Vom Umgang mit Büchern


von Hermann Hesse

Seit nahezu fünf Jahrhunderten ist das gedruckte Buch einer der eigenartigsten und mächtigsten Faktoren im europäischen Kulturleben. Es dürfte kaum eine andere verhältnismäßige so junge Kunst geben, ohne die wir uns das heutige Leben so gar nicht vorzustellen vermögen, wie den Buchdruck. Dabei spielt Deutschland, wie so oft, eine tragikkomische Doppelrolle, indem es der Welt die Erfindung der Druckkunst und zugleich einiger der besten und edelsten Drucke geschenkt, dann aber sogleich auf weitere Lorbeeren verzichtete und im Drucken sowohl wie im Kaufen schöner Bücher seit etwas drei Jahrhunderten hinter anderen Ländern, namentlich England und Frankreich, weit zurückblieb.

Neuestens regen sich aber bei uns auf diesem lange verwahrlosten Gebiet sichtlich starke neue Kräfte, welchem ohne Zweifel ein Verlangen und Bedürfnis des ganzen Volkes zugrunde liegt. Das "Haus ohne Bücher" hört allmählich auf, die Regel zu sein, und wird hoffentlich bald zu immer selteneren Ausnahme. Geschrieben, gedruckt und gelesen freilich wurde in Deutschland gewiß zu allen Zeiten viel, ja wohl mehr als im Ausland, wir haben den bestorganisierten Buchhandel und die zuverlässigste Bibliografie aller Ländern; aber die Pflege des Buches und die Freude am Sammeln und Besitzen einer schönen, mit persönlichem Geschmack gewaählten Hausbibliothek ist bei uns, wenigstens in den Kreisen der Nichtgelehrten, noch lange keine allgemeine und selbstverständliche Sache. Sie gehört aber als unentbehrlicher und wichtiger Teil zu jeder kultivierten Lebensführung, und so lohnt es sich wohl, ein wenig darüber zu reden. Der Umgang mit Büchern, die Kunst des Lesens ist einer klugen, freundlichen Pflege so würdig und so bedürftig wie jeder andere Zweig der Lebenskunst.

Häufig hat der Nichtgelehrte vor Büchern, soweit sie ihm nicht von der Tagesmode empfohlen und aufgedrängt werden, dieselbe grundlose Scheu wie vor den Werken der bildenden Kunst. Er hat das Gefühl, "nichts davon zu verstehen", er traut sich kein Urteil zu und meidet mit Mißtrauen die Läden der Buchhändler, um entweder gar keine Bücher zu kaufen und zu lesen - oder, was häufiger ist, um desto sicherer bei Gelegenheit einem aufdringlichen Kolporteur in die Hände zu fallen und sich eines Tages gegen schweres Geld im Besitz schönvergoldeter Prachtbände zu sehen, mit denen er wenig anzufangen weiß und die ihn in Bälde ärgern, so oft er sie ansieht.

Einer gewissen Erziehung und gelegentlichen Belehrung wird wohl keiner, der nicht schon unter Büchern aufgewachsen ist, ganz entraten können. Die Hauptsache ist hier wie überall nicht Wissen, sondern Wollen, nicht fertiges Urteil, sindern Emfänglichkeit, Ehrlichkeit, Unbefangenheit. Von einer gewissen Lebenshöhe aus, die keinem Strebenden unerreichbar ist, zerrinnen die Grenzlinien der Künste und Wissensgebiete. Von da aus gesehen, gibt es nicht Historien- und Genrebilder, nicht Trauerspiele und Schauspiele mehr, sondern nur noch Kunstwerke. Von da aus wird keiner mehr die oftgehörten faulen Phrasen gebrauchen, wie "Ich lese grundsätzliche keine modernen Romane" oder "Ich gehe prinzipiell in keine Pantomime" usw. Vielmehr wird jeder, er sei nun im engeren Sinn kunstverständig oder nicht, alle Dinge unbefangen nur daraufhin ansehen, ob sie ihm etwas Schönes sagen und bedeuten, ob sie seinem Leben, Empfinden und Denken eine Bereicherung bringen, ob sie ihm neue Quellen der Kraft, des Wohlseins, der Freude und des Nachdenkens erschließen. Er wird im Lesen eines Buches ebenso wie beim Anhören einer Musik oder beim Betrachten einer Landschaft keine Absicht kennen als die, sich etwas Neues, Erfreundes, Unvergeßliches daraus mitzunehmen, dadurch ein wenig reicher, froher oder klüger zu werden; und er wird wenig Unterschied darin sehen, ob er dies Neue, diese Bereicherung und Vertiefung einem Versdichter, einem Philosophen, einem Tragiker oder einem geistreichen Plauderer verdankt.

Dieser Standpunkt ist viel leichter zu finden, als man meistens glaubt. Es gilt nur jene unnütze, verlegene oder verächtliche Scheu abzulegen, ebenso aber auch das blasierte Aburteilen und Alleswissen. Damit ist der entschiedene Schritt zum wirklichen "eigenen Urteil" schon zur größeren Hälfte getan. Es gibt keine Liste von Büchern, die man unbedingt gelesen haben müßte und ohne welche kein Heil und keine Bildung ist! Aber es gibt für jeden einzelnen eine beträchtliche Zahl von Büchern, in welchen gerade er, der Eine, Befriedigung und Genuß erleben kann. Diese Bücher allmählich zu finden, sich mit ihnen in ein dauerndes Verhältnis zu setzen, sie womöglich nach und nach zu ständigem äußeren und innerem Besitz sich anzueignen, das ist für jeden Einzelnen eine eigene, persönliche Aufgabe, die er nicht vernachlässigen kann, ohne den Kreis seiner Bildung und seiner Genüsse und mithin den Wert seines Daseins wesentlich zu verringern. Aber wie soll jeder Einzelne dahin gelangen? Wie soll er aus den Bücherbergen der Weltliteratur die paar Dutzend Autoren und Werke herausfinden, die für ihn besonders wertvoll und erfreulich sind? Diese Frage - man kann sie tagtäglich hören, klingt beängstigend und unheimlich, und Viele werfen lieber daher von Anfang an die Flinte ins Korn und verzichten auf ein Stück Bildung, das den Anschein hat, so mühsam z ugänglich zu sein.

