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Allgemeine FAB / [A2]
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Ihm fiel ein, daß seine Mutter, als er angefangen hatte
zu onanieren, ihrem Mann beunruhigt einen Fleck in der
Unterhose gezeigt hatte, woraufhin er förmlich dazu
aufgefordert worden war, sich im Arbeitszimmer
einzufinden, dem Hochaltar des Hauses, in dem der Vater
mit einer Pfeife zwischen den Kiefern unaufhörlich in
deutschen Büchern fremdartige Krankheiten studierte.
Allein schon ins Arbeitszimmer gerufen zu werden kam in
seiner Kindheit einem feierlichen und schrecklichen Akt
gleich, und man trat, die Hände hinter dem Rücken,
während sich die Zunge bereits in Entschuldigung
verhedderte, resigniert in diesen hehren Ort ein wie ein
Kalb in den Schlachthof. Der Vater, der auf einem Brett
schrieb, das er auf den Knien hielt, warf ihm einen
strengen Seitenblick zu, der wie ein schwarzes Kleid
war, bei dem man die Unterrockspitze eines flüchtigen
Verständnisses erkennen konnte, und sagte mit seiner
schönen, tiefen Stimme, mit der er, auf der Bettkante
sitzend, das Buch in der Hand, während der
Halsentzündungen des Sohnes die Sonette von Antero de
Quental feierlich rezitierte, als führe er ein
Initiationsritual durch: -Sieh zu, daß du aufpaßt und
dich wäschst. (Antonio Lobo Antunes:
Elefantengedächtnis, S. 87)
Die Klasse SG-Filter hatte ein Poster mit Che Guevara
an der Wand, nährte sich geistig von Reich und
Dekorationszeitschriften, konnte nicht ohne Tabletten
schlafen und kampierte am Wochenende an der Lagune von
Albufeira, wo sie konspirative Pläne für die Gründung
einer marxistischen Arbeitsgruppe schmiedete, die vom
Stil Portugues-Suave schminkte sich nicht, trug die
Fingernägel ganz kurz, studierte Antipsychiatrie und
litt in verquerer Liebe zu häßlichen Liedermachern, die
verblichene, karierte Fischerhemden trugen und deren
Verständnis von der Gesellschaft kategorisch und
schematisch war; schließlich das Lumpenproletariat der
Selbstdreherinnen, die beim Klang von Pink Floyd auf
dem batteriebetriebenen Plattenspieler neben der Suzuki
ihrer Zufallsfreunde dahinschmolzen. (Antonio Lobo
Antunes: Elefantengedächtnis, S. 97)
Ihr Mund, rund wie ein Serviettenring, zeigte ganz
hinten die zittrige Träne des Zäpfchens, das wie ein
Pendel im Rhythmus ihrer Schreie ausschlug, ihre
Augenlider gingen über den scharfsichtigen Pupillen wie
Theatervorhänge zu, die aus Versehen mitten in einem
kunstvoll ironischen Brecht herunterrauschen. Die
Nylonfäden der Sehnen im Nacken spannten sich vor
Anstrengung unter der Haut, und der Arzt dachte, es sei
so, als wäre plötzlichen Fellini in eines dieser
schönen gelähmten Dramen von Tschechow hereingebrochen,
in den gasförmige Möwen vor zurückgehaltenem Schmerz
hinter der zitternden Flamme eines Lächelns verendeten,
und daß jenseits der Tür die Angestellten beginnen
würden, sich dienstfertig zu beunruhigen, weil sie
glaubten, er sei am schwarzen Gummi eines Strumpfbandes
erhängt worden. (Antonio Lobo Antunes:
Elefantengedächtnis, S. 15)
- Sie stehen (hören Sie mir gut zu) zu Ihrem Glück und
meinem Unglück vor dem größten Höhlenforscher der
Depression: achttausend Meter ozeanische
Traurigkeitstiefe, Schwärze glibbrigen Wassers ohne
Leben, nur das eine oder andere sublunare Monster mit
Fühlern, und all das ohne Unterseeboot, ohne
Taucherausrüstung, ohne Sauerstoff, was ganz
offensichtlich heißt, daß ich mich in die Agonie
befinde. Warum gehen Sie nicht nach Hause? fragte die
Krankenschwester, die ein praktisches Gefühl fürs Leben
und die unerschütterliche Gewißheit hatte, daß, auch
wenn die gerade Linie nicht zwangsläufig der kürzeste
Weg zwischen zwei Punkten sein mag, sie doch zumindest
zur Entlabyrinthisierung verschlungener Geister
anzuraten ist. (Antonio Lobo Antunes:
Elefantengedächtnis, S. 30)
Im Schutz der Ehrenjungfern des
Notariatsbürovorstehers, dessen Schnurrbart von
autoritärer Schüchternheit zitterte, kam der Psychiater
unversehrt an einem Alkoholiker vorbei, einem Insassen,
der zu seinen Bekannten gehörte und ihm jeden Morgen
beharrlich haarklein von unendlichen ehelichen
Streitereien erzählte, in denen die Argumente durch
lebhafte Feldschlachten mit Töpfen ersetzt wurden
(Also, Scheiße auch, Mann, da hab ich ihr einen über
den Kopf gebraten, hör mal, Doktor, da hat sie mir
hinterher 'ne Woche lang Brillantine gespuckt), an
einer spillerigen Dame, die Sekretärin war und in Panik
vor dem Sperma ihres Ehemanns lebte und ihn ängstlich
über die vergleichbare Wirksamkeit von
zweihundertsiebenundzwanzig verschiedenen
Verhütungsmitteln auszufragen pflegte, und an einem
Kranken mit den biblischen Bart eines Teichneptuns, der
eine begeisterte Bewunderung für ihn hegte, die sich in
gebrüllten Lobgesängen äußerte, alle von den Ammen der
Zwangsjacke in respektvollem Abstand gehalten, einander
den jeweiligen Knoblauchatem in die haarigen Ohren
flüsternd. (Antonio Lobo Antunes: Elefantengedächtnis,
S. 37)
Der Krankenpfleger mit der Spritze, mit dem er, wenn
sie beide diesselbe Schicht hatten, drittklassige
Krabben zu Abend zu essen pflegte, die der
Krankenpflegehelfer in einem Bierlokal am Martim Moniz
kaufte, schlug die therapeutische Banderilla in den
Trunkenbold, um seine zur Zeit in einer ruhigen Ebbe
sich befindenden Launen, die bald schon wieder wie eine
Sprungfeder losschnellen würden, zu besänftigen, und
fuhr mit einer feierlich segnenden Bischofswatte über
die Haut der Hinterbacken wie in guter Schüler, der an
der Tafel das Ergebnis einer für seine akrobatischen
Fähigkeiten zu leichten Übung löscht. Der Kranke zog
den Güürtel, der aus einer dünnen Schnur bestand, so
heftig hoch, daß dieser zerriß, und er schaute
verblüfft auf das Stück, das ihm aus der Hand fiel,
erschrocken wie ein Astronaut beim Anblick einer
Mondalge. - Du hast die Makkaroni vom Mittagessen
kaputtgemacht, applaudierte der Krankenpfleger, dessen
Rest an Zärtlichkeit sich unter einem Sarkasmus
verbarg, der zu offensichtlich war, als daß er echt
sein konnte. Der Arzt hatte ihn zu schätzen gelernt,
als er miterlebte, mit welchem Mut er den Kampf mit den
Mitteln aufnahm, die ihm die unmenschliche
Konzentrationsmaschine des Krankenhauses zur Verfügung
stellte. (Antonio Lobo Antunes: Elefantengedächtnis, S.
51)
Vor ihnen wisperte ein schielendes Mädchen, das einem
balzenden Spatzen glich, einem Vierzigjährigen
vertrauliches Gekicher zu, der sich wie eine Muschel
vorgewölbt hatte, um ihr hüpfendes Gelächter zu
empfangen. Der Psychiater hätte fast gewettet, daß er
Mann wegen des Fehlens von Kanten in seinen Gesten und
wegen des weiches Schwunges seiner Lippen, zwischen die
er in metronomgenauem Rhythmus Brotstückchen steckte,
die er dann ausgiebig, gemächlich und verächtlich wie
ein Kamel kaute, einmal Priester gewesen war. Von
seinen Augenlidern fielen trübe, langsame Seitenblicke,
und das schielende Mädchen knabberte hingerissen mit
schlechten Zähnen an einem seiner Ohren herum wie eine
Giraffe, die die dicke Zunge über die Gitter hinweg zu
den Eukalyptusbäumen ausstreckt. (Antonio Lobo Antunes:
Elefantengedächtnis, S. 74)
Diese Stadt, die seine war, bot ihm mit ihren
Boulevards und Plätzen immer das unendlich wandelbare
Gesicht einer kapriziösen Geliebten dar, das die Bäume
mit ihrem Schattenkegel melancholischer Gewissensbisse
verdunkelten, und es passierte ihm, daß er plötzlich
vor den Neptunen der Teiche stand wie ein Betrunkener,
der, wenn er sich von einer Laterne löst, unvermittelt
auf das grimmige Kinn eines humorlosen Polizisten
stößt, dessen kulturelle Nahrung aus den
Grammatikfehlern des Gefreiten auf der Wache besteht.
