Über das Lesen


von Hermann Hesse

Die meisten Menschen verstehen nicht zu lesen, und die meisten wissen nicht recht, warum sie lesen. Die einen sehen das Lesen als einen größtenteils mühsamen, doch unumgänglichen Weg zur Bildung an, und sie werden denn auch mit allem Lesen höchstens gebildet. Die anderen halten die Lektüre für ein leichtes Vergnügen, mit dem man die Zeit totschlägt und wobei es im Grunde einerlei ist, was man lese, wenn es nur nicht langweilt.

So liest denn der Herr Müller den Egmont von Göthe oder die Memoiren der Markgräfin von Bayreuth, weil er dadurch gebildeter zu werden und eine von den vielen Lücken auszufüllen hofft, die er in seinem Wissen fühlt. Daß er diese Lücken so ängstlich fühlt und kontrolliert, ist schon ein Symptom dafür, dass er der Bildung von außen her beizukommen weiß und sie als etwas durch Arbeit zu Erwerbendes ansieht, daß also jede Bildung, er studiere noch so viel, in ihm tot und fruchtlos bleiben wird.

Und Herr Meier liest zum Vergnügen, das heißt aus Langeweile. Er hat Zeit, er ist Rentner, und er hat sogar weit mehr Zeit, als er aus eigenen Kräften hinzubringen weiß. Also müssen die Schriftsteller ihm helfen, seinen langen Tag umzubringen. Er liest Balzac wie er eine gute Zigarre raucht, und er liest Lenau wie er eine Zeitung liest. Nun sind aber dieselben Herren Müller und Meier, ebenso wie ihre Frauen, Söhne und Töchter, in anderen Dingen gar nicht so wahllos und unselbständig. Sie kaufen und verkaufen keine Staatspapiere ohne gute Gründe, sie haben erprobt, daß am Abend schweres Essen unzuträglich ist, und sie tun an körperlicher Arbeit nicht mehr, als ihnen zum Erwerb und zur Erhaltung der Gesundheit durchaus notwendig scheint. Mancher von ihnen treibt sogar Sport und hat eine Ahnung von dem Geheimnis dieses merkwürdigen Zeitvertreibs, bei dem ein kluger Mensch sich nicht nur vergnügen, sondern auch verjüngen und stark machen kann.

Nun, ebenso wie Herr Müller turnt oder rudert, so sollte er auch lesen. Er sollte von den Stunden, die er auf seine Lektüre verwendet, nicht weniger Gewinn erwarten als von denen, in denen er sein Geschäft besorgt, und er sollte sich von keinem Buch imponieren lassen, das ihn nicht um eine erlebte Erkenntnis reicher, um einen Schatten gesünder, um einen Tag jünger macht. Er sollte sich um die Bildung so wenig kümmern, als er sich um die Erlangung einer Professur bemüht, und er sollte sich des Umganges mit Romanräubern und Romanzuhältern ebenso schämen, wie er sich des Verkehrs mit wirklichen Schuften schämen würde. Aber so einfach denkt der Leser nicht, sondern er sieht die Welt des Gedruckten entweder als eine bedingungslos höhere an, wo Gut und Böse nicht gilt, oder er verachtet sie innerlich als eine unwirkliche, von Spekulanten erfundene, in die man sich nur aus Langeweile hinein begibt und aus der man nichts mitnimmt als das Gefühl, ein paar Stunden verhältnismäßig angenehm herumgebracht zu haben. Trotz dieser falschen und geringen Einschätzung der Literatur liest aber sowohl Herr Müller wie Herr Meier meistens viel zuviel. Er opfert einer Sache, die ihm im Herzen nichts angeht, mehr Zeit und Aufmerksamkeit als manchem Geschäft. Er ahnt also dunkel, daß in den Büchern doch etwas verborgen sein müsse, was nicht wertlos ist. Nur verharrt er den Büchern gegenüber in einer passiven Unselbständigkeit, die ihn im Geschäft bald ruinieren würde.

Der Leser, der Zeitvertreib und Erholung sucht, und jener, dem es um die Bildung zu tun ist, vermutet in den Büchern irgendwelche verborgenen Kräfte der Erfrischung und geistigen Hebung, die er jedoch nicht genauer kennt und abzuschätzen weiß. Darum tut er wie ein unkluger Kranker, der in einer Apotheke viele gute Mittel verwahrt weiß und sich darum daran macht, die Apotheke Fach für Fach und Glas für Glas durchzukosten. Und doch wäre, wie in der wirklichen Apotheke, so auch im Buchladen und in der Bibliothek für jeden das rechte Kraut zu finden und es könnte jeder, statt sich zu vergiften und zu übeffüllen, Stärkung und Erfrischung dort holen.

