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Bibliomanische FAB / [W]
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Seit meiner eigenen Lesekindheit vor einem halben Jahrhundert, als
die Bücher Karl Mays noch allgegenwärtig waren, ist der koloniale
Abenteuerroman ausgestorben in der deutschen Jugendliteratur. Diese
Revolution unserer kulturellen Geschichte hängt nicht nur mit
veränderten politischen Sensibilitäten zusammen. Sondern auch damit,
dass seit den frühen sechziger Jahren erwachsene Frauen
unvergleichlich mehr fiction lesen als Männer und auch die
jugendlichen Leseratten inzwischen vorwiegend weiblich sind. Je
weiter die sechziger Jahre vorrückten, desto ungelesener verstaubten
die klassischen Bücher für Jungen, jene Abenteuer der Kara-ben-
Nemsis, Lederstrümpfe und Winnetous, in den Regalen. Und erst recht
werden die großen Kinder- und Jugendbucherfolge unserer Zeit von
Frauen geschrieben und arbeiten die "längeren Gedankenspiele"
spezifisch weiblichen Tagträumens literarisch aus.
(Stephan Wackwitz: Die Bilder meiner Mutter)
Die Stuttgarter Kindheitssamstagnachmittage, an denen sie mir in
unserem Wohnzimmer aus Grimms Märchen vorlas, gehören zu meinen
intensivsten Zweisamkeitserinnerungen. Das langsame Vorrücken der
Zeit. Die Stille in dem kleinen Haus am Killesberg, wo es jetzt nur
noch ihre Stimme gab. Die auf beruhigende Weise jedesmal wieder
gleichen Geschichten, an denen kein Wort verändert werden durfte und
die meine Phantasie lang noch beschäftigten, nachdem das Buch wieder
zugeklappt war. In den fünfziger Jahren war das Märchen-Vorlesen
noch ein Echo der Lebensreform, der zwanziger Jahre, in letzter
Instanz eigentlich der deutschen Romantik gewesen. Alle Welt las,
zitierte, kaufte Märchen. Mit dem Märchen-Boom der späten siebziger
Jahre kam eine Art Re-Mythisierung des gesellschaftlichen
Phantasierens, der Früherziehung, des allgemeinen Geredes und der
psychologischen Ratgeberliteratur in Gang. Märchen erzählen von
Wunscherfüllungen, Wundern, Verwandlungen, unerwarteten Wendungen
des Schicksals. Das Interesse für diese Literaturform in den letzten
Jahren der Siebziger-Dekade hatte etwas zu tun mit dem Erwachen
gesellschaftlicher Phantasie und Initiative im Gefolge der "Neuen
Sozialen Bewegungen", mit der Kunst- und Lifestylerevolution des
folgenden Jahrzehnts. (Stephan Wackwitz: Die Bilder meiner Mutter)
Die Leser kennen keinen Bildungskanon mehr; sie lesen
auf eigene Faust, sind aber sehr verführbar. Und wenn eine
Rezension kurz, klar und lobend ist, sind sie leichter zu
verführen als durch einen komplexen Text, der sie eher verwirrt.
Und dann brauchen sie natürlich auch einen Buchhandel, in dem es
Leute gibt, die sagen: "Dieses Buch von dieser unbekannten
französischen Autorin Michèle Desbordes, Die Bitte, das verkaufen
wir." Und sie werden lachen: Es gelingt ihnen! Die erste
Rezension dieses Buches hat ein Buch getroffen, das bereits ein
Erfolg ist. Und zwar durch die Leser und durch die Buchhändler.
Das ist wirklich ein seltsames Phänomen, das mir aber immer
wieder passiert: dass sich ein Buch verkauft, ohne dass eine
einzige Rezension erschienen ist! Weil es Verrückte gibt ...
[Aus einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit 29/00]
'Besuchen Sie selber auch Buchhändler? Halten Sie das
für wichtig bei einem neuen Verlag?' - Ja, weil der
Buchhandel individualistisch ist, und Individualismus
ist meiner Meinung nach wichtig zur Verbreitung von
Literatur. Oft genug laufen Verlagswesen und
Buchhandlung nebeneinander her - der notwendige
Idealismus, den der Buchhandel bein minimalen Gehältern
praktiziert, wird von manchen Verlegern - mit ganz
anderen Gehältern - nicht gesehen. Bücher sind keine
Eisenwaren. Die Anforderungen an Wissen und Bildung
sind viel höher als anderswo und bringen weniger ein.
Wenn man Bücher nicht mit Leidenschaft macht, erträgt
man keine Verluste. Mache ich ein Buch aus Überzeugung
und es geht nicht, dann bleibt mir eins: da hast du
immerhin ein schönes Buch gemacht. Diesselbe Auffassung
hat ein guter Buchhändler. (Klaus Wagenbach (Hrsg.):
Warum so verlegen. Über die Lust an Büchern und ihre
Zukunft)
Berlin hatte den Vorteil, daß man sich hier ziemlich
sicher auf deutschem Boden befindet. Während man in
Frankfurt eher in Chicago ist, in Düsseldorf etwa
zwischen Japan und Bottrop, in Hamburg sich entscheiden
muß zwischen Bond Street und Hans Albers, in München
immerfort mit der Organisation von Freizeit beschäftigt
ist, weiß man in Berlin genau: Hier bist du Hause,
unter Deutschen, da gibt's Ärger, man kennt sich
einfach zu gut. (Klaus Wagenbach (Hrsg.): Warum so
verlegen. Über die Lust an Büchern und ihre Zukunft, S.
74)
In derselben Zeit begann ich darüber nachzudenken, wer
den Verlag in Zukunft führen solle. Bei derartigen
Gelegenheiten fällt Verlegern, die vorher ihren Verlag
gut geführt (manchmal aber auch ödipalisiert) haben,
oft nichts Besseres als ein ein mehrköpfiges Führungs-
Gremium ein. Seltsamerweise, sie sehen sozusagen vom
eigenen Beispiel ab. (Klaus Wagenbach (Hrsg.): Warum so
verlegen. Über die Lust an Büchern und ihre Zukunft, S.
11)
Lesen ist gefährlich, Lesen verdirbt den Charakter. Ich
kann nur warnen, hören Sie hier lieber auf. Lesen Sie
nicht weiter. Wenn Sie sich selbst morgens gegen vier,
halb fünf beim Lesen erwischen, denken Sie daran:
Anständige Menschen schlafen schon lange. Und stehen
bald auf. Ich bin schon lange kein anständiger Mensch
mehr. Ich bin versaut. Ich habe viel zu viele schlechte
Bücher gelesen. Mein Vater, wenn er den Hund abends
noch einmal in den Garten ließ, hat, da war ich ein
Kind, zwei Mal gepfiffen. Er meinte nicht den Hund,
sondern mich. Ich sollte aufhören zu lesen. Mach das
Licht aus. Schlaf jetzt. Ich hab das Licht ausgemacht.
Und fünf Minuten später, wenn mein Vater und der Hund
wieder im Haus waren, wieder angemacht. Lesen verdirbt
den Charakter. Mein Charakter ist mittlerweile so
verdorben, dass ich sogar hoffe, auch Ihren Charakter,
da Sie nun unbedingt weiterlesen mussten, ein wenig zu
verderben. Haben Sie nichts Besseres zu tun? Müssen Sie
unbedingt lesen? Sind Sie süchtig? Müssten Sie nicht
noch spülen? Die Fenster putzen? Meine Mutter schickte
mich raus, an die frische Luft, wenn sie mich in den
Sommerferien bei schönem Wetter mit einem Buch im Haus
erwischte. Sie muss geahnt haben, dass ich hinter den
harmlosen, zur Tarnung aufgezogenen Drei-Fragezeichen-
Schutzumschlägen Bücher las, die ich gar nicht lesen
sollte. Lesen verdirbt den Charakter.
Nie werde ich ein Buch aus dem Fenster schmeißen (...),
so wie ich niemals in der Kirche rauchen werde. Als ich
zehn war, hatte ich eine Serie lästiger
Kinderkrankheiten und lag daher viel im Bett. Wobei ich
meine Zeit damit verbrachte, die Bücher meiner Eltern
zu lesen. Mark Twain, Albert Camus, Joseph Conrad
("Lord Jim"), Dostojewski. Bücher haben mir
buchstäblich das Herz verdreht. Ein Buch ist die reale
Anwesenheit eines Zaubers, besonders für einen kleinen,
kranken Jungen. Das Buch war ein Meer, in dessen
dunkler Tiefe ich, kleiner Junge, Schätze heben konnte.