Aber dieselben Leute finden täglich Zeit und Kraft zum Lesen einer oder mehrerer Zeitungen! Und sie lesen neunzig Prozent dieser Zeitungsartikel nicht aus Neigung, nicht aus Bedürfnis, nicht zum Vergnügen, sondern einfach aus alter, schlechter Gewohnheit. "Man muß doch Zeitungen lesen!" Der Verfasser dieser Zeilen hat seit seinen Schülerzeiten niemals eine Zeitung gelesen, höchstens einmal auf Reisen eine einzelne Nummer, und ist dadurch weder ärmer noch dümmer geworden, sondern hat viele hundert und tausend Stunden für Besseres frei behalten. Jene Zeitungsleser wissen nicht, daß schon die Häkfte ihrer täglichen Leseleistung, planmäßiger vorgenommen, hinreichen würde, sie mit dem in den Büchern der Gelehrten und Dichter aufgespeicherten Schatz von Leben und Wahrheit in fruchtbare Bekanntschaft zu bringen.

Sowenig du den Baum oder die Blume, die du besonders liebst, aus einem Lehrbuchder Botanik kennengelernt hast, so wenig wirst du deine Lieblingsbücher aus einer Literaturgeschichte und aus einem theoretischen Studium kennenlernen. Wer sich nur erst angewöhnt hat, möglichst bei jeder Handlung des täglichen Lebens ihres eigentlichen Zweckes bewußt zu sein (und das ist die Grundlage aller Bildung), der wird sehr bald auch aufs Lesen, selbst wenn er vorerst nur Zeitungen und Zeitschriften ansieht, die wesentlichen Gesetze und Unterscheidungen anwenden lernen. Das in Büchern niedergelegte Denken und Wesen der Autoren aller Zeiten ist nichts Totes, sondern eine lebendige, durchaus organische Welt. Es ist sehr wohl möglich, daß ein Mensch ohne alles literarische Wissen, wenn er nur ein aufmerksamer und etwas feinfühliger Leser ist, von seiner Tageszeitung weg von selber den Weg bis zu Goethe findet. So merkwürdig sicher du in einer Menge von zweihundert Bekannten die paar Menschen herausfindest, die du zu Freunden brauchen kannst, so merkwürdig sicher wirst du im Durcheinander und Vielerlei einer Zeitung oder Zeitschrift die paar Töne und Stimmen entdecken, die dir etwas zu sagen haben und welche dich dann, wenn du ihnen folgst, zu weiteren befreundeten Namen und Werken führen. Unter den vielen tausend Lesern des "Jörn Uhl" haben gewiß manche das Wesentliche dieses Buches entdeckt und haben alsdann weiter entdeckt, daß dieses selbe Wesentliche von einigen anderen größeren Dichtern noch reiner und köstlicher zum Ausdruck gebracht worden ist, zum Beispiel von Wilhelm Raabe. Die große Masse weiß von Raabe nur, er sei etwas breit und gelegentlich mühsam zu lesen. Nun ist aber Raabe in Wirklichkeit nicht halb so breit und nicht halb so mühsam zu lesen wie Frenssen, nur ist er leider nicht in Mode. Und so ist es mit vielen beliebten Büchern des Tages, daß sie weniger bekannte, aber wertvollere Vorbilder haben. Diesen gehe man nach, so wird man bald ein Gefühl für die höheren Gesetze aller Literatur bekommen.

Ich kenne einen kleinen Handwerker, der ein Regal voll Bücher besitzt und darunter Werke von Raabe, Keller, Mörike und Uhland. Und wie kam er zu diesen Dichtern, die er nun mit Freude besitzt und häufig liest? Er fand eines Tages zufällig ein paar Verse und eine kleine Prosaskizze von einem heutigen Dichter im Feuilleton einer Berliner Zeitung, die ihm als Einwickelpapier zugegangen war. Die Worte dieses Dichters gingen ihm nach, er las von da an solche Blätter mit begierigen und geschärften Sinnen, und ohne daß jemand ihm half, führte ihn diese einmal erweckte Lust und Sehnsucht im Laufe der Jahre weiter bis zu Uhland und Keller.

Das ist ein Beispiel und vielleicht eine Ausnahme. Es soll nur zeigen, daß es auch vom Niveau des Zeitungslesers aus Wege zum Höheren gibt. Im allgemeinen freilich ist die Zeitung einer der gefährlichen Feindes des Buches, nicht nur weil sie für wenig Geld scheinbar viel bietet und Zeit und Kräfte über Gebühr in Anspruch nimmt, sondern noch mehr, weil sie durch charakterloses Vielerlei den Geschmack und das feinere Lesevermögen bei Tausenden verdirbt. Eine durch die Zeitungen eingeführte, nicht genug zu tadelnde Geschmacklosigkeit und moderne Unsitte ist namentlich auch das Lesen von Abhandlungen und Romanen "in Fortsetzungen". Einem Autor, den man schätzt, soll man niemals die Schmach antun, ihn so zu lesen. Man kaufe seine Werke in Buchform oder warte mindestens ab, bis man die Nummern, welche seine Arbeit stückweise brachten, beisammen hat und das Ganze in einem Zuge lesen kann.

Wem es nicht einerlei ist, mit was für Menschen er verkehrt, wer in seiner Umgebung die ihm sympathischen Persönlichkeiten auswählt und bevorzugt, wer ferner etwas hält auf die Art, wie er lebt, wohnt, sich kleidet, auf den Charakter und Stil seiner wichtigeren Lebensgewohnheiten, der sollte notwendig auch zur Welt der Bücher selbstständige, freundschaftlich vertraute Beziehungen haben und seine Lektüre nach unabhängigem, individuellem Geschmack und Bedürfnis auswählen. Hier herrscht noch zu viel Unfreiheit und Nachlässigkeit, sonst könnte nicht, wie es alljährlich vorkommt, von zwei gleichwertigen Büchern das eine völlig unbeachtet bleiben, während das andere durch den Zufall einer Mode zu Hunderttausenden verkauft wird.

