs. Henlein zu sehen, die alte Dame,
die sonst immer bei den Kindern blieb, und er war
überrascht, als ein junges Mädchen für Tür öffnete
und auf den beleuchteten Vorplatz trat. Sie blieb im
Licht stehen, um ihre Lehrbücher zu zählen. Sie
krauste die Stirn. Sie war schön. Nun ist die Welt
zwar voller schöner junger Mädchen, aber hier
erblickte Francis den Unterschied zwischen Schönheit
und Vollkommenheit. All jene liebenswerten
Hautunreinheiten, Leberflecken, Muttermale und
verheilten Narben - es gab sie nicht. Es war für ihn
eine Empfindung wie jener Augenblick, in dem Musik
Glas zerspringen läßt, ein plötzliches
Wiedererkennen, so ungewöhnlich und tief und
wunderbar wie nur irgend etwas in seinem Leben. Es
ging von ihrer gekrausten Stirn aus, von einer kaum
spürbaren Dunkelheit in ihrem Gesicht - ein Ausdruck,
der ihn traf wie ein direktes Flehen um Liebe. (John
Cheever: Marcie Flints Schwierigkeiten,. Stories, S.
191)
Mrs. Trencham war erst vor kurzem übergetreten - sie
hatte bisher zu den Unitariern gehört -, und sie war
mehr als stolz auf ihre rasche Auffassungsgabe, wenn
es um Responsorien und Kniefälle ging. Sie war
kampflustig. Kaum erklang die Stimme des Priesters
im Vestarium, da war sie schon auf den Beinen und
schmetterte mit feierlicher und volltönender Stimme
ihre 'Amen' und ihre 'Erbarme dich unser', wobei sie
der übrigen Gemeinde stets weit voraus war, als sei
dies eine Art kirchlicher Wettlauf. Ihre Verneigungen
waren tief und graziös, ihr Kredo und ihr
Sündenbekenntnis stimmten auf den Buchstaben
genau, ihr 'Lamm Gottes' war gefühlvoll, und wenn
irgend jemand ihr Konkurrenz machte, wie es
gelegentlich der Fall war, bekreuzigte sie sich ein
paarmal mehr, um damit ihr überlegene Frömmigkeit
zu beweisen. Mrs. Trecham blieb immer Siegerin.
(John Cheever: Die Bürger von Bullet Park, S. 19)
Sie mußte einmal sehr hübsch gewesen sein und
würde wahrscheinlich nie die Überlegenheit einbüßen,
die dieser Glücksfall ihr verliehen hatten, als sie noch
jünger war. Sein Gesicht war unbedeutend, anständig
und freundlich. Ohne den freundlichen Ausdruck hätte
es vielleicht banal ausgesehen. Beide sprachen die
Responsorien mit klarer Stimme. In ihrer Anmut und
Lieblichkeit, dachte Nailles, gehört sie zu jenen
Frauen, die sich in dem außergewöhnlichen und
visionären Stand der heiligen Ehe zu sonnen
scheinen. Kummer und Sorgen haben kein einziges
Fältchen auf ihrem Gesicht hinterlassen. Sie wird in
allen ihren Rollen brillieren - eifrig, klug, verständig,
liebevoll. Es ist, als wäre die Ehe für Frauen wie sie
erfunden worden. Ja, sie und ihresgleichen hätten
sogar bei der Erfindung der Ehe die hand im Spiel
haben können. Was den Mann betraf, so hätte ein
weniger wohlwollender Kritiker, als Nailles es war, in
ihm einen jener Menschen gesehen, bei denen man
auf dem Gipfel ihrer Vollendung entdeckt, daß sie von
den ihnen anvertrauten Geldern zwei Millionen Dollar
veruntreut haben, um die Befriedigung ihrer
ungezügelten und unatürlichen sexuellen Triebe und
die damit verbundene Erpressung zu finazieren.
Derselbe Kritiker hätte die Frau als gelangweilt und
rachsüchtig bezeichnet, als eine heimlich
Sherrytrinkerin, die nachts davon träumt, in einem
Männerharem wilde Orgien zu feiern. Aber in Nailles'
Augen waren die beiden an diesem regnerischen
Morgen unangreifbar. Ihre Ehe, Leidenschaft und
Intelligenz waren echt. Ihr Leben würde nicht frei von
Gefahren sein, aber sie würden ihren Enttäuschungen
und ihren Erfolgen mit einem unveränderlichen
Einsatz von gesundem Menschenverstand begegnen.
(John Cheever: Die Bürger von Bullet Park, S. 20f.)
Nellie war in der Küche. Sie briet Speck, und er küßte
und umarmte sie leidenschaftlich. Nailles liebte
Nellie. Wenn irgend etwas sein ureigenes Schicksal
war, dann seine Liebe zu Nellie. Sollte sie vor ihm
sterben, so würde er sich vielleicht in die Flammen
ihres Scheiterhaufens stürzen, um mit ihr zu
verbrennen - auf den Gedanken, daß Nellie sterben
könnte, war er allerdings noch nie verfallen. Er hielt
sie für unsterblich. Die Intensität seiner Monogamie,
die Unbedingtheit seines Glaubenes an die Heiligkeit
der Ehe wurde von erstaunlich vielen Leuten für
morbid, anormal und pervers gehalten. Im Lauf der
Zeit hätte er so manche Frau haben können, aber
wenn eine Geschiedene, eine Witwe oder eine
abenteuerlustige Hausfrau ihn feurig attackierte,
nahm sein männliches Glied eine peinlich
desinteressierte Haltung an. (John Cheever: Die
Bürger von Bullet Park, S. 19)
Die Ridleys waren ein Paar, das der geheiligten
Institution der Ehe eine ausgesprochene
kommerzielle Note gab, als wären Heirat und
Empfängnis, Erziehung der Kinder und ihre Ausbildung
so etwas wie die fabrikmäßige Herstellung und der
Verkauf eines nützlichen, in Konkurrenz mit anderen
Firmen produzierten Artikes. Sie waren nicht George
und Helen Ridley. Sie waren "die Ridleys". Man konnte
glauben, sie einen Geschäftspartner und verkauften
über den Ladentisch größere und kleinere Anteile an
ihrem Schicksal. (John Cheever: Die Bürger von Bullet
Park, S. 103)
Mit Nailles verhielt es sich so , daß er Männer
verachtete, die sich vor Frauen fürchteten. Er war mit
einem Freund aufgewachsen, der an dieser
schrecklichen Schwäche litt. Sein Name war Harry
Pile, und er hatte sich zeit seines Lebens vor Frauen
gefürchtet. Die erste war natürlich seine Mutter - eine
große, vollbusige, unbeherrschte Frau, die mit
wiedersprüchlichen Befehlen um sich warf, ihren Mann
seelisch zermürbte und ihren einzigen Sohn mit einem
knorrigen Spazierstock verdrosch. (John Cheever: Die
Bürger von Bullet Park, S. 104)
Ihr Blick war verhangen und lüstern. Sie hob das
Gesicht, um sich küssen zu lassen, er knüpfte die
Bänder ihres Nachthemds auf, so daß es ihr bis zur
Taille glitt, und sie zog seinen Kopf herunter, damit
er ihre Brüste begrüßte. Dann durchquerte sie nackt und
ohne Scheu das Zimmer und ging ins Bad, um ihre
Toilette zu beenden, und Moses lauschte dem Plätschern
des Wassers und dem Öffnen und Schließen der
Schubladen, wohl wissend, daß ein verständiger
Liebhaber Verzögerungen dieser besonderen Art zu
schätzen wissen sollte. Als sie zurückkam, von einem
Glorienschein umgeben, wie ihm schien, schaltete sie
auf ihrem Weg die Lampen aus, und als er im
Morgengrauen ihren zarten Hintern streichelte und dem
Krächzen der Krähen lauschte, sagte sie, er müsse jetzt
gehen. (John Cheever: Die Geschichte der Wapshots, S.