Alle Statuen wiesen mit dem Finger zum Meer, luden nach
Indien oder zu einem diskreten Selbstmord ein, je nach
Seelenzustand und dem Grad der Abenteuersehnsucht im
Lager der Kindheit. (Antonio Lobo Antunes:
Elefantengedächtnis, S. 101)
Die ewig graue, selbst in der Julisonne regnerisch
traurige Avenida Almirante Reis, zu beiden Seiten
entweder von Zeitungsjungen oder Invaliden gesäumt,
trottete zwischen zwei kariösen Gebäudekiefern zum Tejo
hinunter wie ein Herr in zu engen neuen Schuhen zur
Straßenbahnhaltestelle. In den Straßencafes, denen auf
Bretterpißpötten hockende Schuhputzer eine eigenartige
Kinderkrippenatmosphäre verliehen, brachten Unternehmer
mit wachsamen Augen geschmuggelte Uhren an den Mann. In
den Cafes, die riesig waren wie leere Schwimmbäder,
harrten einsame Kellner vor uralten Milchkaffees und
gebutterten Toasts aus dem Tertiär, in wartender
Haltung gefroren, des Jüngsten Gerichts. Von
Küchenschaben bewohnte Friseursalons schlugen
unerwartete Lösungen kapillarer Probleme für
phantasielose Hausfrauen vor, denen staubige
Kurzwarenläden mit Büstenhaltern, Moskitonetzen für den
Brustkorb, die mit ihren fabelhaften
Aufrichtungsfähigkeiten fünfundzwanzig Jahren ehelicher
Resignation zu erneuter Jugend verhelfen konnten, den
letzten Schliff verleihen würden. (Antonio Lobo
Antunes: Elefantengedächtnis, S. 106)
Der Notarsjunge auf der anderen Seite erklärte der
dicken Dame, die ihn begleitete, mit der würdigen
Selbstzufriedenheit der Starkdummen die Handlung von
Vetter Basilio. Man erahnte in ihm den Richter am
Obersten Gericht oder den Vorsitzenden der
Mitgliederversammlung eines Sportvereins, der tiefernst
aufgeblasenen Schwachsinn von sich gibt, und der
Psychiater fühlte für den Kerl einen Strom jenes
ehrlichen Mitleids, das er für diejenigen empfand, die,
unheilbar in Dummheit eingemauert, die Existenz der
anderen nicht bemerken. (Antonio Lobo Antunes:
Elefantengedächtnis, S. 162)
... winkte ihm aus der Taverne an der Straße zum
Friedhof zu, wo das Schild 'Nächstes Mal erwarte ich
euch hier' dem Tod die untergeordnete Bedeutung eines
Vorwands verlieh: Das Bestattungsinstitut Martelo
("Warum wollen Sie unbedingt leben, wo Sie doch für
fünfhunderte Escudos ein schönes Begräbnis haben
können?") zeigte Särge und direkt darüber Händchen aus
Wachs strategisch plaziert... (Antonio Lobo Antunes:
Elefantengedächtnis, S. 169)
Ein weiterer Mischling in unserer Familie kam nicht in
Frage, sogar Carlos, den niemand für einen Mischling
hielt, der nicht wie ein Mischling aussah, meine
Großmutter zog sich in sich zusammen, wenn er sie
küßte, beroch sich angewidert, weil er nach Senzala
roch, holte das Kölnisch Wasser aus der Tasche, machte
ihm zu Weihnachten keine Geschenke wie mir und meiner
Schwester, mied ihn, tat so, als hörte sie nicht, wenn
er mit ihr sprach, meine Großmutter, für die die
Afrikaner keine andere Rasse, sondern eine andere
zoologische Gattung waren, die bis zu einem gewissen
Grade Menschen nachahmen konnten, dennoch aber nichts
hatten, mein Gott, was sie zu Artverwandten machte, man
brauchte nur zu sehen, wovon sie sich ernähren, die
schlucken sogar Küchenschaben, man braucht nur zu
sehen, wie sie gehen, zu sehen, wie sie die kleinen
Kinder tragen, genauso wie Mandrille, meine Großmutter
in dem Echo von Todesröcheln, wie Jahre später, als der
Pater ihr, sie in einer Latein-Polka umtanzend, wie ein
Medizinmann verkleidet, allerdings ohne Anilin-Bemalung
oder Federn, Kreuze auf die Stirn zeichnete... (Antonio
Lobo Antunes: Portugals strahlende Größe, S. 164)
Vor dem Raum, in dem die Sprechstunde abgehalten wurde, gab es viele
Kranke, die still und schafsgleich darauf warteten, daß eine Tür
aufging und ihr Name gerufen wurde, sie betrachtet, abgetastet,
ihnen etwas verschrieben, sie beraten, sie mit einem Rezept in der
Hand wieder weggeschickt wurden: Kommen Sie im nächsten Monat oder
im übernächsten oder im überübernächsten, im überüberübernächsten
Monat wieder, tut uns leid, vielleicht haben wir dann ein Bett frei.
Leute auf langen Bänken, Papier, Zigarettenkippen und
Mandarinenschalen auf dem Boden, das Aschgrau einer granulösen
Helligkeit trübte schräg die Gesichter, eine Frau im Kittel fegte
zwischen tausend Beinen den Müll in ein Holzgefäß. Der Schnuller
eines Säuglings fiel auf die unsäglich dreckigen Fliesen, und die
Mutter stopfte ihn geschwind wieder in den zu einem gräßlichen
Gebrüll aufgerissenen Mund. Ein gelblicher Mann neben ihm, so dünn,
daß er wie aus Draht gemacht wirkte, las die sorgfältig mit dem
Daumennagel gefaltete Zeitung: die letzte Haltestelle, der letzte
Bahnhof, die Endstation: die Typen von den Bestattungsunternehmen
müssen hier täglich vor Anker gehen und ihre Geschäfte abschätzen,
Bilanz ziehen, die Anzahl der Särge errechnen. (Antonio Lobo
Antunes: Fado Alexandrino)
Eine kräftige Frau mit Schürze briet Vögelchen auf einem Grill aus
Ton, Meine bessere Hälfte, stellte der Besitzer sie stolz vor, ich
habe für diesen Leckerbissen den Fußball aufgegeben, wir
betrachteten ihr pockennarbiges Gesicht, den vorgewölbten Bauch, die
Krampfadern, die langen Haare auf den Beinen und nickten, Bei einer
Schnitte wie Ihrer würde sogar ich mich binden, Senhor Paz, lobte
der mit den Losen in der Hoffnung auf einen Gratisschnaps, oder, wer
weiß, vielleicht mochte er ja diesen traurigen Seehund, es gibt
Männer, die finden potthäßliche Frauen scharf, der Kneipenwirt gab
dem Geschöpf einen laschen, lustlosen Klaps auf den Hintern und
vergaß sie, wie wir, wenn wir mal zufällig einen Hund streicheln,
brav, und nun hau ab, du Töle, verstehen Sie, was ich damit sagen
will? (Antonio Lobo Antunes: Fado Alexandrino)
Ich glaube, Herr Hauptmann, daß man sich in eine Frau verliebt und
dann anfängt, innerlich zu verfaulen. – Genau das ist mir mit Dália
passiert, piepste wie ein nasses Vögelchen der Funker, der auf der
Sitzstange seines Stuhles balancierte. Und die Scheiße ist dabei
noch, daß, wenn man es schließlich doch schafft, alles immer noch
prosaischer, noch schlimmer ist, die Dinge nicht so ablaufen, wie
man es sich vorgestellt hat, das Leben beginnt mieser zu werden, und
wenn wir es merken, verdammt, ist, krack, das Geschirr zerbrochen,
man schaut auf die Scherben und kann nichts mehr machen.