Für den Wert, den ein Buch für mich haben kann, kommt seine Berühmtheit und Beliebtheit so gut wie gar nicht in Betracht. Der wundervolle "Freund Hein" von Emil Strauß ist berühmt und allbekannt, desselben Verfassers mindestens ebenso herrlicher "Engelwirt" bleibt ewig in der ersten Auflage stecken. Das ist gelinde gesagt, eine Schande. Man liest also den "Freund Hein" nicht, weil Strauß ein bedeutender Dichter ist, sondern weil gerade dies Buch von imh zufällig bekannter wurde als seine anderen. Aber Bücher sind nicht dazu da, eine Zeitlang von jedermann gelesen zu werden und ein gangbares Unterhaltunsthema zu bilden und dann vergessen zu werden, wie der neuerste Sportbericht oder Raubmord, sondern sie wollen still und ernsthaft genossen und geliebt werden. Erst dann erschließen sich ihre innersten Schönheiten und Kräfte.

Überraschend steigert sich auch die Wirkung vieler Bücher, wenn sie laut vorgelesen werden. Doch dürfte dies nur für Gedichte, kleinere Erzählungen, formschöne kurze Essays und ähnliches unbedingt gelten. Man mache etwas die Probe mit Gottfried Kellers "Legenden", den "Bildern aus der deutschen Vergangeheit" von Freytag, mit Stormschen Novellen oder mit den beiden besten modernen Sammlungen von kleinen Geschichten, den "Phantasien eines Realisten! von Lynkeus und der "Prinzessin des Ostens" von Paul Ernst. Umfangreichere Werke, namentlich große Romane, können beim Vorlesen durch das Zerlegen in allzuviele Fortsetzungen sehr verlieren und ermüdend werden. Bei gutem Vorlesen geeigneter Dichtungen lernt man ungemein viel, namentlich schärft sich dabei der Sinn für den geheimen Rhythmus der Prosa, der die Grundlage jedes persönlichen Stiles ist.

Das bloße, einmalige, pflichtgemäße oder neugierige Lesen bringt nie wirkliche Freude und tieferen Genuß, sondern höchstens eine flüchtig erregende, schnell vergessene Spannung. Hat aber irgendein Buch dir beim ersten, vielleicht ganz zufälligen Kennelernen einen tieferen Eindruck hinterlassen, so versäume nicht, es nach einiger Zeit wieder zu lesen! Es ist erstaunlich, wie beim zweiten Lesen der Kern eines Buches herausspringt, wie beim Wegfall des rein äußerlichen Spannenden der innere Lebenswert, die eigentliche Schönheit und Kraft einer Darstellung zur Geltung kommt. Und ein Buch, das man zweimal mit Genuß gelesen hat, muß man unbedingt auch kaufen, selbst wenn es nicht billig sein sollte. Einer meiner Freunde kauft nie ein Buch, das er nicht vorher ein- oder zweimal mit Befriedigung gelesen hat, und doch besitzt er eine ganze Wand voll Bücher und hat sie fast alle ohne Ausnahme seither wieder ganz oder tweilweise genossen. Er hat die Novellen des Florentiners Sacchetti, den er besonders liebt, mehr als zehnmal gelesen. Ich selbst habe Gottfried Kellers "Grünen Heinrich" bis heute viermal, Mörikes "Schatz" siebenmal, Justinus Kerners "Reiseschatten" dreimal, Eichendorffs "Taugenichts" sechsmal, die meisten Erzählungen im türkischen "Papageienbuch" vier oder fünfmal gelesen, und bei jedem dieser Bücher freue ich mich, so oft ich es im Fach stehen sehe, auf den Tag, da ich es wieder lesen werde. Solche Bücher muß man notwendig in eigenen Exemplaren besitzen, und damit kommen wir dann auf das Bücherkaufen zu sprechen. Dieses wird ja glücklicherweise neuerdings nicht mehr für einen Sonderlingssport und nutzlosen Luxus gehalten, und man sieht mehr und mehr ein, daß der Besitz von Büchern etwas Erfreuliches und Edles ist, daß es ungleich mehr Genuß bereitet, ein Werk eigen zu besitzen, und nach Belieben zur Hand nehmen zu können, statt es für Stunden oder Tage zu entlehnen. Jene Nachlaßinventare, die für tausend Mark Silbergeschirr und für zwanzig Mark Bücher verzeichnen, kommen aber noch täglich vor. Keine Bücherei zu haben, muß für einen Wohlhabenden mindestens dieselbe Schande sein, als kein Porzellan und keine Teppiche zu besitzen. Ich pflege in jedem wohlhabenden Haus, das der Besitzer mir zeigt, zu fragen: Wo haben Sie denn Ihre Bücher? und ich pflege Leuten, die mehr Geld haben als ich, ausnahmslos keine Bücher zu leihen. Wer mit mäßigen Mitteln zu rechnen hat, wird im allgemeinen wohl daran tun, nur solche Werke zu kaufen, die ihm von sehr nahestehenden Freunden drongend empfohlen sind oder die er schon kennt und schätzt und von denen er weiß, daß er sie mehr als einmal wieder zur Hand nehmen wird. Zum Kennenlernen und erstmaligen Lesen kann man sich überall der öffentlichen Bibliothek bedienen, außerdem sind fast alle neuen Bücher in jeder Buchhandlung zur Einsichtnahme erhältlich. Auch sonst empfiehlt es sich sehr, selbst bei mäßigem Bedarf in regelmäßiger Verbindung mit einem tüchtigen Buchhändler zu bleiben. Die häufig sehr ungerechterweise geschmähten Sortimentsbuchhändler leisten tatsächlich durch Ratgeben, Auskünfte, Auswahlsendungen, Feststellen ungenau oder falsch mitgeteilter Büchertitel und hundert andere kleine Dienste den Leserkreisen und damit unserem geistigen Leben sehr anerkennenswerten Vorschub.

