Ferienlektüre


von Hermann Hesse

Ohne Zweifel geht man nicht in die Sommerfrische, um Bücher zu lesen. Trotzdem gibt es viele, die nur in dieser Zeit zu einer ruhigen Lektüre kommen, und manchen, der es nicht im Sinn hatte, zwingen Regentage und andre Umstände zum Lesen. Nach meiner Erfahrung gibt es für Ferienzeiten gar keinen schöneren Vorsatz als den, keine Zeile zu lesen, und nachher nichts Hübscheres, als bei guter Gelegenheit dem guten Vorsatz mit einem wirklich schönen Buche untreu zu werden.

Die Herrschaften, die mit Kindern, Frauen und Dienstboten ins Bad oder in die Berge reisen, pflegen es sich wohl zu überlegen, was mitzunehmen sei. Es kommt kaum vor, daß eine Dame erst in Ostende bemerkt, es fehle ihr an einem neuen Abendkleid, und vom Lederkoffer bis zum Zahnpulver bedenkt man das Unentbehrliche genau. Man sieht sich auch nach Gesellschaft um und reist lieber an denselben Erholungsort mit einem Vetter oder Freunde als mit einem Todfeind. Man wählt alsdann sein Hotel mit Bedacht und wählt darin die Zimmer mit Sorgfalt, und bald weiß man, wo es den besten Kaffee und das kühlste Pilsener gibt.

Alle diese Sorgfalt in Ehren! Dieselbe Dame jedoch, die vom Hut bis zum Stiefelchen nichts Unüberlegtes an sich trägt, die in der Wahl ihrer Freunde so vorsichtig ist und sich durchaus keine Zimmer mit Nordfenstern gefallen läßt, dieselbe Dame bringt ihre Regentage gähnend mit schlechten Büchern hin, denn sie hat natürlich keine Bücher mitgenommen und ist nun auf das angewiesen, was ihr der Kurbuchhändler vorlegt. Der Kurbuchhändler aber setzt sich der Hetze seiner Saisonarbeit keineswegs in erzieherischen Absichten aus und kann ohnehin kein allzu großes Lager führen. Sein Interesse ist es, von einigen wenigen gangbaren Büchern möglichst große Partien abzusetzen. So kauft der Bankier und die Gouvernante, der Amtsrichter und der Chauffeur sich dieselben Memoiren einer flüchtig gegangenen Prinzessin, dieselbe Mordgeschichte und dieselbe Kasernensatire, weil eben das die "Bücher der Saison" sind. Dieselben Leute, die zu Hause den ganzen Goethe ungelesen stehen haben, nehmen niemals einen Band oder zwei davon auf die Sommerreise mit, sondern kaufen jedes Jahr eben immer wieder die Bücher der Saison, die mit wenigen Ausnahmen im Grunde immer genau dieselben sind und nur die Titel und Umschläge wechseln.

Das ist nun, wie vor Weihnachten, für uns Rezensenten die Zeit der Hoffnung, da wir die Federn spitzen und unser Volk zu erziehen unternehmen. Und so will ich es versuchen, in der stillen Hoffnung, den prinzeßlichen Memoiren und dem Räuberroman etwa einige Kunden zu entreißen. Vorher aber rate ich jedem Sommerfrischler von Herzen zu jenem guten Vorsatz: diesmal gar nichts lesen! Denn die Feinde der guten Bücher und des guten Geschmacks überhaupt sind nicht die Bücherverächter oder Analphabeten, sondern die Vielleser.


aus: Hermann Hesse: Die Welt im Buch, Frankfurt/Main 1977, S. 82-83


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