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Wissend, daß ihr das gut zu Gesicht stand, setzte sie einen
zarten Hohn aufs Gesicht, dann, als das nicht zu fruchten
schien, weil Stollfuss, der viel amtlicher, als er's bisher getan
hatte, sprach, in seiner trockenen und strengen Belehrung
fortfuhr, zeigte Fräulein Hall Ansätze von Aufsässigkeit: ein
gekränktes Verzerren der Schultern, mucksig aufgeworfene
Lippen, und Stollfuss verwies sie des Saales, den sie stolz,
mit erhobenen Schultern verließ. (Heinrich Böll: Ende einer
Dienstfahrt, S. 24)
Seit vierzig Jahren blickte er in dieses Blondinengesicht, das
einst blühend gewesen, blasser und breiter geworden war,
saß mit ihr an diesem großen Nußbaumtisch, der für viele
Kinder, "mindestens sechs" gedacht gewesen war; statt
dessen: Fehlgeburten, die nicht einmal die tröstliche
Erdenspur eines Grabs, die keine Stätte hinterlassen
hatten, spurlos in gynäkologischen Kliniken verschwunden
waren; Arztrechnungen, "Hormonstützen", gerunzelte
Stirnen von Kapazitäten, bis auch die monatliche Hoffnung
ausgeblieben, sie als Vierzigjährige schon wieder in den
unblutigen Status einer Zehnjährigen zurückgefallen war, er
es aufgab, ihr mit seiner Männlichkeit zu kommen; sie war
geschwätzig und vergeßlich, er wieder zu einem Knaben
geworden, den alles, was Knaben quält, nicht mehr quälte,
nicht einmal auf Friedhöfen eine Erdenspur hinterlassen.
(Heinrich Böll: Ende einer Dienstfahrt, S. 78)
Wenn Sabine in vier Monaten das Kind bekam, mußte
sie ja bald im sechsten Monat sein - und hatte
niemand etwas erzählt. Eins war bei Bleibls spitzen
Bemerkungen - ob er über Rolf, Katharina, Herbert
oder Holger I sprach - in jedem Fall vorauszusetzen:
sie trafen im Faktischen immer zu. Wenn er sagte: "in
vier Monaten", dann waren es vier Monate, auch wenn
Sabine selbst es gar nicht so genau wissen mochte.
Das kam alles aus Zummerlingquellen, und die hatten
das Ohr nicht nur am Puls der Zeit, hatten es auch an
den Unterleibern prominenter Frauen, die wußten
besser, wenn da mal eine Periode ausfiel, als die
betroffene Dame selbst, das Unterleibsrechercheure
besonderer Art, fragten wohl Hausmädchen und
Drogisten aus, durchsuchten wahrscheinlich
Abfalleimer, schnüffelten in Arztkarteien, hörten wohl
auch Telefone ab, alles im Dienst der Öffentlichkeit.
(Heinrich Böll: Fürsorgliche Belagerung, S. 13)
Nun ist Leni natürlich nicht immer achtundvierzig Jahre
alt gewesen, und es muß notwenigerweise zurückgeblickt
werden. Auf Jugendfotos würde man Leni ohne weiteres
als hübsches und frisches Mädchen bezeichnen; sogar in
der Uniform einer Naziorganisation für Mädchen - als
Dreizehn-, Vierzehn-, Fünfzehnjährige - sieht Leni nett
aus. Kein männlicher Betrachter wäre in seinem Urteil
über ihre körperlichen Reize niedriger gegangen als
"verdammt noch mal, die ist nicht übel". Der
menschliche Paarungsdrang geht ja von Liebe auf den
ersten Blick über den spontanen Wunsch, einer Person
des anderen oder eigenen Geschlechts, einfach mal, ohne
auf Dauerbindung aus zu sein, beizuwohnen; er geht bis
zur tiefsten, aufwühlenden Leidenschaft, die ruhelose
Seelen und Körper schafft, alle seine Spielarten, die
so gesetzlos wie ungesetzmäßig auftreten, jede von
ihnen, von der oberflächlichsten bis zur tiefsten,
hätte von Leni geweckt werden können und ist von ihr
geweckt worden. Als sie siebzehn war, machte sie den
entscheidenden Sprung von hübsch zu schön, der
dunkeläugigen Blondinen leichterfällt als helläugigen.
In diesem Stadium wäre kein Mann in seinem Urteil
niedriger gegangen als "bemerkenswert". (Heinrich Böll:
Gruppenbild mit Dame, S. 25)
... daß er von einer geradezu entzückenden Nonne von
höchstens einundvierzig Jahren empfangen wurde, die
nicht etwa herablassend, sondern wirklich gütig und
klug lächelte... (...) Unter Pinien und Palmen,
zwischen Marmor und Messing, in einem kühlen Raum von
beachtlicher Eleganz, auf schwarzen Morris-
Ledersesseln, einen nicht zu verachtenden Tee auf dem
Tisch, die qualmende Zigarette auf der Kante der
Untertasse nicht etwa geflissentlich, nicht etwa gütig,
sondern 'wirklich' übersehend, wußte eine nun
tatsächlich reizende Nonne, die über Fontane promoviert
hatte, kurz davor stand, sich mit einer Arbeit über
Gottfried Benn (!!), wenn auch nur an einer
Ordenshochschule zu habilitieren, eine höchst gebildete
Germanistin in schlichtem Habit (das ihr fabelhaft
stand), der sogar Heißenbüttel ein geläufiger Begriff
war - sie wußte von Leni. (...) "Nun kommt das Schreckliche. Werden Sie
mir glauben, wenn ich Ihnen sage, daß dem Orden nicht
das gerinste daran liegt, eine Selige oder Heilige zu
kreieren, daß er am liebsten unterdrücken würde, fast
dazu gezwungen ist, einen Weg zu gehen, der alles
andere als populär ist? Werden Sie mir glauben?" Die
Frageform des Futurums auf das Verb glauben angewandt,
erschien dem Verf. aus dem Mund einer Germanistin
diesen Ranges, einer "sündig" Virginiazigaretten
inhalierenden Nonne, die ganz sicher, sooft sie in den
Spiegel blickte, die klassische Linie ihrer kräftig-
zarten dunklen Brauen, die Kleidsamkeit ihrer
Nonnenhaube, die höchst verführerische Linie ihres
kräftigen, offen-sinnlichen Mundes mit Wohlgefälligkeit
bemerkte; die bewußt genug war, auch die Wirkung ihrer
ungemein reizvollen Hände zu kennen; die, obwohl
züchtig gekleidet, unter ihrem Habit eine makellose
Brust 'ahnen' ließ - aus diesem Mund erschien dem Verf.
die Anwendung der Frageform des Futurums in
Zusammenhang mit dem Verb glauben sehr unfair! Eine
simple futurgebundene Frage, wie "Werden Sie mit mir
spazierengehen?" "Werden Sie um meine Hand anhalten?",
ist in solchen Situationen durchaus erlaubt, aber die
Frage, ob einer 'glauben wird', was er noch gar nicht
gehört hat! Der Verf. war schwach genug, zustimmend zu
nicken, zusätzlich, da er durch eindringliche Blicke zu
verbaler Äußerung aufgefordert wurde, ein Ja zu
hauchen, wie es ansonsten nur vor Traualtären gehaucht
wird. (Heinrich Böll: Gruppenbild mit Dame, S. 303f.)
Unserem Drängen, vom Kriege zu erzählen, gab er nie
nach; er behauptete, es lohne sich nicht. Er
beschränkte sich darauf, uns hin und wieder von seiner
Musterung zu berichten, die offenbar überwiegend darin
bestanden hatte, daß ein uniformierter Mensch Onkel
Fred mit heftiger Stimme aufgefordert hatte, in eine
Reagenzglas zu urinieren, eine Aufforderung, der Onkel
Fred nicht gleich hatte nachkommen können, womit seine
militärische Laufbahn von vornherein unter einem
ungünstigen Zeichen stand. Er behauptete, daß das
lebhafte Interesse des Deutschen Reiches für seinen
Urin ihn mit erheblichem Mißtrauen erfüllt habe, mit
einem Mißtrauen, das er in sechs Jahren Krieg
bedenklich bestätigt fand. (Heinrich Böll:
Nicht nur zur Weihnachtszeit, S. 44)
Auf die Gefahr hin, mich unbeliebt zu machen, muß ich
hier eine Tatsache erwähnen, zu deren Verteidigung ich
nur sagen kann, daß sie wirklich eine ist. In den
Jahren 1939 bis 1945 hatten wir Krieg. Im Krieg wird
gesungen, geschossen, geredet, gekämpft, gehungert und
gestorben - und es werden Bomben geschmissen - lauter
unerfreuliche Dinge, mit deren Erwähnung ich meine
Zeitgenossen in keiner Weise langweilen will. Ich muß
sie nur erwähnen, weil der Krieg Einfluß auf die
Geschichte hatte, die ich erzählen will. (Heinrich
Böll: Nicht nur zur Weihnachtszeit, S. 50)
Ich sage immer: Wenn der HErr gewollt hätte, daß wir
zu Fuß gehen, hätte ER uns keine Flugzeuge
geschenkt. Aber manchmal habe ich den Verdacht,
daß er mich zu Fuß gehen lassen wollte - vielleicht
zum Nutzen meiner Taille -, denn jedesmal, wenn ich
mich einem Flugzeug anvertraue, geschieht etwas
äußerst Garstiges - so als gälte es, meine Kühnheit
zu tadeln. Auf diesem besonderen Nachmittagsflug
war es ein Blitzstreik der Besatzungen. Die
Fluggesellschaft hatte einen alten, von verdrehten
Gummibändern angetriebenen Absturzfliegern in den
Dienst gezwungen, den eine Bande abtrünniger
Streikbrecher steuern sollte. Der Pilot oder Fahrer, ein
ältlicher Fettsack mit kanadischem Akzent, kam kurz
vor dem Abflug in die Kabine, um uns persönlich sein
Willkommen zu entbieten, und erklärte, daß er den
Schalter für die Lautsprecher nicht finden könne. Er
sagte uns, wir sollten guten Mutes sein, er habe
einen dieser Papierdrachen schon früher gesteuert. -
im Zweiten Weltkrieg. Das Blut gefror in mancher
Ader, doch Schlimmeres sollte folgen. Da keine
Stewardessen zur Verfügung standen, nicht einmal für
Bargeld, konnten während des Fluges keine
nährenden Getränke ausgeschenkt werden.