Bestimmte Ratschläge darüber, was der Einzelne lesen und kaufen sollte, sind natürlich nicht zu geben. Hier muß jeder seinem eigenen Kopf und Geschmack folgen. Man hat öfters versucht, eine Liste von tausend oder der hundert "besten" Bücher aufzustellen - das ist für Privatbibliotheken natürlich durchaus wertlos. Es sei hier nochmals betont, daß Unbefangenheit und Vorurteilslosigkeit die ersten Tugenden des Lesers sein müssen. Man hört oft ganz gescheite Leute sagen, Verse lesen sei ein Zeitvertreib und höchstens für Backfische gut; dieselben Leute sind meist der Ansicht, man solle nur belehrende, wissenschaftliche Bücher lesen. Nun haben aber ganze Völker und Zeiten ihren Schatz von Belehrung und Wissen ausschließlich in Form von Versen niedergelegt! Es gibt eine Menge von Gedichten, Märchen und Dramen, in welchen Tieferes und Wertvolleres, ja fürs tägliche Leben Brauchbareres steht als in unzähligen Lehrbüchern, und andererseits gibt es wissenschaftliche Werke, deren Stil und Vortrag so persönlich, frisch und lebensvoll ist wie die beste Dichtung. Man kann Bücher von Dante und Goethe lesen wie philosophische Werke und kann einen philosophischen Essay von Diderot lesen wie ein formvollendetes Gedicht. Sowohl der übertriebene Respekt vor akademischer Wissenschaftlichkeit wie das einseitige Lobpreisen rein poetischer Werke sind inhaltlos und wertlos. Wir erleben es fast alljährlich, daß ein paar der allerbesten Begabungen Akademie und Lehrstuhl verlassen, um sich aufatmend der freien Literatur mit ihrem weiteren Wirkungskreis zuzuwenden, und umgekehrt sehen wir oft genug geborene Dichter, sich mit heißem Bemühen auf rein wissenschaftliche Arbeiten konzentrieren. Wer etwas Gutes zu sagen hat und eine neue, schöne, eigenartige Form dafür zu schaffen vermag, soll uns mit Dank willkommen sein, er möge nun einen "Wilhelm Meister" oder eine "Kultur der italienischen Rennaissance" schreiben.

Es ist merkwürdig, wie verschämt und schüchtern oft sogar tüchtig gebildete Leute mit ihrem literarischen Geschack hinterm Berge halten. Einer meiner Bekannten, der in anderen Dingen gern frei von der Leber weg redet, rückte mir gegenüber erst nach längerem Zögern damit heraus, daß ein Roman von C.F. Meyer, den ich ihm geliehen hatte, ihm gar nicht zusage. Er fürchtete sich dadurch zu blamieren, weil er wußte, daß Meyer eine anerkannte Berühmtheit ist. Aber es kommt beim Lesen doch nicht darauf an, daß man im Einklang mit dem allgemeinen Urteil bleibe, sondern lediglich darauf, daß man Freude erlebt und seinem inneren Besitz einen neuen, lieben Schatz hinzufügt! Und ein anderer gestand mir einst so zaghaft, als hätte er ein Verbrechen zu beichten, daß er nichts lieber lese als die für ganz veraltet geltenden Schriften von Jean Paul. Aber eben daß er seine innige Freude an ihm hat, selbst wenn er damit allein stünde, beweist doch hinlänglich, daß Jean Paul eben nicht tot und veraltet ist, sondern immer lebt und Wirkung tut.

Alle diese Ähnlichkeit, dieses Mißtrauen in den eigenen Geschmack, diese grenzenlose Hochachtung vor dem Urteil der Kenner und Sachverständigen ist fast immer von Übel. Es gibt keine hundert beste Bücher oder Autoren! Es gibt keine allgemein zutreffende, unumstößlich richtige Kritik! Ein leichtfertiger Obenhinleser mag einmal auf ein Buch hereingefallen udn es begeistert loben, um nachher bei einem späteren Wiedersehen sich selber nicht mehr zu begreifen und beschämt zu schweigen. Aber wer zu irgendeinem Buche in traulichem Verhältnis steht, es wieder und wieder lesen kann, und jedesmal eine neue Freude und Sättigung daran empfindet, der vertraue ruhig seinem Gefühl und lasse sich seine Freude durch keine Kritik verderben. Es gibt Menschen, die ihr Leben lang nichts lieber lesen als Märchenbücher, und andere, die schon ihren Kindern alle Märchenlektüre entziehen und fernhalten. Recht hat immer nur der, der nicht einer fixen Norm und Schablone, sonderm seinem Gefühl und Herzenbedürfnisse folgt. Damit rede ich keinewegs den Alleslesern das Wort. Es gibt ja solche Unersättliche, denen kein Zeitungsfetzen aus den Händen kommt, ohne daß sie ihn gelesen haben, und welche weiter und weiter lesen, einerlei was, als gössen sie Wasser in ein Sieb. Diesen krankhaften Gefäßigen ist mit Ratschlägen nicht zu helfen, bei ihnen sitzt der Fehler nicht nur in der Art, wie sie lesen, sondern tiefer, im ganzen Charakter; sie sind auch als Menschen minderwertig. Aus solchen wird auch die feinste Lesemethode keine brauchbaren und liebenswerten Menschen machen. Aber ernsthafte Männer und Frauen, denen es in Dingen der Kunst und Literatur an Rat und Hilfe fehlt und welche durch eine schlichte, aber liebevolle Pflege ihrer Lektüre an Lebensfreude und innerem Wert wachsen können, solche gibt es genug. Und diese werden, wenn sie unbeirrt ihrem inneren Bedürfnis folgen und, um die Mode unbekümmert, dem ihnen Zusagenden treu bleiben, schneller und sicherer zu echter literarischer Bildung gelangen, als wenn sie überängstlich auf jede imponierende Kritik hören. Sie werden den Ton, der ihnen im Werk eines Jungen, eines Schülers oder Nachahmers lieb wurde, mit Freuden da und dort wiederfinden und mit geschärftem Verständnis die Richtung einschlagen, wo er reiner und voller tönt, bis sie beim Meister selbst ankommen. Und mit Erstaunen werden sie dann vielleicht entdecken, daß den Meister wenige kennen, während irgendeiner seiner Nachfolger, vielleicht ein geringer Nachahmer, durch zufällige Erfolge in jedermanns Händen ist. Wer so durch eigenes Suchen zu originalen Meistern, wie G. Keller, Mörike, Storm, Jens Peter Jacobsen, Verhaeren, Walt Whitman, gekommen ist, der kennt und besitzt diese besser als der gelehrteste Kenner. Ein solches Entdecken festigt nicht nur das Vertrauen auf den eingeschlagenen Weg und in die eigene Urteilskraft, sondern ist an sich eine der köstlichsten und reinsten Freuden, die man erleben kann.

