Vom Bücherlesenvon Hermann Hesse Es ist eingeborenes Bedürfnis unseres Geistes, Typen aufzustellen und die Menschheit nach ihnen einzuteilen. Von den "Charakteren" des Theophrast und den vier Temperamenten unserer Großväter bis in die modernste Psychologie hinein ist das Bedürfnis nach Typenordnungen zu spüren. Und auch unbewußt teilt jeder Mensch die Menschen seiner Umgebung in Typen ein, nach Ähnlichektien mit Charakteren, die in seiner Kindheit ihm wichtig geworden sind. So fördernd und aufschlußreich nun solche Einteilungen sind, einerlei ob sie von rein persönlicher Erfahrung ausgehen oder nach wissenschaftlicher Typenbildung streben - zuzeiten ist es recht gut und fruchtbar, den Querschnitt durch das Reich der Erfahrung auch einmal anders zu legen und festzustellen, daß jeder Mensch Züge von jedem Typus an sich trägt, und daß die diversen Charaktere und Temperament sich, als einander ablösende Zustände, auch innerhalb einer einzelnen Persönlichkeit finden lassen. Wenn ich im folgenden drei Typen, oder besser Stufen vom Bücherlesen aufstelle, so meine ich denn auch damit nicht daß die Leserwelt sich in diese drei Ordnungen teile so, daß der eine dieser, der andere jener Gattung angehörte. Sondern jeder von uns gehört zeitweise zu dieser, zeitweise zu jender Gruppe. Da ist zuerst der naive Leser. Jeder von uns liest zuzeiten naiv. Dieser Leser nimmt ein Buch zu sich wie der Essende eine Speise, er ist lediglich Nehmender, er ißt und saugt sich voll, sei es als Knabe am Indianerbuch, als Dienstmagd am Gräfinnenroman oder als Student an Schopenhauer. Dieser Leser verhält sich zum Buch nicht wie Person zu Person, sondern wie das Pferd zur Krippe, oder auch wie das Pferd zum Kutscher: das Buch führt, der Leser folgt. Das Stoffliche wird objektiv genommen, wird als Wirklichkeit anerkannt. Aber nicht nur das Stoffliche! Es gibt auch sehr gebildete, ja raffinierte Leser, namentlich von schöner Literatur, welche durchaus zur Klasse der Naiven gehören. Diese bleiben zwar am Stofflichen nicht hängen, sie schätzen einen Roman zum Beispiel nicht nach den darin vorkommenden Todesfällen oder Heiraten ein, aber sie nehmen den Dichter selbst, sie nehmen das Ästhetische am Buche völlig objektiv, sie genießen die Schwingungen des Dichters mit, sie fühlen sich in seine Stellungsnahme zur Welt vollkommen ein und übernehmen restlos die Deutungen, welche der Dichter selbst seinen Erfindungen gibt. Was den schlichten Seelen Stoff, Milieu und Handlung ist, das ist diesen kultivierten Lesern die Kunst, die Sprache, die Bildung des Dichters, seine Geistigkeit - die nehmen sie als etwas Objektives, als letzten und höchsten Wert einer Dichtung hin, ebenso wie der junge Leser Karl Mays die Taten Old Shatterhands als tatsächliche Werte, als Wirklichkeit hinnimmt. Dieser naive Leser ist, in seinem Verhältnis zur Lektüre, überhaupt nicht Person, nicht er selbst. Er wertet die Geschehnisse eines Romans nach ihrer Spannung, iherer Gefährlichkeit, ihrer Erotik, ihrem Glanz oder Elend, oder er wertet statt dessen den Dichter, indem er dessen Leistung an Maßstäben einer Ästhetik mißt, die letzten Endes immer eine Kovention bleibt. Dieser Leser nimmt ohne weiteres an, ein Buch sei dazu und einzig dazu da, getreu und aufmerksam gelesen und in seinem Inhalt oder seiner Form gewürdigt zu werden. So wie ein Brot zum Essen und ein Bett zum Schlafen da ist. Man kann aber zu allen Dingen der Welt, und so auch zum Buch, auch eine völlig andere Stellung einnehmen. Sobald der Mensch seiner Natur folgt und nicht seiner Bildung, so wird er Kind und beginnt mit den Dingen zu spielen, das Brot wird ein Berg, in den man Tunnel bohrt, und das Bett zur Höhle, zum Garten, zum Schneefeld. Etwas von dieser Kindlichkeit und diesem Spielgenie zeigt der zweite Typ von Leser. Dieser Leser schätzt weder Stoff noch Form eines Buches als seine einzigen und wichtigsten Werte. Dieser Leser kann zum Beipsiel einem Dochter oder Philosophen zuschauen, wie er sich Mühe gibt, seine Deutung und Bewertung der Dinge sich selber und den Lesern einzureden, und kann dazu lächeln und in der scheinbaren Willkür und Freiheit des Dichters lediglich Zwang und Passicität sehen. Dieser Leser ist schon so weit, daß er weiß, was den Literaturprofessoren und Literaturkritikern meistens völlig unbekannt ist: daß es solche Dinge wie freie Wahl des