(...) Das Flugzeug hob auf temperamentvolle Weise ab,
wobei das Geklapper seiner betagten Triebwerke
beinahe übertönt wurde vom Summen der Gebete
jener Passagiere, die noch nicht mit den
bereitgestellten Tüten aus stabilem braunen Papier
beschäftigt waren. Die Luft hatte so viele Löcher wie
die Lumpen eines Bettlers, und die Ängste der
Furchtsamen wurden nicht gelindert, als der Pilot
erneut in die Kabine schlenderte, in der Nase bohrte
und verkündete, es sei möglicherweise ratsam, die
Gurte während des Fluges geschlossen zu halten.
(...) Das nächste Mal, wenn Ihnen ein Idiot erzählt, nicht
die Ankunft, sondern die Reise selbst sei das Ziel,
können Sie ihm von mir in vollem Ernst ausrichten,
daß er für eine Abbildung in einem gynäkologischen
Handbuch Modell stehen soll. Ankommen ist
entzückend, glauben Sie mir, vor allem, wenn der
Pilot Ihres Flugzeuges drei Runden über Heathrow
gedreht hat, während er verzweifelt nach dem Hebel
für das Fahrwerk suchte, und schließlich in einer
Abfolge von Froschhüpfern und einer Wolke aus
brennendem Gummi landet. Er stand auf der
Gangway, als wir ausstiegen, winkend und knicksend
und hoffend, daß wir einen guten Flug gehabt hätten.
Dryden starrte ihn glasig an; ich warf einen Blick auf
das verblaßte Band des Ehrenabzeichens auf seiner
Brust. Es war ein Blick, der Bände sprach. (Kyril
Bonfiglioli: Charlie Mortdecai in Das große
Schnurrbart-Geheimnis, S. 78 f.)
... verwandelten wir unsere letzten Kräfte darauf,
die Treppe zu Drydens Räumen zu erklimmen,
während unsere ausgedörrten Zungen in unseren
Mündern raschelten und unser Mut einzig von der
Gewißtheit aufrechterhalten wurde, daß Krüge des
reinen, belebenden 'Haig und Haig' auf uns warteten,
wenn wir uns nur zu ihnen durchschlagen konnten.
Wir stürzten hinein und fielen mit wildem Knurren
über die nahrhafte Flüssigkeit her - Hogarth oder
Rowlandson hätten im Nu ihre Skizzenbücher
gezückt. Wir strahlten uns an, während unsere
Blutbahnen vor Vergnügen glucksten wie ein
ausgetrocknetes Bächlein, das eine Flut
willkommen heißt. (Kyril Bonfiglioli: Charlie
Mortdecai in Das große Schnurrbart-Geheimnis,
S. 81)
Ich wurde eingelassen von einem Diener, der nach
Bier roch, übernommen von einem Butler, der nach
Rasierwasser roch, und in Seiner Gnaden
Studierzimmer geleitet, das nach einer Zigarrensorte
roch, nach der allein Herzoge trachten. Ein gerade
abnorm langer Herzog entfaltete sich wie der
Zollstock eines Zimmermanns aus seinem Lehnstuhl;
Abschnitt um Abschnitt rastete in der Vertikalen ein,
bis seine gewölbte Stirn von dem blauen Rauch
umhüllt war, der sich auf der Höhe des Gesimses
ballte. (Kyril Bonfiglioli: Charlie Mortdecai in Das
große Schnurrbart-Geheimnis, S. 92)
Ja, wir haben in der Tat eine sehr gründliche
Untersuchung am corpus delictibus vorgenommen -
unser Pathologe ist ein eifriger junger Bursche,
immer auf der Suche nach dem perfekten Verbrechen.
Wenn Sie sich von der Spitze eines Wolkenkratzers
schmeißen würden, würde er Sie auf Schlangenbisse
untersuchen und auf seltene Pflanzengifte, die die
Wissenschaft nicht kennt. (Kyril Bonfiglioli: Charlie
Mortdecai in Das große Schnurrbart-Geheimnis, S.
105)
"Der normale Kunde glaubt, daß wir Landeier den
lieben langen Tag mit dem Daumen im Hintern
herumsitzen und jedesmal Scotland Yard rufen
müssen, wenn eine alte Dame mit dem Dosenöffner
zum Gaszähler geht, aber Tatsache ist, wir haben
eine hochbegabte Klasse von Schurken in Oxford.
Einige Gäste in unserem kleinen Hotel - ja, das ist
das örtliche Kittchen - sind wirklich überaus
erfinderisch. Ich könnte ein oder zwei von denen
nennen, die würden Ihre Socken stehlen, ohne Ihnen
die Schuhe auszuziehen." (Kyril Bonfiglioli: Charlie
Mortdecai in Das große Schnurrbart-Geheimnis, S.
104)
Wie kommt es, daß eine Technologie, die den
Menschen auf den Mond geführt hat, nicht in der Lage
ist, ein so elementares Gerät wie einen stillen
Staubsauger hervorzubringen? Oder, wo wir schon
dabei sind, einen geräuschlosen Geschirrspüler, einen
gedämpften Küchenmixer? Die Antwort ist, nehme ich
an, daß Frauen sie nicht kaufen würden. Das Axiom
der Hausfrau ist, daß Arbeit nicht nur verrichtet
werden muß, sondern daß sie hörbar verrichtet
werden muß, und daß, je öfter sie ihren dösenden
Ehemann dazu bewegen kann, sich wie ein
schwankender Fasan aus seinem Lehnstuhl zu
erheben, sein Herz darob um so mehr schmelzen wird
angesichts der unaufhörlichen Plackerei seiner Gattin.
Vermutlich wird der erste Mensch ein Vermögen
machen, der ein Patent auf einen wirklich
geräuschvollen elektrischen Lockenwickler oder einen
lärmenden automatischen Sockenstopfer anmeldet.
Der pfeifende Teekessel hat die Richtung gewiesen.
(Kyril Bonfiglioli: Charlie Mortdecai in Das große
Schnurrbart-Geheimnis, S. 131f.)
"Hände in die Luft, Gentlemen!" Eine unvertraute
Stimme - halb Mann, halb Frau, halb automatische
Ansage - bellte hinter uns. Wir drehten uns um,
Hände in der Luft. Aber die Eigentümerin der Stimme
war uns nur allzu vertraut. "Petal!" rief Holmes aus.
Vor uns stand die monströse, riesenbrüstige
Polizistin, die ich zum ersten Mal in der Polypenwache
von Buckinghamshire gesichtet hatte. Mit ein paar
angehängten Drähten und dem gelegentlichen
Explodieren von Helium in ihrem Arsch hätte sie eine
lohnendere Anstellung als Sperrballon finden können.
Kopfstehend auf einem grasbewachsenen Hügel in
einem Stadtzentrum wäre sie eine todsichere
Anwärterin auf eine Goldmedaille des Königlichen
Instituts Britischer Architekten (RIBA) gewesen. Aber
gegenwärtig richtete sie ein doppelläufiges Gewehr
auf uns. "Petal, meine Liebe, was tun Sie hier?"
Holmes sprach zu ihr mit einer dieser sanften,
freundlichen, fürsorglichen Stimmen, die bei der
Polizei für übergewichtige weibliche Wahnsinnige mit
Gewehren vorgesehen sind. (Kyril Bonfiglioli: Charlie
Mortdecai in Das große Schnurrbart-Geheimnis, S.
269)
Ich machte mich an den täglichen Schrecken des Aufstehens. Mit
gelegentlicher Hilfestellung durch Jock schleppte ich mich
vorsichtig von der Dusche zum Rasierapparat, von der Dexedrin zu
der unerträglichen Entscheidungsfindung, welche Krawatte ich
tragen sollte, und erreichte vierzig Minuten später wohlbehalten
den Frühstückstisch mit dem einzigen Frühstück, das diesen Namen
verdient - das Eisenbahner-Frühstück, bei dem der Kaffee in der
großen Tasse durch Rum wie mit Spitze und Filigran verziert wird.
Ich war endlich wach. Mir war nicht übel geworden. Die Welt hatte
mich wieder. (Kyril Bonfigliolo: Nimm das Ding da weg!)
Wir warteten mehr oder weniger schweigend auf den Kaffee.
Martland versuchte ein Schwätzchen übers Wetter. Er gehört zu den
Leuten, die immer wissen, wann das nächste V-förmige Tief von
seinem Schlafplatz über Island aufbricht. Ich erklärte
freundlich, daß ich Meteorologie schlecht einschätzen könne,
solange ich noch nicht meinen Morgenkaffee getrunken hätte.
(Woher kommt bloß diese sonderbare britische Obsession bezüglich
des Wetters? Wie können bloß erwachsene männliche Weltreich-
Erbauer darüber diskutieren, ob es regnet, geregnet hat oder
regnen wird? (Kyril Bonfigliolo: Nimm das Ding da weg!)
"Jock", sagte ich, "ich gehe wieder ins Bett. Bitte bring mir
doch sämtliche Londoner Telefonbücher, einen Shaker voll
Cocktails - die Sorte ist egal, überrasch mich mal - und jede
Menge Sandwiches aus weichem Weißbrot und mit Brunnenkresse." Für
Dauertelefonate ist das Bett der ideale Ort. Es ist zudem
ausgezeichnet geeignet, wenn man lesen, schlafen oder einem
Kanarienvogel zuhören will. Es ist absolut nicht geeigent für
Sex; Sex sollte im Sessel, im Badezimmer oder auf Raenflächen,
die geharkt, aber seit längerem nicht mehr gemäht wurden,
stattfinden oder, wenn man zufällig beschnitten ist, an einem
Sandstrand. Wenn man zu müde für Geschlechtsverkehr außerhalb des
Bettes ist, ist man wahrscheinlich überhaupt zu müde und sollte
mit seinen Kräften haushalten. Frauen sind begeisterte
Verfechterinnen von Sex im Bett, weil sie (gewöhnlich) eine
schlechte Figur verbergen und (immer) kalte Füße haben, die sie
wärmen wollen. (Kyril Bonfigliolo: Nimm das Ding da weg!)