Es ist mit dem Lesen wie mit jedem anderen Genusse: er wird stest desto tiefer und nachhaltiger sein, je inniger und liebevoller wir uns ihm hingeben. Man muß seine Bücher wie Freunde und Lieblinge behandeln, jedes in seiner Eigenart schätzen und nichts von ihm verlangen, was dieser Eigenart fremd ist. Man muß sie auch nicht wahllos zu jeder beliebigen Zeit, nicht zu rasch und nicht allzuschnell hintereinander lesen, sondern in guten Stunden der Empfänglichkeit; mit Muße und Behagen. Liebe Bücher, deren Sprache uns besonders zart und sympathisch anmutet, sollte man je und je laut lesen.

Die Werke fremdsprachlicher Literaturen müßte man natürlich womöglich in der Ursprache genießen und sich Übung darin, soweit es ohne viel Opfer geschehen kann, zu erhalten suchen. Doch darf man hierin nicht rigoros und peinlich sein. Bücher einer fremdem Literatur, deren Sprache und Mühe macht und nicht geläufig ist, liest man meistens in guten Übersetzungen besser und mit größtem Gewinn als im Original. Sehr wenige können Dante oder auch Shakespeare und Cervantes in der Ursprache lesen, und doch haben Tausende ihre Freude an ihnen. Fruchtlos und gefährlich ist nur das hastige Herumsuchen in vielen Literaturen, das gierige Stöbern nach immer neuen, unerhörten Reizen, die man sich heute von einem persischen Märchen, morgen von einer nordischen Sage, übermorgen von einer modernen amerikanischen Groteske verspricht. Wer ungeduldig und ruhelos liest, überall herum nippt und immer nur das Pikanteste, Delikateste, Exquisteste haben möchte, verdirbt sich bald den Sinn für Stil und Schönhiet der Darstellung. Solche Leser, die nicht selten den Eindruck raffiniert ausgebildeter Kunstgenießer machen, enden fast alle beim roh Stofflichen oder bei minderwertigen Spezialitäten. Lieber das Gegenteil dieser Unrast und ewigen Jagd, lieber für längere Zeit bei den Werken desselben Verfassers, derselben Zeit, derselben Schule verweilen! Was man gründlich kennt, besitzt man wirklich. Wer etwas drei, vier von unseren besten Autoren vollständig und wiederholt gelesen hat, ist reicher und hat mehr gelernt, als wer in unruhiger Neugier eine Menge von Proben und Bruchstücken aus den Literaturen aller Zeiten und Länder verschlungen hat. Eine kleine Zahl von Büchern durch und durch zu kennen, so daß man sie nur in die Hand zu nehmen braucht, um ein Nachempfinden der ungezählten Lesestunden zu haben, das ist edler und befriedigender als ein ganzer Kopf voll vager Erinnerungen an tausend Büchertitel und Dichternamen.

Immerhin gibt es eine Art von literarischer Bildung, ein Vertrautsein mit dem Besten, ein Fundament für das Urteil, das nur aus dem Verständnis der Gesamtliteratur als eines organischen Ganzen erwachsen kann und dennoch jedem, der sich darum bemühen will, zugänglich ist. Mit dem Durchlesen einer Geschichte der Weltliteratur wird dies aber freilich nicht erreicht, sondern einzig durch das Kennenlernen der besten älteren Autoren selber, wenn auch nur in Übersetzungen und in gedrängter Auswahl. Es ist nicht nötig, viele Griechen und Römer zu kennen, aber einige Wenige sollte man desto aufmerksamer lesen. Wenigstens eines der Homerischen Gedichte, wenigstens ein Werk des Sophokles, sorgfältig gelesen, mag als erste Grundlage genügen. Ebenso müßte man eine kleine Auswahl aus Horaz und den römischen Elegikern und Satirikern kennen (hier sei Geibels Classisches Liederbuch sehr empfohlen) und etwas einige lateinische Briefe und Reden. Von der Literatur des frühen Mittelalters eigne man sich in erster Linie das Nibelungenlied und Gudrun, dann einige Sammlungen von Fabeln, Sagen, Volkspoesien und die einer oder andere Chronik an. Sodann Wolfram von Eschenbach (Parsifal), Gottfried von Strassburg (Tristan) und Walter von der Vogelweide. Altfranzösische Sagen hat A. v. Keller gesammelt und übersetzt. Von Dante, dessen Göttliche Komödie Wenige wirklich genießen können, gibt die kleine nicht allzu schwer lesbare Vita nuova, die Erzählung seines Verhältnisses zu Beatrice, einen zugänglicheren Begriff. Die alten italienischen Novellisten, an sich schön und amüsant und als Vorbilder und Grundlage aller seitherigen Erzählkunst wichtig, bietet in vortrefflicher Auswahl und Übertragung Paul Ernst in seinen Altitalienischen Novellen dar.