(Antonio Lobo Antunes: Fado Alexandrino)
...den Transvestiten Scherze zuriefen, die sich am Tresen
ihrer Perücken entledigten, um sich eilig ein paar
männliche Tresterschnäpse einzuverleiben.
Einige dieser Frauen mit Bart, die tätowiert und mit
Cremes bedeckt waren, leisteten uns melancholisch bis
zum Morgengrauen Gesellschaft, mehr Bier, mehr Wein,
mehr Oktopussalat, mehr Pipis, und das Make-up platzte,
in dem Maße, wie die Stunden voranschritten, auf wie
morscher Putz, Risse und Sprünge öffneten sich auf
den Wangen und auf der Stirn, Farbe kristallisierte
am Hals aus, unter den Wimpern froststarrer Eulen
erschienen Augenringe der Schlaflosigkeit, die Stimmen
wurden tiefer, die Gesten wurden männlicher und
komplizenhafter, der Kellner der Imbißstube löschte
das Neonlicht an der Decke, und wir traten hinaus in
die weiße Helligkeit des Morgens, von jenen merkwürdigen
Amphibien ohne Geschlecht begleitet, die sich in
Pensionszimmer in Santa Marta oder Alcäntara flüchteten,
wo sie in den Nestern ihrer Eisenbetten die komplizenhafte
Wiederkehr der Dämmerung erwarteten. (Antonio Lobo Antunes:
Fado Alexandrino)
Er erinnerte sich an die Stirn, die ihm mühsam die gasige Hirnmasse
zusammenhielt, daran, daß ihm aus dem Tontopf seines Herzens, durch
den Bauch und die Glieder ein Busch aus im Fleisch steckenden
Drahtarterien wuchs, deren Harfengeräusch ihm weh tat, daß seine
Füße unbedingt in der von Gerüchen, Rülpsern, wie Luftschlangen sich
entfaltendem Gelächter, Schnarchen und Seufzern gesättigten
Atmosphäre frei herumfliegen wollten, er erinnerte sich daran, daß
er aus unerfindlichen Gründen einen blonden Saxophonspieler schlagen
wollte und weinend die Knie eines im Koma befindlichen
Redaktionschefs umarmt hatte, er erinnerte sich an die Straße, die
sich elastisch, glitschig, regennaß unter den Sohlen auf- und
einrollte, an das sarkastische Ballett der Laternen, an die
Fassaden, die ständig auf seine Schultern stürzten, und dann an das
Taxi (Wäre es nicht besser, Ihren Vater ins Krankenhaus zu bringen,
junges Fräulein?) und an das Motorengeräusch, das ihn am Damm
kratzte, an die Pensao O Meu Lar neben der Casa da Moeda, deren
blaue Laterne mikroskopisch klein an den Antipoden flimmerte, daran,
daß er sich auf den Bürgersteig gehockt und die menschenleeren
Fenster Arschlöcher genannt hatte, daran, daß du mir die Treppen
hinaufgeholfen, das Zimmer bezahlt, mich mit aller Kraft auf das
Bett geschubst hast, ich von Übelkeit erfaßt, schwindlig, kraft- und
lustlos, wie du das Licht ausgemacht, die Stiefel weggeschleudert
hast, und ich habe gesehen, wie du dich im aufkommenden, nebligen
Morgen Stück für Stück mit Gesten ausgezogen hast, die sich fließend
aus den Augen verflüchtigten wie das zufällige Lächeln eines Babys.
(Antonio Lobo Antunes: Fado Alexandrino)
Wäre Marilyn Monroe an der Seite einer kleinen,
dürren, pickligen, ihr Leben lang Zahnspange
tragenden Schwester durchs Leben gegangen,
hätte man sagen können: Offenbach und Frankfurt
wirkten nebeneinander wie die Monroe-Schwestern.
(...) ... kam auf einen etwa fußballfeldgroßen
Platz, dessen eindrücklichstes Gebäude dem
Bedürfnis entsprungen zu sein schien, dem
Zweiter-Weltkrieg-Bunkerbau eine zivile Chance
zu geben. Ein riesiger, verschachteleter,
unverputzter Haufen Beton, der sich wie ein
graues Ungeheuer in die Runde aus silberfarbenen
Kaufhäusern und bunten Ladengalerien drängte.
Obwohl Schilder versprachen, das Ungeuer
enthalte Pizzeria, Eiscafe und Supermarkt,
und trotz des Bemühens, mit Außentreppen,
luftigen Durchgängen und Terrassen für so
was wie einladende Atmossphäre zu sorgen,
wurde man das Gefühl nicht los, beim Betreten
sofort festgenommen, erschosssen und zu
irgendwas verarbeitet zu werden. (Jakob
Arjouni: Kismet, S. 113f.)
Keine Ahnung, ob der Laden einem irischen Pub entsprach.
Dafür entsprach er der Sorte Kneipe, an die man sich am
nächsten Morgen selten erinnert, weil sie immer erst gegen
Ende einer Sauftour, wenn alles andere schon geschlossen
hatte, in Frage kam. Halbwegs nüchtern setzte sich wohl
kaum jemand in einen mit hellbrauner Rauhfaser tapezierten
und dunkelbraunem, drahtigem Teppichboden ausgelegten
zwanzig Meter langen Schlauch, der nur ein Fenster besaß.
Für nicht viel mehr als Notbeleuchtung sorgten kleine blaue
nachttischlampenähnliche Kugeln mit gelben Schirmen auf
den Tischen und verbreiteten eine Stimmung, als residiere hier
normalerweise das örtliche Freitodkomitee. Dazu lief,
wenigstens am Anfang, dieses typisch irische Hoppladihop-
Gefidel und -Gejodel, bei dem ich mich immer frage, ob die
Iren das auch selber hören oder nur exportierentiert als Teil
ihrer erfolgreichen Nix-zu-fressen-aber-heiter-Folklore
produzieren. (Jakob Arjouni: Kismet, S. 261)
Er war energisch; er war besonnen; er sagte nie ein
Wort zuviel, andererseits sagte er auch nie ein Wort
zuwenig. Er erweckte den Eindruck, als fertige er
Abschriften von allem an, was er sagte; und er war so
offenkundig verläßlich, daß es oft passierte, daß
Leute, die ihn auf diesen Gesellschaften
kennenlernten, unzufrieden mit ihren eigenen
Anwälten wurden und nach einer Zeit innerer Unruhe
sich von ihnen lösten und zu Wilkins gingen.
(Elizabeth von Arnim: Verzauberter April, S. 10)
Das Kleidergeld, das ihr Vater ihr spendete, betrug
100 Pfund im Jahr, und folgerichtig war Mrs. Wilkins'
Kleidung genau das, was ihr Mann, der sie zum
Sparen anhielt, als schlicht und schicklich bezeichnete
und ihre Bekannten untereinander, wenn überhaupt
von ihr die Rede war, was selten geschah, denn sie
war gar zu unscheinbar, als "na ja: proper". Mr.
Wilkins, Anwalt von Beruf, ermunterte überall zur
Sparsamkeit, ausgenommen in dem Bereich, der sein
Essen tangierte. Dort hielt er es nicht für
Sparsamkeit, dort hielt er es für schlechte
Haushaltführung. Doch für die Sparsamkeit, die sich
mottengleich in Mrs. Wilkins' Kleidern einnistete und
sie ruinierte, war es des Lobes voll. "Du weißt nie",
sagte er "wann Notzeiten kommen, und vielleicht
wirst du da noch froh sein, wenn du einen
Spargroschen hast. Ehm, wir beide wohl." (Elizabeth
von Arnim: Verzauberter April, S. 8)
Unveränderlich wie die Kompaßstriche waren für Mrs.
Arbuthnot die vier wichtigen Fakten des Lebens: Gott,
Mann, Heim, Pflicht. Vor Jahren hatte sie sich auf
diesen Fakten zum Schlafen gelegt, nach einer Zeit
großen Schmerzes, wobei ihr Haupt auf ihnen ruhte
wie auf einem Kissen; und sie hatte eine
Heidenangst davor, aus einem so einfachen und
sorglosen Zustand aufgeweckt zu werden. Darum
suchte sie eifrig nach einer Rubrik, in die sie Mrs.