Jock hatte, seinem Auftrag entsprechend, offensichtlich alle
Alarmeinrichtungen miteinander verbunden, und als Martland,
meisterlich auf Zelluloid gebannt, sich seinen Weg durch meine
Eingangstür bahnte, hatte er sicherlich mit einer Bull-O-Bashan-
MK-IV-Sirene Bekanntschaft geschlossen und war in einem mächtigen
Schauer aus der automatischen Sprinkleranlage geraten. Zudem
hatte wohl eine durchdringend schrille Alarmglocke, die
unerreichbar hoch über der Haustür angebracht war, zu dem Spaß
beigetragen, und auf dem Polizeirevier in der Half Moon Street
wie auch bei der Niederlassung einer international bekannten
Wachgesellschaft in der Bruton Street, die ich stets nur die
"Feste-drauf-Jungens" nannte, hatten blinkende Lichter verrückt
gespielt. Eine niedliche kleine, japanische Kamera, die
automatisch Momentaufnahmen macht, hatte pausenlos von ihrem
luftigen Standort im Kronleuchter aus geklickt, und dann - das
war das Schlimmste - war sicher die zänkische Concierge
aufgebracht die Treppe heraufgestapft, wobei ihre bösartige Zunge
wie die Viehpeitsche eines Buren hin und her zischte. (Kyril
Bonfigliolo: Nimm das Ding da weg!)
Ich spazierte um den Wagen herum und bewunderte ihn platonisch.
Es hatte keinen Zweck, sich ihn zu wünschen - es war ein Auto für
reiche Leute. Er würde pro Meile mehr als einen Liter Benzin
verbrauchen, was in Ordnung ist, wenn man ein Ölfeld besitzt.
Milton Krampf besitzt eine Menge Ölfelder. Alles in allem würde
ihn der Wagen an die 24.000 Pfund kosten. Das zu bezahlen, würde
ihm ungefähr genauso weh tun, wie in der Nase zu bohren. (Es
heißt, daß ein Mann, der weiß, wie reich er ist, gar nicht reich
ist - nun, Krampf weiß es. Jeden Tag ruft ihm eine Stunde nach
Eröffnung der New Yorker Börse ein Mann an und erklärt ihm genau,
wie reich er ist. Das ist der Höhepunkt seines Tages. (Kyril
Bonfigliolo: Nimm das Ding da weg!)
Schließlich flüsterte Martland eine Spur zu laut: "Vielleicht
solltest du die alte Schnalle auffordern zu gehen." Mrs. Spon
fuhr zu ihm herum und giftete ihn an. Ich hatte von ihren
diesbezüglichen Talenten gehört, aber noch nie den Vorzug
genossen, dabeizusein, wenn sie ihr verbales Füllhorn
ausschüttete. Es war ein sprachliches und emotionales Fest, und
Martland schrumpfte sichtlich. Wenn es darum geht, so richtig vom
Leder zu ziehen, kann keiner einer wohlerzogenen, dreimal
geschiedenen Frau das Wasser reichen. (Kyril Bonfigliolo: Nimm
das Ding da weg!)
Aus praktischen Gründen kann der Normalverbraucher Botschafter in
zwei Kategorien einteilen: In die dünnen, die zumeist
verbindlich, wohlerzogen und leutselig sind, und in die
fleischigen, die nichts von alledem sind. Seine augenblickliche
Exzellenz gehörte eindeutig der zweiten Kategorie an; seine
großflächige Visage war feist, von Pockenarben zerfurcht und so
mit Pusteln, Mitessern und geplatzten Äderchen übersät, daß sie
an eine Flächenkarte des Trossach Tals in Schottland gemahnte.
Sein enorm großer, plaumenfarbener Kinnlappen hing schlaff herab,
und beim Sprechen besprühte er sein Gegenüber mit Speichel. Ich
konnte es nicht übers Herz bringen, ihn zu lieben, aber der arme
Kerl war vermutlich auf Geheiß der Labour Party dort - die Flure
seiner Machtbefugnis reichten nur bis aufs Herrenklo. (Kyril
Bonfigliolo: Nimm das Ding da weg!)
"Mein Kleiner, im Leben gibt es zwei Sorten von Menschen, die sollte
man um jeden Preis meiden. Vegetarier und Profiradsportler. Erstere,
weil ein Mann, der sich weigert, ein Steak zu essen, in seinem
früheren Leben garantiert ein Menschenfresser war. Und Letztere,
weil ein Mann, der sich ein Zäpfchen auf den Schädel schnallt und
sein Säckel in eine hässliche, grelle Hose zwängt, um auf dem
Fahrrad einen Berg hochzustrampeln, nicht ganz bei Trost sein kann.
Ich rate dir, junger Mann, solltest du je einem vegetarischen
Radsportler begegnen, remple ihn fest um, so gewinnst du Zeit, und
nimm die Beine in die Hand!" (Olivier Bourdeaut: Warten auf Bojangles)
Trotz des Hasses, den Max Rojais für Persönlichkeiten
hegte, war er außerordentlich liebenswürdig, wenn
eine ihn ansprach. Da er einen Teil seines Lebens
damit verbracht hatte, sich um sie zu bemühen,
stundenlang auf sie warten, sie trotz ihrer
Geringsschätzung zu befragen, durch ein Fenster
einzusteigen, wenn man ihn von der Tür vertrieb,
konnte er gegen seinen Willen nicht anders, als sie
anzulächeln. Er hatte das Gemüt eines Soldaten, den
man in den Tod schicken kann, vorausgesetzt, man
appeliert an seine guten Seiten, das eines
Domestiken, der an seiner Herrschaft hängt, wenn sie
ihm gegenüber liebenswürdig, so war er entwaffnet
und bestrebt, in seinen Artikeln ein sympathisches
Bild von seinem Gesprächspartner wiederzugeben. Er
versagte es sich jedoch nicht, in der Folge das
Schweigen des Interviewten, der kein Lebenszeichen
mehr von sich gab, da er keine Rücksicht mehr zu
nehmen brauchte, als Undankbarkeit zu deuten und
ihn unter die Vielzahl von Undankbaren einzuordnen,
von denen er sich umgeben glaubte. (Emmanuel
Bove: Menschen und Masken, S. 104f.)
Monsieur Dumesnil hatte die Angewohnheit, den
Leuten zu gratulieren. Er gratulierte allen. Er
gratulierte seinem Sohn, wenn dieser pünktlich zum
Essen kam. Er gratulierte seiner Frau, wenn sie etwas
eingekauft hatte. Die Bedeutung, die er sich beimaß,
hatte ihn, ohne daß es ihm bewußt war, dazu
verleitet, daß er dem Bedürfnis, anderen zu
gratulieren, nicht widerstehen konnte, so überzeugt
war er davon, ein Kompliment von ihm bereite
Freude. (Emmanuel Bove: Menschen und Masken, S.
106)
Sie gefiel sich darin zu behaupten, sie habe in ihrem
Leben viele Enttäuschungen erlebt und die Ehe sei
nicht das, was sie sich als junges Mädchen darunter
vorgestellt habe. Aber gleichzeitig bekundete sie eine
gewisse Heiterkeit, eine gewisse Freude an
Nebenbeschäftigungen, die ihre Worte auf sonderbare
Weise widerlegten. Sie beschwor diesen Widerspruch
ganz bewußt herauf, weil sie gerne auf ihn
aufmerksam machte; denn seit Jahren hatte sie stets
eine Antwort parat. So behauptete sie, man müsse
sich seine eigene Philosophie zurechtlegen, das
Leben geize trotz mancher Unannehmlichkeiten nicht
mit den Stunden des Glücks. (Emmanuel Bove: Ein
Junggeselle, S.9)
Tunner gehörte zu der Sorte Menschen, denen es nur
selten einfiel, daß sie vielleicht ausgenützt werden
könnten. Da er gewöhnt war, anderen seinen Willen
aufzuzwingen, ohne auf Widerstand zu stoßen, hatte
er eine stark entwickelte und sehr männliche
Eitelkeit, die ihn seltsamerweise bei fast jedermann
beliebt machte. Der Hauptgrund, warum er so darauf
versessen gewesen war, Port und Kit auf dieser Reise
zu begleiten, war zweifllos der, daß er bei ihnen wie
bei niemand anderem auf einen ausgesprochenen
Widerstand gegen seine unaufhörlichen Versuche, zu
dominieren, stieß. Dadurch wurde er gezwungen, in
ihrer Gegenwart seine Anstrengungen zu verstärken
und damit unbewußt seiner Persönlichkeit das Maß an
geistigem Training zu geben, das sie benötigte. (Paul
Bowles: Himmel über der Wüste, S. 56)
Tunner selbst war ein äußerst unkomplizierter
Charakter, der unwiderstehlich angezogen wurde von
allem, was außerhalb seiner geistigen
Auffassungsgabe lag. Sich damit zufrieden gebend,
eine Idee eben nicht zu begreifen, war eine
Angewohnheit, die er im Jünglingsalter erworben
hatte und die ihm jetzt in verstärktem Maß zu eigen
war. Wenn er einen Gedanken völlig begriffen hatte,
glaubte er, er müsse deshalb ein inferiorer Gedanke
sein; er mußte irgendwo unverständlich bleiben, um
sein Interesse zu erwecken. Diese Beobachtung
spornte ihn jedoch nicht zu weiterem Nachdenken an.
Im Gegenteil, sie versah ihn lediglich mit einer
gefühlsmäßigen Bewunderung für die Idee, die es ihm
ermöglichte, auszuruhen und sie aus der Ferne zu
bestaunen. (Paul Bowles: Himmel über der Wüste, S.
57)
Während die meisten jungen Schotten seines Alters
Röcke lüpften, Furchen pflügten und die Saat
aussäten, stellte Mungo Park dem Emir von Ludamar,
Al-Hadsch' Ali Ibn Fatoudi, seine bloßen Hinterbacken
zur Schau. Man schrieb das Jahr 1795. Georg III.
beschmierte in Schloß Windsor mit seiner Spucke die
Wände, in Frankreich verpatzte das Directoire so
ziemlich alles. Goya war taub, Thomas De Quincey
ein verdorbener präpubertärer Bursche. George Bryan
"Bean" Brummel strich gerade seinen ersten
gestärkten Kragen zurecht, der junge Ludwig van
Beethoven, ein Vierundzwanzigjähriger mit buschigen
Augenbrauen, machte in Wien mit seinem Zweiten
Klavierkonzert Furore, und Ned Rise saß mit Nan Punt
und Sally Sebum vor einer Flasche Wacholderfluch in
der "Sauf Syph-Taverne" auf Maiden Lane.