Und irgendwann stößt dir auf, daß neunzig Prozent von
deinem Geschreibsel von überwältigender Gefallsucht
motiviert und geprägt sind. Und das Ergebnis ist
beschissene Literatur. Und alles beschissene Zeug muß
im Papierkorb landen, und zwar nicht so sehr wegen
deinem hehren Künstlerethos als vielmehr ganz einfach
deshalb, weil beschissenes Zeug dazu führt, daß du
keinen Anklang bei den Lesern findest. Und an diesem
Punkt der Evolution des Spaßes beim Schreiben verleitet
dich just jener Drang, der dich bislang immer zum
Schreiben motiviert hat, dazu, alles, was du
geschrieben hast, in den Papierkorb zu werfen. (David
Foster Wallace: Über den Spaß beim Schreiben)
Damit die Literatur künstlerisch lebendig bleibt,
muss sie mehr leisten als das Kino und das
Fernsehen. (...) Aber all die Literatur, die ich als Kind
und als Student geliebt habe, war intim. Ich hatte
eine Beziehung zu einer Figur in einem Buch, und ich
hatte auch eine Beziehung zu einem Gehirn, das mir
eine Geschichte erzählte. Und das suche ich: Ich will,
dass der Leser erkennt, so klingt sein eigenes Gehirn.
Und wenn das langweilig wird – so ist das eben, das
Nachdenken und das Reden mit Menschen. (...) Was
ich bei all dem Realismusgerede nicht verstehe: Wie
kann man die Welt um einen herum beschreiben,
ohne zu beschreiben, wie diese Person die Welt
wahrnimmt? Für mich ist das eine der großen
Herausforderungen für zeitgemäße Prosa – sie sollte
klingen wie die Seele. (David Foster Wallace im
Gespräch mit Georg Diez, aus: DIE ZEIT, 25.01.2007
Nr. 05)
Lesen ist ebenso nützlich wie reizend. Wenn
ich lese, bin ich ein harmloser, stiller netter
Mensch und begehe keine Torheiten. Einfrige Leser
sind sozusagen ein stillvergnügtes Vö
lkchen. Der Leser hat seinen hohen tiefen,
langanhaltenden Genuß, ohne daß er
jemandem im Weg ist oder jemandem etwas zu leid
tut. Ist das nicht vortrefflich? Das will ich
meinen! Wer liest, ist weit davon entfernt,
böse Pläne zu schmieden. Eine anziehende
und unterhaltende Lektüre hat das Gute,
daß sie uns zeitweise vergessen macht,
daß wir böse, streitsüchtige
Menschen sind, die einander nicht in Ruhe lassen
können. Wer vermöchte diesem freilich
ziemlich traurigen, wehmutseinflößenden
Satz zu widersprechen? Gewiß lenken uns
Bücher oft auch von nützlichen und
dienlichen Handlungen ab; im großen und
ganzen muß aber dennoch das Lesen als
segensreich gepriesen werden, wenn es erscheint
durchaus nötig, daß sich unserem
ungestümen Erwerbstrieb eine Bändigung
und unserem oft rücksichtslosen Tatendrang
eine Betäubung sanft entgegenstellt. Ein Buch
ist gewissermaßen eine Fessel; man spricht
nicht umsonst von fesselnder Lektüre. Ein
Buch bezaubert, beherrscht uns, hält uns in
seinem Bann, übt also Macht auf uns aus, und
wir lassen uns eine derartige Gewaltherrschaft
gern gefallen, denn sie ist eine Wohltat. Wen ein
Buch für einige Zeit fesselt, der benü
tzt diese Zeit nicht dazu, um über seinen
lieben Nebenmenschen einen Klatsch zu
veranstalten, was ein sehr großer und grober
Fehler ist. Reden, das nichts fruchtet, ist stets
ein Fehler. Wer eine Zeitung in der Hand hä
lt und emsig darin liest, gilt schon darum als ein
guter Bürger. Wer Zeitung liest, der
schimpft, prahlt und flucht nicht, und schon
deshalb ist Zeitungslesen ein wahrer Segen, das
dürfte klar auf der Hand liegen. Ein Leser
sieht immer proper, nett, ehrbar und höchst
anständig aus.
Lesen ist ebenso nützlich wie reizend. Wenn ich lese,
bin ich ein harmloser, stiller netter Mensch und begehe
keine Torheiten. Eifrige Leser sind sozusagen ein
stillvergnügtes Völkchen. Der Leser hat seinen hohen
tiefen, langanhaltenden Genuß, ohne daß er jemandem im
Weg ist oder jemandem etwas zu leid tut. Ist das nicht
vortrefflich? Das will ich meinen! Wer liest, der ist
weit davon entfernt, böse Pläne zu schmieden. Eine
anziehende und unterhaltende Lektüre hat das Gute, daß
sie uns zeitweise vergessen macht, daß wir böse,
streitsüchtige Menschen sind, die einander nicht in
Ruhe lassen können. Wer vermöchte diesem freilich
ziemlich traurigen, wehmuteinflößenden Satz zu
widersprechen?
Leset doch nicht immer nur diese gesunden Bücher,
machet euch doch auch mit sogenannter krankhafter
Literatur bekannt, aus der ihr vielleicht wesentliche
Erfahrungen schöpfen könnt. Gesunde Menschen
sollten stets gewissermaßen etwas riskieren. Wozu,
heilandshagelnochmal, ist man denn gesund? Bloß
um eines Tages so aus der Gesundheit heraus zu
sterben? Eine verflucht trostlose Bestimmung.
(Robert Walser: Räuber-Roman)
Ich will Ihnen zur Aufbügelung Ihrer zerknüllten Bildung
einen Roman zu lesen geben, falls Sie den aufrichtigen
Wunsch nach Achtung in sich spüren und mir dankbar
sein wollen, daß ich Sie veranlasse, zu denken, Sie
hätten Gesinnungszüchtigung nötig. (Robert Walser:
Der Räuber)
Ich richte an die Gesunden folgenden Appell: Leset
doch nicht immer nur diese gesunden Bücher, machet
euch doch auch mit sogenannter krankhafter Literatur
näher bekannt, aus der ihr vielleicht wesentliche
Erbauung schöpfen könnt. Gesunde Menschen sollten
stets gewissermaßen etwas riskieren. Wozu,
heilandhagelnochmal, ist man denn gesund? Bloß um
eines Tages so aus der Gesundheit heraus zu
sterben? Eine verflucht trostlose Bestimmung.
(Robert Walser: Der Räuber, S. 57)
An Hotels grenzten Warenhäuser, dann folgte etwa
eine Buchhandlung verbunden mit Verlagshaus, das
mit Autoren aufs vorsichtigste und zurückhaltendste
umging, indem der Chef von Zudringlichkeiten abriet
und sagte: Es kommt vielleicht später wieder besser.
Autoren pflegen bei Verlagen eine ehrfurchtsvolle
Verachtung an den Tag legen, eine
Empfindungsmischung, die vollauf gewürdigt wird.
(Robert Walser: Der Räuber, S. 72)
Der Weg führte sie übrigens bei der Verlagsanstalt
vorbei, die sich hauptsächlich mit wissenschaftlichen
Werken befaßte. Die Autoren von Belletristik dienten
irgendwo als Bergführer oder kräuselten als
Friseurgehilfen Haare, indem sie möglichst gute
Mienen zur Notwendigkeit machten, ihren
Erwerbskreis zu erweitern. (Robert Walser: Der
Räuber, S. 125)
Der Dichter muß schweifen, muß sich mutig verlieren, muß immer
alles, alles wieder wagen, muß hoffen, darf, darf nur hoffen. -
Ich erinnere mich, daß ich die Niederschrift des Buches mit einem
hoffnungslosen Wortgetändel, mit allerlei gedankenlosem Zeichnen
und Kritzeln begann. - Ich hoffte nie, daß ich je etwas Ernstes,
Schönes und Gutes fertigstellen könnte. - Der bessere Gedanke und
damit verbunden der Schaffensmut tauchte nur langsam, dafür aber
eben nur um so geheimnisreicher, aus den Abgründen der
Selbstnichtachtung und des leichtsinnigen Unglaubens hervor. - Es
glich der aufsteigenden Morgensonne. Abend und Morgen,
Vergangenheit und Zukunft und die reizende Gegenwart lagen wie zu
meinen Füßen, das Land wurde dicht vor mir lebendig, und mich
dünkte, ich könne das menschliche Treiben, das ganze
Menschenleben mit Händen greifen, so lebhaft sah ich es. - Ein
Bild löste das andere ab, und die Einfälle spielten miteinander
wie glückliche, anmutige, artige Kinder. Voller Entzücken hing
ich am fröhlichen Grundgedanken, und indem ich nur fleißig immer
weiter schrieb, fand sich der Zusammenhang. (Robert Walser:
Geschwister Tanner)
Zum Glück sind gewiß die dramatisch veranlagten Menschen, ich
meine die Zuhörer, die, die sich nicht im Mittelmäßigen gefallen,
in der denkbar ausgedehntesten Minderheit. Die Dichter setzen mit
Recht daher [ihren] Mitmenschen etwas Außergewöhnliches zum
seelischen Miterleben vor. Wer im Theater sitzt oder ein Buch
liest, sich eine bewegte Handlung vorspielen oder eine spannende
Erzählung erzählen läßt, ist entschieden, als Zuhörer sowohl wie
als Leser, mittelmäßig. Es soll dies so sein, und es ist in der
Tat so. Ungewöhnliche Menschen besuchen weder sehr oft das
Theater, noch greifen sie häufig nach einem Unterhaltungsbuch,
was daher rührt, daß Bühne und Buch in ihnen selber leben. (...)