Wilkins stecken und damit auch ihren eigenen Geist
erleuchten und beruhigen konnte; und sie saß da und
blickte die andere nach deren letzter Bemerkung
voller Unbehagen an und fühlte, wie sie selbst immer
verstörter wurde, sich ansteckte und entschied, sie
pro tem, vorläufig, wie der Vikar auf den
Versammlungen sagte, in die Rubrik Überspanntheit
einzutragen. Man konnte sie natürlich auch direkt in
die Kategorie Hysterie tun, oft nur die Vorstufe zum
Irrsinn, aber Mrs. Arbuthnot hatte gelernt, Personen
nicht so rasch in ihre endgültige Kategorie zu
stecken, nachdem sie mehr als einmal und wie
schwierig es gewesen war, den Betroffenen da wieder
herauszuholen, und wie die furchtbarsten
Gewissenbisse sie gequält hatten. (Elizabeth von
Arnim: Verzauberter April, S. 20)
Mrs. Arbuthnot hatte in ihrem langen Zusammensein
mit Frederick gelernt - Frederick war ihr Mann, und sie
hatte ihn mit zwanzig geheiratet und war nun
dreiunddreißig-, wo allein die wahren Freuden zu
finden sind. Sie fanden sich, das wußte sie jetzt, nur
im alltäglichen Leben, Stunden um Stunden, die man
anderen widmete; sie fanden sich nur - hatte sie
nicht dort immer wieder ihre Anfechtungen und
Entmutigungen abgeladen und war getröstet worden?
- zu Füßen Gottes. Frederick war der Typ von
Ehemann, dessen Frau es beizeiten zu Gottes Füßen
hindrängt. Von ihm hin zu Gottes Füßen war es ein
kleiner, wenn auch schmerzlicher Schritt gewesen.
(Elizabeth von Arnim: Verzauberter April, S. 21)
Unveränderlich wie die Kompaßstriche waren für Mrs.
Arbuthnot die vier wichtigen Fakten des Lebens: Gott,
Mann, Heim, Pflicht. Vor Jahren hatte sie sich auf
diesen Fakten zum Schlafen gelegt, nach einer Zeit
großen Schmerzes, wobei ihr Haupt auf ihnen ruhte
wie auf einem Kissen; und sie hatte eine
Heidenangst davor, aus einem so einfachen und
sorglosen Zustand aufgeweckt zu werden. Darum
suchte sie eifrig nach einer Rubrik, in die sie Mrs.
Wilkins stecken und damit auch ihren eigenen Geist
erleuchten und beruhigen konnte; und sie saß da und
blickte die andere nach deren letzter Bemerkung
voller Unbehagen an und fühlte, wie sie selbst immer
verstörter wurde, sich ansteckte und entschied, sie
pro tem, vorläufig, wie der Vikar auf den
Versammlungen sagte, in die Rubrik Überspanntheit
einzutragen. Man konnte sie natürlich auch direkt in
die Kategorie Hysterie tun, oft nur die Vorstufe zum
Irrsinn, aber aber Mrs Arbuthnot hatte gelernt,
Personen nicht so rasch in ihre endgültige Kategorie
zu stecken, nachdem sie mehr als einmal bestürzt
entdecken mußte, daß sie einen Fehler gemacht
hatte; und wie schwierig es gewesen war, den
Betroffenen da wieder herauszuholen, und wie die
furchtbarsten Gewissenbisse sie gequält hatten.
(Elizabeth von Arnim: Verzauberter April, S. 20)
Mrs Arbuthnot hatte in ihrem langen Zusammensein
mit Frederick gelernt - Frederick war ihr Mann, und sie
hatte ihn mit zwanzig geheiratet und war nun
dreiunddreißig-, wo allein die wahren Freuden zu
finden sind. Sie fanden sich, daß wußte sie jetzt, nur
im alltäglichen Leben, Stunden um Stunden, die man
anderen widmete; sie fanden sich nur - hatte sie
nicht dort immer wieder ihre Anfechtungen und
Entmutigungen abgeladen und war geströstet
worden? - zu Füßen Gottes. Frederick war der Typ von
Ehemann, dessen Frau es beizeiten zu Gottes Füßen
hindrängt. Von ihm zu Gottes Füßen war es ein
kleiner, wenn auch schmerzlicher Schritt gewesen.
(Elizabeth von Arnim: Verzauberter April, S. 21)
Sie blieb liegen, um den großen Augenblick, wenn sie
ans Fenster ging, hinauszuzögern, so wie man das
Öffnen eines lieben Briefes und seine Freude daran
hinauszögert. Sie hatte keine Ahnung, wieviel Uhr es
war; sie hatte vergessen, sie aufzuziehen, seit sie
zuletzt, Jahrhunderte war das her, in Hampstead
schlafen gegangen war. Man hörte keinen Laut im
Haus, und so vermutete sie, es müsse noch früh sein,
dennoch hatte sie das Gefühl, als hätte sie ewig
geschlafen - so ausgeruht, so rundum zufrieden war
sie. Sie lag da, die Arme um den Kopf verschränkt,
und dachte, wie glücklich sie war, und ihre Lippen
waren in seligem Lächeln hochgezogen. Allein im Bett
zu sein: welch Wonnezustand. Sie war seit fünf
Jahren nicht einmal ohne Mellersh im Bett gewesen;
ah, diese kühle Geräumigkeit; die Bewegungsfreiheit;
das Gefühl der Sorglosigkeit, der Keckheit, wenn man
an den Decken zog, weil man es wollte, oder sich die
Kissen zurechtstupste, um es noch behaglicher zu
haben! Es war, als entdecke man eine Freude völlig
neu. (Elizabeth von Arnim: Verzauberter April, S. 62f.)
Sie stand nämlich schönen Kleidern und der Sklaverei,
die sie einem auferlegen, sehr ablehnend gegenüber,
ihrer Erfahrung nach bekamen sie in dem Augenblick,
wo man sie hatte, Gewalt über einen und ließen
einem keine Ruhe, bis sie überall gezeigt worden
waren und jeder sie gesehen hatte. Man führte nicht
die Kleider auf den Gesellschaften vor; nein, sie
waren es, die einen vorführen. Es war ein großer
Irrtum zu glauben, daß eine Frau, eine ausgesprochen
gut angezogene Frau, ihre Kleidung abnutzte;
vielmehr war es die Kleidung, die eine Frau abnutzte -
indem sie sie zu jeder Tages- und Nachtzeit hierhin
und dorthin schleppte. Kein Wunder, daß die Männer
länger jung blieben. Eine neue Hose allein konnte die
nicht in Aufregung versetzen. Sie konnte sich nicht
vorstellen, daß eine Männerhose, selbst die schickste,
sich je so benahm, sich dermaßen ins Zeug legte.
(Elizabeth von Arnim: Verzauberter April, S. 70f.)
Am Morgen war eine Fliege in ihrem Schlafzimmer
aufgetaucht, die sich an sie geheftet hatte wie
Costanza; eine einzige nur, aber derart lästig vom
ersten Tageslicht an, daß es genausogut Tausende
hätten sein können. Die Fliege war entschlossen,
sich auf ihrem Gesicht niederzulassen, und sie war
entschlossen, daß nicht. Die Ausdauer dieses Biests
war unheimlich. Es weckte sie auf und wollte sie
partout nicht wieder schlafen lassen. Sie schlug nach
ihm, und es entwischte ihr mühelos leicht und mit
fast sichtbarer Sanftheit, und sie hatte nur sich
selbst getroffen. Die Fliege kam sogleich zurück und
ließ sich mit lautem Gesumm auf ihrer Wange nieder.
Wieder klatschte sie danach und traf nur sich selbst,
während die Fliege sich anmutig davonmachte.
Sie geriet in Wut und setzte sich im Bett auf, darauf
lauernd, die Fliege mit einem einzigen Klatsch zu
erledigen. Immer weiter schlug sie nach ihr, mit
wachsender Wut und mit aller Kraft, als wäre die
Fliege ein wirklicher Feind, der methodisch versuchte,
sie in Rage zu bringen; und die Fliege wich ihren
Schlägen elegant aus, war nicht einmal verärgert, um
schon im nächsten Augenblick wieder da zu sein.
Jedesmal gelang es ihr, auf ihrem Gesicht zu landen,
und es machte ihr nichts aus, wie oft sie verscheucht
wurde. (Elizabeth von Arnim: Verzauberter April, S.
96f.)