Stoffes und der Form gar nicht gibt. Wo der Literaturhistoriker sagt: Schiller wählte Anno so und so diesen Stoff und entschloß sich, ihn in fünffüßigen Jamben zu bearbeiten - da weiß dieser Leser, daß weder der Stoff noch die Jamben dem Dichter zu freier Wahl offenstanden, und sein Vergnügen besteht darin, daß er nicht den Stoff in den Händen seines Dichters sieht, sondern den Dichter im Zwang seines Stoffes. Für diesen Standpunkt fallen die sogenannten ästhetischen Werte fast ganz dahin, und es können gerade die Entgleisungen und Unsichheiten den allergrößten Reiz und Wert haben. Denn dieser Leser folgt dem Dichter nicht wie ein Pferd dem Kutscher, sondern wie der Jäger seiner Fährte, und ein plötzlich gefundener Blick in das Jenseits der scheinbaren Dichterfreiheit hinein, in den Dichters Zwang und Passivität, kann ihn mehr entzücken als alle Reize einer guten Technik und einer kultivierten Sprachkunst. Auf diesem Wege noch eine letzte Stufe weiter finden wir den dritten und letzten Typus des Lesers. Nochmals sei betont, daß keiner von uns einem dieser Typen dauernd anzugehören braucht, daß jeder von uns heute der zweiten, morgen der dritten, übermorgen wieder der ersten Stufe angehören kann. Nun also die dritte und letzte Stufe. Sie ist anscheinend die genaue Umkehrung dessen, was man üblicherweise einen "guten" Leser nennt. Dieser dritte Leser ist so sehr Persönlichkeit, ist so sehr er selbst, daß er seiner Lektüre völlig frei gegenübersteht. Er will weder sich bilden, noch sich unterhalten, er benutzt ein Buch nicht anders als jeden Gegenstand der Welt, es ist ihm lediglich Ausgangspunkt und Anregung. Es ist ihm im Grunde einerlei, was er liest. Er liest einen Philosophen nicht, um ihm zu glauben, um seine Lehre anzunehmen, auch nicht, um sie zu befeinden oder zu kritisieren, er liest einen Dichter nicht, um sich die Welt bon ihm deuten zu lassen. Er deutet selber. Er ist, wenn man so will, völlig Kind. Er spielt mit allem - und von einem gewissen Standpunkt aus ist nichts fruchtbarer und ergiebiger, als mit allem zu spielen. Findet dieser Leser in einem Buch eine schöne Sentenz, eine Weisheit, eine Wahrheit ausgesprochen, so dreht er sie probeweise erst einmal um. Er weiß länsgt, daß von jeder Wahrheit auch das Gegenteil wahr ist. Er weißt längst, daß jeder geistige Standpunkt ein Pol ist, zu dem es einen gleich guten Gegenpol gibt. Er ist insofern Kind, als er das assoziative Denken hochschätzt, nur kennt er auch das andere. Und so kann dieser Leser, oder vielmehr, so kann jeder von uns in der Stunde, in der er diese Stufe einnimmt, lesen, was irgend er will, einen Roman, eine Grammatik, einen Fahrplan, Schriftproben einer Druckerei. In der Stunde, da unsere Phantasie und Asssoziationsfähigkeit auf voller Höhe ist, lesen wir ja überhaupt nicht mehr, was vor uns auf dem Papier steht, sondern schwimmen im Strom der Anregungen und Einfälle, die uns aus dem Gelesenem zukommen. Sie können aus dem Text kommen, sie können sogar nur aus den Schriftbildern entstehen. Das Inserat einer Zeitung kann zur Offenbarung werden. Es kann der beglückendste, der bejahendste Gedanke entstehen aus einem völlig gleichgültigen Wort, das man umdreht, mit dessen Buchstaben man spielt wie mit einem Mosaikspiel. Mann kann Märchen vom Rotkäppchen in diesem Zustande lesen als eine Kosmogenie oder Philosophie oder als eine blühend erotische Dichtung. Man kann auch das "Colorado maduro" auf einer Zigarrenkiste lesen, mit den Worten, Buchstaben und Anklängen spielen und dabei innerlich einen Gang durch alle hundert Reiche des Wissens, der Erinnerung und des Denkens tun. Aber, wirft man mir nun ein - ist das noch Lesen? Ist der Mensch, der eine Seite Goethe, unbekümmert um Goethes Absichten und Meinungen, liest wie ein Inserat oder wie ein zufälliges Durcheinander von Buchstaben, überhaupt noch ein Leser? Ist nicht die Stufe des Lesers, die du als die dritte und letzte überhaupt nennst, die niedrigste, kindlichste, barbarischste? Wo bleibt für einen solche Leser die Musik Hölderlins, die Leidenschaft Lenaus, der Wille Stendhals, die Weite Shakesspears?! Der Einwand ist richtig. Der Leser der dritten Stufe ist kein Leser mehr. Der Mensch, der ihr dauernd angehörte, würde bald überhaupt nichts mehr lesen, denn das Muster des Teppichs oder die Ordnung der Steine in einem Gemäuer wäre ihm genau soviel