Die meisten Menschen sind bequem und bleiben es, und die Kunst
bleibt im großen und ganzen ein Mittel der Zerstreuung. Weil der
Einfluß der Poesie eigen[t]lich nur ein geringer ist, bedarf man
ihrer immer wieder. (Robert Walser: Der kleine Tierpark) (Robert
Walser: Der kleine Tierpark)
Ich schreibe das Prosastück, das mir hier entstehen zu wollen
scheint, in stiller Mitternacht, und ich schreibe es für die
Katz, will sagen, für den Tagesgebrauch. Die Katz ist eine Art
Fabrik oder Industrieetablissement, für das die Schriftsteller
täglich, ja vielleicht sogar stündlich treulich und emsig
arbeiten oder abliefern. (...) Katz ist für mich nicht nur das,
was für den Betrieb taugt, was für die Zivilisationsmaschinerie
irgendwelchen Wert hat, sondern sie ist, wie ich bereits sagte,
der Betrieb selber, und bloß das dürfte sich eventuell
herausnehmen, nicht für die Katz bestimmt sein zu wollen, was
sogenannten Ewigkeitswert aufweist, wie beispielsweise die
Meisterwerke der Kunst oder die Taten, die hoch über das Summen,
Brummen, Sausen, Brausen des Tages hinausragen. (Robert Walser:
Der kleine Tierpark)
Ich habe mitunter schon von sogenannter schädlicher Lektüre reden
hören, wie z. B. von berüchtigten Schauerromanen. Auf dieses
Kapitel näher einzugehen möchten wir uns verbieten, aber so viel
können wir sagen: das schlechteste Buch ist nicht so schlecht wie
die völlige Gleichgültigkeit, die überhaupt nie ein Buch zur Hand
nimmt. Das Schundbuch ist lange nicht so gefährlich, wie man
vielleicht meint, und das sogenannte wirklich gute Buch ist unter
Umständen durchaus nicht so gefahrlos, als man allgemein annehmen
möchte. Geistige Dinge sind nie so harmlos wie etwa
Schokoladeessen oder wie der Genuß eines Apfelkuchens.
Grundsätzlich muß eben der Leser nur immer das Lesen vom Leben
säuberlich zu trennen wissen. (Robert Walser: Lesen)
Ich muß gestehen, ich lese nicht zu meinem Vergnügen, ich suche weder Entspannung
noch Ablenkung, noch andere Freuden dieser Art. Ein Buch ist für mich eine Art
Schaufel, mit der ich mich umgrabe. Obwohl ich das nicht zu meinem Vergnügen tue,
sondern einfach aus einem Bedürfnis, für das ich keine Gründe mehr anzugeben weiß,
keine Gründe auf jeden Fall, die von anderer Art wären als die, die uns
veranlassen zu atmen oder zu essen, trotzdem macht das Lesen, dieses Herumgraben
in mir selbst, oft mehr Vergnügen als das Atmen, ja es macht mir zuweilen sogar
das Atmen wieder vergnüglicher.
Das ist auch so etwas: ich kann nicht mehr lesen, d.h.
ich kann Wort für Wort zwar lesen, aber wenn ich ein
Wort gelesen habe und dann das nächste lese,
verschwimmt schon das zuerst gelesene Wort, und beim
übernächsten habe ich das erste vergessen. So ist es
mir nie mehr möglich, ganz Sätze im Kopf zu behalten
oder auch nur die Bedeutungen von Sätzen. Es sei denn,
es handle sich um Sätze von der Art: Es regnet die
ganze Nacht hindurch. Klar, daß ich solche Sätze jetzt
liebe. Ich höre sofort, wie es regnet. Die ganze Nacht
hindurch höre ich zu. Erst gegen Morgen lese ich dann
weiter. Und zum Glück heißt der nächste Satz: Ein
grauer Tag begann. (Martin Walser: Die Gallistl'sche
Krankheit, Suhrkamp 1972, S. 14.)
Das ist Lesen. Du stehst auf dem Spiel. Es gelingt
keine Distanz. Stürmisch erlebst du den Zugewinn, und
sei's durch Beschämung. Du bist noch zu beschämen. Und
wie. Das rechnest du dir hoch an. Das spürst du sogar
an eine Art Kraft. Du bist eben, solange du liebst,
stärker als du bist. Wenn sich das halten lassen
könnte, dieses durchs Lesen gesteigerte
Selbstverständnis! Man könnte es eine Lust nennen.
Sie unterhielten sich über die Frauen, wie zwei sich
über Bücher unterhalten, wenn beide die Bücher, über
die gesprochen wird, gelesen haben. Er fand die X also
gar nicht so langweilig? Der andere konnte mit ihr
einfach nichts anfangen. Ihn störte schon ihre Sprache.
Die fand der andere eben ganz toll. (Martin Walser: Die
Verteidigung der Kindheit, S. 88)
Mit jeder Figur lebe ich Jahre, bevor ich ein
Romanprojekt starte, mache mir Notizen über sie. 25
Jahre, bevor ich "Tod eines Kritikers" geschrieben
habe, hatte ich mir schon Notizen über diese Figur
gemacht. Ich bin entscheidungsschwach, eigentlich
entscheidungsunfähig. Ich will nichts entscheiden. Ich
habe noch nie in meinem Leben etwas entschieden. Wenn
ich leichtsinnig wäre, würde ich behaupten, das ist bei
allen Menschen so. Man meint, etwas zu entscheiden,
aber es ist schon entschieden. Ich weiß oft nicht, wann
ich ein Romanprojekt beginnen soll. Und weiß auch
nicht, welches. Ich rutsche dann irgendwie in einen
Entscheidungsprozeß hinein, mache Versuche. Irgendwann
wird es zwingend. Dann beginne ich am Roman zu
schreiben. Aber alle Projekte, alles Notierte, alles
Gehortete und Vorbereitete ist sekundär. Die Hauptsache
ist die Tagesform. Wenn die Tagesform nicht da ist,
kann man sich noch so viel ausdenken. Es wird nichts.