Mrs. Fisher dachte gerade daran, wie verdutzt die
anderen sein würden, wenn sie ihnen von ihrem so
seltsamen und erregenden Gefühl erzählen würde, sie
müsse bald in Knospen ausbrechen. Sie würden sie
für eine lächerliche alte Frau halten, und genau das
hätte sie selbst noch vor zwei Tagen gedacht; aber
die Vorstellung vom Knospen wurde ihr langsam
vertraut, sie war jetzt schon ganz apprivoisee, wie
der gute Matthew Arnold zu sagen pflegte. Zweifellos
wäre es am schönsten, wenn das Äußere den
Gefühlen entsprach, aber angenommen, das ginge
nicht - und man konnte nicht alles haben -, wäre es
dann nicht besser, sich wenigstens teilweise jung zu
fühlen, als ganz alt? Es bliebe ihr noch genügend
Zeit, sich wieder ganz alt zu fühlen, innerlich wie
äußerlich, wenn sie zu ihrem Sarkophag in der Price-
of-Wales-Terrace heimkehrte. (Elizabeth von Arnim:
Verzauberter April, S. 225f.)
Es war ein heiterer Tag mit heller Sonne und einer
leichten Brise. Ich war bis zur Ausgelassenheit
fröhlich dort draußen in den Feldern zwischen dem
griechischen Tempel und dem Dorf Vilmitz - natürlich
nur im geheimen ausgelassen wegen der nüchternen
Gertrud. Ich habe beobachtet, daß süße Düfte, klares
Licht und Vogelsingen, überhaupt alles, was im Leben
lieblich ist, wenig Wirkung auf Leute wie Gertrud hat.
Kein Wetterwechsel ändert den gesetzten Ernst
meiner Gertrud. Den Rosen im Juni zeigt sie dasselbe
Gesicht wie dem beißenden Märzenwind. An eisigen
Februar-Nachmittagen, wenn die Welt draußen in der
kalten Nebelhülle naßkalter Stunden schaudert, ist
sie nicht ernsthafter als an einem strahlend
lebendigen Tag wie an diesem unserem dritten
Reisetag. Der flüchtige Wind hob einzelne
Haarsträhnen von iherer Stirn und streichelte sie, eine
verwegene Vertraulichkeit. Ihr Gesicht jedoch hatte
denselben besorgten Ausdruck, als habe sie Schweres
vor sich. Sind die Gertruds dieser Welt also unfähig,
zwischen Alltag und Sonntag zu unterscheiden? Oder
meinen sie, es nicht zeigen zu dürfen? Diese Frage
beschäftigte mich mindestens drei Meilen, so daß ich
sie am liebsten mit Gerdtrud selbst besprochen hätte.
Doch ließ ich es bleiben, zu sehr fürchtete ich,
Gertrud zu kränken. (Elizabeth von Arnim: Elizabeth
auf Rügen. Ein Reiseroman, S. 57)
Wie gern erkunde ich die kleinen Pfade in einem
unbekannten Wald, finde Winkel mit Immergrün und
Anemonen, entdecke Vogelnester, warte regungslos
auf Igel und Eichhörnchen und erfreue mich sogar an
den üppigen Schlupfwinkeln, schlammfeucht und grün,
wo sich zahllose Schnecken verbergen. Man sagt, daß
Schnecken nicht wirklich glücklich seien, daß die Natur
grausam sei und daß man nur die angenehme
Oberfläche der Dinge anzukratzen brauche, um auf
haarsträubende Grausamkeiten zu stoßen. Wenn man
weitergrübelt, gelangt man am Ende wieder zu
Tröstungen und Wohltaten - aber wozu überhaupt
kratzen und grübeln? Warum nicht die Schönheit
hinnehmen und dankbar sein? Ich mag meine eigene
Mutter nicht kritisieren, die mich so lange mein
sicherster Führer war zu allem, was gütig und lieblich
ist. (Elizabeth von Arnim: Elizabeth auf Rügen. Ein
Reiseroman, S. 70)
Wir sollen wir etwas anderes sein als Handlanger und
Aschenputtel, wenn wir nicht zusammenhalten, wenn
wir nicht Schulter an Schulter stehen? Oh! Ich fühle
mit allen Frauen! Ich kann keine sehen ohne das
Gefühl, ich müsse alles Menschenmögliche tun, sie
kennenzulernen, ihr zu helfen, ihr zu raten, was sie
tun muß, damit, wenn ihre Jugend vorbei ist, noch
etwas bleibt - ein anderes Glück, eine wahrere
Freude." "Als was?" fragte ich verdutzt. Charlotte sah
mir in die Augen, als läse sie in meiner Seele. Doch
was sie dachte, stimmte nicht. "Als das, was sie
vorher gehabt hat, natürlich", sagte sie mit einer
gewisssen Schroffheit. "Vielleicht aber ist das, was
sie vorher gehabt hat, gerade schön gewesen." "Es
war nur die Art von Freude, mit der jede junge und
hübsche Frau überhäuft wird. Aber macht sich diese
Freude nicht in dem Augenblick davon, wenn die Frau
hager wird oder verzagt oder krank?" Es war, wie ich's
gefürchtet hatte: Charlotte war anstregend. Und
anstrengenden Frauen gehe ich immer aus dem
Wege. Aus Charlottes Schriften und Vorträgen wußte
ich natürlich, daß sie nicht zu denen gehörte, die
daheim sitzen und friedlich schnurren, aber ich hatte
geglaubt, sie würde mich als ihre Verwandte mit ihren
Theorien verschonen. "Im Wasser warst du sehr
vergnügt", sagte ich, "warum bist du plötzlich so
todernst?" "Nur im Wasser" erwiderte Charlotte,
"kann ich vergessen, wie ernst das Leben ist."
(Elizabeth von Arnim: Elizabeth auf Rügen. Ein
Reiseroman, S. 79)
"Sind Sie Mr. Ollier?" fragte sie, und ihre Stimme kam
ihm schon damals ungewöhnlich reizvoll vor. (...) "Ja,
das bin ich", antwortete Mr. Ollier sehr artig auf Jens
Frage. Er war schüchtern von Kind an, und seine
Schwester Alice hatte dies während seines kurzen und
klosterartig verbrachten Lebens noch tatkräftig
gefördert. Beinah hätte er hinzugefügt: "Bitte
entschuldigen Sie." Jen fragte, ob sie ihn einen
Augenblick sprechen dürfe, und höflich erwiderte er:
"Selbstverständlich". Und tatsächlich war Mr. Ollier
für jedermann und zu jeder Zeit zu sprechen. Was er
auch tat, er brach es sofort ab, wenn jemand ihn
sprechen wollte. Er konnte geduldig und aufmerksam
zuhören. Er war der liebenswürdigste aller jungen
Männer. Und sein Profil, das schwach war, da vollkommen
liebenswürdig, bewirkte, daß der sanftmütigste Mensch
in seiner Gegenwart willensstark und entschlossen
wurde. Er war daher sehr beliebt. Er stellte gesunkenes
Selbstvertrauen wieder her, schwache Charaktere lebten
durch ihn auf. Leute, die bei ihren Freunden als
Schwächlinge galten, wurden zu Eisenfressern, sobald
sie mit Mr. Ollier zusammentrafen. Unterdrückte
Ehefrauen, mutlose oder von Natur blutleere Personen
richteten sich auf, wenn er erschien, und waren, wenn
sie ihm glücklich etwas vorschwadronierte hatten,
überzeugt, daß sie noch Mumm in sich hatten. Niemand
konnte ein sanfteres, bescheideneres Herz haben, und
sein Name war James. (Elizabeth von Arnim: Vater, S.
58)
Aber ich besitze bereits genug von diesem Gepantsche,
um meine sämtlichen Klassenkameradinnen, die es
inzwischen bestimmt genauso nötig haben wie ich, damit
einzubalsamieren. Ich bleibe nur so lange stehen, daß
mich ein Mädchen mit ein paar Gratisspritzern eines
giftigen neuen Parfüms besprühen kann. Anscheinend ist
die Femme fatale wieder da, Veronica Lake geht wieder
um. Das Zeug riecht wie Brausepulver. Ich kann mir
nicht vorstellen, daß sich irgendwer davon verführen
ließe, außer einer Fruchtfliege. "Gefällt Ihnen das?"
fragte ich das Mädchen. Sie muß sich ja einsam fühlen,
den ganzen Tag in ihren hohen Hacken dazustehen und
fremde Leute anzusprühen. "Es ist sehr beliebt", sagt
sie ausweichend. Für einen kurzen Augenblick sehe ich
mich durch ihre Augen: der Lack ab, am Rande des
Matronentums, das Beste hoffend. Ich bin der Markt.