272)
Dann kam die an ihrem Rednerpult stehende Mrs. Wapshot,
eine Frau von vierzig Jahren, deren zarte Haut und
klaren Gesichtszüge ebenfalls ihrem Organisationstalent
zuzurechnen waren. Sie war schön, doch als sie an dem
Glas Wasser auf ihrem Rednerpult nippte, lächelte sie
traurig, als schmecke es bitter, denn trotz ihres
staatsbürgerlichen Eifers hatte sie einen
ungewöhnlichen Hang zur Schwermut - zu dem Geruch von
Orangenschalen und Holzfeuern. Sie wurde eher von den
Frauen als von den Männern bewundert, und ihre
Schönheit rührte vielleicht von Ernüchterung her
(Leander hatte sie betrogen), doch sie hatte alle
Mittel ihres Geschlechts gegen seine Untreue ins Feld
geführt und war dafür mit einer solchen Aura gekränkter
Würde und leuchtender Schönheit belohnt worden, daß
einige ihrer Anhängerinnen beim Vorbeifahren des Wagens
unwillkürlich seufzten, als sähen sie in ihrem Gesicht
ein ganzes Leben vorüberziehen. (John Cheever: Die
Geschichte der Wapshots, S. 12)
Vermutlich redeten die Damen über ihn, und er brauchte
sich nur ans Fenster zu stellen und zu lauschen. "Er
ist am hellichten Tag auf Gull Rock aufgelaufen", sagte
Mrs. Gates, als sie den Weg zum Steg hinunterging.
"Theophilus glaubt, er war betrunken." Was für ein
zartes Wesen ist doch ein Mann. Auch wenn er ständig
schwadroniert oder sich zwischen den Beinen kratzt,
kann schon ein Tuscheln seine Seele in Asche
verwandeln. (John Cheever: Die Geschichte der Wapshots,
S. 251)
Die Jungen gingen mit ihrer Mutter um elf in die
Kirche, und Coverly warf sich inbrünstig auf die Knie,
doch er war noch nicht halb mit seinem ersten Gebet
fertig, als das Parfüm der vor ihm sitzenden Frau all
seine Selbstkasteiung zunichte machte und ihm
offenbarte, daß das Gebäude der Christ Church keine
gewaltige Festung war, denn obwohl der Küster die
Eichentüren geschlossen hatte und die einzigen Fenster
so klein waren, daß nicht einmal ein Kind
hindurchschlüpfen konnte, ging der Teufel nach Coverlys
Vorstellung in der Kirche ein und aus, hockte sich ihm
auf die Schulter und drängte ihn, in den Ausschnitt von
Mrs. Harpers Kleid zu spähen, die Fesseln der Dame vor
ihm zu bewundern und zu überlegen, ob an den Gerüchten
über den Pfarrer und den Chorknaben mit der
Sopranstimme etwas dran war. Seine Mutter stieß ihn mit
den Ellbogen an, als es Zeit fürs Abendmahl war, doch
er sah sie nur mit bleichem Gesicht an und schüttelte
den Kopf. Die Predigt war ermüdend, und Coverly
Gedanken drehten sich unaufhörlich um den Text eines
obszönen zweistrophigen Limmericks über einen Bischof.
(John Cheever: Die Geschichte der Wapshots, S. 84)
Vor ihm stand eine sehr unscheinbare Frau, deren Mantel
an den Schultern vom Regen dunkeln gefärbt war. Ihr
Gesicht war länglich, ihr Hut war keck mit steifen
weißen Federn geschmückt, wie man sie für Federbälle
benutzt, und ihr Mantel abgetragen. Leander glaubte,
von ihrem Schlag schon Hunderte gesehen zu haben. Sie
bestimmten das Bild Neuenglands. Sie waren
pflichtbewußt, fromm und robust und hatten ihr Wesen
anscheinend den Kräutern nachgebildet, die auf
Bergweiden wachsen. Nach diesen Frauen, dachte Leander,
werden die schmutzigen Boote der Makrelenfischerflotte
benannt: Alice, Esther, Agnes, Maybelle und Ruth. Daß
sie Federn am Hut und eine häßliche Brosche aus
Muscheln über der flachen Brust trug, daß an einer so
entmutigenden Gestalt überhaupt etwas Feminines,
Schmuckartiges zu sehen war, fand Leander rührend.(John
Cheever: Die Geschichte der Wapshots, S. 198)
Moses hörte dem General zu, doch der Gedanke, daß er
Melissa vögeln würde, hatte dem Tag einen anhaltenden,
freudigen Glanz verliehen, und daher konnte er nur mit
Mühe verhindern, daß seine Liebesglut in Ungeduld
umschlug, während er dem Loblied auf den verstorbenen
Millionär lauschte. Melissa war schön, eine Schönheit
jener Art, die sogar einen Ladenschwengel oder einen
Automechaniker mit erhabenen Gedanken erfüllt. Das
kräftige Goldbraun ihres Haars, ihre Schultern, ihr
Hals und die Augen, die aus dieser Entfernung schwarz
aussahen, übten auf Moses eine solche Anziehungskraft
aus, daß er Melissa in seinem Verlangen in den dunklen
Goldtönen erglänzen sah, die bei alten Gemälden durch
die vielen Firnisschichten entstehen. Er wäre froh
gewesen, wenn ihr ein kleines Mißgeschick passiert
wäre, denn die tiefe Anteilnahme, die wir empfinden,
wenn wir sehen, wie eine entzückende Frau - oder auch
eine Frau, an der nur noch ihre Absicht zu entzücken
uns entzückt - auf den eisernen Stufen eines Zugwagons
oder am Bordstein einer Straße stolpert, oder wenn wir
an einem regnerischen Tag sehen, wie die Papiertüte
aufplatzt, in der sie ihre Lebensmittel nach Hause
trägt, und die Orangen, der Sellerie, die Brote, der in
Zellophan gehüllte Aufschnitt um ihre Füße und in die
Pfützen auf dem Gehsteig purzeln - diese tiefe
Anteilnahme, die sich durch Verletzung oder Verlust
erklären ließe, verspürte Moses, ohne eine Erklärung
dafür zu haben. (John Cheever: Die Geschichte der
Wapshots, S. 269)
Professor Openshaw bekam jedesmal einen
Tobsuchtsanfall, wenn man ihn als Spiritisten
bezeichnete oder behauptete, daß er an Spiritismus
glaube. Aber damit nicht genug, er bekam auch einen
Tobsuchtsanfall, wenn man behauptete, daß er nicht
an Spiritismus glaube. Es war sein Stolz, daß er sein
ganzes Leben der Erforschung psychischer Phänomene
gewidmet hatte. Es war ferner sein Stolz, daß er nie
hatte durchblicken lassen, ob er sie wirklich für
psychisch oder bloß Phänomene hielt. Nichts freute
ihn mehr, als einem Kreis überzeugter Spiritisten zu
erzählen, wie er Medium auf Medium entlarvt und
Schwindel auf Schwindel entdeckt hatte. Tatsächlich
entwickelte er die Talente eines Detektivs, sobald er
sein Auge auf einen Gegenstand gerichtet hatte; und
auf so verdächtige Gegenstände wie Medien richtete
er sein Auge mit Vorliebe. (Gilbert Keith Chesterton:
Father Brown kann nicht glauben. Detektivgeschichten,
S. 60)
Chesterton, Gilbert Keith: Father Brown ... [2]
Auf dem Golfplatz, der parallel zum Strand und zum
Meer lag, die beide schon in Abenddämmerung gehüllt
waren, spielte ein junger Mann in Knickerbocker, mit
kühnem Profil, voller Eifer Golf gegen sich selbst. Er
schlug den Ball nicht wild vor sich her, sondern übte
offenbar ganz besondere Schläge, mit einer Art
mikroskopischer Besessenheit, wie ein netter und
wohlerzogener Wirbelwind. Er hatte schon viele Spiele
und Sportarten rasch erlernt, ja er hatte eine
Neigung, sie etwas rascher zu erlernen, als sie erlernt
werden können. Er war das geborene Opfer jener
Ankündigungen, die da versprechen, daß man
Violinspielen in sechs Lektionen und akzentfreies
Französisch auf brieflichem Wege erlernen könne. Die
optimistische Atmosphäre solcher Ankündigungen und
Versprechungen war so recht sein Lebenselement.