(Interview mit dem Hamburger Abendblatt, 23.10.2004)
Hans wollte ihm mit seinen Kritiken gefallen. Er
wollte von diesem Mann gelobt werden. Dafür las er
auch die langweiligsten Fachbücher und wehrte sich
bin tief in die Nacht hinein gegen den Schlaf, mit dem
sein gesunde Natur auf diese Lektüre reagieren
wollte. (Martin Walser: Ehen in Philippsburg, S. 87)
Der Prinz hatte tatsächlich einen Mann entdeckt, der
aus eigenem Antrieb jahrelang Tausende von Büchern
gelesen hatte, nur um Fehler zu finden. Fehler zu
finden, war seine Leidenschaft. Er hatte in Tausenden
von Briefen an Redaktionen und Verlagen seine
Fehlerfunde mitgeteilt. Vom fehlenden Komma bis
zum falschen Konjunktiv. So wie andere gefährlich im
Gebirge herumklettern, um glitzernde Minerale aus
steilen Wänden und schwierigen Höhlen zu klopfen,
las der sich durch die Nächte, nur um Fehler zu
finden. (Martin Walser: Ohne einander, S. 55)
Wenn ein Satz ins schwer Entscheidbare gerät, wenn
man in Schwung und Schauder des Schreibens wirklich
nicht mehr weiß, ob das, was einem da sprachlich
gerade passiert, noch richtig ist oder schon falsch,
dann gibt es eine vollkommen verläßliche
Prüfungsmöglichkeit: man übersetzt den Satz ins
Lateinische, und sofort sieht man, was richtig ist und
was falsch. (Martin Walser: Ohne einander, S. 56)
Goethe fand es nötig, noch einen Satz zur Scott-
Verehrung zu sagen. Dessen Zauber stammt, meine Herren,
aus der Herrlichkeit der drei britischen Königreiche,
aus dem Reichtum ihrer Geschichte. Und was haben wir
vom Thüringer Wald bis zu den Sandwüsten Mecklenburgs,
nichts. In Deutschland wird ein guter Roman immer die
Ausnahme bleiben. Er habe für seinen Meister-Roman nur
den allerelendsten Stoff gehabt, eine Vagantentruppe,
die bei Provinzadeligen herumtingelt. (Martin Walser:
Ein liebender Mann, S. 64)
Er las und las sich vor, was er geschrieben hatte, und
war glücklicher als glücklich. (...) Unvorstellbar,
diesen Zeilen jetzt geschrieben zu haben und keinen zu
wissen, der sie gleich lesen und miterleben würde. Am
liebsten sofort nach Eger. Das kannte er von sich, daß
er für Gedichte rascher Gesellschaft brauchte als für
andere Arten von Geschriebenem. Gedichte, das war
Eilpost. Eilpost der Seele. Das war ein glücklicher
Tag, mit einer Verzweiflung so umgegangen zu sein, daß
sie zugeben mußte, sie sei als ausgedrückte schöner als
im rohnen Naturzustand. (Martin Walser: Ein liebender
Mann, S. 126)
Gefahren des Lesens: "Solange das Lesen für uns
Initiator ist, dessen Zauberschlüssel uns in der Tiefe
unseres Selbst das Tor zu Räumen öffnet, in die wir
sonst nicht einzudringen vermocht hätten, ist seine
Rolle in unserem Leben heilsam. Gefährlich wird das
Lesen, wenn es, statt uns für das persönliche Leben des
Geistes wach zu machen, versucht, sich an dessen Stelle
zu setzen; wenn die Wahrheit uns nicht mehr als ein
Ideal erscheint, das wir nur durch das innere
Fortschreiten unseres Denkens und durch die Bemühungen
unserer Seele verwirklichen können, sondern als etwas
Materielles, das auf den Seiten der Bücher abgelagert
ist wie ein von anderen zubereiteter Honig, den wir nur
aus den Regalen der Bibliothek zu nehmen und dann
passiv in vollkommener Ruhe des Körpers und des
Geistes zu verzehren brauchen. (Klaus Walther: Was
soll man lesen? Ein Lese-Verführer, S. 186)
Bücher sind Hort wichtiger Welterklärungsversuche, sie
enthalten Geschichten, die nicht nur die Weltliteratur,
sondern auch unser Leben beeinflusst haben. Bücher sind
auch der Ort, an dem neue Ideen, Utopien und natürlich
Kritik am Status quo entfaltet werden. Bücher sind
Papier gewordener Geist. Und die Liebe zur Literatur
ist ein Topos, wie Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit und
die Würde des Menschen. Begriffe, die von universeller
und zeitloser Gültigkeit sind. Egal, wieviel
Schindluder in ihrem Namen getrieben wird, die Topoi
selbst sind unanfechtbar. Auch die Liebe zur Literatur,
und vielleicht liegt darin der wesentliche Grund, dass
wir Bücher nicht entsorgen mögen. Der Haken liegt
darin, dass wir vom Idealfall ausgehen. Der aber tritt
nicht zwingend ein. Ganz am Anfang wird es noch so
gewesen sein. Als in kunstfertigster Handarbeit
prägende Gedanken und Geschehnisse der
Menschheitsgeschichte auf Pergament festgehalten
wurden. Als mangels technischer Möglichkeit zur
schnellen Produktion Spreu vom Weizen getrennt wurde.
Die Zeiten sind vorbei, wie jedes neue Buchprogramm
beweist. Was aber nicht heißt, dass wir Spreu für
Weizen nehmen müssen. Den Weizen sollten wir hegen und
pflegen, die Spreu sollte den Socken auf dem Fuße
folgen.
Einem Buch in seiner Körperlichkeit sieht man vieles an,
ehe man auch nur mit dem Lesen beginnt: wie viel
"Information" ungefähr es enthält, wie sein Inhalt
angeordnet ist, an welche Altersstufe es sich wendet, wie
viel Sorgfalt auf seine Herstellung verwendet wurde und
nebenbei ganz schlicht auch, wie viel seinen Herstellern
die Verbreitung seiner Inhalte wert war. Alle diese mehr
oder weniger unbewusst aufgenommenen Meta-Informationen
bestimmen mit, ob man es kauft, wie gern und wann man es
zur Hand nimmt und wie viel Vertrauen man ihm
entgegenbringt. [Die Zeit, Ausgabe 7/2000]
Tierschutz gilt ganz unbestritten
Auch für jene Gruseltiere,
Spinnen, Schlangen und Vampire,
Die vom Menschen ungelitten.
Eine Spezies speziell,
Wohnhaft in den Buchregalen,
Schafft dem Bibliophilen Qualen,
Denn sie nährt sich generell
Von des Menschen Bildungsgütern:
Bohrt sich tief durch Goetheworte,
Frißt auch Formeln jeder Sorte
Und nicht nur bei Ladenhütern.
Tierschutz ist da zugegeben
Schwerer als bei Katz und Hund.
Dennoch gilt aus gutem Grund:
Auch der Bücherwurm soll leben!
Machen wir's im Kompromiß:
Ich liebe diesen Wurm, gewiß,
Doch soll er dies Buch verschonen
Und in andern Büchern wohnen.
Die Wände des schmalen Vorraums waren von oben bis unten mit Büchern
bedeckt, so auch in den beiden Zimmern und in der Hofkammer, die als
Schlaf-, Wasch- und Küchenraum diente. Die dicht gerammten Bücher
verkleideten jedes Stück der Mauer; Bücher und Zeitschriften lagen
auf Tischen und Stühlen, auf dem Boden und auf dem Ofen, auf dem
Bett und auf den Fenstersimsen. Kaum daß noch Luft zum Atmen blieb
und Raum, sich zu bewegen. Es war die Behausung eines Mannes, der in
Büchern, mit Büchern und von Büchern lebte. (Jakob Wassermann: Faber
oder die verlorenen Jahre)
Dennis setzte sich in einem der Lehnstühle zurecht,
legte die Füße bequem auf den Rollwagen und begann zu
lesen. Sein Dienst bei der Luftwaffe hatte den
Liebhaber der Dichtkunst in einen versesüchtigen
Gewohnheitsleser verwandelt. Es gab gewisse, nur zu
bekannte Stellen bei den Dichtern, die durch die Fülle
ihrer unvermeidlichen Assoziationen unfehlbar jene
gehobene Empfindung hervorriefen, nach der es ihn
verlangte. Auf Experimente ließ er sich nicht ein: jene
Verse waren erprobte und sicher wirkende Rauschmittel
von nie versagender Magie. Er öffnete die Anthologie
wie eine Frau ihr Päckchen Lieblingszígaretten. (Evelyn
Waugh: Tod in Hollywood, S. 19f.)
Es hatte ihm schon immer Spaß gemacht, vorzulesen,
und in den ersten Jahren seiner Ehe hatte er mehrere
Bücher auf diese Weise gemeinsam mit
Brenda genossen, bis sie eines Tages in einem Anfall
von Aufrichtigkeit gestand, daß es eine Tortur für sie
sei. Er hatte John Andrew vorgelesen, wenn das Kind
an späten Winternachmittagen vor dem Kamin im
Kinderzimmer zu Abend aß. Mr. Todd jedoch war ein
einzigartiges Publikum. Der alte Mann saß rittlings
auf seiner Hängematte, fixierte Tony die ganze Zeit
und folgte den Worten mit lautlosen Bewegungen der
Lippen. Oft, wenn eine neue Figur auftrat, bat er:
"Sagen Sie den Namen noch mal, ich habe ihn
vergessen." oder "Ja, ja, ich erinnere mich gut an sie.
Sie stirbt dann, die Ärmste." Häufig unterbrach er mit
Fragen, aber nicht, wie Tony erwartet hatte, zur
Handlung - der Prozeß am Appellationsgericht oder die
gesellschaftlichen Gepflogenheiten der damaligen
Zeit und ähnliche Dinge waren ihm, obgleich sie
unverständlich sein mußten, völlig gleichgültig-,
sondern mit Fragen über die Personen. "Warum sagt
sie denn das? Meint sie das wirklich? Wird sie
ohnmächtig, weil es ihr am Kamin zu warm ist oder
wegen irgendeiner Sache in der Zeitung?" Er lachte
laut über alle Scherze und an Stellen, die Tony gar
nicht komisch vorkamen, und wollte sie zwei-, dreimal
wiederholt bekommen. Später, bei den
Beschreibungen des Lebens der Vagabunden liefen
ihm die Tränen über die Wangen in den Bart. Seine
Bemerkungen zur Handlung waren meist schlicht. "Ich
glaube, dieser Dedlock ist ein sehr stolzer Mann" oder
"Mrs. Jellyby kümmert sich nicht genug um ihre
Kinder." Tony machte das Vorlesen fast ebensoviel
Vergnügen wie Mr. Todd. Am Ende der ersten Tages
sagte der alte Mann. "Sie lesen sehr schön und mit
einer viel besseren Aussprache als der Schwarze. Sie
können auch besser erklären. Es ist fast so, als sei
mein Vater zurückgekerht." Und jedesmal dankte er
seinem Gast sehr höflich: "Es hat mir sehr viel Freude
gemacht. Es war ja ein außerordentlich trauriges
Kapitel. Aber wenn ich mich recht erinnere, wird sich
alles zum Guten wenden." (Evelyn Waugh: Der Mann,
der Dickens liebte)
Edler Knaster, Kraut des Lebens
Mein Studieren wär vergebens,
Wenn mir deine Balsamskraft
Und dein hippokratischer Saft
Nicht durch Nerv' und Adern drünge
Und das wilder Fleisch bezwünge.