(T.C. Boyle: Wassermusik, S.13)
Sie brachen zu Fuß auf. Flußaufwärts, in Frukabu,
machte der Entdeckungsreisende Halt, um ein Pferd
zu erstehen. Der Besitzer war ein Mandingo-
Salzhändler. "Wirklich ein Spottpreis", sagte er, "für
so ein rassiges Füllen." Sie fanden das Tier hinter
einer Rutenhütte am anderen Ende des Dorfes
angepflockt. Es stand inmitten einer Hühnerschar,
knabberte Disteln und glotzte sie blöde an. "Prächtige
Zähne", sagte der Salzhändler. Das Pferd war kaum
größer als ein Shetlandpony, auf einem Auge blind
und so ausgemergelt, wie es steinalte Greise
manchmal sind. Offene Geschwüre, grün vor
Schmeißfliegen, übersäten die rechte Flanke, und eine
gelbliche Flüssigkeit wie dünner Haferbrei tropfte ihm
aus der Nase. Am allerschlimmsten war aber wohl,
daß das Tier zu senilen Fürzen neigte - gewaltige
Gasausbrüche, die die Sonne vom Himmel wischten
und die ganze Umwelt zur Senkgrube machten.
"Rosinante!" scherzte Johnson. Der
Entdeckungsreisende verstand die Anspielung nicht.
Er kaufte das Pferd. (T.C. Boyle: Wassermusik, S. 26)
In meiner Kindheit hatte nichts auf eine Verbrecherlaufbahn
hingedeutet. Ich war kein Waisenkind, ich wurde nicht geschlagen
oder ausgesetzt, ich hing nicht, eine Zigarette im Mundwinkel und
ein Stilett in der Tasche, an Straßenecken herum, ich hatte weder
einen Dachschaden infolge jahrelanger Aufenthalte in
Erziehungsheimen noch war ich moralisch und körperlich ausgezehrt,
weil ich auf taubenverschissenen Treppen im Ghetto Heroin gefixt
hatte. Nein – ich war ein Kind der Mittelschicht, ich wurde mit
Schokoriegeln, Fertiggerichten und Antibiotika gefüttert, bis ich
meine Eltern überragte wie der riesenfüßige Abkömmling einer anderen
Spezies, wie ein Kuckuckskind, das von Spatzen großgezogen wurde.
(...) Selbstverständlich brach ich, wie jeder andere ordentliche
Bürger mit unveräußerlichen Rechten, regelmäßig das Gesetz, indem
ich verbotene Substanzen erwarb und konsumierte, gewohnheitsmäßig
mit mehr als hundert Kilometern pro Stunde über die Schnellstraßen
brauste, auf Wasserbetten und in Yacuzzis vögelte, öffentlich
urinierte, mich wissentlich und vorsätzlich in die Gesellschaft von
Menschen begab, die usw., usw. Andererseits warf ich weder Abfall
auf die Straße noch war ich ein Erpresser, Einbrecher, Räuber,
Schläger, Vergewaltiger oder Mörder. Ich war einunddreißig,
ausgestattet mit der Umsicht und dem Konservatismus der Reife, und
konnte mit einigem Recht behaupten, vielleicht nicht gerade eine
Stütze der bürgerlichen Gesellschaft, aber doch einer ihrer
Strebebogen zu sein. (T.C. Boyle: Grün ist die Hoffnung)
Auswüchse gab es natürlich auch bei den
Volksbräuchen um das Sternsingen. Die Sternsinger,
die in meiner Kindheit von Hof und Hof und von Haus
zu Haus durch die verschneite Landschaft stapften
(oder bei mildem und schneelosen Wetter manchmal
mit dem Rad, dem sogenannten Drahtesel, fuhren.),
haben Schnaps und Most zu trinken bekommen, sodaß
sie abends oft schon betrunken waren und ihr "Die
haülign drei Kinign hand do" und ihre
Neujahrswünsche mehr lallend als feierlich singend
vortrugen. Wegen der Trinkerei mußten sie unterwegs
auch ständig austreten. Es machte aber kein schönes
Bild, wenn man immer wieder nach den Hausbesuchen
die drei Könige am Straßenrand stehen und
umständlich in ihren vielen Kleidern wühlen und
etwas suchen sah, um dann mit dem Gefundenen
gelb in den Schnee zu zeichnen. (Alois Brandstetter:
Vom Schnee vergangener Jahre, S. 133)
Die Menschen des Altertums hatte nämlich etwas
anderes, und zwar Besseres, versteh mich bitte
richtig, etwas Wichtigeres und Nützlicheres zu
tun, als sich ständig zu waschen, wie wir es
praktizieren. Heute liegen die Menschen doch
ganze Leben lang in Badewannen herum. Was
vergeuden die Menschen doch Zeit mit sogenannter
Hygiene und Kosmetik. Natürlich, mein Abt, wenn der
Mensch innerlich hohl und leer ist und an und
für sich zu nichts Gutem und Rechtem taugt,
dann kann er meinetwegen auch den halben Tag
im Badezimmer zubringen, in Schaumbädern und
Crembädern planschen und an sich herumreiben
und schrubben, er ist bereits so viel wie tot,
für die Menschheit gestorben, es ist nur, als
ob er sich noch einbalsamieren möchte. Natürlich
ist ein solcher Mensch das warme Wasser und die
Energie nicht wert, die er verbraucht, aber er
soll sie meinetwegen haben. Ein solcher Mensch
denkt sich offenbar, mein Körper ist zwar zu
nichts nütze, aber ich pflege ihn wenigstens.
Sein Körper eignet sich zu sonst nichts als
zu seiner Pflege. (Alois Brandstetter: Die
Abtei, S. 50)
Durch das kleine Fenster unseres Lagers
beobachteten wir aber auch das unbeschreibliche
Elend der Vertriebenen, die auf Pferdefuhrwerken,
bepackt mit den geretteten Habseligkeiten, die Straße
entlangzogen. Obwohl wir, jedenfalls die Kleineren in
der Gruppe, nicht wußten, worum es sich eigentlich
bei dem ganzen Verkehr und den vielen ernsten,
schwarzgekleideten Menschen handelte, und alles für
zwar aufregend, aber auch wieder für normal und
natürlich ansahen, kam angesichts dieser
Völkerwanderung in unserer Höhle doch eine gewisse
Betroffenheit auf, und die sonst stets vorhandene
Bereitschaft und Lust zu Übermut legte sich. Die
Älteren wußten natürlich, daß diese Menschen dort
draußen keinen Ausflug und keine Landpartie
unternahmen, was vielleicht die Jüngeren dachten,
und mancher sah traurig aus unserem anheimelnden
Nest auf die vielen heimatlosen Kinder und
übermüdeten alten Leute hinaus. "Macht jetzt das
Fenster zu", sagte der Karl, "wir rauchen noch eine!"
Letztlich waren wir Kinder durch unseren natürlichen
Unverstand vor dem Schrecken noch am besten
geschützt. Kinder sind lieb und lieblos, herzig und
herzlos zugleich. (Alois Brandstetter: Über den
grünen Klee der Kindheit, S. 16f.)
Eines schönen Sonntags zur Erntezeit sollte ich mit
meinen übrigen Geschwistern bei der Heuarbeit
helfen. Dazu fehlte mir aber jede Lust, ich freute
mich im Gegenteil darauf, während der Abwesenheit
der Hausleute im Garten einige Runden mit dem
Motorrad zu drehen. Ich war ungefähr zwölf Jahre alt,
aber schon sehr bibelfest. So sagte ich während des
Essens, daß die Sonntagsarbeit gegen Gottes Gebot
sei: Du sollst den Tag des Herrn heiligen. Auch das
Kirchengebot würde damit verletzt: Du sollst die
kirchlichen Feiertage nicht durch knechtliche Arbeiten
verunehren. Leider hatte aber gerade an jenem
Sonntag, wie zur Erntezeit üblich, der Pfarrer beim
Gottesdienst die Arbeit erlaubt und knechtliche Arbeit
freigestellt. Ich mußte darum päpstlicher als der
Papst sein. Jedenfalls sagte ich, daß ich mein
Gewissen durch die Erlaubnis des Pfarrers nicht völlig
entlastet sähe und daß ich darüber hinaus gewillt sei,
den Tag des Herrn trotz dieser Erlaubnis radikal und
total zu heiligen. So wie manche den Wehrdienst
verweigern, so verweigerte ich aus Gewissensgründen
den "Arbeitsdienst". Die Eltern wollten das vorerst
nicht gelten lassen, und Vater fragte mich, ob ich
nicht auch schon vom Vierten Gebot gehört hätte: Du
sollst Vater und Mutter ehren, auf daß du lange lebst
und es dir wohl ergehe auf Erden. Ich wandte aber
ein, daß ich es mit dem zweiten der Zehn Gebote zu
tun habe. Laß ihn, sagte die Mutter, wenn er nicht
will. Faulenzer, sagte der Vater. So hatte ich das
Prüfungsverfahren doch irgendwie bestanden und
durfte "gamen", das heißt zu Hause bleiben und das
Haus hüten. (Alois Brandstetter: Über den grünen
Klee der Kindheit, S. 29)
Früher konnte mir auch auf dem Gebiet der
Zimmermalerei nichts pastos und glänzend genug
sein, nun tendiere ich zu einer ganz neuen
Sachlichkeit. So habe ich seinerzeit zwei alte Betten,
die ich im Haus vorfand, grell angepinselt, das eine
orange, das andere in einem giftigen Grün, beides
wahre Schockfarben. Ich bin damals auch davon
ausgegangen, daß meine Besucher, wenn sie in
meinem Haus übernachteten und abends getrunken
hatten, so ihr jeweiliges Bett im Gästezimmer
leichter finden könnten. Ähnlich wie auch die Bienen
ihr Einflugloch am Bienenhaus unter anderem an den
dort aufgemalten Signalfarben erkennen... (Alois
Brandstetter: Über den grünen Klee der Kindheit, S.