(Gilbert Keith Chesterton: Father Brown kann nicht
glauben. Detektivgeschichten, S. 78)
In Wirklichkeit ist das Alltagsleben dieses Herrn,
wie das Leben jedes beliebigen normalen Menschen der
Moderne, eine einzige kontinuierliche und
dichtgedrängte Folge von mystischem Getue und
Geklingel. Hier nur eines von bestimmt hundert
Beispielen: Ich vermute, daß Mr. Kensit von einer Dame
den Hut zieht; und was gibt es, abstrakt gesehen,
Steiferes und Abstruseres, als die Existenz des anderen
Geschlechts dadurch zu versinnbildlichen, daß man ein
Kleidungsstück auszieht und es durch die Luft schwenkt?
(Gilbert Keith Chesterton: Ketzer. Ein Plädoyer gegen
die Gleichgültigkeit, S. 213)
Was bedeuten die Jahre zwischen zwanzig und vierzig?
Man ist beschäftigt mit seinen Gefühlen, mit sich
selbst. Das muß so sein. Das ist das Leben. Aber später
verschieben sich die Akzente. Man denkt klarer, lernt
beobachten, andere Menschen verstehen und erhält
Einsichten in viele Zusammenhänge. Das Leben wird
wirklich - bedeutungsvoll. Man sieht es als ein Ganzes.
Nicht nur eine einzelne Szene, in der man gerade als
Schauspieler agiert. Kein Mensch ist wirklich er selbst
vor fünfundvierzig. Dann erst hat seine Individualität
eine Chance. (Agatha Christie: Paradies Pollensa)
Vor diesem Ereignis war der Richter Mierck für uns
einfach der Richter Mierck, und fertig. Er hatte seinen
Platz, er füllte ihn aus. Man mochte ihn nicht
besonders, doch man zollte ihm Respekt. Aber nach
dem, was er an diesem ersten Montag im Dezember
gesagt hatte, angesichts der durchnässten
sterblichen Überreste der Kleinen, und vor allem
danach, wie er es gesagt hatte, schneidend, leicht
spöttisch, mit lebhafter Freude darüber in den Augen,
endlich ein Verbrechen zu haben, und zwar ein
richtiges - denn daß es eines war, daran gab es
keinen Zweifel - in diesen Kriegszeiten, in denen alle
Mörder in Zivil Pause machten, um sich in Uniform
noch eifriger an die Arbeit zu begeben, nach dieser
Antwort also wandten sich alle wie ein Mann von ihm
ab und gedachten seiner nur noch mit Abscheu.
(Philippe Claudel: Die grauen Seelen, S. 18)
Der Richter schnappte, die Hände auf dem Rücken,
mit vollen Lungen nach Luft und wippte auf der
Stelle. Man wartete auf Victor Desharet, den Arzt aus
V. Aber der Richter hatte es nicht mehr eilig. Er genoß
Augenblick und Ort. Er versuchte, sich ihn tief ins
Gedächtnis einzuprägen, wo es bereits viele
Verbrechensgemälde und Mordlandschaften gab. Das
war sein persönliches Museum, und ich bin sicher ,
daß ihm, wenn er hindurchging, wohlige Schauer über
den Rücken liefen, die denen der Mörder in nichts
nachstanden. Die Grenze zwischen Wild und Jäger ist
schmal. (Philippe Claudel: Die grauen Seelen, S. 22)
Der Sommer kündigte sich in den Gartenlauben
ebenso heiß an wie in den Schädeln vieler Patrioten,
die man wie ein robustes Uhrwerk aufgezogen hatte.
Überall reckte man Fäuste und pflegte schmerzliche
Erinnerungen. Auch bei uns schließen manche
Wunden sich schlecht, vor allem solche, die sich
während langer Abende haßerfüllten Grübelns immer
neu entzünden. Aus Eigenliebe und Dummheit war ein
ganzes Land bereit, einem anderen an die Gurgel zu
gehen. Die Väter drängten ihre Söhne. Die Söhne
drängten ihre Väter. Nur die Frauen - Mütter,
Gattinnen oder Schwestern - beobachteten das
Geschehen mit Sorge um kommendes Leid im Herzen
und einer Klarsichtigkeit, die sie weit entfernt hielt
von diesen mit Hurrageschrei erfüllten, weinseligen
Nachmittagen und den vaterländischen Liedern a la
Paul Deroulede, die damals ohrenbetäubend aus
dem Laubwerk der Kastanienbäume widerhallten.
(Philippe Claudel: Die grauen Seelen, S. 43)
Befragte man Marcel Crouche, den Briefträger, der es
nie schaffte, seine Runde zu beenden, wegen der
vielen anderen Runden mit Wein, Schnaps, Kaffee mit
Rum, Pernod oder Wermut, die er nie ausschlug.
Gegen Ende des Vormittags endete er an der Wand
des Waschhauses, hockte dort, gab politischen Unfug
von sich, schnarchte bald wie ein Bär und hielt die
Briefträgertasche fest an sich gedrückt. (Philippe
Claudel: Die grauen Seelen, S. 91)
Dann unterhielten wir uns, wie wir es noch nie getan
hatten. Wir sprachen über Blumen, das war seine
Leidenschaft, "der schönste Beweis der Existenz
Gottes, falls einer nötig wäre", sagte er. Wir sprachen
über Blumen, in diesem Zimmer, während es um uns
herum Nacht war und Krieg. (...) Seitdem habe ich oft
daran gedacht, was der Pfarrer über die Blumen, Gott
und dessen Beweis gesagt hatte. Ich habe gedacht,
daß es wahrscheinlich Orte auf der Welt gibt, an die
Gott nie auch nur einen Fuß setzt. (Philippe Claudel:
Die grauen Seelen, S. 14/148)
Er sah mich an, lächelnd, mit diesem Pfarrerblick, von
dem ich gesprochen habe, der in unser Innerstes
dringt und uns die Seele herausreißt, wie man mit
einer zweizinkigen Gabel die gekochte Schnecke aus
ihrem Haus zieht. Dann sagte er, da, wo er hingehe,
gebe es tausend Blumen, tausend, die er noch nicht
kenne, die er nie gesehen habe oder doch nur in
Büchern, und man könne nicht immer nur in Büchern
leben, eines Tages müsse man das Leben und seine
Schönheiten mit vollen Händen ergreifen. (Philippe
Claudel: Die grauen Seelen, S. 149)
"König Albert", sagte Marnix de Puydt, der als Fürst der
westflämischen Literatur des Öfteren bei Hofe empfangen wurde,
"König Albert", sagte er, "war so kurzsichtig, aber auch so
ungeschickt, dass er bei offiziellen Banketten nie etwas aß, aus
Angst, mit Löffel oder Gabel danebenzuzielen. Dass seine Erscheinung
als 'ritterlich' bezeichnet wurde und man ihm 'natürliche Noblesse'
zuschrieb, weil er sein Herrscherhaupt so würdevoll aufrecht hielt,
lag daran, dass er keine zwanzig Zentimeter weit sehen konnte. Wenn
er nach so einem Bankett mit seiner Königin und ein paar
verlässlichen Lakaien wieder allein zu Hause war, hat er sich auf
seine spezielle Terrine aus dem Sachsen-Coburger Familienporzellan
gestürzt und ohne Löffel und Serviette, aber froh und glücklich
einen Liter Zwiebelsuppe geschlürft." (Hugo Claus: Der Kummer von
Belgien)
"Zieh die Hose aus", sagte Tante Nora. Sie konnte nichts dagegen
tun, dass es zärtlich klang, und schnauzte sofort: "Und zwar ein
bisschen dalli!" (...) "Na also", sagte sie. "Schau doch mal, er hat
sein Mützchen noch auf." Was bedeutete das nun wieder? Ein Mützchen.