Ohne deinen Wohlgeruch
Schmeckt mir weder Schrift noch Buch.
Ich erklomm den schlammigen Hügel und sprach mit
Ruzena. "Ruzena", sagte ich, "ich habe ein Buch
verkauft, das wir einst gemeinsam gelesen haben. Ich
hab's verkauft, um mir falsche Leberwurst zu kaufen,
die ich jetzt mit dem Kater Thomas teilen werde, den du
nicht kennst. Es wird keine gerechte Teilung sein, denn
Thomas bekommt nur die Pelle, aber du mußt doch
einsehen, daß Thomas auf einen Baum klettern und einen
Spatzen erbeuten oder an einem Loch in der Wand auf
eine Maus lauern kann. Verzeih mir, Ruzena, daß ich das
Buch verkauft habe. Darin standen Worte, die uns einst
erfreut haben, darin stand ein Satz, der dir gefallen
hat. Wir blätterten ungeduldig die Seiten um,
fürchteten, daß bald das Ende kommen werde, und doch
freuten wir uns voller Spannung darauf. Wir waren
damals draußen, in der Hütte, wir konnten nicht
ausgehen, weil ringsum der Regen rauschte, wir hatten
nur das eine Buch und lasen es also gemeinsam, du warst
immer um einige Zeilen hinterher, aber ich wartete
stets auf dich, damit wir die Seite gemeinsam
umblättern konnten. Wir waren den ganzen Tag in der
Hütte eingeschlossen und lagen auf der Pritsche, der
Regen trommelte aufs Dach und wir fühlten unds wohl
unter der einen Decke, als wir das Buch lasen, das ich
soeben verkauft habe" (Jiri Weil: Leben mit dem Stern,
S. 44f.)
Und dann fiel mir noch ein, daß ich zu Hause Bücher
hatte, neue Bücher, eigentlich nicht neue, aber Bücher,
die ich noch nicht gelesen hatte. Ich hatte sie auf dem
Friedhof gefunden, sorgsam eingepackt, jemand hatte sie
dort weggeworfen, es waren gute, in Leinen gebundene
Bücher, aber es waren verbotene Bücher, und der sie
weggeworfen hatte, hatte es wohl aus Angst getan. Ich
hatte sie nach Hause mitgenommen und las nun jeden
Abend darin, langsam, um lange lesen zu können; ich
freute mich schon morgens auf die abendliche Heimkehr,
freute mich darauf, wie ich mich hinlegen und ein paar
Seiten, ein paar neue Seiten lesen würde. Ich entsann
mich, daß ich früher einmal bis spät in die Nacht
hinein gelesen hatte, so lange, bis mir die Augen
schmerzten, und daß ich davon Bindehautentzündung
bekommen hatte; ich erinnerte mich, daß mir der Onkel
das Lesen verboten hatte, weil ich zuviel elektrischen
Strom verbrauchte, das er jeden Tag auf dem Zähler
ablas, wieviel ich vergeudet hatte, daß er mir die
Bücher wegnahm, die ich mir aus der Stadtbibliothek
geliehen hatte, sie über Nacht einschloß und sie mir
erst am Morgen herausgab, daß ich immer ein Buch unter
der Matraze versteckte, das Licht auslöschte und es
wieder anknipste, wenn Onkel und Tante im Nebenzimmer
eingeschlafen waren. Daß ich dann leise das Buch unter
der Matraze hervorholte und mich in es vertiefte.
Damals zögerte ich das Lesen nicht in die Länge, ich
blätterte rasch die Seiten und las so lange, bis mir
die Augen tränten. (Jiri Weil: Leben mit dem Stern, S.
86f.)
Es war für mich beunruhigend und enttäuschend
herauszufinden, daß Geschichtenbücher von Menschen
geschrieben worden waren, daß Bücher keine Naturwunder
waren, die aus sich selbst heraus entstehen wie das
Gras. Doch ungeachtet dessen, woher sie kamen, kann ich
mich an keine Zeit erinnern, in der ich nicht in sie
verliebt war - in die Bücher selbst, den Deckel und
Einband und das Papier, auf das sie gedruckt waren, mit
ihrem Geruch und ihrem Gewicht und dem Gefühl, sie in
meinen Armen zu halten, erbeutet und zu mir entführt.
Obwohl des Schreibens und Lesens unkundig, war ich für
sie bereit und darauf bedacht, ihnen alles Lesen
angedeihen zu lassen, das ich ihnen zu geben imstande
war. (Eudora Welty: Eine Stimme finden, S. 18f.)
Buchhandlungen - für den einen sind es Fundgruben, in
denen man stundenlang herumstöbern möchte, alte und
neue Bücher entdecken und lesen, Bilder beschauen, ganz
versinken kann zwischen den gedruckten Reichtümern. Für
ihn haben Buchhandlungen nur einen Nachteil - Kasse. Da
hilft kein Zauberwort, da helfen nur Münzen und
Scheine. Sonst darf man die Schätze nicht heben, muß
sie zurücklassen in den Regalen. Gerade die
begeisterten Schatzsucher haben oft regelrecht Angst,
einen Buchladen zu betreten. Sie leiden nicht an der
schon oft zitierten "Schwellenangst", sie befürchten,
daß sie auch noch das Geld für ihre Miete in einem
solchen Laden lassen, daß sie den Verlockungen der
Bücher nicht werden wider stehen können.
Ich bin ein Buchstabe irgendwo in einem großen, dicken
Roman. Meine eigene Bedeutung kenn ich nicht, noch auch
die Bedeutung der wenigen benachbarten Buchstaben, die
ich von meinem Platz aus erblicken kann. Ich weiß
nicht, zu welcher Silbe wir gehören, aus der, mit
andetren Silben, das unbekannte Wort sich zusammenfügt,
das uns umfaßt und mit unzähligen anderen unbekannten
Worten die Zeilen des Buches bildet, die seine Seiten
regelmäßig erfüllen. Da ich nicht einmal Sinn und
Bedeutung des Buchstabens erkenne, der ich selbst bin,
wie könnte ich etwas vom Sinn des ganzen, großen,
dicken Romans wissen, von seiner Handlung, Einteilung,
von seinem Aufbau, dem Anfang und Ende, den
Verwicklungen und Lösungen, Haupt- und Nebenpersonen -
und wie gar etwas von seinem Autor? Da ich aber
immerhin ein Buchstabe des großen Ganzen bin, wie in
einem geheimnisvollen Reigen meine mir unverständlichen
Neben-Lettern an den Händen haltend, da ich mithin in
einem Zusammenhang stehe, in dem ununterbrochenen
Duktus der mir verborgenen Geschichte, der auch meine
eigene Existenz durchweht, so erfüllt mich das feste
Bewußtsein: ein sinnvolles Teilchen zu sein, das vom
lesend-schreibenden Auge jenseits des Buches mühelos
entziffert und verknüpft wird. Angestrahlt von diesem
jenseitigen Auge, nährt der kleine Buchstabe die
sichere Hoffnung, nein, die stolze Ahnung, daß er dem
Ganzen nicht nur notwendig zur Ganzheit diene, sondern
dessen unermeßlich unbekannten Sinn auch in seiner
eigenen Winzigkeit enthalte.
Damals und auch noch später, bis zu seinem
zwanzigsten Jahre etwa, hatte er gedichtet, Verse,
Geschichte, einen Einakter zusammengestümpert.
Was davon zu halten war, hatte er von jeher gewußt:
Wortbastelwahn und der Wunsch zu imponieren.