97)
Lesen und Studieren führten nach der Ansicht meines
Vaters nahezu zwangsläufig in den Wahnsinn. Er
erzählte oft von einem weitschichtig verwandten
Bauern aus dem Innviertel, der seinen Sohn in Wien
"auf einen Rechtsanwalt" studieren ließ. Von einem
solchen Studium sagte der Vater, daß es sündteuer
sei und ein Bauernhaus verschlinge und leicht ins
Verderben führe. Dies ist keine niedrige, sondern im
Gegenteil eine sehr hohe Meinung vom Studieren. Im
Falle des weitschichtig Verwandten sei der
schlußendliche Effekt des ganzen väterlichen
Ehrgeizes gewesen, daß der Bauer um seinen Besitz
und der Sohn um den Verstand gekommen sei. Als
Gewerbetreibender mit einklassiger Volksschule hatte
der Vater außerdem Zeit seines Lebens die Studierten
als seine natürlichen Feinde und als diejenigen
erfahren, die ihn schikanierten und
herumkommandierten, von den Vorgesetzten beim
Militär und der Wasserrechtsbehörde mit ihren
ständigen kleinlichen Beanstandungen über die Ärzte
mit ihren horrenden Honoraren, nachdem ihm die
erste Frau im Wochenbett gestorben war, bis zu den
Nachstellungen des Finanzamtes. Daß man von ihm
eine Buchführung erwartete, erschien ihm eine
Zumutung. Er wollte nur arbeiten und sich im übrigen
schätzen (pauschalieren) lassen, wie es hieß. Ich bin
mir sicher, daß die Studierten seinen Arbeitseifer
unterschätzt hätten. Buchführen war ihm wie Bücher
lesen. Wer studierte, wollte offenbar die Bosheit
erlernen und wie man die einfachen Leute, die Bauern
und Arbeiter, übers Ohr haut. Ein Sprichwort nämlich
hieß: Eine gute Goschen ist besser als ein schlechtes
Bauernhaus. Lesen und Studieren war unsere Sache
nicht. Und es war allgemeine Überzeugung, daß
gerade Kinder aus unteren Schichten durch Studieren
wahnsinnig würden. (Alois Brandstetter: Über den
grünen Klee der Kindheit, S. 96f.)
Mit vierzehn Jahren begann ich eine Serie von
Selbstbildnissen. Ich bespiegelte mich von allen
Seiten. Manchmal versetzte ich mich auch in so
bizarre Posen, daß mich diese Verrenkungen sehr
beim Zeichnen behinderten, das Modell war dem
Maler im Weg. Meine Selbstbildnisse sind der
sinnfällige Ausdruck eines unübersehbaren Nazißmus.
Ich blickte aber so lange in den Spiegel, bis ich mir
selbst völlig rätselhaft und fremd wurde und
wahnsinnig zu werden meinte. Ich erwarb über mich
keine Klarheit, sondern handelte mir im Gegenteil
eine Identitätskrise ein. Bei meinen Selbstbildnissen
mangelte es übrigens völlig an der Kennbarkeit, jedes
Selbstbildnis war so gesehen ein Selbstmord. Immer
bin ich mir älter und finsterer geraten. Nichts aber hat
mich so gekränkt wie die Frage: Wer soll denn das
sein? Und wie oft habe ich mir den Hinweis auf den
Willi anhören müssen, der alle so gut "erwischte".
(Alois Brandstetter: Über den grünen Klee der
Kindheit, S. 104f.)
Irgendwo habe ich einmal gelesen, daß alles das, was
die Menschen der Natur antun, in Erfüllung des
Schöpfungsauftrages geschehe: Macht euch die Erde
untertan. Das hat wohl auch einmal einen Sinn
gehabt, als sich die Menschen durch die
undurchdringlichen Wälder der Vorzeit einen Weg
bahnten. Wenn sie aber nun quer durch den
Schießling und das Linnet, zwei kleine Bauernwälder
vor Wels, eine Schneise schlagen und abholzen, daß
links und rechts der Autobahn grad noch einige
schütter und verloren wirkende Bäume übrigbleiben,
die sich der Wind bald holen wird, so kann es sich
dabei nur schwerlich um ein gottgefälliges Werk
handeln. (Alois Brandstetter: Über den grünen Klee
der Kindheit, S. 145)
Wenn jeder, der seinen Amtspflichten nicht ganz
entspricht, sein Amt aufgeben würde, habe ich
gesagt, dann wären ja fast alle Ämter unbesetzt. Es
hat immer wieder kranke Gesundheitsminister und
geschiedene Familienminister oder - ministerinnen,
untaugliche Verteidigungs- und Kriegsminister und
asoziale Sozialminister und ungebildete
Unterrichtsminister und adelige
Landwirtschafsminister, die mehr nach Parfum als
nach Jauche gerochen haben, gegeben und
Steuerhinterzieher als Finanzminister und so fort. Wir
haben Wissenschaftsminister gehabt, die kaum bis
fünf zählen und die nicht mehr Latein gekonnt haben
als ich, Peter Glantschnig, und Außenminister, die nur
Latein und nicht Englisch gekonnt haben. Der langen
Rede kurzer Sinn ist, habe ich zu den Gerlamoosern
gesagt, habe ich zum Wiener gesagt, daß das Ideal
und die Wirklichkeit immer auseinanderklaffen. Nur
soll die Kluft halt nicht himmelschreiend sein. (Alois
Brandstetter: Hier kocht der Wirt, S. 112)
Allmählich wird einem die richtige Schreibung des Namens zu
einem Prüfstein, der Emil zum Prüfbuchstaben, ob es jemand
wirklich ernst mit einem meint oder ob er sich mit einem nur
approximativ und ungefähr und beiläufig beschäftigt. (...)
Ich würde in meiner Pedanterie gern so weit gehen, zu sagen,
daß jemand, der einen Eigennamen verschreibt, gegen das
Menschenrecht der Integrität und Unverletzlichkeit der Person
verstößt. (Alois Brandstetter: Kleine Menschenkunde, S. 10)
Sie war die beste Tänzerin im Lokal. Eine Kubanerin mit
Schlitzaugen und einem vorspringenden Arsch, der so
hart wie Stein wirkte. Sie hatte ein grausames,
mürrisches Gesicht, dessen Ausdruck nie wechselte,
während sie eine scheinbar endlose Serie improvisierter
Tanzfiguren erfand. Wie jeder andere junge Amerikaner
männlichen Geschlechts nahm ich an, sie wüßte mehr über
Sex als ich oder sei näher an ihm dran als ich. Ich
dachte, sie konnte so gut tanzen, weil sie ihre
Sexualität richten konnte, wohin sie wollte. Ich
begehrte sie, so wie man sich nach einer Safari oder
nach der Südsee sehnt. Ich begehrte sie sie, so wie es
einen manchmal nach einem mexikanischen Essen verlangt,
das einem den Mund verbrennt. Ich sah in ihr einen
Test, den ich unbedingt bestehen wollte. Außerdem war
sie viel authentischer in ihrem 'Anderssein' als jede
Frau, die ich bis dahin kennengelernt hatte. (Anatole
Broyard: Verrückt nach Kafka. Erinnerungen an
Greenwich Village, S. 143)
Gegenüber der Zeit nach der Jahrhundertwende sind die
Bärtigen, absolut gesehen, wohl weniger geworden, sie sind
aber, nachdem sie vorübergehend fast ausgestorben
schienen, deutlich im Vormarsch, also relativ zahlreich. Lauter
Künstler können das nicht sein. Da stünde es anders um
unsere Kunst. Einen anderen Professor, der ebenfalls einen
Zatschek-Freud-Bart trägt und im Fernsehen volkstümliche
Sendungen über Tierkunde macht, hörte ich vor einiger Zeit
sagen: Keinem Tier würde es einfallen, sich ein sekundäres
Geschlechtsmerkmal wegzuschneiden. Die Rasur hielt der
Spitzbart für eine Selbstverstümmelung und Kastration. Doch
ist, lieber König der Tiere, auch noch kein Lebwesen gesehen
worden, das sich ausrasiert, also bloßen einen Spitz-,
Backen-, Kinn, Schnurr- oder Lippenbart getragen hätte oder
einen in irgendeiner anderen Weise ornamentierten und
geometrisierten Bart. So eitel ist die unvernünftige Kreatur
nicht. (Alois Brandstetter: Kleine Menschenkunde, S. 75)
Im Bus hatte man als sitzendes Kind zwei potenzielle Feinde:
Soldatenwitwen und Invaliden, meist Einarmige oder -beinige, auch
Männer mit unheimlichen Vertiefungen in den kahlen Schädeln oder mit
violetten, in ihrer Form an die Kontinente im Diercke Weltatlas
erinnernden Brandmalen. Sie waren Übriggebliebene, Zeugen des großen
Krieges, der noch nah und für uns Kinder ein reicher Fundus an
durchaus attraktivem Grusel war. Die einen wie die anderen dieser
Mumien waren aus nachvollziehbaren Gründen schlecht gelaunt und
nicht zimperlich, wenn es darum ging, Kinder von den Sitzen zu
jagen. (Matthias Brandt: Raumpatrouille. Geschichten)
Die junge Konsumleiterin sprach einen niederschlesische Dialekt, wie
sie Eduard erklärte. Und sie war begabt, wie er vermutete. Sie sang
genauso leicht Harmonien wie Dissonanzen. Wenn es einen
übermächtigen, allwissenden Dirigenten geben würde, der das
Orchester des Lebens anführte, dann stünde sie nicht hier singend im
Leitungsbüro des Konsums Rote Plombe in Erfurt-Nord herum, sondern
auf den Bühnen der großen Musiketablissements. Ihre Lebenssymphonie
bestand jedoch bis dahin aus den Akkorden ihrer lebenserfahrenen
Mutter, die "Land, drei Männer und Flausen im Kopf aufgegeben
hatte" (Mutter). Anna schaffte es als fünftes von acht Kindern in
die Stadt, in die nächstgrößere. Sie probte einmal in der Woche mit
sechs Musikern im Kulturraum des Betriebswohnheims und spielte ab
und zu auf regionalen Liederfestivals, auf denen sie wegen ihres
avantgardistischen Repertoires (Schönberg, Strawinsky und so weiter)
und den experimentellen Texten oft als "Konzeptstelzen!" (Publikum)
ausgebuht wurden. Sie dagegen taten die gefeierten Liedermacher als
"Biermannschleudern!" ab. (Emma Braslavsky: Aus dem Sinn)
Was hast du? Bist du krank? Bosche moj! Was machen die hier mit dir,
mein armes Mädchen! (Als sie "die hier" sagte, sah sie den Beamten
auf ihre scheue Art verächtlich von der Seite an.) Nadja seufzte.