Ich will nicht mehr mit ihr reden. (...) "Was ist das deutsche Wort
für das Vorhäutchen? Hitlerjugendmützchen?" Sie prustete vor Lachen.
"Na, du Oberschlauer, du bist doch sonst so gescheit und liest all
die jüdischen Bücher, die noch nichts für dein Alter sind?" Mit
ihren langen Fingern fasste sie an seine Vorhaut, zupfte daran.
(Hugo Claus: Der Kummer von Belgien)
An der Tochter findet er nichts von der sanften
Trockenheit der Mutter. An ihr ist im Gegenteil etwas
Flüssiges, etwas von einem jungen Reh, zutraulich
und doch nervös, wenn es den Hals reckt, um an der
Hand des Fremden zu schnüffeln, sprungbereit zur
Flucht. Wie kann diese dunkelhaarige Frau eine so
blonde Tochter geboren haben? Aber die Merkmale
sind alle da: die fast kleinen, fast unterentwickelten
Finger; die dunklen Augen, strahlend wie auf
byzantinischen Heiligenbildern; die feine Wölbung der
Stirn; sogar die ein wenig verdrossene Miene.
Seltsam, wie ein Gesicht beim Kind die vollkommene
Form annehmen kann, während es bei der Mutter nur
wie ein Abbild wirkt! (J.M.Coetzee: Der Meister von
Petersburg, S. 18)
Ich bin nur gekommen, um Pawels Papiere zu holen,
die mir in einer Hinsicht wertvoll sind, die Sie nicht
verstehen können. Ich will nur die Papiere, sonst
nichts. Ich frage Sie noch einmal: Werden Sie sie mit
zurückgeben? Für Sie sind sie nutzlos. Sie werden
Ihnen nichts darüber sagen, warum intelligente junge
Männer unter den Einfluß von Übeltätern geraten. Und
Ihnen werden sie am allerwenigsten sagen, weil Sie
nicht lesen können. Die ganze Zeit, als Sie die
Geschichte vorlasen - soviel darf ich wohl sagen -,
habe ich bemerkt, wie Sie auf die schützende Distanz
bedacht waren, wie Sie sich hinter Spott
verschanzten, als ob Sie befürchteten, die Worte
könnten Ihnen vom Papier an die Gurgel springen.
(J.M.Coetzee: Der Meister von Petersburg, S. 52)
"Leider war der Hauptmann, Marjas Bruder, ein
Trinker. Und wenn er betrunken war, behandelte er
sie sehr schlecht. Später konnte er sich dann an
nichts erinnern." "Was hat er ihr getan?""Er hat sie
geschlagen, weiter nichts. Prügel nach guter alter
Russenart. Sie hat es ihm nichts weiter
übelgenommen. In ihrer Einfalt hat sie vielleicht
gedacht, die Welt ist nun mal nicht anders: ein Ort,
wo man Prügel kriegt." Ihrer Aufmerksamkeit war er
sicher. Nun zieht er die Schraube fester. "Einem Hund
muß die Welt schließlich auch so vorkommen oder
einem Pferd. Warum sollte Marja anders sein? Ein
Pferd versteht ja auch nicht, daß es auf der Welt ist,
um einen Wagen zu ziehen. Es denkt, es ist dazu da,
Prügel zu kriegen. Der Wagen, denkt es, ist so ein
großes Ding, an dem es festgebunden wird, damit es
nicht weglaufen kann, wenn es Prügel kriegt."
(J.M.Coetzee: Der Meister von Petersburg, S. 79)
Wenn Sie einen Rat von jemandem annehmen wollen,
der das alles schon mal durchgemacht hat, dann
sollten Sie Ihrem Kummer freien Lauf lassen. Weinen
Sie wie eine Frau! Das ist das große Geheimnis der
Weiber, das sie vor Leuten wie uns voraus haben. Die
wissen, wann sie sich gehenlassen und weinen
müssen. Wir, Sie und ich, wir wissen das nicht. Wir
stauen das in uns auf, bis es kocht wie die Hölle. Und
dann gehen wir und machen eine Dummheit, bloß um
es für ein, zwei Stunden mal loszuwerden. Ja, dann
machen wir eine Dummheit, die wir für ewig bereuen.
(J.M.Coetzee: Der Meister von Petersburg, S. 93)
Das allgemeine Gerücht, das Mr. Treverton für verrückt
erklärte, unterlag noch einem anderen Irrtum, nämlich,
ihn als geizig zu bezeichnen. Er hortete mehr als zwei
Drittel seines Vermögens, nicht, weil er es liebte,
Geld anzuhäufen, sondern weil er einfach keine Freude
an dem Komfort und dem Luxus hatte, den Geld zu
verschaffen imstande ist. Um ihm Gerechtigkeit
widerfahren zu lassen: Die Verachtung für sein eigenes
Wohlbefinden war genauso tief wie für das seiner
Nachbarn. So absolut falsch das Gerücht über seinen
Charakter urteilte, so unbedingt recht hatte es in der
Beschreibung seiner Lebensumstände. Es war richtig, daß
er das erstbeste Landhaus gekauft hatte, das sich
hinter seinen eigenen Mauern versteckte, es war
richtig, daß er keiner Menschenseele gestattet, seine
Türen zu durchschreiten, und es war richtig, daß er in
der Person seines Dieners Shrowl einem noch größeren
Menschenverächter begegnete, als er selbst es war. Das
Leben dieser beiden Burschen näherte sich so weit dem
Leben primitiver Menschen (oder Barbaren), wie die
umgebenden Bedingungen es zuließen. Die Notwendigkeit
zu essen und zu trinken eingestehend, war es das erste
Bestreben von Mr. Treverton, möglichst geringfügig von
jenen Vertretern des Menschengeschlechts abzuhängen,
deren Beruf es war, die Bedürfnisse des Körpers ihrer
Nachbarn zu befriedigen und sie dabei - wie er glaubte
- kraft ihres Berufes hinterhältig zu betrügen. Da er
hinter seinem Haus einen Garten hatte, wurde Timon von
London ohne jeglichen Gemüsehändler fertig, da er sein
eigenes Gemüse zog. Es gab keinen Platz, um Weizen zu
säen, sonst wäre er auch als Getreidebauer
Selbstversorger geworden. Aber er konnte Müller und
Bäcker dennoch überlisten, da er nämlich einen Sack
Getreide kaufte, ihn in seiner eigenen Handmühle und
das Mehl dann Shrowl zum Brotbacken übergab. Nach
demselben Prinzip wurde das Fleisch bei einem
Großhändler in der Stadt gekauft. Herr und Diener aßen
soviel von dem frischen Fleisch wie sie konnten, den
Rest salzten sie ein und trotzten so den Metzgern der
Umgebung. Weder Brauer noch Gastwirte hatten jemals
eine Chance, einen Penny aus Mr. Trevertons Tasche zu
ziehen. Er und Shrowl begnügten sich mit Bier, und sie
brauten selbst. Mit Brot, Gemüse, Fleisch und
vergorenem Malztrank erreichten diese beiden modernen
Eremiten den doppelten Effekt, alles zum Leben
Notwendige zu haben, ohne die Kaufleute zu bereichern.