(Franz Werfel: Der Abituriententag, S. 74)
Bland spielte in der geistig regsamen Gruppe unserer
Klasse eine wichtige Rolle. Er war der Sohn eines
Abgeordneten, besaß ein Zimmer, das von der
väterlichen Wohnung abgetrennt lag, wodurch es für
Zusammenkünfte als besonders geeignet galt. Er war
Adlers Intimus, der weitaus Gebildeteste von allen,
sammelte Bücher, und wir konnten bei ihm schon
Nietzsche, Herbart, Mach und die neuesten Dichter
finden. Die Bücher waren ihm heilig. Man mußte nur
sehn, wie er sie in die Hand nahm. Niemals lieh er
ein Buch aus. Wir waren gezwungen, sie in seinem
Zimmer zu lesen. Er lebte, ja er liebte sogar nach
ihnen. Als er später einmal eine Liebschaft mit einer
verheirateten Frau hatte, war er ganz gebrochen von
den einschlägigen Problemen, die all diese Bücher in
ihn hineintrugen. Er war ein unendlich feiner,
unendlich moralischer Mensch. (Franz Werfel: Der
Abituriententag, S. 92)
Fräulein Erna Tappert wurde dahin belehrt, daß während der Nacht
die Verbindungstür von ihrer Stube zum Kinderzimmer offenstehen
müsse, damit Hugo unter Aufsicht bliebe und nicht, wie es einige
Male schon geschehen, ganze Nächte mit Lesen verbringe. Während
seines langen Krankenlagers nämlich hatte sich der Knabe das
übermäßige Lesen angewöhnt. Mit der ausgehungerten Leidenschaft
der Lebensleere, unter der die Kinder der Reichen so oft leiden,
verschlang er Bücher, gleichviel welcher Art und welchen Inhalts:
Klassiker, Schmöker, Zeitschriftenbände, Hackländer, Karl May,
Kriegs-, Reise- und Abenteurergeschichten. Durch Bitten, Tränen,
Zorn, ja selbst durch Ansteigen der Fieberkurve wußte er sich
diese Nahrung von Eltern und Wärtern zu ertrotzen. Es war jedoch
eine sonderbare Art von Lektüre, die Hugo trieb. Er verfolgte
nicht Seite für Seite den Gang der Erzählungen, die er oft nur
zum geringen Teil verstand, er las kreuz und quer in den Büchern.
Oft las er nicht einmal, sondern starrte ekstatisch auf die
wimmelnden Seiten, oft auch hielt er einen Band lange, mit
saugenden Fingern gleichsam, in der Hand, während er die Lider
zusammenpreßte. Zwischen den beiden Deckeln des armseligen Dings,
das nur ein Buch war, lagen unausschöpfiche Welten, die nur zum
kleinsten Teile dem Verfasser angehörten, Welten, die sich Hugo
selber immer neu und immer wieder anders erschuf. Der Text, den
man nicht schnell genug buchstabieren konnte, diente nur als
Sprungbrett für des Knaben innere Bilderfrucht, die jede Zeile mit
raschen, gespenstischen Phantasiegeschwadern überholte. Jede
Seite (starr vorwärtsdrängende Truppenordnung der Worte) war
durchfochten von wilden Jagden, Geisterritten, Mordtaten,
Aufschreien, Tropenlandschaften, die nicht zum Gelesenen gehörten
und aus des kleinen Lesers Seele stiegen, die doch weder Zeit
noch Gelegenheit gehabt hatte, all diese ausschweifenden Dinge in
sich aufzunehmen, die ihr so verschwenderisch entfeberten. (Franz
Werfel: Kleine Verhältnisse)
Wenn eine künstlerische Arbeit ins Stocken kommt und nicht
vorwärtsgehen will, so hat das jeweils seinen guten Grund. Zwar ist
der Autor dann meist überzeugt, dass ihm die rechte Stimmung fehle
oder dass der von ihm gewählte Stoff bockig sei und eigensinnigen
Widerstand leiste. Mich aber hat die Erfahrung belehrt, dass es
niemals an der Stimmung liegt und niemals am Stoff. Wenn die
Stimmung fehlt, so stimmt etwas nicht. Und nicht der Stoff bockt,
sondern die an irgendeinem Punkt verletzte Wahrheit. Ein einziger
falscher Einschlag stellt das ganze Gewebe in Frage. In keiner
anderen menschlichen Betätigung ist das formale Gelingen so
unlöslich verknüpft mit Logik und Ethik wie im künstlerischen
Schaffen, dieser sogenannten 'Welt des schönen Scheins'. Ein alter,
vielerfahrener Dichter sagte einst zu mir: "Gott darf unlogisch
sein, das heißt ohne erkennbare Folgerichtigkeit, der Schriftsteller
nicht." (Franz Werfel: Der veruntreute Himmel. Die Geschichte einer
Magd)
Die plötzliche Einsamkeit erzwang eine bestürzende Bilanz der
Arbeit, an die ich schon fast ein Jahr gewandt hatte. Der
historische Vorwurf meines Buches erschien mir mit einem Mal ganz
verstiegen, seine Menschen steif und ohne Leben, ihre Gespräche
erklügelt, ihre Handlungen verdreht, das Ganze unecht und bis zur
Sinnlosigkeit missglückt. Was sollte ich tun? Es war ein sehr
umfangreiches Werk, und fünfhundert Seiten etwa hatte ich mir schon
abgerungen. Die moralische Kraft besaß ich nicht, diesen hohen
Stapel zu vernichten, noch auch die Geduld, das Fertige aufzutrennen
und gänzlich neu und anders zu beginnen. Diese Arbeitsart der
Penelope ist für die Kunst die einzig richtige. Die Welt aber
verwandelte alle vier Wochen ihr Gesicht, und was gestern noch
glaubwürdig war, entpuppte sich heute schon als Betrug. Wer konnte
da die Ruhe und Festigkeit aufbringen oder auch die Blindheit und
Taubheit, um mit unnachgiebigem Eifer an seinem Phantasiegespinst
sitzen zu bleiben! Ich versuchte es trotzdem. Jeden Morgen setzte
ich mich stöhnend an den Schreibtisch. Ich brachte meine Phantasie
in Gang, die mir zu rasseln schien wie eine eingerostete Maschine,
und schrieb ein oder zwei Blätter voll. Dann sprang ich auf und lief
hinaus wie vom Teufel gejagt. Mitten im herrlichen Tag und in der
teuren Landschaft überfiel mich aber dumpfe Verzweiflung, und ich
eilte wieder in mein Zimmer zurück, ohne die Strahlenbilder des
Morgens genossen zu haben, die starke, nach Honig schmeckende Luft
des Toten Gebirges, und ohne dankbar meiner glücklichen Lage
innezuwerden, die es mir erlaubte, in solcher Umgebung, wohlgehegt
und ziemlich sorgenfrei der geistigen Arbeit nachhängen zu dürfen.
Voll Gereiztheit und Ekel las ich das Geschriebene wieder und wieder
durch, um es schließlich zu zerknüllen und in den Papierkorb zu
werfen.
Mit Helen würde ich mich gerne einmal treffen. Ihr Haß
hat mittlerweile fast elf Jahre Zeit gehabt, sich zu
verflüchtigen, so daß man wieder miteinander reden
könnte. Sie weiß ja nicht einmal, daß ich der treueste
Leser ihrer Artikel bin, die sie in einer Tageszeitung
sporadisch publiziert. Sie schreibt Rezensionen über
neue Bücher aus dem Bereich der Belletristik und knüpft
damit an eine Neigung an, die sich nach Abbruch ihres
Studiums und neben allen Pflichten einer Pfarrersfrau
kaum noch entfalten konnte. Rezensionen las ich immer
gern. Daß es in einer Zeit der allgemeinen Relativität
noch Leute gibt, die sagen, was gut ist und was
schlecht, das fasziniert mich. Auch Helen sagt und weiß
es. Ich habe deshalb über sie fast mehr erfahren und
gelernt als über die von ihr besprochenen Bücher.
Natürlich plaudert sie nicht aus, warum sie etwas
tadelt oder lobt und wie der Maßstab aussieht, den sie
anlegt. Das ist nicht üblich und nicht nötig und würde
zudem den Intimbereich tangieren. Helen schreibt
selbstverständlich nicht: Mein Traummann muß aktiv und
männlich sein und wissen, was er will. - Sie schreibt:
Man fragt sich, wann der öde Trend zum schlaffen Anti-
Helden endlich abflaut. Im Lauf der Zeit hab ich
herausgefunden, gefallen mir besonders gut. Es sind die
explovisen, in denen spürbar wird, daß jener, der sie
schrieb, durch dieses Schreiben abgehalten wurde von
weit Schlimmeren. Es sind die Bücher, welche
hinterhältig knistern, die halbwegs kultivierten
Pulverfäßchen, die unvorsichtigen, unausgewogenen und
meinetwegen närrischen, und die mag Helen nicht. Da
wird sie tantenhaft und tut beleidigt. Sie will
bestätigt sein und nicht bedroht. Mir geht es anders.
Mich schläfern Streicheleien ein. (Markus Werner:
Froschnacht, S. 97f.)
Ich erinnere mich, daß früher, als wir noch zusammen
waren, auch immer die merkwürdigsten Bücher
herumgelegen sind, ich habe mich oft ein wenig
ausgeschlossen gefühlt, und wenn ich Regina gefragt
habe, wie sie auf dieses oder jenes Buch gekommen sei,
hat sie gesagt, sie wisse es selber nicht, sie habe es
wohl zufällig in einer Buchhandlung entdeckt. Mitunter
bin ich eifersüchtig gewesen oder vielleicht eher
argwöhnisch und habe befürchtet, daß da irgendein Mann
sein könnte, der ihr fortwährend exotische Bücher
empfahl und mit dem sie dann, wenn ich an freien
Samstagen Hans hütete, Leseerfahrungen oder anderes
austauschte. (Markus Werner: Bis bald, S. 98f.)