Mit den sogenannten Klassikern wird gar viel Heuchelei und äußerlicher Kult getrieben. Aber die ganz Großen gut zu kennen, ist unumgänglich, obenan Shakespeare und Goethe. Von Schiller mit einer gewissen Geringschätzigkeit zu reden, ist neuerdings eine törichte Modekrankheit, auf die man nicht achten möge. Auch Lessing ist unverdient etwas in den Hintergrund geschoben worden. Über diesen Großen lese man nichts oder wenig, wenigstens nicht, ehe man sie aus ihren eigenen Werken kennt. Durch vieles Lesen von Monographien und Lebensbeschreibungen verdirbt man sich leicht den wundervollen Genuß, das Wesen eines großen Menschen aus seinen Werken selber herauszulesen, sein Bild sich selber aufzubauen. Und nächst den Werken lasse man sich die Briefe, Tagebücher, Gespräche, zum Beispiel Goethes, nicht entgehen! Wo die Quellen so nahe und bequem zugänglich sind, darf man nicht aus zweiter Hand sich beschenken lassen. Jedenfalls lese man nur die allerbesten Biographien, die Zahl der schlechten Legion. Damit kommen wir auf das Gebiet der "Lebensbücher". Man versteht darunter im weitesten Sinne Bücher, in welchen ohne Umwege ein bedeutender, wertvoller, vorbildlicher Mensch uns über die Kunst des Lebens, die großen, ewigen Fragen persönliche Aufschlüssen gibt, sei es in Form der theoretischen Belehrung oder durch Aufzeichnung seines eigenen Erlebens und seiner Gedanken darüber.Zu letzter Gattung gehören also alle Bücher deren Inhalt Briefe, Tagebücher, Erinnerungen bedeutender, guter und kluger Menschen bilden. Es gehört dahin vielleicht fast ein Drittel der wertvollsten Werke aller Zeiten. Von neueren Erscheinungen dieser Art sind etwa zu nennen die Familienbriefe Bismarcks, die "Praeterita" von Ruskin, die Briefwechsel Gottfried Kellers, die Herzfeldsche Auswahl von Aufzeichnungen des Leonardo da Vinci, die Briefe Nietzsches, der Briefwechsel Robert Brwonings und Elisabeth Barrets. Wer angefangen hat und weitersucht, wird Schätze in Menge finden.

Daran schließen sich wissenschaftliche und essayistische Einzelwerke bedeutender Verfasser an, in welchen die Persönlichkeit und Eigenart der Auffassung und des Vortrages das Interesse verdoppeln und bei deren Lektüre man nicht nur den dargestellten Gegenstand, sondern nicht weniger die bedeutende und wertvolle Eigenart des Verfassers kennenlernt. Werke dieser Art sind zum Beispiel Burckhardts "Kultur der Renaissance in Italien", Ruskins "Steine von Venedig" und "Sesam und Lilien", Paters "Renaissance, Carlyles "Helden und Heldenverehrung", Taines "Philosophie der Kunst", Rohdes "Psyche", Brandes "Hauptströmungen".

Schließlich gehört in diese Kategorie als besonderes Kleinod noch die nicht große Zahl wahrhaft tiefer, meisterhafter Biographien. Es gibt einige Lebensbeschreibungen, in welchen der darzustellende Held einen kongenialen Darsteller gefunden hat, in welchen das Lebendige und innerst Persönliche, statt unter der Bearbeitung zu verlieren, noch an Wucht und Wirkung gewinnt, indem der Verfasser durch tiefes Verständnis und kluges Ordnen des Materials seinen Gegenstand, wie der tüchtige Juwelier einen edlen Stein durch Folie und Fassung, in die einzig wahre, klarste, edelste Beleuchtung stellt. Derartige Werke, um einige Namen zu nennen, sind "Velasquez" von Justi, "Franz von Assisi" von Sabatier, Wölfflins "Dürer", "Gedanken über Goethe" von Hehn; auch die Charakteristiken in "Blütezeit der Romantik" von Ricarda Huch und in der "Literaturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts" von Hettner sind hierzu zu rechnen.

Es hat immer auch Dichter gegeben, deren Persönlichkeit stärker und temperamentvoller als ihre Lust am Stilisieren und Objektivieren war, so daß alle ihre Bücher wie persönliche Anreden, Gespräche, Bekenntnisse anmuten. Diese Art von Schriften, wenn auch zuweilen Kunstwerke nicht durchaus einwandfrei, hat besonderen Reiz und Wert, ihre Verfasser sind mein Kernnaturen mit allerlei Ecken und Knorren, denen man den Schliff der letzten künstlerischen Objektivität durchaus nicht wünschen möchte. Etwas von dieser erquicklichen Art haben Wilhelm Raabe und Peter Rosegger, auch Fritz Lienhard an sich. Typische Beispiele dafür sind aber vor allem Fr. Th. Vischer in seinem knorrig kühnen, grimmig humorvollen Roman "Auch Einer", und Multatuli (der Holländer E.D. Dekker) im "Max Havelaar". Diese Bücher sind hervorragende Kunstwerke, aber noch mehr sind sie Dokumente kraftvoller, in keine Schablone passender Charkatere von originalem Wuchs.

Allen diesen "Lebensbüchern", von welchen manchen abseits der allgemein gekannten Literatur stehen und gesucht sein wollen, mit liebendem Eifer nachzugehen, ist gewiß eine der kostbarsten Freuden und Aufgaben gebildeter Bücherleser. Und nach dem Bestand an solchen Büchern beurteilt man am sichersten den persönlichen Charakter einer Bibliothek und ihres Besitzers.

Die eigentliche "Bücherliebhaberei" beginnt erst jenseits der Linie der bisherigen Betrachtungen und kann hier nur eben als ein überaus delikater Sport erwähnt werden. Sie setzt ausgebreitete Kenntnisse und eine ganz spezielle Begabung voraus. Die meisten Liebhaber und Sammler beschränken sich darauf, etwas die Bücher gewisser Autoren oder einer bestimmten, genau begrenzten Zeit und Richtung möglichste vollständig zusammenzubringen, oder alles zu sammeln, was im Laufe der Jahrhunderte über ein bestimmtes Thema geschrieben wurde, wobei es an tollen Sonderlingslaunen, auch an lächerlichem Ehrgeiz und Wetteifer nicht fehlt.