Es ist für uns Autoren angenehm, dass so viel gelesen wird, und es ist vielleicht unklug, wenn ein Autor findet, es werde viel zuviel gelesen. Aber auf die Dauer macht eben doch ein Beruf wenig Freude, den man überall mißsverstanden und mißbraucht sieht, und zehn gute, dankbare Leser sind, trotz der kleineren Tantiemen, besser und eifreulicher als tausend gleichgültige. Darum wage ich es und behaupte, es wird allerwärts zu viel gelesen, und es geschieht mit diesem Viellesen der Literatur gar keine Ehre, sondern ein Unrecht. Die Bücher sind nicht dazu da, unselbständige Menschen noch unselbständiger zu machen, und sie sind noch weniger dazu da, lebensunfähigen Menschen ein wohlfeiles Trug- und Ersatzleben zu liefern. Im Gegenteil, Bücher haben nur einen Wert, wenn sie zum Leben führen und dem Leben dienen und nützen, und jede Lesestunde ist vergeudet, aus der nicht ein Funke von Kraft, eine Ahnung von Verjüngung, ein Hauch von neuer Frische sich für den Leser ergibt.

Rein äußerlich ist das Lesen ein Anlaß, eine Nötigung zur Konzentration, und es ist nichts falscher, als zu lesen um sich zu "zerstreuen". Wer nicht gemütskrank ist, der soll sich durchaus nicht zerstreün, sondern er soll sich konzentrieren, er soll überall und immer, wo er sei und was er tue oder denke oder empfinde, mit allen Kräften seines Wesens dabei sein. So soll man denn auch beim Lesen vor allem empfinden, daß jedes anständige Buch eine Konzentration darstellt, ein Zusammenziehen und intensives Vereinfachen verwickelter Dinge. Jedes kleinste Gedicht schon ist so ein Vereinfachen und Konzentrieren menschlicher Empfindungen, und wenn ich beim Lesen nicht den Willen habe, selber mit Aufmerksamkeit mitzutun und mitzürleben, so bin ich ein schlechter Leser. Das Unrecht, das ich damit einem Gedicht oder Roman antue mag mich nicht berühren. Ich tue durch schlechtes Lesen aber vor allem mir selbst unrecht. Ich bringe Zeit mit etwas Wertlosem hin, ich verwende Sehkraft und Aufmerksamkeit auf Dinge, die mir gar nicht wichtig sind und die ich rasch wieder zu vergessen schon im voraus gesonnen bin, ich ermüde mein Gehirn mit Eindrücken, die mir nichts nützen und die ich gar nicht verdauen mag.

Man sagt oft, an diesem schlechten Lesen seien die Zeitungen schuld. Ich halte das für ganz falsch. Man kann täglich eine Zeitung oder mehrere lesen und dabei konzentriert und freudig tätig sein, man kann sogar dabei im Auswählen und raschen Kombinieren der Neuigkeiten eine ganz gesunde und wertvolle Übung begehen. Während man recht wohl die "Wahlverwandtschaften", sei es als Bildungsmeier oder als Vergnügungsleser, auf eine Weise lesen kann, die völlig wertlos ist. Das Leben ist kurz, und es wird im Jenseits keiner nach der Zahl der Bücher gefragt, die er bewältigt hat. Darum ist es unklug und schädlich, mit wertloser Lektüre Zeit hinzubringen. Ich denke dabei noch gar nicht an schlechte Bücher, sondern vor allem an die Qualität des Lesens selbst. Man soll vom Lesen, wie von jedem Schritt und Atemzug im Leben, etwas erwarten, man soll Kraft hingeben, um reichere Kraft dafür zu ernten, man soll sich verlieren, um sich bewußter wiederzufinden. Es hat keinen Wert, die Literaturgeschichte zu kennen, wenn nicht aus jedem von den gelesenen Bänden uns Freude oder Trost oder Kraft oder Seelenruhe geworden ist. Gedankenloses, zerstreutes Lesen ist geradeso wie Spazierengehen in schöner Landschaft mit verbundenen Augen. Wir sollen auch nicht lesen, um uns und unser tägliches Leben zu vergessen, sondern im Gegenteil, um desto bewußter und reifer unser eigenes Leben wieder in feste Hände zu nehmen. Wir sollen zu Büchern kommen nicht wie ängstliche Schüler zu kalten Lehrern und auch nicht wie Nichtsnutze zur Schnapsflasche, sondern wie Bergsteiger zu den Alpen und wie Kämpfer ins Arsenal, nicht als Flüchtige und zum Leben Unwillige, sondern als Gutgewillte zu Freunden und Helfern.

Wenn es so wäre und geschähe, so würde kaum mehr der zehnte Teil von dem gelesen, was jetzt gelesen wird, und wir alle wären zehnmal froher und reicher. Und wenn es dazu führte, daß unsere Bücher nimmer gekauft werden, und wenn das wieder dazu führe, daß wir Autoren zehnmal weniger schrieben, so wäre dies für die Welt durchaus kein Schaden. Denn freilich, es steht um das Schreiben nicht besser als um das Lesen. (1911)


Hermann Hesse: Welt der Bücher. Frankfurt/M: Suhrkamp, 1977


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