(Margret Atwood: Katzenauge, S. 139)
Aber die Mädchen, jedenfalls meine Mädchen, scheinen
mit einer Schutzhaut geboren zu sein, einer Immunität,
die mir fehlte. Sie sehen einem ins Auge, gerade und
abwägend, sie sitzen am Küchentisch und erhellen die
Luft um sie herum mit ihrer Klarheit. Sie sind gesund,
jedenfalls möchte ich das glauben. Meine rettenden
Engel. Sie setzen mich in Erstaunen, das haben sie
immer getan. Als sie klein waren, glaubte ich, sie vor
gewissen Dingen an mir schützen zu müssen, vor der
Angst, den chaotischen Teilen meiner Ehen, den Tagen
des Nichts. Ich wollte nicht die Dinge an mir an sie
weitergeben, ohne die sie besser dran waren. In diesen
Momenten lag ich im Dunkeln auf dem Fußboden, mit
zugezogenen Vorhängen und bei verschlossener Tür.
Mummy hat Kopfschmerzen. Mummy muß arbeiten, sagte
ich dann. Aber sie schienen diesen Schutz gar nicht
nötig zu haben, sie schienen alles einfach in sich
aufzunehmen, es offen zu betrachten, alles zu
akzeptieren. "Mummy liegt da drin auf dem Fußboden.
Morgen geht's ihr bestimmt wieder besser", hörte ich
Sarah zu Anne sagen, als die eine zehn und die andere
vier war. Und so ging es mir dann auch wieder besser.
Diese Vertrauen in den Sonnenaufgang oder die Phasen
des Mondes, hat mir Halt gegeben. Solche Dinge müssen
es sein, die Gott die Kraft geben, immer
weiterzumachen. (Margret Atwood: Katzenauge, S. 141)
Unser Vater erklärt, warum die menschliche Rase dem
Untergang geweiht ist. Diesmal, weil wir Insulin
entdeckt haben. Die Diabetiker sterben heute nicht mehr
wie früher, sie leben lange genug, um die Diabetis auf
ihre Kinder zu übertragen. Nicht mehr lange, und wir
werden, nach dem Gesetz der geometrischen Progression
alle Diabetiker sein, und da Insulin aus Kuhmägen
hergestellt wird, wird bald die ganze Welt mit
insulinproduzierenden Kühen bedeckt sein, in den Teilen
jedenfalls, die nicht mit Menschen bedeckt sind, die
sich ohnehin viel schneller vermehren, als ihnen
guttut. Die Kühe rülpsen Methangas aus. Es gelangt
bereits jetzt viel zuviel Methangas in die Atmossphäre,
es wird den Sauerstoff ersticken und möglicherweise
dazu führen, daß die gesamte Erde eines Tages zu einem
riesigen Treibhaus wird. Die Polarkappen werden
abschmelzem, und New York wird fast zwei Meter tief
unter Wasser stehen, ganz zu schweigen von vielen
anderen Küstenstädten. Außerdem müssen wir uns wegen
der Wüsten die größten Sorgen machen und wegen der
Erosion. Wenn wir nicht von den Kühen zu Tode gerülpst
werden, werden wir enden wie die Sahara, sagt mein
Vater fröhlich, während er den falschen Hasen aufißt.
(Margret Atwood: Katzenauge, S. 257)
Ich sehe ihn mit der gleichen nostalgischen Zuneigung
an, die Männer angeblich für ihre Kriege empfinden und
für ihre alten Kameraden. Ich denke daran, daß ich
diesem Mann früher einmal Sachen an den Kopf geworfen
habe. Ich habe einen Glasaschenbecher auf ihn geworfen,
einen ziemlich billigen, der nicht zerbrach. Ich habe
einen Schuh (seinen) und eine Handtasche (meine) auf
ihn geworfen, ohne die Handtaschee vorher aush nur
zugemacht zu haben, so daß ein Metallregen aus
Schlüsseln und Kleingeld auf ihn niederging. Das
Schlimmste, was ich je auf ihn geworfen habe, war ein
kleines tragbares Fernsehgerät, ich stand auf dem Bett
und wuchtete es gegen ihn, obgleich ich im selben
Augenblick, in dem ich es losließ, dachte: O Gott,
laß ihn sich ducken! Eine Zeitlang glaubte ich
sogar, ich sei fähig, ihn umzubringen. Heute verspüre
ich nur ein mildes Bedauern, daß wir damals nicht
zivilisierter miteinander umgegangen sind. Trotzdem, es
war erstaunlich, all diese Explosionen, diese
Unbekümmertheit, dieser Trümmerhaufen in Technicolor.
Erstaunlich und quälend und fast tödlich. (Margret
Atwood: Katzenauge, S. 314)
Wir haben das Mittelalter mit seinen Reliquienschreinen
und länglichen Heiligen hinter uns und rasen durch die
Renaissance, stoppen nur an den Höhepunkten. Die
Jungfrau Maria ist im Überfluß vorhanden. Es kommt
einem so vor, als habe eine gewaltige Jungfrau Maria
eine ganze Herde von Töchtern gehabt, von denen die
meisten ein bißchen wie sie aussehen, aber nicht ganz.
Sie haben ihre Goldblattheiligenscheine abgeschüttelt,
sie haben ihr längliches, flachbrüstige Aussehen
verloren, das sie in Stein und Holz hatten, sie sind
ausgefüllter. Sie steigen nicht mehr so oft gen Himmel
auf. Einige haben mehlige Gesichter und sitzen ernst an
Kaminen oder auch auf Stühlen aus dieser Periode, oder
an offenen Fenstern, dahinter Dächer, die gerade
gedeckt werden; manche sehen besorgt aus, andere sind
milchig und rosigweiß, mit drahtdünnen Heiligenscheinen
und zarten goldenen Haarranken, die sich unter ihren
Schleiern hervorstehlen, und mit klaren italienischen
Himmeln in der Ferne. Sie beugen sich über die Wiege,
oder sie halten Jesus auf dem Schoß. Jesus hat Mühe,
wie ein richtiges Baby auszusehen, weil seine Arme und
Beine zu lang und zu dürr sind. Selbst wenn er wie ein
Baby aussieht, ist er niemals wie ein Neugeborener. Ich
kenne neugeborene Babys, sie sehen runzlig aus, wie eine
vertrockene Aprikose, aber diese Jesuskinder sehen
überhaupt nicht so aus. Sie sehen aus, als wären sie im
Alter von einem Jahr geboren, oder als wären sie
verkleinerte Männer. In diesen Bildern gibt es viele
Rot- und Blautöne, und es wird viel gestillt. (Margret
Atwood: Katzenauge, S. 333)
Mama hatte in mir stets ihre gelehrigste Schülerin,
während zu Lebzeiten Papas Eloisa die seinige war.
Gewiß gab es niemals zwei Mädchen von
unterschiedlicherem Gemüt auf der Welt. Beide
liebten wir die Lektüre. Sie bevorzugte Geschichten,
ich Rezepte. Sie beschäftigte sich am liebsten damit,
Bilderrahmen auszufüllen, ich mich damit, Geflügel
auszunehmen. Niemand sang bessere Lieder als sie
oder buk bessere Pasteten als ich. - Und so ist es
seit unserer Kindheit geblieben, mit dem einzigen
Unterschied, daß die früher so häufigen Streitigkeiten
über die unstreitige Überlegenheit unserer jweiligen
Fertigkeiten ein Ende gefunden haben. Seit langem
sind wir übereingekommen, allezeit das zu
bewundern, was die andere fertigt; und so kommt es,
daß ich niemals versäume, ihrer Musik zu lauschen,
und sie mit gleicher Zuverlässigkeit meine Pasteten
verzehrt. (Jane Austen: Die drei Schwestern und
andere Jugendwerke, S. 91)
Ist es nicht ungerecht, daß eine hübsche Frau niemals
von einer Person ihres eigenen Geschlechts erfahren
darf, daß sie es ist, ohne daß diese Person sogleich
verdächtigt würde, entweder die ärgste Feindin oder
die ausgemachte Speichelleckerin jener zu sein!