(Wilkie Collins: Das Geheimnis des Myrtenzimmers, S 93)
Miss Sturch, die Gouvernante, kann kurz und bündig als
eine junge Dame beschrieben werden, deren Wesen seit
dem Tage ihrer Geburt niemals durch einen Gedanken oder
ein Ereignis beunruhigt worden war. Sie war eine kleine
mollige, ruhige, hellhäutige, lächelnde, reinlich
gekleidete Person, erzogen zur peinlichen Erfüllung
bestimmter Pflichten zu bestimmten Zeiten, begabt mit
einem unerschöpflichen Themenvorrat für allgemeines
Geplauder, das sanft von ihren Lippen tropfte, wann
immer es verlangt wurde, stets in gleicher Qualität, zu
jeder Tages- und Jahreszeit. Miss Sturch lachte niemals
und weinte niemals, sondern schlug den sicheren
Mittelweg des beständigen Lächeln ein. Sie lächelte,
wenn sie an einem Januarmorgen herunterkam und
bemerkte, es sei sehr kalt. Sie lächelte, wenn sie an
einem Julimorgen herunterkam und bemerkte, es sei sehr
heiß. (Wilkie Collins: Das Geheimnis des Myrtenzimmers,
S 42)
Und wann immer sie miteinander redeten, stritten sie.
Gewöhnlich war ihr Dialog eine Art von Kampf auf dem
Gebiet der Konversation, der mit einer sarkastischen
angeblich wohlwollenden Behauptung auf jeder Seite
begann und in einem herzhaften Austausch heftiger
Beschimpfungen endete, gerade wie die Boxer die leichte
Formalität des Händeschüttelns erledigen, bevor sie das
ernsthafte, praktische Geschäft damit beginnen, sich
gegenseitig die Gesichter zu zerschlagen, bis jede
Ähnlichkeit mit einem Menschen daraus verschwunden ist.
(Wilkie Collins: Das Geheimnis des Myrtenzimmers, S 94)
"Wenn ein Mann eine Spur von Großmut in seinem Wesen
zeigt, und du sie beseitigen möchtest, so hinterlasse
ihm eine Erbschaft. Wenn ein Mann schlecht ist, und du
ihn noch schlechter machen willst, dann hinterlasse ihm
eine Erbschaft. Wenn du einer Anzahl von Menschen auf
ewig die Möglichkeit für Korruption und Unterdrückung
auf breiter Basis verschaffen willst, so hinterlasse
ihnen eine Erbschaft, in Form einer wohltätigen
Stiftung. Wenn du einer Frau mit größter Sicherheit
einen schlechten Mann verschaffen willst, so
hinterlasse ihr eine Erbschaft. Willst du junge Männer
ins Verderben stürzen, alte Männer zum Anziehungspunkt
für die größten Gemeinheiten der Menschheit machen,
Eltern und Kinder, Ehefrau und Ehemann, Brüder und
Schwester gegeneinander aufhetzen, so hinterlasse ihnen
Geld! (Wilkie Collins: Das Geheimnis des Myrtenzimmers,
S 42)
Der Arzt errötete und sah höchst unzufrieden drein.
Eines der kostbarsten Dinge, die wir besitzen,
besonders, wenn wir zufällig dem ärztlichen Stand
angehören, ist unsere Würde. Es traf Mr. Orridge, daß
er nicht konsultiert worden war, bevor eine von ihm
empfohlene Pflegerin urplötzlich aus ihrem
Pflichtbereich entlassen wurde. War Mr. Frankland auf
Grund seiner Stellung als reicher Mann derart anmaßend?
Es war unmöglich, diese Frage sofort zu etnscheiden;
aber allein schon die Annahme übte einen zersetzenden
Einfluß auf seine an sich konservativen Prinzipien aus.
Die Macht des Reichtums darf ungestraft vieles tun,
aber sie darf nicht eines Mannes gute Meinung von sich
selbst beleidigen. Niemals hatte der Arzt
despektierlicher von Rang und Reichtum gedacht, niemals
vorher war er mit solcher Unparteilichkeit bereit
gewesen, über republikanische Prinzipien nachzudenken,
als jetzt, wo er in mürrischem Schweigen dem Aufwärter
zu Mr. Franklands Zimmer folgte. "Wer ist da", fragte
Leonhard, als er das Öffnen der Tür hörte. "Mr Orridge,
Sir", sagte der Aufwärter. "Guten Morgen", sagte Mr.
Orridge selbstbewußt und möglichst ungezwungen. Mr.
Frankland saß in einem Sessel, die Beine
übereinandergeschlagen. Mr. Orridge suchte sich
sorgfältig einen anderen Sessel aus, setzte sich und
legte die Beine augenblicklich nach dem Muster Mr.
Franklands übereinander. Mr. Franklands Hände steckten
in den Taschen seines Morgenrocks. Mr. Orridge hatte
Taschen nur in seinem Mantel, den er jetzt natürlich
nicht anhatte. So steckte er also die Daumen in die
Ärmelausschnitte seiner Weste und sicherte sich auf
diese Weise gegen die Unverschämtheit des Reichtums ab.
Daß Mr. Frankland blind und damit vollkommen unfähig
war, von seinem freiheitlichen Gebaren beeindruckt zu
sein, interessierte ihn gar nicht. So seltsam eingeengt
ist eines Menschen Wahrnehmungsvermögen, wenn er auf
seiner eigenen Bedeutung besteht. (Wilkie Collins: Das
Geheimnis des Myrtenzimmers, S 42)
Wie die große Mehrheit der schwerfällig-dummen Männer
hatte er ein intensives Gefallen daran, sich selbst
reden zu hören. Jetzt ergriff er die Gelegenheit, darin
mit Genuß zu schwelgen. Es gibt nur eine Art von
Rednern, die selbst in der angespanntesten Situation
niemals zusammenbrechen, nämlich diejenigen, deren
Reden so beschaffen sind, daß niemand Gefahr läuft zu
erkennen, was sie eigentlich meinen meinen. Unter
solcherart mit Redetalent begabten Menschen nahm Mr.
Munder einen hervoragenden Platz ein. (Wilkie Collins:
Das Geheimnis des Myrtenzimmers, S 218)
Manchmal sehe ich dich an, Shrowl, und frage mich, ob
in der ganzen Schöpfung irgendein Tier so häßlich sein
kann wie ein Mensch? Diesen Morgen sah ich einen Kater
auf der Gartenmauer, und nicht in einem einzigen Punkt
könntest du dich mit ihm vergleichen. Die Augen des
Katers waren klar, deine sind trübe. Seine Nase war
gerade, deine ist krumm. Seine Barthaare waren sauber,
deine sind schmutzig. Sein Fell paßte ihm, deines hängt
wie ein Sack an dir. Ich sage dir noch einmal, die
Spezies, zu der du gehörst, und auch ich!, ist die
abstoßendste im gesamten Angesicht der Schöpfung. Geh,
damit wir nicht aufeinander losgehen, wenn wir länger
beisammen bleiben! Geh, du letzte, schlechteste,
schwächste Laune der Natur... Geh!" (Wilkie Collins:
Das Geheimnis des Myrtenzimmers, S 258)
Was die Bevölkerung betraf, so bemerkte ich vorläufig nur einen
einzigen geborenen Gentleman: einen Schäferhund mit schmählich
gestutztem Schwanz, den er zu meiner Begrüßung nur unter sichtlichen
Qualen in Bewegung setzen konnte. Er tat es dennoch, denn er war
sich bewußt, daß er für alle andern die Honneurs machen mußte, und
schmiegte seine schwarze Nase aufs freundlichste in meine Hand.