Spezielle Liebhabereien sind zum Beispiel das Sammeln der frühesten Erzeugnisse der Buchdruckerkunst (bis etwa 1500), das Sammeln von Büchern mit Vignetten und Zeichnungen bestimmter Künstler oder Kupferstecher und Holzschneider, das Sammeln von Büchern kleinsten Formates (mikroskopische Drucke), kostbarer alter Einbände. Andere sammeln Schriften mit handschriftlichen Widmungen der Verfasser usw. Wen nicht besondere Neigungen einem solchen Einzelgebiet zuführt, der enthalte sich am besten aller Gelüste, in diesem von weltberühmten Sammlern und großen Antiquaren mit fast übertriebenem Raffinement zur Kunst entwickelten Sport als Dilettant aufzutreten.

Eine feine und nicht nur auf die eigentlichen Bibliophilenkreise beschränkte Liebhaberei ist es, die Werke seiner Lieblingsschriftsteller in frühene, womöglich ersten Ausgaben zu sammeln. Für wirklich überzart genießende Bücherfreunde ist es ein überaus inniges Vergnügen, ein geliebtes Buch in der ersten Ausgabe zu lesen und zu besitzen, in welchem nicht nur Papier, Lettern und Einband den stimmungsvollen Altersduft haben und schon durch den Anblick an die Zeit der Entstehung eines Dichterwerkes erinnern, sondern auch der Gedanke Freude bereitet, daß ganze Generationen diese Büchlein in Händen hielten und verehrten.

Ein weiterer, ganz besonders anmutender Reiz liegt im Besitze alter Bücher, über deren frühere Besitzer man unterrichtet ist, die sich etwa in des Inhabers eigener oder einer ihm nahestehenden Familie vererbt haben, vielleicht auch mit Namenseintragungen und Notizen von alter Hand versehen sind, so daß das Exemplar seine eigene Geschichte hat und erzählt und einem pietätvollen heutigen Besitzer ein Stück Tradition und vergangener Kultur übermittelt. Wer etwa eine frühe Ausgabe von Eichendorff oder Hoffmann oder einem alten Almanach besitzt, den sein Großvater kaufte, den seine Großmutter und nach ihr seine Mutter einst las und liebte, in welchem von der Hand wohlbekannter Verstorbener Lieblingsstellen angestrichen oder durch eingelegte, vergilbte Lesezeichen markiert sind, der wird diese Bändchen gewiß gegen keine noch so kostbare moderne Ausgabe vertauschen.

Genug davon. Bibliphilie und Büchersammelsprt lassen sich nicht in Kürze darstellen und erfordern ein eigenes Studium. Wen dies Gebiet anzieht, dem sei Mühlbrechts vorzügliche "Geschichte der Bücherliebhaberei" empfohlen. - Aber es ist nun noch davon zu reden, wie wir Bücher behandeln und pflegen sollen.

Wenn aus dem Ankauf von Werken, die wir genügend schätzen, um sie zu eigen und ständig um uns haben zu wollen, allmählich eine Hausbibliothek entsteht, wird der Besitzer meistens bald auch in Bezug auf das Äußere seiner Bücher etwas sorgsamer und verwöhnter werden. Für das einmalige Lesen ist ja schließlich jede Ausgabe gut genug. Aber Bücher, zu denen man häufiger zurückzukehren denkt, möchte man doch gerne in möglichst hübschen, gefälligen und auch praktischen, dauerhaften Ausgaben besitzen. Man überlege daher bei Werken, von welchen vielerlei Ausgaben existieren, welche davon man sich kaufen soll. Nächst der Garantie für unverdorbene, namentlich ungekürzte Texte wird der Käufer vor allem auf lesbaren, klaren und schönen Druck sehen. Er überzeuge sich aber auch davon, daß das Papier solide ist! Es sind in Deutschland in den letzten Jahrzehnten, namentlich bei wohlfeilen Klassikerausgaben, vielfach unverantwortlich schlechte Papiere verwendet worden, die einem fast unter den Händen gelb und brüchig werden, sobald sie aus der Verpackung des Büchermagazines an Licht und Luft und den Gebrauch kommen. Neustens ist darin endlich eine erwünschte Besserung eingetreten. Wo man von älteren Autoren keine guten modernen Ausgaben finden kann, wende man sich an die Antiquare und kaufe wohlerhaltene ältere Ausgaben, die meist in Papier und Druck solider sind. Von einzelnen bedeutenden älteren Dichtern, zum Beispiel von Jean Paul, gibt es trotz der Rührigkeit unserer Verleger keine brauchbaren Neuausgaben.

Alsdann achte man auf die Formate und Einbände! Weder die protzigen Riesenformate noch die winzigen, spielerischen Miniaturbändchen sind brauchbar. Auch gibt es Werke, welche dadruch nahezu unleserlich und unbrauchbar wurden, daß der Verleger, um sie nur wohlfeiler geben zu zu können, viel zu viele Bogen in einen einzigen Band gepreßt hat. Namentlich bei aller poetischen Literatur, die man doch möglichst unbeschwert genießen will, halte man darauf, nur leichte, handliche, bequem zu haltende und zu öffnende Bände zu haben. Und nötigenfalls spare man die geringen Kosten nicht und lasse sich, was der Verleger in einem Band gehäuft hat, nach Bequemlichkeit in zwei, drei oder mehr Einzelbände umbinden.Mir sind, um nur ein Beispiel zu nennen, die vier dicken Bände der von Grisebach herausgegebenen Werke E.TA. Hoffmanns seinerzeit so lange ungenießbar geblieben, bis ich sie in zwölf leichten Bändchen verteilte.