Weil mir das Warten auf ihre Rückkehr selbstgefällig
vorkam, schnüffelte ich kurz in den Büchern auf ihrem
Nachttisch. Zu meiner Erleichterung gehobene Mittelklasse.
Ein sympathischer Bestseller und ein Bändchen mit
Tschechow-Erzählungen. Es hätte mich beunruhigt, wenn
ich literarischen Schrott vorgefunden hätte oder
Astrologiebücher. Wir kannten uns erst seit wenigen
Stunden und hatten weder Zeit noch Lust gehabt, über
Lesegwohnheiten zu sprechen. (Joseph von Westphalen:
33 weiße Baumwollunterhosen, S. 7)
Sie hob das Buch zur Nase und sog dessen Geruch ein.
Ganz entfernt erinnerte er an ihr Gymnasium am ersten
Schulttag nach den Sommerferien. Wenn das alte Gebäude
sechs Wochen lang alle menschlichen Gerüche
ausgedünstet hatte und nur noch nach sich selber roch -
nach Holz, nach staubigen Fußböden, nach einer Zeit, in
der es noch keine Kunststoffe gegeben hatte -, dann
fühlte sie sich dort sogar einen Augenblick lang wohl.
Es war der Trost, daß manche Dinge viele
Menschengenerationen überleben konnten, ohne ihre
Eigenart einzubüßen. Der Geruch des Buches führt jedoch
noch weiter zurück, in eine Zeit, in der man bei
Kerzenlicht gelesen hatte, im Winter am offenen Kamin
von Holzscheiten gewärmt wurde, sich selten wusch,
dafür aber häufig parfümierte. All diese glaubte Anna-
Katharina riechen zu können: den Kerzenruß, die Asche,
den Schmierfilm ranziger Körperfette, den süßlichen
Hauch eines Veilchenparfüms. Das Buch war 1782 gedruckt
worden, sieben Jahre vor der Französischen Revolution.
229 Jahre hatte es unversehrt überlebt. Sie klappte die
Buchdeckel zu, strich noch einmal zärtlich über den
beinahe fleckenlosen Einband und erhob sich von ihrem
Schreibtisch. Dann stieg sie aus ihrer kleinen Mansarde
in die Küche hinunter, wo ihre Mutter am Herd stand und
kochte. Sie kochte immer. "Haben wir Alufolie?" fragte
das Mädchen. "Drüben, in der Schublade. Kannst du mir
heute im Garten helfen?" Das Mädchen schüttelte den
Kopf. "Du hast doch Ferien!" sagte die Mutter scharf.
"Ich muß nach Brandenburg. Oder Lehnin. Oder Potsdam."
"Oder, oder, oder!" "Wo gibt's denn hier einen
Buchbinder?" "Schau ins Internet", sagte die Mutter
gleichgültig. "Buchbinder, so ein Schamrrn! Ich hab im
Leben noch keinen Buchbinder gebraucht." "Du hast im
Leben auch noch kein Buch in der Hand gehabt." "Dafür
kann ich kochen!", versetzte die Mutter wütend. "Und du
kannst nichts außer lesen!" (Florian Felix Weyh:
Toggle, S. 63f.)
Anna-Katharina nickte und folgte ihm in seine Baracke.
Muffige, säuerliche Luft schlug ihr entgegen. Die
beiden durchquerten einen langen Gang. Linkerhand
gingen etliche Türen ab. Wo sie offen standen, konnte
man düstere Räume mit quergestellten Stahlregalen
sehen. Bücher über Bücher lagerten darauf. Die meisten
sahen freilich so aus, als würden sie nie mehr einen
Besitzer finden. Produkte von DDR-Verlagen, die schon
zu sozialistischen Zeiten nie jemand hatte in die Hände
nehmen wollen. "Bin auf Ideengeschichte des Marxismus
spezialisiert", nuschelte der Antiquar. "Meine Branche
lebt von ihrer Geduld." (Florian Felix Weyh: Toggle, S.
66)
Winsett war nicht aus freier Wahl Journalist geworden.
Er war ein Schriftsteller, der zur Unzeit in eine Welt
geboren war, die kein Bedürfnis nach seinen Gaben
hatte; nachdem von ihm ein Band mit kurzen und
hervorragenden literarischen Essays erschienen war, von
dem hundertzwanzig Exemplare verkauft, dreißig
verschenkt und der Rest schließlich - vertragsgemäß -
vom Verleger eingestampft worden war, um
verkäuflicherer Ware Platz zu machen, hatte er seine
wahre Berufung aufgegeben und die Stelle eines
Unterredakteurs an einer Frauenzeitschrift angenommen,
in der modernes Tafelgeschirr und Tapetenmuster sich
mit Liebesgeschichten aus Neuengland und Anzeigen von
alkoholfreien Getränken abwechselten. (Edith Wharton:
Zeit der Unschuld, S. 165)
Kaum saß er am Schreibtisch, überkam ihn der unwiderstehliche
Drang, in seinen Roman einzutauchen. Schon einmal (...) war er
durch das Bedürfnis, seine Qualen mit Worten zu lindern, ins
Leben zurückgeholt worden. Jetzt, an diesem viel schrecklicheren
Wendepunkt seines Lebens, fand er sich von derselben Gier
besessen, als müsste er seine Kunst mit Leid füttern wie ein
seltenes, unersättliches Tier. (Edith Wharton: Ein altes Haus am
Hudson River)
In den Nächten des krampfhaften Wachens hatte sich in
seiner Phantasie ein heftiger Drang angestaut, der ihn nicht
ruhen ließ. Worte lockten ihn singend wie die Sirenen den
Odysseus, manchmal war die Erinnerung an eine einzelne Wendung
wie der Schritt über die Schwelle eines mächtigen Tempels. Er
erlebte wie nie zuvor den Rausch gewaltiger, kometengleicher
Gedankenflüge über den Himmel menschlicher Ideen und dann
wieder die anregende Wirkung minutiöser Feinarbeit, bei der er
sich durch nichts ablenken ließ. Ab und zu hörte er auf zu
schreiben und ließ sich von seinen Visionen forttragen; danach
machte er sich wieder mit Feuereifer an die genaue Untersuchung
seiner Figuren. Es lag etwas Übernatürliches, Zwanghaftes in
diesem seltsamen Wechsel zwischen Erschaffen und Träumen.
Manchmal überfiel ihn nach einer durchwachten Nacht die
Erschöpfung mitten im Arbeiten, und er sank am Schreibtisch in
einen bleiernen Schlaf. (Edith Wharton: Ein altes Haus am
Hudson River)
"Ach, ich sehe schon, Sie sind ein Leser. Halo hat es mir
erzählt. Natürlich, das ist auch eine denkbare Unterabteilung."
"Unterabteilung? Von was?" "Vom Büchersammeln. Denn dafür gibt es
doch Bücher, oder? Selbst Leute, die sie lesen, müssen sie
sammeln. Ich persönlich bin aber nicht der Ansicht, dass sie
dafür gemacht worden sind. Man kann alles Gerede, wonach einem
der Sinn steht - viel zu viel! -, von den Lebenden bekommen; ich
sehe nicht ein, warum man noch die Toten bemühen soll. Das Schöne
an Büchern ist ihre Aufmachung, wie bei Frauen. Was ist eine Frau
ohne Kleid und Make-up? Fast nichts, wenn sich einmal das erste
Staunen gelegt hat, glauben Sie mir... und ein Buch ohne das
richtige Papier, die richtige Schrift, den richtigen Einband und
das richtige Erscheinungsjahr ist für mich nur eine Niete."
(Edith Wharton: Ein altes Haus am Hudson River)
Wenige Tage nach seiner Ankunft stieß er, als er in die Fifth
Avenue einbog, unversehens auf die Public Library.