'Willkommen in Dimchurch, Madame Pratolungo!' schien er zu sagen.
'Entschuldigen Sie diese armen Proleten rechts und links, die am
Straßenrand stehen und Sie anglotzen. Auch sie sind von Gott
geschaffen, obwohl sie Ihm leider nicht so gut gelungen sind wie Sie
und ich.' Ich gehöre zufällig zu den wenigen Leuten, die die stumme
Sprache der Kreatur verstehen. Daher kann ich beschwören, daß ich
die Begrüßungsansprache des Schäferhundes korrekt wiedergegeben
habe. (Wilkie Collins: Lucilla)
Wenn ich vorher nie recht gewußt hatte, was ein 'feuchtes Weib'
bedeutete (Goethe!), so wußte ich es jetzt. Die farblose Dame machte
einen entschieden feuchten Eindruck. Ihr flaches, weißes Gesicht
wirkte, als hätte sie eben ein Dampfbad genommen und sich hinterher
nicht abgetrocknet, und ihre blaßblauen Augen hatten einen
wässerigen, verschwommenen Blick. Unter ihrer verrutschten
Spitzenhaube zeigten sich einige unfrisierte, fahle Haarsträhnen.
Sie trug lediglich einen flanellenen, ehemals weißen Morgenrock und
darüber eine weite blaue Wolljacke. In der einen Hand hielt sie
einen zerlesenen, mit vielen Eselsohren verzierten
Leihbibliotheksroman, mit der anderen preßte sie einen ebenfalls in
Flanell gewickelten Säugling an sich, der sich gerade hingebungsvoll
an der Mutterbrust ernährte. Das war mein erster Eindruck von der
gegenwärtigen Gattin des ehrwürdigen anglikanischen Pfarrers Finch -
ein Eindruck, der sich auch später nie wesentlich veränderte. ich
traf Mrs. Finch nie vollständig angezogen, nie ganz trocken, nie
ohne Baby und nie ohne Roman. So war sie nun einmal. (Wilkie
Collins: Lucilla)
(Übrigens: Was halten Sie eigentlich von der Standfestigkeit meines
Charakters? Rechnen Sie mal nach, ungefähr, wie oft ich im Laufe
dieses wahrheitsgetreuen Berichtes meine Meinung geändert habe.
Dauernd widerspreche ich mir selbst; meine Handlungsweise ist oft so
unlogisch, daß sie an das Unglaubwürdige grenzt. Bei Ihnen, verehrte
Leser, könnte das nicht vorkommen. Sie widersprechen sich nie, Sie
lassen sich weder von Ihrem Temperament mitreißen noch von äußeren
Umständen beeinflussen. Gott bewahre, Ihr Charakter ist unandelbar,
Sie stehen wie der sprichwörtliche Fels in der Brandung. Und ich?
Ich bin eben nur ein menschliches Wesen. Ein Glück, daß ich nur
einen Tatasachenberucht schreibe und keinen Roman. Als Romanfigur
wäre ich heutzutage unmöglich!) (Wilkie Collins: Lucilla)
Mrs. Vimpany war eine große, schmächtige Dame. Durch künstliche
Mittel hatte sie ihrer Erscheinung auf so geschickte Weise
nachzuhelfen gewußt, daß es fast den Anschein hatte, als ob es
natürlich wäre. Ihre Wangen hatten die Fülle der Jugend verloren,
aber ihr Haar zeigte, vielleicht auch wieder infolge der
angewendeten künstlichen Mittel, noch keine Spuren des nahenden
Alters. Der Ausdruck ihrer großen schwarzen Augen, die vielleicht
etwas zu nahe an ihrer stark ausgebildeten Adlernase standen,
heischte Bewunderung von jeder Person, welche so glücklich war, in
ihren Gesichtskreis zu kommen. Ihre Hände, die lang, gelb und
bejammernswürdig mager waren, bewegte sie mit viel Grazie. Ihr Anzug
hatte bessere Tage gesehen, aber sie wußte ihn in einer Art zu
tragen, welche es eigentlich unmöglich machte, seinen wirklichen
Zustand zu erkennen. (Wilkie Collins: Blinde Liebe)
"Die Natur hat mich zum Landwirt geschaffen," pflegte er zu sagen,
"aber meine arme, thörichte alte Mutter, die eine Dame aus vornehmem
Hause war, bestand darauf, daß ihr Sohn ein Gelehrter werden sollte.
Ich hatte jedoch weder Lust zur Rechtswissenschaft, noch Geld zur
Armee, noch die zur Theologie erforderlichen moralischen
Lebensanschauungen. Nun, so bin ich denn jetzt hier ein Landarzt –
ein Repräsentant der Sklaverei, wie sie sich noch bis in das
neunzehnte Jahrhundert erhalten hat." (Wilkie Collins: Blinde Liebe)
Wenn es richtig ist, was von dem Geschmack der Türken erzählt wird,
daß sie nämlich die Schönheit der weiblichen Gestalt höher schätzen
als die des weiblichen Gesichtes, so würde die persönliche
Erscheinung von Fanny Mere in Konstantinopel die Anerkennung
gefunden haben, die ihr in London nicht zu teil wurde. Von
schlanker, aber kräftiger und wohlgebauter Gestalt, zog sie die
Augen der Männer und zuweilen auch der Frauen, mit denen sie
zusammentraf, auf sich, so lange diese hinter ihr hergingen. (...)
Sie war eine der blondesten hübschen Frauen. Hellblonde Haare,
mattblaue Augen ohne jeden Ausdruck und eine Hautfarbe, welche
aussah, als ob sie vollständig blutlos wäre, riefen einen Eindruck
hervor, welcher ihre Mitmenschen meistens unempfindlich für die
Schönheit ihrer Figur machte. Trotzdem war diese eigentümliche
Blässe kein Zeichen von schlechter Gesundheit, sie ließ im Gegenteil
seltene physische Kraft vermuten. Durch ihre ruhige, höfliche Art
und Weise schimmerte, wenn man so sagen darf, ein zu Grund liegendes
Selbstbewußtsein durch, welches fähig zu sein schien, in
bedenklichen Augenblicken des menschlichen Lebens rasch und
furchtlos zu handeln. Im übrigen war jedoch der Ausdruck, den ihr
Charakter in ihrem Gesicht fand, ein wesentlich passiver. Da war
also ein ruhiges, energisches, junges Weib im Besitz von
Eigenschaften, welche sich nicht an der Außenseite zeigten – ob von
guten Eigenschaften oder schlechten, das konnte allein die Erfahrung
lehren. (Wilkie Collins: Blinde Liebe)
Sie sah unnatürlich älter als damals aus, wo Mountjoy sie zum
letztenmal gesehen hatte. Ihr künstliches Äußere war verschwunden.