Ist schon gut, Mutter. Ich bin nicht krank, nur schwanger. Und sie
behandeln mich gut. Ihre Mutter stellte das Heulen ein und sah sie
verwundert an. Schwanger?! Hinter ihren trockenen Augen kam wieder
diese Wüste auf, durch die Nadja ihre ganze Kindheit hindurchgemußt
hatte. Dieses Kamelglotzen! Ein Blick, der nirgendwohin führte, eine
sibirische Tugend, eine Ich-Versunkenheit zwischen zu großen
Birkenwäldern und unendlich viel ödem Rußland, wie ein schüchternes,
ja ängtlich-stilles Spähen in den eigenen Hinterwald, das nur eine
Ohrfeige hätte beenden können. (Emma Braslavsky: Aus dem Sinn)
Er öffnete die Augen und sah zur Decke hinauf. War die
Angst vor Verschwendung in ihm so mächtig, weil die
Zukunft ihm so leer erschien, und war die Art, wie er
heizte, nicht deshalb sogar ein Abbild seiner selbst?
Was genau hinderte ihn daran, ein paar Kohlen mehr in
die Öfen zu legen. War es vielleicht das Bemühen, ein
nicht gerade erfolgreiches Leben auf kleiner Flamme
fortzusetzen, war es vielleicht schon ein Einigeln in
ein Dasein, das keinen Luftsprung mehr voraussah, oder
war es schlichtweg Rechthaberei, die ihn, wider
besseres Wissen und also auf ekelhafte Weise, behaupten
ließ, es sei auch mit drei Kohlen im Ofen über den Tag
schon warm genug? Gönnte er sich vielleicht selbst
keine Wärme mehr und bestand sein Leben nur mehr aus
dem Wunsch, seine Familie in seine innere Kälte mit
hineizuzwingen? (Jan Peter Bremer: Der amerikanische
Investor, S. 101)
Mrs. Wilson brillierte mehr denn je mit ihrem reichen
Schatz an letzten Neuigkeiten und alten
Skandalgeschichten, die sie durch nebensächliches
Fragen und Bemerkungen verknüfte oder auch durch häufig
wiederholte Äußerungen, die offensichtlich nur den
Zweck erfüllten, ihren niemals erlahmenden
Sprechwerkzeugen auch nicht einen Augenblick der Ruhe
zu gönnen. Sie hatte ihr Strickzeug mitgebracht, und es
schien, als habe ihre Zunge mit ihren Fingern die Wette
abgeschlossen, daß sie ihnen an hurtiger und
nimmermüder Beweglichkeit noch überlegen sei. (Anne
Brontë: Die Herrin von Wildfell Hall, S. 51)
Es war wirklich erfrischend, eine solche Predigt zu hören, nachdem
man so lange die trockenen, weitschweifigen Homilien des früheren
Hilfspfarrers hatte anhören müssen. Letzterer fegte wie ein
Wirbelwind durch den Kirchengang, daß sein schwerer, seidener Talar
hinter ihm herwehte und an den Kirchenstuhlthüren rauschte, bestieg
die Kanzel, wie ein Eroberer seinen Triumphwagen, sank dann in einer
studirt-anmuthigen Artitude auf das Sammetkissen, blieb eine
Zeitlang dort stumm, murmelte die Collecte und schnatterte das
Vaterunser, stand auf, zog einen helllavendelfarbigen Handschuh aus,
um der Gemeinde seine funkelnden Ringe bewundern zu lassen — strich
mit den Fingern durch sein schön gekräuseltes Haar, schwenkte sein
Battisttaschentuch, recitirte eine sehr kurze Stelle, oder
vielleicht auch eine bloße Redensart aus der Heiligenschrift, als
Text für seine Predigt, und hielt dann eine Rede, welche als solche
wohl gut sein mochte, aber viel zu studirt und geschraubt war, um
mir zu gefallen. (Anne Brontë: Agnes Grey)
Unsere Kleider wurden bis an den äußersten Rand des Anständigen
ausgebessert, gewendet und gestopft, unsere stets einfache Nahrung,
mit Ausnahme der Lieblingsgerichte meines Vaters, bis zu einem
unerhörten Grade vereinfacht, mit den Steinkohlen und Lichtern
äußerst sparsam umgegangen — die zwei Lichter auf dem Tische auf
eines reducirt, und dieses auf das Sparsamste gebraucht, die Kohlen
sorgfältig in den halbausgebrannten Kamin zusammengescharrt,
besonders wenn mein Vater in Amtsverrichtungen ausgegangen oder
durch Krankheit auf sein Bett beschränkt war — wo wir dann mit den
Füßen auf dem Kamingitter saßen, von Zeit zu Zeit die verlöschenden
Kohlen zusammenscharrten und mit unter eine kleine Quantität von dem
Staube und den zerbröckelten Kohlen darauf schütteten, um sie nur in
Gluth zu erhalten. Was unsere Teppiche betraf so wurden sie mit der
Zeit bis zur Fadenscheinigkeit abgetragen und selbst noch mehr
ausgebessert und gestopft, als unsere Kleider. (Anne Brontë: Agnes
Grey)
Um die Kosten eines Gärtners zu ersparen, übernahm es Mary und ich
den Garten in Ordnung so halten, und alle Küchen- und Hausarbeit,
die nicht leicht von einer Magd besorgt werden konnte, wurde von
meiner Mutter und Schwester verrichtet, wobei ich ihnen zuweilen
einige Hilfe leistete, aber nur eine sehr geringe, weil ich zwar,
meiner eigenen Schätzung nach, ein Weib, in ihren Augen aber doch
noch ein Kind war, und meine Mutter, wie die meisten thätigen
Hausfrauen, nicht mit sehr thätigen Töchtern begabt war, aus dem
einfachen Grunde, daß sie, die selbst so Geschickte und Fleißige,
sich nie versucht fühlte, ihre Angelegenheiten einer Andern
anzuvertrauen, sondern im Gegentheil für Andere ebenso gern handelte
und dacht, wie für sich selbst, und welches Geschäft sie auch
vorhaben mochte, meistentheils doch glaubte , daß Niemand es so gut
thun könne, wie sie. Wenn ich mich also erbot, ihr Beistand zu
leisten , so erhielt ich Antworten wie: — Nein, liebes Kind, das
kannst Du wirklich nicht. — Hier giebt es für Dich nichts zu thun,
geh und hilf Deiner Schwester oder bewege sie dazu, mit Dir
spazieren zu gehen. (Anne Brontë: Agnes Grey)
Sie machte Liebe, wie sie sprach, indem sie die
Grammatik und die Rhythmen des Aktes in ihre
Bestandteile zerlegte. Junge Männer neigen zu monotonem
Sex, aber Sheri griff meine Monotonie auf und variierte
sie, als komponierte sie eine Fuge. Wenn ich ein Kolben
war, dann war sie Klees Zwitschermaschine. Sie war wie
eine jener modernen schwarzen Jazzsängerinnen, die
gegen die Melodie ansingen und das natürliche Ende von
Notenfolgen ignorieren. Die meisten Menschen finden
beim Sex zu irgendeinem gemeinsamen Rhythmus, aber
Sheri wies alle meine Koordinationsversuche ab.
(Anatole Broyard: Verrückt nach Kafka. Erinnerungen an
Greenwich Village, S. 20)
Alles, was Olga sagt, gerät ihr durch Wiederholung zu
lang, besonders dann, wenn Alkohol sie beflügelt. Das
ist oft der Fall, wird aber nicht immer bemerkt, weil
sie heimlich trinkt und sich in der größten Trunkenheit
noch beherrschen kann. So gut kann sie das, daß man
sich fragt, was sie von ihrem Rausch eigentlich hat,
wenn sie ihren Hemmungen nie gestattet, sich zu
lösen. Alle Mitarbeiter (aber nicht die Gäste) wissen
natürlich von ihrem Alkoholverbrauch, und sie weiß,
daß sie es wissen, läßt aber trotzdem die Bremsen in
sich niemals los. Wenn sie befürchtet, daß ihre
Schritte torkelig werden, macht sie eben keine, und
wenn die Zunge Lähmungserscheinungen zeigt, kann
sie auch schweigen. (Günter de Bruyn: Neue
Herrlichkeit, S. 8)
Die Mutter aber sieht ihren Sohn an: ein wenig
verliebt, ein wenig besorgt und nicht ohne Spott.
Viktor kennt diesen Blick und weiß ihn zu deuten. Nur
Verliebt- und Besorgtheit sind echt; das Spöttische
ist darübergelegt, um Distanz zu bekunden. Eine
moderne Frau, wie sie sie versteht, hat zwar Gefühle,
darf sie auch zeigen, muß aber deutlich machen, daß
sie beherrschbar sind. Tränen werden also von einem
Witzwort begleitet, Depressionen fachmännisch
erklärt, und wenn sie ihrem Äußeren Jugendlichkeit zu
geben versucht, fehlt nie der Hinweis auf die Eitelkeit
alter Frauen. (Günter de Bruyn: Neue Herrlichkeit, S.
10)
Nun aber, erfährt Viktor telefonisch, ist J.K. krank.