wert wie die schönste Seite voll bestgeordneter Buchstaben. Das einzige Buch für ihn wäre ein Blatt mit den Buchstaben des Alphabets. So ist es: der Leser der letzten Stufe ist überhaupt kein Leser mehr. Er pfeift auf Goethe. Er braucht Shakesspeare nicht. Der Leser der letzten Stufe liest überhaupt nicht mehr. Wozu Bücher? Hat er nicht die gesamte Welt in sich selber? Wer dauernd auf dieser Stufe stünde, würde nichts mehr lesen. Aber niemand steht dauernd auf dieser Stufe. Wer indessen diese Stufe überhaupt nicht kennt, der ist dennoch ein schlechter, ein unreifer Leser. Er weiß ja nicht, daß alle Dichtung und alle Philosophie der Welt auch in ihm selbst liegt, daß auch der größte Dichter aus keiner andern Quelle schöpfte als aus der, die jeder von uns im eigenen Wesen hat. Sei auch nur einmal im Leben eine Stunde, einen Tag lang auf der dritten Stufe, auf der des Nichtmehrlesens, so wirst du nachher (die Rückkehr ist so leicht!) ein desto besserer Leser, ein desto besserer Hörer und Deuter alles Geschriebenen sein. Sei nur ein einzigesmal auf der Stufe gestanden, wo der Stein am Wege dir ebenso viel bedeutet wie Goethe, und wie Tolstoi, so wirst du nachher aus Goethe, Tolstoi udn allen Dichtern unendlich mehr Wert, mehr Saft und Honig, mehr Bejahung des Lebens und deiner selbst ziehen als jemals vorher. Denn die Werke Goethes sind nicht Dostojewski, sie sind nur sein Versuch, sein zweifelhafter und nie zum Ziel gebrachter Versuch, die vielstimmigen, vieldeutige Welt, deren Mittelpunkt er war, zu bannen. Versuche ein einziges Mal, eine kleine Gedankenreihe, wie sie dir im Spazierengehen kommt, festzuhalten. Oder, scheinbar leichter, einen einfachen Traum, den du in der Nacht gehabt hast! Du hast geträumt, ein Mann bedrohe dich erst mit einem Stock, verleihe dir dann aber einen Orden. Aber wer war dieser Mann? Du besinnst dich, du findest an ihm Züge deines Freundes, deines Vaters, aber etwas an ihm ist auch anders, ist weiblich, er hatte, nicht zu sagen wie, etwas an sich, was dich an einen Schwester, an eine Geliebte erinnert. Und sein Stock, mit dem er dich bedrohte, hatte eine Krücke, die erinnert dich an den Stock, mit dem du einst deine erste Dußwanderung als Schüler gemacht hast, und da brechen hunderttausend Erinnerungen ein, und wenn du den Inhalt des einfachen Traums festhalten und aufschreiben willst, sei es auch nur stenografisch und in Stichworten, so kannst du, ehe du nur bis zum Orden kommst, schon ein Buch vollgeschrieben haben oder zwei oder zehn. Denn der Traum ist das Loch, durch das du in den Inhalt deiner Seele siehst, und dieser Inhalt ist die Welt, nicht mehr und nicht minder als die Welt, die ganze Welt von deiner Geburt bis heute, von Homer bis Heinrich Mann, von Japan bis Gibraltar, vom Sirius bis zur Erde, vom Rotkäppchen bis zu Bergson. - Und so wie dein Versuch, deinen Traum aufzuschreiben, sich zur Welt verhält, die dein Traum umfaßt, so verhält sich das Werk des Autors zu dem, was er sagen wollte. Am zweiten Teil von Goethes Faust haben Gelehrte und Liebhaber nun fast hundert Jahre herumgedeutet und die schönsten und dümmsten, die tiefsten und banalsten Deutungen dafür gefunden. Aber in jedem Dichterwerk ist, wenn auch verhüllter, heimlich unter der Oberfläche diese namenlose Vieldeutigkeit vorhanden, diese "Überdeterminiertheit der Symbole", wie die neuere Psychologie sagt. Ohne sie, sei es auch nur ein einziges Mal, in ihrer unendlichen Fülle und Unausdeutbarkeit erkannt zu haben, stehst du jedem Dichter und Denker beschränkt gegenüber, nimmst für das Ganze, was ein kleiner Teil ist, glaubst an Deutungen, die kaum der Oberfläche gerecht werden. Die Wandlungen des Lesers zwischen den drei Stufen sind, wie sich von selbst versteht, jedem Menschen auf jedem Gebiete möglich. Diesselben drei Stufen mit tausend Zwischenstufen kannst du einnehmen der Baukunst, der Malerei, der Zoologie, der Historie gegenüber. Überall wirst die dritte Stufe, auf der du am meisten du selbst bist, deine Leserschaft aufheben, die Dichtung auflösen, die Kunst auflösen, die Weltgeschichte auflösen. Und doch wirst du, ohne diese Stufe ahnungsweise zu kennen, alle Bücher, alle Wissenschaften und Kpnste immer nur lesen, wie ein Schüler eine Grammatik liest. [1920] Hermann Hesse: Welt der Bücher. Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1977, S. 188-193 |