Wieviel liebenswürdiger sind wir Frauen in diesem
Betreff! Ein Mann mag vierzig Höflichkeiten zu einem
anderen sagen, ohne daß wir ihn verdächtigen, er
würde dafür bezahlt, und solange er unserem
Geschlecht gegenüber seine Pflicht tut, schert uns
nicht, wie entgegenkommend er sich dem eigenen
präsentiert. (Jane Austen: Die drei Schwestern und
andere Jugendwerke, S. 98)
Eduard IV.: Dieser Monarch war nur für seine Schönheit und für
seinen Mut berühmt, wie es sein von uns entworfenes
Bild und sein unerschrockenes Betragen, als er eine
Frau heiratete, indes er mit einer anderen verlobt
war, ausreichend bezeugen. Seine Frau war Elisabeth
Woodville, eine Witwe, welche - armes Geschöpf! - in
späterer Zeit von Heinrich VII., dieser Ausgeburt an
Schändlichkeit und Geiz, in ein Kloster verbannt
wurde. Eine der Mätressen Eduards war Jane Shore,
über die ein Theaterstück geschrieben wurde, doch ist
es eine Tragödie und daher der Lektüre nicht wert.
Nachdem er all diese edlen Taten vollbracht hatte,
starb seine Majestät, und im folgte sein Sohn auf
dem Thron. (Jane Austen: Die drei Schwestern und
andere Jugendwerke, S. 106)
Miss Stanley war von eleganter Erscheinung, recht
hübsch und von Natur aus nicht arm an guten
Anlagen, doch jene Jahre, die dem Erlangen
nützlichen Wissens und geistiger Ausbildung hätte
dienen müssen, waren allein darauf verwendet
worden, Zeichnen, Italienisch und Musizieren zu üben
- vor allem letzteres-, und neben dem Erwerb
dieser Fertigkeiten zeichnete sie sich folglich durch
einen Verstand aus, dem es an jeglicher Bildung des
Lesens mangelte, und einen Geist, der weder
Geschmack noch Urteilsvermögen besaß. Von Natur
aus nicht unfreundlichen Gemüts, war sie in
Ermangelung des Denkens bei Enttäuschungen nicht
fähig, Geduld zu üben, noch vermochte sie ihre
eigenen Wünsche um anderer willen hintanzustellen.
All ihre Vorstellungen kreisten um die Bewunderung,
die sie damit zu erregen suchte. Sie brüstete sich
damit, Bücher zu lieben, ohne daß sie las, sie war
lebhaft, ohne Geist zu haben, und im allgemeinen
gutgelaunt, ohne es sich zum Verdienst anrechnen zu
können. (Jane Austen: Die drei Schwestern und
andere Jugendwerke, S. 151f.)
"Dies zu hören bekümmert mich noch mehr; ich selbst
bin ein trauriges Beispiel für jene Betrübnisse, welche
im allgemeinen mit einer ersten Liebe einhergehen,
und ich bin entschlossen, künftig dergleichen
Mißgeschicke zu meiden. Ich hoffe, es ist noch nicht
zu spät für Euch, es mir gleichzutun, so es Euch nicht
zu mühselig dünkt, Euch vor einer so großen Gefahr in
Sicherheit zu bringen. Eine zweite Liebe geht man
selten mit ernsthaften Folgen ein; dagegen habe ich
darum nichts einzuwenden. Hütet Euch vor einer
ersten Liebe, und Ihr werdet von einer zweiten nichts
zu fürchten haben." (Jane Austen: Die drei
Schwestern und andere Jugendwerke, S. 237)
"Sobald Ihr erst näher mit meiner Alice bekannt sein
werdet, wird es Euch nicht überraschen, das teure
Geschöpf mehr trinken zu sehen, als ihm bekommt,
Lucy, denn es geschieht jeden Tag. Sie hat viele
reizende Eigenschaften, doch die Nüchternheit zählt
nicht zu ihnen. In der Tat handelt es sich bei der
ganzen Familie um einen verlotterten Haufen von
Trunkenbolden. Zu meinem Bedauern muß ich sagen,
daß ich noch nie drei so ausgemachte Spielteufel wie
die drei erlebt habe, besonders Alice. Aber sie ist ein
reizendes Mädchen. Gewiß läßt ihre
Selbstbeherrschung zu wünschen übrig - welche
Wutausbrüche habe ich nicht schon bei ihr erlebt!
Aber dennoch ist sie eine entzückende junge Person.
Ich bin mir sicher, daß Ihr sie ins Herz schließen
werdet. Ich wüßte niemanden vergleichbar
Liebenswürdigen zu nennen. - Oh, hättet Ihr sie nur
kürzlich des Abends erleben können! Wie sie tobte!
Und ob was für einer Nichtigkeit! Sie ist in der Tat ein
höchst ansprechendes Geschöpf! Ich werde sie immer
lieben!" (Jane Austen: Die drei Schwestern und
andere Jugendwerke, S. 246f.)
Mrs. Ferrars war eine kleine, magere Frau mit gerader, fast
steifer Haltung und einem ernsten, fast mürrischen Aussehen.
Ihr Gesichtsfarbe war gelblich, und ihre Züge waren nichtssagend,
bar jeder Schönheit und von Natur ausdruckslos; aber
glücklicherweise war ihre Stirn ständig gerunzelt, was ihr
Gesicht davor bewahrte, langweilig zu wirken, indem es ihm
die markanten Züge von Stolz und Bosheit verlieh. Sie machte
nicht viele Worte; denn sie verteilte sie - im Gegensatz zu
den meisten anderen Menschen - nach der Zahl ihrer Ideen; und
von den wenigen Silben, die über ihre Lippen kamen, was
keine einzige an Elinor gerichtet. (Jane Austen: Gefühl und Verstand)
Sie gaben mir Essen, Kleidung und ein eigenes
Zimmer. Ich bekam weder Schläge noch Prügel, weder
Fußtritte noch Ohrfeigen, doch so erträglich meine
Lage sein mochte, ich hatte mich noch nie so
niedergeschlagen gefühlt, so voller Bitterkeit und
aufgestauter Wut. In den ersten sechs Monaten
dachte ich bloß an Flucht. Ich war ein Stadtkind, mit
Jazz im Blut aufgewachsen, ein Straßenjunge, der
immer nur an sich selbst gedacht hatte; das Gewühl
der Menge, das Quietschen der Straßenbahnen, der
Puls der Neonlichter, der Gestank von
geschmuggelten Whiskey in den Rinnsteigen- das war
mein Lebenselexier. Ich war ein Schlingel, dem der
Boogie in den Beinen steckte, ein kleiner Scatsänger
mit flinker Zunge und hundert Ideen, und da saß ich
nun am Ende der Welt und lebte unter einem Himmel,
der nichts anders zu bieten hatte als Wetter - und
das war meistens schlecht. (Paul Auster: Mr. Vertigo,
S. 20)
Daß Mutter Sue ebenso unwissend, ungebildet und
arbeitsscheu war wie ich, hätte uns einander
näherbringen können, tat es aber nicht. Zwar
begegnete sie mir nicht mit offener Feindschaft, doch
war mir ihre Gegenwart unheimlich, und ich brauchte
fast noch länger, mich auf sie und ihre Schrullen
einzustellen, als mich an die beiden anderen zu
gewöhnen - die ebenfalls kaum als normal bezeichnet
werden konnten. Auch wenn sie nicht in Decken
gehüllt war und keinen Hut auf dem Kopf trug, fiel es
mir schwer, sie einem bestimmten Geschlecht
zuzuordnen. Das beunruhigte mich irgendwie, und
selbst, nachdem ich sie durchs Schlüsselloch ihrer Tür
mal nackt gesehen und mich mit eigenen Augen
davon überzeugt hatte, daß sie tatsächlich mit zwei
Brüsten ausgestattet war und ihr kein Pimmel aus
dem Schamhaar baumelte, war ich mir noch immer
nicht ganz sicher. (Paul Auster: Mr. Vertigo, S. 24)
Ich kann nicht genau sagen, wie ich mir Wichita
vorgestellt habe, aber auf alle Fäle nicht als das
langweilige Kuhdorf, das ich an diesem Nachmitag im
Jahre 1925 zu Gesicht bekam. Es war das allerletzte
Kaff, so fesselnd wie ein Pickel auf einem bleichen
Arsch. Wo waren die Saloons, die Revolverhelden, die
berufsmäßigen Falschspieler? Wo war Wyatt Earp?
Was immer Wichita früher gewesen war, in seinem
jetzigen Leben war es ein nüchternes, trostloses
Durcheinander von Geschäften und Wohnhäusern,
eine Stadt, die so flach am Boden klebte, daß man,
sobald man sich am Kopf kratzen wollte, mit dem
Ellbogen an den Himmel stieß. (Paul Auster: Mr.