Das ist erschreckend und erheiternd zugleich. Den
kraftstrotzenden Mann, dem Schwäche bisher
defätistisch und Krankheit moralisch anrüchig
erschien, kann man sich als Patienten nicht
vorstellen. Jetzt fühlt sich der Löwe als Wurm; der
Halbgott, der Ärzte sowenig gebraucht hat wie
Priester, merkt, daß auch er sterblich ist. So gewaltig
wie früher die Kraft, ist nun der Jammer. Er fühlt sich
nicht nur geschlagen vom Schicksal, sondern auch
noch verhöhnt, weil es ausgerechnet die Prostata ist,
die ihn quält. Ehrenvoll zu Boden geht man in seinen
Kreisen durch Herzinfarkt, nicht aber so. (Günter de
Bruyn: Neue Herrlichkeit, S. 27)
"Die Leute", sagt Sebastian später und rechnet als
einer, der sie beobachten, durchschauen und erklären
kann, sich selbst nicht dazu, "die Leute mögen es
eigentlich nicht, daß, wenn man anderswo hingehört,
man so tut als sei man wie sie. Sie spüren die
Überhebung, die darin steckt. Ich bin wie ihr, heißt
doch: Neben dem, was ich bin, bin ich das, was ihr
seid, noch mit, also mehr. Da werden sie mißtrauisch,
aus Erfahrung, Ordnung sieht Absonderung vor, und
wer sie vergessen zu machen versucht, hat seine
versteckten Gründe. (Günter de Bruyn: Neue
Herrlichkeit, S. 42)
Sprachprobleme hat sie nicht nur mit dem S und mit
der Grammatik (gegen deren Regeln sie, nach Titas
Vorbild, manchmal in der Wahl der Fälle vorstößt),
sondern auch mit der Wortwahl - besonders wenn
Innenwelt dargestellt werden soll. Im Klagen also
fehlt ihr die Übung. Nie, bevor Viktor kam, ist es für
sie, wie er später erfährt, nötig gewesen, selbst
Gegenstand eigner Erzählung zu sein, weil nie
jemand da war, der sich für das Unfaßbare in ihr
interessierte. Von ihren Gefühlen kann sie also nicht
reden oder nur schwer, jedenfalls so nicht, daß ein
Wort ausdrücken kann, was sie meint. Sie muß nach
dem, was sie ahnt, erst mühselig suchen, muß bei
einzelnen Dingen beginnen, die sammeln und ordnen
- in der Hoffnung, daß sich am Ende, wenn sie vereint
sind, sowas wie eine Übersicht bietet, woraus ein
Begriff sich ergibt. (Günter de Bruyn: Neue
Herrlichkeit, S. 126f.)
Ihren Ärger läßt Schwester Benedikte an den jungen
Leuten aus. Ihnen, die sie für ein Ehepaar hält, lastet
sie alles an, was die neue Zeit, die nur auf Nutzen
bedacht ist, an den Alten verübt. Arbeiten können sie
nicht mehr, und Ratschläge können sie auch nicht
mehr geben, da ihr Erfahrungsschatz schneller alt
wurde als sie. Dem Fortschritt sind sie im Wege, also
schiebt man sie ab. Wäre das Brot knapp, entzöge
man es ihnen; da aber die Zeit für Liebe und Güte
knapp ist, spart man damit an ihnen. "Aber auch
Liebesentzug", sagt Schwester Benedikt, "kann
tödlich sein." (Günter de Bruyn: Neue Herrlichkeit, S.
157)
Der Weg nach oben ist doch zu schmal, daß man ihn nur
allein gehen kann. Mitnehmen kann man da keinen. Zwar
glaubt man zuerst noch, nichts als den Arbeitsplatz und
die Gehaltsstufe zu wechseln, aber das erweist sich als
Illusion. Denn Freundschaften basieren auf gemeinsamen
Interessen, und die fehlen jetzt. Die beruflichen
Probleme sind andere, und über Autos und
Porzelannsammlungen läßt sich schlecht mit einem reden,
der angestrengt für einen Kühlschrank spart. Und wie
soll man über Fachberühmtheiten klatschen, wenn der
eine keine kennt. Hinzu kommt, daß Erfolg die
Erfolglosen erfürchtig oder neidisch macht. Ist beides
nicht der Fall, vermutet der Erfolgreiche es aber, was
zum gleichen Ergebnis führt: zur unauffälligen
Trennung. (Günter de Bruyn: Märkische Forschungen)
Er war seit Jahren Witwer. Das Haus und die
Gastwirtschaft versorgte seine Tochter, die bei ihrer
Heirat den Namen Leidenfrost mitbekommen hatte,
der haargenau zu ihr paßte. Sie war dürr wie der Tod,
ging von morgens bis abends, im Sommer wie im
Winter mit vergrämtem Gesicht umher, trug immer
dicke Wolltücher um den Oberkörper gewickelt und
sah so verfroren aus, daß den Gästen selbst im
Hochsommer das kalte Bier nicht bekam. Ihr Mann
war vermißt, aber obwohl mir das sehr leid tat, mußte
ich immer denken, daß er, wenn er wiederkäme, doch
nicht viel Freude an ihr haben könnte. (Günter de
Bruyn: Babylon. Erzählungen, S. 34)
In dem Alter, in dem ich anfing mich "für Jungs zu
interessieren", tat meine Mutter alles, damit dieses Interesse
schnell wieder abflaute. Sie hat einfach nie verstanden, dass
Sexualität nicht sexy ist. Beim Frühstück wurde über Vor- und
Nachteile verschiedener Verhütungsmethoden doziert; unvergessen
blieb vor allem, wie meine Mutter anhand einer Ravioli und einer
Weinflasche das Einführen eines Diaphragmas demonstrierte. So
hegte ich lange Zeit den Wunsch, Nonne zu werden. Das bot sich
schon aus dem Grunde an, weil alle meine männlichen
Bekanntschaften sich für ein Mönchsdasein entschieden hatten,
nachdem sie bei einem Besuch in meinem Elternhaus die Diashow der
Geschlechtskrankheiten hatten ansehen dürfen. Meine Entjungferung
fand nicht ohne Grund 4000 Kilometer weit von meinem Heimatort
entfernt statt. Denn nur so hatte ich eine relative Sicherheit,
dass meine Mutter nicht ins Zimmer spazieren und uns persönlich
beim Anlegen des Gummis behilflich sein würde.
(Katinka Buddenkotte: Ich hatte sie alle)
Das ist sehr langweilig, immer das Hemd zuerst und dann
die Hosen drüberzuziehen und des Abends ins Bett und
morgens wieder herauszukriechen und einen Fuß immer so
vor den andern zu setzen; da ist gar kein Absehen, wie es
anders werden soll. Das ist sehr traurig, und dass Millionen
es schon so gemacht haben, und dass Millionen es wieder
so machen werden, und dass wir noch obendrein aus zwei
Hälften bestehen, die beide das nämliche tun, so dass alles
doppelt geschieht – das ist sehr traurig. (Georg Büchner:
Dantons Tod)
Die Vorstellung, daß der Verlauf der Geschichte, wie
Pascal einmal meinte, von der Größe einer Nase
abhängen könne, läßt die Historiker für gewöhnlich
die Nase rümpfen. Sie haben unrecht. Denn zwar
nicht das Schicksal der Welt, an dem mir sehr wenig
liegt, aber mein persönliches Schicksal wäre durchaus
anders gewesen, hätte mich nicht ein ganz und gar
nichtiger Umstand, die Karies eines vorderen
Backenzahns, eines Morgens in das Vorzimmer des
Doktor Conciapelli geführt, wo ich, von der
Beklemmung des Wartens dazu getrieben, Ablenkung
bei den Anzeigen des "Messaggero" zu suchen, über
die Ausschreibung eines Sekretärinnenpostens beim
Verlagshaus Medardo Aquila & Co, via Cleopatra 16,
Rom, in Begeisterung geriet. Ich - bringen wir es
gleich hinter uns - habe Kunst, Musik und Schauspiel
in Bologna studiert, bis zur Auszeichnung; und ich
weiß Bescheid über Theater und Film, über Jazz und
klassische Musik, über Semiologie... Ich bin
intelligent (nehme an, es zu sein), pfiffig, entbehre
nicht der Schlagfertigkeit und des Scharfsinns. Schön,
nein. Eher, je nach Belieben, häßlich, recht häßlich,
ein wenig häßlich. Außerdem stehe ich in dem Ruf,
frigide zu sein, was sich für die Bewerberin um eine
Stelle als Trumpfkarte herausstellen kann, wenn der
Chef verehelicht und der, der über die Einstellung
entscheidet, die Ehefrau ist. (Gesualdo Bufalino:
Klare Verhältnisse, S. 11)
Nistico war fast immer als Priester gekleidet, womit
er gern den Glauben erwecken wollte, noch immer
einer zu sein (doch allseits sagte man, daß er nur ein
aus dem Seminar ausgestoßener Ex-Seminarist sei).
Das Kreuz dieses gebildeten Scharlatans, dieses
schüchternen Kraftprotzes war es - ich erröte, wenn
ich davon berichte -, daß er in aller Öffentlichkeit
unbeherrschbaren und jähen Erektionen ausgesetzt
war. Es nutzten keine kalten Duschen, um ein derart
wallendes Blut in die Schranken zu weisen, noch
genügten Feigenblätter aus großen Zeitungen als
Tarnung, wenn es ihn wieder einmal erwischte. Da
alle sich schon daran gewöhnt hatten, war ich die
einzige, die es geflissentlich vermied, ihn in seiner
Bedrängnis anzuschauen, wie er sich, in seiner
schwarzseidenen Kutte zusammengekauert, aus
Verzweiflung mit dem Heruntersagen der "Letzten
Dinge" oder der Texte der Kirchenväter in der
Mignéschen Ausgabe abreagierte. (Gesualdo Bufalino:
Klare Verhältnisse, S. 21)
Sein Auftritt war keineswegs glänzend, aber obwohl
die Person nicht darauf aus war zu gefallen, gefiel sie
mir. Es war für mich der erste Polizeikommisar aus
Fleisch und Blut, nach so vielen aus Papier, und ich
musterte ihn mit größter Aufmerksamkeit. Eher fünzig
als fünfundvierzig, hatte er das lässige, schlaksige
Gebaren von einem, der es schon aufgegeben hat, auf
Beförderung zu hoffen; aber die Schläue, um nicht zu
sagen: die Klugheit seiner Augen in einem von der
Mediterranen Sonne gegerbten Gesicht ließ vermuten,
daß er sich noch nicht ganz dem Verschleiß des
Berufs ergeben hatte und daß ihn, wenn schon nicht
der Hunger nach Gerechtigkeit, so doch wenigstens
ein mürrischer Eigensinn noch zu seinen Ermittlungen
trieb. (Gesualdo Bufalino: Klare Verhältnisse, S. 69)
"Wie kommt es, daß Sie nicht in der Armee sind?" "Ich bin
nicht durch die Musterung gekommen." "Sie machen Witze."
"Nein, gottseidank mach ich keine. " "Sie wollen nicht
kämpfen? " "Nein." "Pearl Harbor ist bombardiert worden."