Fertig gebundene Bücher, soweit es sich nicht um ganz billige Ausgaben handelt, kaufe man ausnahmslos nur, wenn sie nicht mit Draht, sondern mit Faden geheftet sind. Die Drahtheftung ist eines der ägerlichsten Laster der modernen Fabrikbuchbindereien und sollte noch viel mehr, als es schon geschieht, vom kaufenden Publikum abgelehnt werden. Es wird darin von manchen Verlegern, und oft selbst bei sehr teuren Büchern gesündigt. Ist der Originalband mit Draht geheftet oder gefällt dem Käufer seine Zeichnung und Farbe nicht, so läßt er das Buch selber binden, was dasselbe um eine Kleinigkeit verteuert. Aber wer Freude an seiner Bücherei hat, wird es meistens vorziehen, seine Bücher nach eigenem Belieben einbinden zu lassen. Er kann dabei jedes Buch eigens auszeichnen, kenntlich machen, individualisieren, ihm eine Ehre und Liebe antun, indem er es möglichst hübsch, bequem und eigenartig binden läßt, nach eigener Angabe oder Zeichnung, nach persönlicher Wahl der Farben, der Buntpapiere, des Materials.Er kann den Titel beliebig fassen und in beliebigen Lettern aufdrucken lassen. Darin liegt ein eigener Reiz, der die Freude am Besitz erheblich steigert, indem durch die wohlüberlegte liebevolle Behandlung des Einbandes der Besitzer am einzelnen Buch gewissermaßen zum Mitschöpfer wird und sein Exemplar von allen in der Welt vorhandenen übrigen Exemplaren ausdrücklich unterscheidet - eine feinere und reizvollere Art der Kennzeichnung, als das Einstempeln des Namens oder das Einkleben eines Besitzerzeichens (Exlibris). Ein Sammler, der seine Bücher alle selbst binden läßt, kennt sein Exemplar, falls es ihm abhanden käme, am Einband sicherer wieder als an allen Monogrammen und Exlibris.

Im Anschluß hieran beginnt nun die eigentliche Pflege des Bücherbesitzes. Was man liebt, will man bequem und nahe zur Hand haben, aber auch schonen und nicht verderben sehen. Die beste Aufbewahrung von Büchern ist und bleibt die in schlichten, an der Wand aufgebauten Ständern mit einfachen Regalen, ohne Glastüren, höchstens gegen starkes Sonnelicht durch leichte Vorhänge zu schützen. Die Ständer oder Katsen werden am besten so gebaut, daß unten festes Fach von besonderer Höhe und Tiefe angebracht wird, darüber bewegliche Regalbretter zum Einstellen in beliebigen Distanzen. Wer ein eigenes Bücher- und Studierzimmer hat, kann den Wandschmuck darin entbehren oder sollte jedenfalls die Reihe der Bücherrücken als Hauptschmuck wirken lassen. Den Raum suche man möglichst staubfrei zu halten; ein noch gefährlicherer Bücherfeind als der Staub ist die Feuchtigkeit und der aus Mangel an Lüftung entstehende Moder. Vor den Einflüssen des Staubes schützt man die Bücher dadurch, daß man sie zuzeiten leicht ausklopft und daß man sie, jedoch ohne starke Pressung, im Regal so dicht stellt, daß sie nicht aufklaffen. Beim Gebrauch ist Reinlichkeit und Sorgfalt selbstverständlich; besonders hüte man sich vor der üblen Gewohnheit, in Lesepausen die offenen Bücher umgeklappt auf den Tisch zu legen. Auch lege man als Merkzeichen nicht dicke Gegenstände (Falzbein, Lineal, Bleistift) usw.) sondern nur Buchzeichen aus Papier, Tuch oder Seide ein. Für kostbare Einbände, die man besonders schonen möchte, lassen sich aus dünner Pappe leicht Futterale herstellen, die man durch Überziehen mit Buntpapier, Leinwand, Stickereien, Seide beliebig mannigfaltig schmücken kann.

Eine eigene Freude gewährt das Ordnen einer Bibloothek und das Einhalten und Ausbauen dieser Ordnung. Man trenne etwa wissenschaftliche und schöngeistige, ältere und moderne Literatur, bringe Unterabteilungen nach Sprachen und Wissensgebieten an und ordne dann jede Abteilung in sich genau und sorgfältig durch. Meistens geschieht dies nach dem Alphabet der Verfassernamen; diese Methode ist einfach und sicher. Feiner ist das Ordnen nach inneren Grundsätzen und Zusamengehörigkeiten, etwa nach Aktuellie und Geschichte, oder nach durchdachtem persönlichen Geschmack. Ich kenne eine Privatbibliothek von mehreren tausend Bänden, die weder alphabetisch noch Aktuellisch geordnet sind, wo vielmehr der Besitzer die Nachbarschaft und Rangordnung sämtlicher Bände nach rein persönlicher Schätzung bestimmt und gegliedert hat - und doch braucht er nach jedem beliebigen Werk, das man von ihm wünscht, nur blindlings zu greifen, so organisch ist das Ganze eingeteilt und so genau übersieht er seine ganze stattliche Sammlung. Wenn nun eine solche allmählich entstandene Bibliothek, sei sie noch so bescheiden, ein paar Wandfächer füllt, und Band an Band jeder vom Tag des Einkaufs und des ersten Lesens an eine kleine kostbare Reihe lieber Erinnerungen in sich trägt, wird in jedem irgend Empfänglichen eine zärtliche Besitzerfreude täglich wachsen und er wird nicht mehr begreifen, wie er früher ohne eigene Büchersammlung leben mochte. Mag auch das Buch, rein stofflich betrachtet, eine fabrikmäßig angefertigte Markenware von geringem Wert sein, es ist doch eben ein Stück vom Geist geadelter Materie, ein kleines Wunder und Heiligtum, das eine ehrenvolle Stätte der Lust und Erhebung jederzeit dem Wunsche bereit stehen muß. Ein Haus ohne Bücher ist arm, auch wenn schöne Teppiche seine Böden und kostbare Tapeten und Bilder die Wände bedecken. Und nur wer selbst Bücher kennt, besitzt und lieb hat, ist in der Lage der Leselust seiner heranwachsenden Kinder mit Verständnis und wirklicher Hilfeleistung nachgehen zu können, sie vor Schund wie vor verfrühtem Naschen am Besten zu bewahren und in ruhiger Entwicklung es mitzuerleben, wie sich vor ihren jungen Seelen das Reich des Geistes und der Schönheit auftut. Er wird den "Faust" oder den "Grünen Heinrich" oder den "Hamlet" als etwas Neues, doppelt Herrliches genießen, wenn er ihn zum ersten Male seinem Sohn in die Hand gibt und diesen als Mitbesitzer und liebsten Gast in sein Bücherzimmer einläßt.


aus: Hermann Hesse: Die Welt im Buch, Frankfurt/Main 1977, S. 29-47


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