Das jetzt nicht mehr vorhandene Rot, welches einstmals ihre Wangen
überzogen, hatte während der langen Reihe von Jahren, in der sie es
auflegte, das Gewebe ihrer Haut rauh gemacht und ihrer Farbe einen
ungesunden gelben Ton verliehen. Ihr Haar, das einstens so geschickt
schwarz gefärbt war, gestand jetzt offen die Wahrheit ein und zeigte
die nüchterne Farbe des Alters; es war grau. Selbst der
durchdringende Glanz ihrer großen schwarzen Augen war verschwunden;
alle die Verschönerungskünste, welche sie ihrer Bühnenlaufbahn
verdankte, waren nicht mehr zu sehen, nur die liebenswürdige Anmut
ihrer Bewegungen und der tiefe melodische Klang ihrer Stimme
verrieten noch Mrs. Vimpany, welche jetzt in ein einfaches
dunkelbraunes Gewand gehüllt war, das aller der kleinen, versteckten
Mittel entbehrte, durch welche die Schneiderinnen so geschickt der
Figur nachzuhelfen verstehen. (Wilkie Collins: Blinde Liebe)
Es gibt jetzt Abende, da scheint sich alles endlos
hinzuziehen, was vordem ein Fest war - erst etwas
zurückhaltend, aber dann gibt man sich blind dem
Jubel der Melodie hin - ist jetzt immer mehr bloße
Routine (Roberto brummig), sich zitternd die
Boxhandschuhe anziehen, in den Ring steigen und
aufpassen, daß man nicht eins auf die Birne kriegt.
Feinsinnige Vergleiche, bemerkt Lucho, Paola
ansehend. Er hat recht, was für eine Scheiße, sagt
Paola, für mich war Singen immer wie ein einziger
Orgasmus, und jetzt ist es nur ein ödes Masturbieren.
(Julio Cortazar: Alle lieben Glenda, S. 93)
Plötzlich geht die Tür von einem der Wohnwagen auf,
und ein berühmtes Gesicht taucht auf. (...) Sie weiß
genau, daß die Frau ein Filmstar ist. Sie weiß es
aufgrund ihrer Ausstrahlung, ihrer Selbstsicherheit
und der Beflissenheit, mit der einer der
Produktionsassistenten ihr erklärt (ohne daß Clarissa
es hören kann), woher der Lärm rührt. Die Frau zieht
sich rasch zurück, schließt die Wohnwagentür wieder,
doch sie hinterläßt den Eindruck, daß jemand mit
Argusaugen über alles wacht, als hätte ein Engel kurz
den sandalenbewehrten Fuß auf den Boden dieser
Welt, sich erkundigt, ob etwas im argen liege, und
sich, nachdem er erfahren hat, daß es an nichts fehle,
skeptisch und würdevoll wieder in himmlische Gefilde
aufgeschwungen, nicht ohne die Erdenbürger daran zu
erinnern, daß man nur geringes Vertrauen in ihr
Trachten und Walten habe und daß fortan auf jede
Nachlässigkeit geachtet werde. (Michael Cunnigham:
Die Stunden, S. 32)
Wir geben unsere Partys; wir verlassen unsere
Familien, um in Kanada allein zu leben; wir plagen
uns und schreiben Bücher, die die Welt nicht
verändern, trotz unserer Gaben und unentwegten
Bemühungen, unserer hochfliegenden Hoffnungen.
Wir führen unser Leben, verrichten unsere
Tätigkeiten, und dann schlafen wir — so einfach und
so gewöhnlich ist das. Ein paar springen aus dem
Fenster, ertränken sich oder nehmen Tabletten; ein
paar mehr sterben bei Unfällen; und die meisten von
uns, die breite Masse, werden langsam von
irgendeiner Krankheit verzehrt oder, wenn wir großes
Glück haben, vom Zahn der Zeit. Und es gibt nur
diesen einen Trost: eine Stunde hie und da, in der es
uns wider alle Wahrscheinlichkeit und Erwartung so
vorkommt, als schäume unser Leben über und
schenke uns alles, was wir uns je vorgestellt haben,
obgleich jeder (...) weiß, daß auf diese Stunden
unausweichlich andere folgen werden, die weitaus
dunkler sind und schwerer." (Michael Cunningham, Die
Stunden, S. 217)
Man möchte ihm das Buch über sein eigenes Leben
schenken, das Buch, das ihm seinen Standort
bestimmen hilft, ihn beschützt, ihn für die
Veränderungen wappnet. Du kannst auch nicht die
Geschichte über einen verbitterten englischen
Romancier oder das Schicksal von sieben chilenischen
Schwestern mitbringen, so schön sie auch
geschrieben sein mögen, und daß Evan Lyrik liest, ist
etwa ebenso wahrscheinlich wie die Vorstellung, daß
er Porzellanteller bemalt. (Michael Cunnigham: Die
Stunden, S. 27)
Sie wird etwa eine Stunde lang schreiben, und dann
wird sie etwas essen. Nichts essen ist ein Laster,
eine Art Droge - mit leerem Bauch kommt sie sich
rein und unbeschwert vor, klar im Kopf, bereit zum
Gefecht. Sie trinkt einen Schluck Kaffee, stellt die
Tasse ab, reckt die Arme. Ein einzigartiges Erlebnis
ist das, wenn man aufwacht und das Gefühl hat, daß
ein guter Tag vor einem liegt, sich auf Arbeit
einstellt, aber noch nicht darin versunken ist. In
diesem Augenblick tun sich unendliche Möglichkeiten
auf, lange Stunden, die vor einem liegen. (Michael
Cunnigham: Die Stunden, S. 39)
Sie strafft die Schultern, als sie an der Fifth Avenue,
Ecke Eight Street steht, an der Ampel wartet. Das ist
sie, denkt Willie Bass, der ihr morgens manchmal an
ebendieser Stelle begegnet. Die alte Schönheit, das
alte Hippiemädchen, nach wie vor mit langem Haar,
das selbst ergraut noch trotzig wirkt, auf ihrer
morgendlichen Runde, in Jeans und einem derben
Männerhemd, mit irgendwelchen Ethnoslippern (aus
Indien? Mittelamerika?) an den Füßen. Sie besitzt
immer noch eine gewisse Sinnlichkeit; einen gewissen
bohemienhaften, hexenartigen Charme; und doch
wirkt sie an diesem Morgen eher tragisch, wie sie so
aufrecht dasteht in ihrem weiten Hemd und den
Drittweltschuhen, sich gegen die Schwerkraft wehrt,
wie ein Mammutweibchen, das bereits bis zu den
Knien in einem Teersee steckt, eine kurze Ruhepause
einlegt, stolz und wuchtig aufragt, lässig beinahe, so
tut, als betrachte es die zarten Gräser, die es am
andern Ufer erwarten, während es allmählich begreift,
daß es hier festsitzt, allein, nach Einbruch der
Dunkelheit, wenn die Schakale aussschwärmen.
Geduldig wartet sie an der Ampel. Vor
fündundzwanzig Jahren mußte sie umwerfend sein;
die Männer müssen in ihren Armen dahingeflossen
sein. Willie Bass ist stolz darauf, daß er die
Geschichte eines Gesichts deuten kann; begreifen,
daß diejenigen, die heute alt sind, einst jung waren.
Die Ampel springt um, und er geht weiter. (Michael
Cunnigham: Die Stunden, S. 19)
Sie überquert den Platz, fängt sich ein paar Spritzer
vom Springbrunnen ein, und da kommt Walter Hardy,
muskulös, in Shorts und weißem Tanktop, der sich
flotten, federnden Schrittes zum Washington Square
begibt. "Hey Clare", ruft Walter aufgekratzt, und einen
peinlichen Moment lang wissen sie nicht recht, wie
sie sich küssen sollen. Walter hat es auf ihren Mund
abgesehen, und sie wendet sich unwillkürlich ab und
bietet ihm statt dessen ihre Wange. Dann besinnt sie
sich und dreht sich eine halbe Sekunde zu spät
wieder um, so daß Walters Lippen nur ihren
Mundwinkel berühren. Ich bin so prüde, denkt
Clarissa, so altjüngferlich. Ich ergehe mich in der
Schönheit der Welt, aber ich scheue einfach instinktiv
davor zurück, einen Freund auf den Mund zu küssen.