"Hab ich gehört, ja." "Und Sie wollen nicht gegen Adolf
Hitler kämpfen?" "Eigentlich nicht. Mir ist lieber, andere tun
das." "Sie sind ein Feigling." "Ja, bin ich, und zwar nicht,
weil es mir viel ausmachen würde, jemanden zu töten,
sondern einfach weil ich nicht gern mit einem Haufen von
schnarchenden Kerlen in einer Kaserne schlafe, um mich
dann von irgendeinem geilen Schwachkopf mit dem
Signalhom wecken zu lassen. Außerdem trage ich dieses
kratzige olivgrüne Khakizeug nicht gern. Meine Haut ist
sehr empfindlich." (Charles Bukowski: Fuck Machine)
Bruder Stäblis Auftritt ist schlicht, ergreifend. Mit
seitwärts geneigtem Kopf tritt er vom Korridor auf die
Galerie, eine Abort-Chlorfahne nach sich ziehend,
schreitet über den knarrenden Laufsteg bis zur Mitte,
legt Bibel und Lebenslauf auf die Balustrade und läßt
sein Haupt wie eine Puppe, aus der man die Finger
gezogen hat, zum Gebet auf die Brsut sinken, was so
aussieht, als wolle er von oben einen Korb werfen, denn
der Ring mit dem zerfetzten Netz befindet sich genau
unter ihm. Hält er seine Grützbirne bereits beim
Eintreten so demütig schief, daß ich immer befürchte,
sie purzle ihm von der Schulter, wird man erst recht
bei seinem Brustspicken die Vorstellung nicht los,
Bruder Stäbli beuge sich einer allmächtigen,
alttestamentlichen Guillotine. (Hermann Burger:
Schilten)
Ein dreißigjähriger Schulsklave hat das Recht, vom
Alter zu sprechen: heruntergeschwirtschaftet,
ausgebrannt, lebensfremd, reif für die Verschollenheit.
Für mein Rechtfertigungsgesuch, meine permanente
Strafaufgabe, brauche ich einen großzügigen Raum,
sozusagen eine geistige Turnhalle, und es wäre pure
Ignoranz, wenn ich dafür nicht jene Lokalität in
Anspruch nehmen würde, die ausschließlich dem
Lehrkörper von Schilten gehört: das Lehrerzimmer, die
sogenannte Sammlung. Im komplizierten Vertragswerk, das
meine schulhäuslichen Wohnrechte außerhalb des Estrich-
Appartements regelt und aus dem zu zitieren für jeden
Paragraphen-Schlemmer ein Hochgenuß ist - heißt es
(...) Der Lehrer von Schilten hat (...) das Recht, die
Sammlung außerhalb der Unterrichtszeiten als privates
Studierzimmer zu benützen. (Hermann Burger: Schilten)
Ist, wo immer Sie in Lehrerzimmern Zehnuhrpausen
abverdient haben, jemals Stimmung aufgekommen, Humor,
der Sie nicht an Dörrobst erinnert? (...) Könnten Sie
mir auf Anhieb ein Pausen-Kollegium nennen, in dem Sie
eine einzige schulfreie Minute erlebt haben? Ist Ihnen
schon aufgefallen, daß die Gemütlichkeit in einem
Lehrerzimmer eine durchaus didaktische ist, daß
didaktisch gelacht, didaktisch Zeitung gelesen,
didaktisch auf die Uhr geschaut, didaktisch geatmet
wird? Würden Sie dem Satz beipflichten: Wenn drei
Lehrer in einem Lehrerzimmer unter sich sind,
verdreifacht sich das Lehrerhafte nicht, sondern wird
in die dritte Potenz erhoben? (...) Der Geruch, der
sich im Lehrerzimmer eingenistet hat und der durch
jahrzehntelanges Lüften nicht auszutreiben wäre, ist
der Inbegriff des Schulstubenmiefs: Scholarchen-Ozon,
das sich aus dem Muff überfüllter Krimskramsschränke,
dem Gestank verdorbener Chemikalien und dem
ausgetrockneten Schweiß verwaister Turnschuhe
zusammensetzt. Wer diese Luft ein Leben lang eingeatmet
hat, kriegt die für Pädagogen typische Kreidestaub-
Lunge. (Hermann Burger: Schilten)
Diesen Gerüchtemischern muß ich entgegenhalten: Was um
alles in der Welt gibt es nach einer Zensurfeier für
einen Lehrer noch zu korrigieren? Es ist ja denkbar,
daß ein Rechtschreibe-Fanatiker wie Haberstich selbst
am Tag seiner diamantenen Hochzeit Hefte korrigiert,
aber bestimmt nicht nach der Zeugnisverteilung. Wenn es
in einem solchen Lehrerleben eine korrigierfreie Minute
gibt, ist es die Minute nach der Zeugnisverteilung, wo
er befriedigt von den enttäuschten Gesichtern ablesen
kann, was er mit dem Rotstift angerichtet hat.
(Hermann Burger: Schilten)
Einer von der Schiltener Feuerwehr will einen
brenzligen Geruch wahrgenommen haben und vertreibt
bereits den Schüler, der rittlings auf dem Hydranten
hockt, Platz da, Platz da rufend. Von allen möglichen
Naturkatastrophen, die im Anzug sein könnten, hat der
Schulhausbrand die besten Aussichten, von den Leuten in
Erwägung gezogen zu werden, dies deshalb, weil die
Feuerwehr ihre sogenannte Trockenübung immer am Objekt
des Schulhauses durchführt und seit Jahren insgeheim
hofft, der supponierte Ernstfall trete endlich einmal
ein, damit man sehe, wie gut die Mannschaft eingespielt
sei. leider, um diese bittere Erfahrung kommt auch die
Schiltener Feuerwehr nicht herum, kräht der rote Hahn
nie dort, wo man gegen ihn gewappnet zu sein glaubt.
Ach ihr Zeusler, ihr seid doch allesamt nur erwachsen
gewordene Zeusler, die eine kindische Freude an jedem
Schwefelköpfchen haben, das aufflammt! (Hermann
Burger: Schilten, S. 151)
In dieser weitläufigen Praxis gibt es nicht nur ein
Labor, dessen chaotischer Zustand einen an den Anblick
eines Chemiezimmers nach geglückter Explosion erinnert,
sondern auch einen privaten Gebärsaal und, am Ende
eines langen Korridorschlauchs, ein Zahnarzt-
Abstellräumlein mit einem ausgedienten Operationsstuhl,
wo Doktor Krähenbühl eigenhändig den Wurzelheber
ansetzt, wenn es sein muß. Ein genialer, ein kompletter
Landarzt, Knochenschlosser und Gynäkologe, Spezialist
und Allgemeinpraktiker in einer Person. Man darf sich
nicht von seinen unsterilen Monsterspritzen,
verkleckerten Nierenschalen, rostigen Knochenscheren
und verwaisten Urinproben abschrecken lassen, sondern
muß dies alles dem Umstand zuschreiben, daß er
pausenlos im Einsatz ist, Tag und Nacht, also gewiß
keine Zeit hat für eine formalistische Revision seiner
Instrumente. Mit zwei Stunden Schlaf komme er aus,
sagen die einen, er schlafe überhaupt nicht, die
andern. Immer finden sich ein paar frische Blutspuren
an seinem schmuddeligen Arztmantel. Soll ein solcher
Hochleistungsmediziner zum Beispiel seine Zeit damit
vergeuden, sich zu rasieren? Schon allein die Frage muß
Ihnen unangebracht erscheinen, Herr Inspektor. In einem
seltsamen Kontrast zu seiner altmodischen, museumreifen
Praxis-Einrichtung, die bei den Patienten eher
Folterängste als Heilungs-Zuversicht aufkommen läßt.
(Hermann Burger: Schilten)
Als Versicherungsnehmer muß man sich daran gewöhnen,
daß man in den Augen der Gesellschaft ein reines
Risikopotential darstellt. (...) Bei diesem
außerordentlich offenen Gespräch in einer freundlichen
Atmosphäre - Versicherungsinspektor sind viel
diskreter, als es das Klischee wahrhaben will - ist mir
eine sehr sympathische Wendung aufgefallen. Arbogast
Nievergelt mußte immer mit der Formel operieren:
Gesetzt den Fall, Sie wären morgen nicht mehr da... Der
Inspektor muß den Kunden hypothetisch ums Leben
bringen, um ihm die Notwendigkeit einer
Lebensversicherung, und erst recht einer kombinierten
Lebens- und Risikoversicherung mit Doppelauszahlung im
Todesfall, plausibel zu machen. Er arbeitet mit
Todeshypothesen, während sonst die Leute immer nur
Existenzhypothesen aufstellen. (Hermann Burger:
Schilten)
Es wurde ein großer Erfolg. Zwar ist höchst zweifelhaft, ob
in der ganzen Scala ein einziger Mensch war, dem die Musik
der "Ermordung" wirklich gefallen hätte. Aber alle hatten den
Wunsch, sich auf der Höhe der Situation zu zeigen, zur
Avantgarde zu gehören. In diesem Sinne entbrannte ein
heimlicher Wettstreit in der Selbstüberwindung. Und
außerdem, wenn man mit größter Anspannung eine Musik
verfolgt, um in ihr jede Schönheit, jeden genialen Einfall,
jede verborgene Sinngebung aufzuspüren, dann ist die
Autosuggestion ohne Grenzen. (Dino Buzzati: Panik in der
Scala)
Er wußte: das war kein Traum. Denn im Traum
geschehen immer irgendwelche absurde und
ungereimte Dinge, und man wird dabei nie das Gefühl
los, daß alles falsch sei und daß man von einem
Augenblick zum anderen erwachen werde. Niemals
sind im Traum die Dinge so klar und greifbar, wie es
diese trostlose Ebene war, über die ein Häuflein
unbekannter Menschen heranzog. Alles das war so
seltsam und stimmte so genau mit gewissen
Phantasien Prosdocimos überein, denen er sich in
seiner Jugend hingegeben hatte, daß er jetzt gar
nicht auf den Gedanken kam, es könne sich hier um
ein wirkliches Ereignis handeln. Vielmehr glaubt er, er
sei tot, und Gott habe ihm verziehen. Er war des
Glaubens, in einem Jenseits zu sein, das offenbar
völlig unserer Welt glich, nur daß dort anständige
Wünsche in Erfüllung gingen und einen tiefen Frieden
des Gemütes hinterließen - während im Diesseits
immer irgend etwas selbst die schönsten Augenblicke
vergiftet. (Dino Buzzati: Die Tatarenwüste, S. 89)
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