Vertigo, S. 35)
Auf diesen schwülen Mainachmittag folgte eine
ausgedehnte Hitzeperiode, der heißeste Sommer seit
Menschengedenken. Der Boden glich einer Herdplatte,
man mußte glatt befürchten, daß einem die Sohlen
unter den Schuhen wegbrutzelten. Wir beteten täglich
beim Abendessen um Regen, aber drei Monate lang
fiel nicht ein Tropfen vom Himmel. Die Luft war so
trocken, so wahnsinnig ausgedörrt, daß man das
Summen einer Pferdebremse auf fünfzig Meter
Entfernung verfolgen konnte. Alles juckte, alles
kratzte wie Disteln an Stacheldraht, und der Gestank
aus dem Klohhaus war so beißend, daß es einem die
Nasenhaare versengte. (Paul Auster: Mr. Vertigo, S.
59)
Er legte mir freundlich die Hand auf die Schulter und
führte mich in den Maimorgen hinaus. In diesem
Augenblick empfand ich nichts als Vertrauen zu ihm,
und trotz seiner harten, einwärts gekehrten Miene fiel
mir nicht ein, daß er dieses Vertrauen mißbrauchen
könnte. So dürfte sich Isaak gefühlt haben, als
Abraham ihn auf diesen Berg geführt hat, Genesis,
Kapitel zweiundzwanzig. Wenn dir ein Mann sagt, er
sei dein Vater, dann vernachlässigst du wider
besseres Wissen die Deckung und machst dich zum
Deppen. Du kommst gar nicht auf Idee, daß er sich
mit Gott, dem Herrn der Herrscharen, gegen dich
verschworen hat. (Paul Auster: Mr. Vertigo, S. 47)
Die Person, die sich an diesem Abend zu uns setzte,
war unauffällig und schweigsam, fast reserviert in
ihrem Gebaren. Kein Lippenstift, kein Make-up,
nichts, was man eine Frisur hätte nennen können,
und dennoch weiblich und auf eine reduzierte,
körperlose Weise schön. Während ich sie betrachtete,
begann ich zu spüren, daß sie einer der seltenen
Menschen war, bei denen der Geist sich am Ende
gegen die Materie durchsetzt. Das Alter nimmt diesen
Menschen nichts. Es macht sie alt, aber es verändert
sie nicht, und je länger sie leben, desto mehr und
radikaler verkörpern sie sich selbst. (Paul Auster: Das
Buch der Illusionen, S. 277)
Natürlich sind Körper wichtig - wichtiger, als wir
zuzugeben bereit sind -, aber wir verlieben uns nicht
in Körper, wir verlieben uns ineinander, und mag auch
vieles von dem, was wir sind, auf Fleisch und
Knochen beschränkt sein, so gibt es doch auch
manches andere. Wir alle wissen das, aber sobald wir
über den Katalog von oberflächlichen Eigenschaften
und Äußerlichkeiten hinauswollen, gehen uns die
Worte aus und zerfallen in mystisches Gefasel und
nebulöse, substanzlose Metaphern. Manche nennen
das die 'Flamme des Seins'. (Paul Auster: Nacht des
Orakels, S. 29)
Ich war lange Zeit krank gewesen. Als ich das
Krankenhaus verlassen durfte, konnte ich kaum noch
gehen, konnte mich kaum noch daran erinnern, wer
ich eigentlich war. Ein wenig Mühe wird es Sie schon
kosten, hatte der Arzt gesagt, aber dann sind Sie in
drei, vier Monaten wieder ganz auf den Beinen. Ich
habe ihm nicht geglaubt, seinen Rat aber trotzdem
befolgt. Man hatte mich bereits abgeschrieben, und
jetzt, da ich ihre Voraussagen durchkreuzt hatte und
rätselhafterweise nicht gestorben war - war blieb mir
da anders übrig, als zu leben, wie wenn ich noch ein
Leben vor mir hätte? (Paul Auster: Nacht des Orakels,
S. 7)
Ich machte Licht, als ich dort eintrat, war aber so
sehr mit meinem Nasenbluten beschäftigt, daß ich
nicht weiter auf das Zimmer achtete. Eine
geschlagene Viertelstunde lang stand ich im Bad,
hielt mir die Nase zu und legte den Kopf zurück, und
bis diese alten Hausmittel zu wirken begannen,
strömte eine solche Menge Flüssigkeit aus mir
heraus, daß ich mich fragte, ob ich nicht ins
Krankenhaus fahren und mir eine Bluttransfusion
geben lassen sollte. Wie rot das Blut auf dem Weiß
des Waschbeckens aussieht, dachte ich. Welch
lebhafter Phantasie diese Farbe entsprungen ist,
welch ästhetischen Schock sie bewirkt. Verglichen
damit sind die anderen Flüssigkeiten, die wir von uns
geben, nichts als farblose, blasse Spritzer.
Weißgrauer Speichel, milchiges Sperma, gelbe Pisse,
grünbrauner Schleim. Wie scheiden Herbst- und
Winterfarben aus, doch unsichtbar in unseren Adern,
der Stoff, der uns am Leben erhält, strömt das
knallige Rot eines wahnsinnigen Künstlers - ein Rot,
so leuchtend wie frische Farbe. (Paul Auster: Nacht
des Orakels, S. 55)
Die meisten von ihnen gingen reichlich esoterischen
Beschäftigungen nach: sie suchten in der klassischen
Literatur nach Paralleln zu aktuellen Ereignissen,
erstellten statistische Analysen zur
Bevölkerungsentwicklung, kompilierten ein neues
Wörterbuch und so weiter. Sam hatte für dergleichen
keine Verwendung, versuchte aber mit allen in gutem
Einvernehmen zu bleiben, da er wußte, wie tückisch
Wissenschaftler werden können, wenn sie das Gefühl
haben, daß man sich über sie lustig macht. (Paul
Auster: Im Land der letzten Dinge, S. 121)
Oberflächlich betrachtet hatten wir kaum etwas
gemeinsam. Wir stammten aus vollkommen
unterschiedlichen Familien (großstädtisch katholisch,
vorstädtisch jüdisch), und unsere Interessen wichen in
nahezu allen Punkten voneinander ab. Joyce hatte keine
Geduld für Bücher und las überhaupt gar nichts, während
ich jeder körperlichen Anstrengung aus dem Weg ging und
Unbeweglichkeit für das Nonplusultra eines guten Lebens
hielt. (Paul Auster: Die Brooklyn-Revue, S. 318)
Ihr Talent habe ihn blind gemacht, fuhr sein Vater fort. Wer
diese anspruchsvolle, heikle Rolle so spielen konnte wie sie,
musste mehr Herzensgüte und eine größere Bandbreite an Gefühlen
besitzen als jede Frau, die er bis dahin gekannt hatte. Aber
jemand anderen darstellen oder selbst jemand sein, das seien nun
einmal zwei ganz verschiedene Dinge. Die Hochzeit fand am 12.
März 1979 statt, keine fünf Monate nach ihrer ersten Begegnung.
Schon nach weiteren fünf Monaten fingen die Schwierigkeiten an.
Sein Vater wollte ihn nicht mit einer Aufzählung ihrer
Kontroversen und Gegensätze langweilen, aber es lief darauf
hinaus, dass sie sich zwar liebten, aber nicht miteinander
auskamen. Ob er sich darunter etwas vorstellen könne? (Paul
Auster: Sunset Park)
Er ist der Großmeister der Empörung, der Champion der
Unzufriedenheit, der militante Entlarver des zeitgenössischen
Lebens, der davon träumt, aus den Ruinen einer gescheiterten
Welt eine neue Realität zu schmieden. Im Gegensatz zu den
meisten Nonkonformisten seines Schlags glaubt er nicht an
politische Betätigung. Er gehört keiner Bewegung oder Partei
an, hat nie ein Wort in der Öffentlichkeit gesprochen und
verspürt nicht den Wunsch, wütende Horden auf die Straße zu
führen, um Häuser niederzubrennen und Regierungen zu stürzen.
Für ihn ist das eine rein persönliche Angelegenheit, aber wenn
er sein Leben nach den von ihm aufgestellten Grundsätzen lebt,
werden andere, da ist er sicher, seinem Beispiel folgen.
(Paul Auster: Sunset Park)
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