Richard hatte ihr vor dreißig Jahren schon gesagt, daß
sich hinter all ihrem Piratenbrautgehabe eine brave,
gutbürgerliche Hausfrau verberge, und nun entlarvt
sie sich als Kleingeist, viel zu konventionell, die
Ursache vielen Leids. Kein Wunder, daß ihre Tochter
sie ablehnt. (Michael Cunnigham: Die Stunden, S. 21)
Kaum etwas ist so leicht nachvollziehbar wie die
Verachtung, die Walter Hardy häufig entgegenschlägt,
der dazu auserkoren ist, mit Baseballkappen und
Nikes sechsundvierzig zu werden; der unverschämt
viel Geld mit Liebesromanen über Lust und Leid
perfekt gebauter junger Männer verdient; der
nächtelang zu House-Musik tanzen kann, selig und
unermüdlich wie ein Deutscher Schäferhund, der ein
ums andere Mal einen Stock apportiert. Männer wie
Walter sieht man in Chelsea oder im Village zuhauf,
Männer, die dreißig, vierzig oder älter sind und darauf
bestehen, daß sie schon immer beschwingt und
bester Dinge waren, kräftig und körperbewußt; daß
sie niemals seltsame Kinder waren, nie gehänselt
oder verhöhnt wurden. Richard ist der Ansicht, daß
diese ewig jugendlicher Schwulen der Sache mehr
schaden als die Männer, die kleine Jungs verführen,
und ja, es stimmt, daß Walters Hang zu Ruhm und
Rummel, sein Interesse für Mode und die neuesten
Restaurants durch keinerlei abgeklärte Ironie oder
Zynismus, nichts auch nur annähernd Tiefschürfendes
getrübt wird. (Michael Cunnigham: Die Stunden, S.
23)
Kaum etwas ist so leicht nachvollziehbar wie die
Verachtung, die Walter Hardy häufig entgegenschlägt,
der dazu auserkoren ist, mit Baseballkappen und
Nikes sechsundvierzig zu werden; der unverschämt
viel Geld mit Liebesromanen über Lust und Leid
perfekt gebauter junger Männer verdient; der
nächtelang zu House-Musik tanzen kann, selig und
unermüdlich wie ein Deutscher Schäferhund, der ein
ums andere Mal einen Stock apportiert. Männer wie
Walter sieht man in Chelsea oder im Village zuhauf,
Männer, die dreißig, vierzig oder älter sind und darauf
bestehen, daß sie schon immer beschwingt und
bester Dinge waren, kräftig und körperbewußt; daß
sie niemals seltsame Kinder waren, nie gehänselt
oder verhöhnt wurden. Richard ist der Ansicht, daß
diese ewig jugendlicher Schwulen der Sache mehr
schaden als die Männer, die kleine Jungs verführen,
und ja, es stimmt, daß Walters Hang zu Ruhm und
Rummel, sein Interesse für Mode und die neuesten
Restaurants durch keinerlei abgeklärte Ironie oder
Zynismus, nichts auch nur annähernd Tiefschürfendes
getrübt wird. (Michael Cunnigham: Die Stunden, S.
23)
Keine Blumen; wenn Blumen schon bei Toten fehl am
Platz sind, so sind sie für Kranke erst recht
verheerend. Aber was dann? Die Geschäfte in SoHo
sind voller Partykleider, Schmuck und Nippes; nichts
für einen anspruchsvollen, klugen jungen Mann, der
mit Hilfe einer Vielzahl von Medikamenten vielleicht
ein normales Lebensalter erreichen kann. Was
wünscht man sich denn? Clarissa kommt an einem
Geschäft vorbei und überlegt, ob sie ein Kleid für
Julia kaufen soll; sie sähe hinreißend aus in dem
kleinen Schwarzen mit den Anna-Magnani-Trägern,
aber Julia zieht keine Kleider an, sie will in ihrer
Jugend, der kurzen Zeitspanne, in der man einfach
alles tragen kann, unbedingt in Männerunterhemden
und ledernen Schnürstiefeln, groß wie
Bimssteinblöcke, durch die Gegend trampeln. (Michael
Cunnigham: Die Stunden, S. 27)
Wenigstens, denkt sie, lese ich keine Krimis oder
Liebesromane. Wenigstens bilde ich mich weiter.
Derzeit liest sie Virginia Woolf, sämtliche Werke von
Virginia Woolf, Buch für Buch - sie ist fasziniert von
der Vorstellung, daß es eine solche Frau gegeben hat,
eine Frau von solcher Inteligenz, die so sonderbar ist,
sich so unermeßlich grämt; eine Frau, die ein Genie
war, aber dennoch einen Stein in ihre Tasche steckte
und in den Fluß hinauswatete. Sie, Laura, stellt sich
gern vor (es ist eins ihrer bestgehüteten
Geheimnisse), daß auch sie eine gewisse Genialität
besitzt, nur einen Hauch davon, obgleich sie weiß,
daß vermutlich die meisten Menschen diese Hoffnung
hegen, insgeheim, ohne es jemals preiszugeben.
(Michael Cunnigham: Die Stunden, S. 46)
Richards Sessel ist ganz besonders wahnwitzig;
genauer gesagt, es ist der Sessel eines Menschen,
der, wenn er auch nicht wirklich wahnsinnig ist, doch
alles schon so weit hat schleifen lassen, schon so
erschöpft und entrückt ist, selbst den einfachsten
Pflichten nicht mehr nachkommt - simple
Körperpflege, regelmäßige Nahrung -, daß der
Unterschied zwischen Wahnsinn und
Hoffnungslosigkeit nur schwer festzustellen ist. Der
Sessel - ein alter, schwerer Lehnsessel mit tiefen
Polstern, der fett und feist auf schmalen, hellen
Holzbeinen ruht - ist eindeutig kaputt und geradezu
provozierend wertlos. Bezogen ist er mit einer Art
noppigem Wollstoff in einem undefinierbaren Farbton,
durchsetzt (das ist irgendwie das Unheimlichste
daran) mit silbernen Fäden. Arm- und Rückenlehnen
sind so abgewetzt, so eingedunkelt durch ständigen
Abrieb und menschliches Körperfett, daß sie den
zarten Hautpartien eines Elefanten ähneln. Die
Federn zeichnen nicht nur unter der Sitzpolsterung,
sondern auch durch das dünne gelbe Handtuch, das
Richard darübergelegt hat. Der Sessel riecht
abscheulich, zutiefst dumpfig und schmuddelig; er
riecht nach unaufhaltsamer Verwesung. Falls man ihn
auf die Straße schleppen und dort abstellen würde
(wenn er irgendwann dort abgestellt wird), nähme ihn
niemand mit. Richard will auf keinen Fall einen
anderen haben. (Michael Cunnigham: Die Stunden, S.
63)
Eine kleine Stadt, dieses London, wenn man U-Bahn
fuhr, was jeder tat. Ein möbliertes Zimmer in Evelyn
Gardens, ein Job in King's Cross und jetzt ein
Haarschnitt in Sheperd's Bush. Die Leute sagten: Das
Geld stimmt, und es sind nur drei Minuten zur U-
Bahn. Oder: Zur nächsten Bushaltestelle braucht man
zu Fuß nur fünf Minuten. Es spielte keine Rolle, daß
die Fahrt mit U-Bahn oder Bus zehn Stunden dauerte,
solange der Weg hin zu U-Bahn oder Bus oder zurück
in Minuten gemessen werden konnte. Er hatte es
seinem Vater zu verdanken, daß er die besten Jahre
seines Lebens im Untergrund verbracht und nicht
täglich einen Fußmarsch unternommen hatte, wie es
für eine Spezies mit Beinen vermutlich gedacht war.
(Michael Curtin: Der Club der Weihnachtshasser, S.
89)
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