Eingeschüchtert von der pompösen, zu einem friedlichen Refugium
für Lernbegierige so gar nicht passenden Fassade, fragte er sich,
ob das eines der Nobelhotels sei, von denen er gehört hatte, das
"Ritz" oder das "St. Regis", dann schaute er genauer hin und las
die Inschrift. Auf der Stelle rannte er die breite Treppe hinauf,
trat unerschrocken durch die Türen und erkundigte sich bei der
erstbesten Amtsperson, ob er hier lesen dürfe. Er durfte, sogar
ohne einen Cent zu zahlen, und viele Stunden am Tag. Anfangs
verwirrte ihn alles und er war ratlos, wie er vorgehen sollte,
doch was Bücher betraf, schien ihn ein Gespür zu leiten, und es
dauerte nicht lang, da hatte er Zugang zu einer Reihe von
Karteikästen und verlor sich darin wie in den Tiefen eines
Waldes... Freilich fehlte dem Haus der Zauber von The Willows, da
der Leser wissen musste, was er wollte, und nicht nach Belieben
von einem Regal zum nächsten streifen und sich dem
geheimnisvollen, fast körperlich zu spürenden Lockruf sichtbarer,
greifbarer Bücher überlassen konnte. Auf dieses Vergnügen durfte
er erst hoffen, wenn - nun ja, wenn er genug Geld verdient hatte,
um eine eigene Bibliothek zu besitzen. Vorläufig war es wunderbar
genug, dass er in dieser Stille in einer Nische sitzen durfte,
vor sich einen Stapel Bücher, die Ellbogen auf den Tisch
gestützt, die Hände in den Haaren vergraben, die Seele in eine
neue Welt eingetaucht... (Edith Wharton: Ein altes Haus am Hudson
River)
Ein Buch, ganz ähnlich wie "Anstatt", nur ungefähr vierzigtausend
Wörter länger. Falls "Anstatt" überhaupt einen Fehler habe, dann
seine "Sondergröße", wie das im Textilienhandel heiße. Das
Publikum wolle das haben, woran es gewöhnt sei. Und wenn ein
Romanautor das Glück gehabt habe, auf etwas Neues zu stoßen, von
dem das Publikum angetan war, dann sei es blanker Selbstmord, den
Lesern nicht mehr davon zu liefern. (Edith Wharton: Ein altes
Haus am Hudson River)
... war ihr der junge Mann, der zufällig neben ihr saß und von dem
es hieß, er habe etwas "geschrieben", als die Art von Luxus
erschienen, den eine reiche Erbin Susy Branch sich aus reinem
Übermut gegönnt hätte. Der verarmten Susy Branch machte es Spaß,
sich auszumalen, was diese erfundene Doppelgängerin mit ihren
Millionen machen würde, und das war es auch, was sie an ihren
reichen Freunden am meisten störte - daß sie ihre Millionen so ohne
jegliche Phantasie verschleuderten. "Mir wäre so ein Ehemann lieber
als eine Motorjacht", dachte sie am Ende ihres Gesprächs mit dem
jungen Mann, der etwas geschrieben hatte. Ihr war auf der Stelle
klar gewesen, daß nichts, was seine Feder je hervorgebracht hatte
oder noch hervorbringen würde, ihn in die Lage zu versetzen könnte,
seiner Ehefrau etwas Aufwendigeres als ein Ruderboot zu bieten.
(Edith Wharton: Der flüchtige Schimmer des Mondes)
Sie wußte, wann der junge Mann aller Wahrscheinlichkeit nach
anzutreffen war, denn er mühte sich mit langweiligen Einträgen für
eine Volksenzyklopädie an (V bis X) und hatte ihr anvertraut, welche
Stunden dieser verhaßten Aufgabe vorbehalten waren. "Wenn es
wenigstens ein Roman wäre", dachte sie, als sie die schäbige Treppe
hinaufstieg; doch sofort machte sie sich klar, daß die Art Roman,
die zu lesen sie erträglich fand, ihm auch nicht mehr einbringen
würde als die Enzyklopädie. Miss Branch stellt gewisse Ansprüche an
die Literatur. (Edith Wharton: Der flüchtige Schimmer des Mondes)
Nahezu drei Wochen hatte er auf der Ibis wie im Rausch
verbracht. Die Drogen waren von zweierlei Art: Visionen
vorüberziehender Landschaften, die aus der blauen See
auftauchten und wieder versanken, und Visionen, die ihm
Bücher vermittelten. Denn zum ersten Mal seit vielen Monaten
befand sich in seiner Reichweite eine richtige Bibliothek:
Bücher, die Wissen vermittelten und dabei unterhaltsam waren,
Lektüre, nach der sein ruheloser, ungeduldiger Geist sich
sehnte. Er wußte, daß er sich nur oberflächlich betäubte,
daß Bücher Schmerzen nicht lindern, Erinnerungen nicht tilgen
konnten. Aber das Lesen rief allmählich eine Art geistiger
Melancholie hervor, nicht unangenehm und, verglichen mit
dem wilden Schmerz der ersten Tage, fast verglichen mit dem
wilden Schmerz der ersten Tage, fast wohltuend. Es war genau
die Art von Drogen, die er brauchte. (Edith Wharton: Der
flüchtige Schimmer des Mondes)
"Natürlich", erwiderte der Abbe. "In jedem Buch ist
ein Buch des Nichts verborgen. Spürt Ihr das nicht
auch, wenn Ihr eine Seite voller Wörter lest? Dieses
riesige Meer der Leere unter dem zerbrechlichen Netz
der Buchstaben. Die Geisterhaftigkeit der Buchstaben
selbst. Sie verleihen Dingen und Menschen, die in
Wirklichkeit nichts sind, überhaupt nichts, den
Anschein von Leben. Nein, einzig das Leben spielte
eine Rolle, wie ich schließlich feststellte, nicht ob die
Seiten leer oder bedruckt waren. Die Mohammedaner
sagen, eine Stunde, in der man liest, ist eine Stunde,
die man dem Paradies stiehlt. Diesem perfekten
Gedanken kann ich nur hinzufügen, daß eine Stunde,
in der man schreibt, einem einen Vorgeschmack auf
diesen anderen Ort gibt." "An was arbeitet Ihr
gerade?" fragte Flood. Zu seiner Überraschung
verdunkelte sich das Gesicht des Abbes. "Wißt Ihr
nicht, Mr. Flood, daß dies die einzige Frage ist, die
man einem Schriftsteller nie stellen darf?" (Thomas
Wharton: Salamander, S. 80)
Die Frankfurter Buchmesse nährt jedes Jahr die Utopie,
dass es beim Zusammenprall der Kulturen keine Tote und
Verletzte geben muss. Von den 350 000 Bücher, um die
die fast dreihunderttausend Besucher sich scharen,
scheint eine eigentümlich befriedende Wirkung
auszugehen. Nicht dass es an Rangeleien - politischen
und alkoholischen - fehlen würde, aber noch nie kam es
zu jenen Massenschlägereien, die man am Rande von
Fußballfeldern oder bei dem einen oder anderen
Rockkonzert erleben kann. (...) Die Buchmesse ist
nichts für Leser. Zum Glück. Sie ist der Ort, an dem
der Leser außer sich gerät. Hier setzt er sich dem
Leben aus. Hier ist Schluss mit der Einsamkeit. Hier
wird nicht gelesen über die Menschen, hier werden sie
angeschaut, angesprochen und angefasst. Hier schreiten
die Schüchternen zur Tat. Das Frankfurter Messegelände
mag fünf Tage lang ein Treffpunkt der Intellektuellen
sein, aber in dieser Arena findet für ein paar Tage so
etwas wie deren Humanisierung statt. Sie treten heraus
aus dem Papier ins wirkliche Leben. Wer das nicht will,
der soll nicht kommen. (Berliner Zeitung, 5.10.2004)
Für den 'Ulenspiegel" hatte Züst auch ein besonders
schönes Vorsatzpapier gewählt, ein gelblich
schimmerndes, gemasertes Maispapier, das sich
allerdings schon wellte, wenn die Meterologische
Zentralanstalt in ihrer Wetterprohnose die Möglichkeit
einer Eintrübung auch nur erwog. Es vertrug keine
Feuchtigkeit, keinen Tropfen Wasser, und die
brandneuen Büchern sahen, wenn sie bei den
Buchhändlern ankamen, allesamt wie Wellpappe aus.
Die Buchhändler beklagten sich natürlich. Züst
schickte ihnen ein Merkblatt, in dem er ihnen riet, die
Bücher mit einem Bügeleisen zu plätten, und zwar
unmittelbar bevor der Kunde sich ihnen zuwende. (Urs
Widmer: Das Buch des Vaters, S. 140)
Dann stürzte der Bruder plötzlich hin, der ein Pfarrer
gewesen war und alle Bücher ein Leben lang ins
gleiche Packpapier eingebunden hatte, so daß seine
Bibliothek hundertfach ein Buch zu enthalten schien.
(Urs Widmer: Das Verschwinden der Chinesen im
neuen Jahr, S. 86)
Bauern! - Bauern können durchaus Schriftsteller
werden: man kann beim Schreiben so schwitzen, daß
es einer Arbeit gleicht. Aber wie soll ein Bauer ein
Leser werden? Gedachtes mitdenken, Geträumtes
nachträumen? Wir haben gelernt, daß man die
Heubündel schleppt, bis einem alle Muskeln weh tun.
- Leser fühlen sich hier schnell schuldig. - Auch der
Staat, die Summe des Bauerndenkens, hält von
Geschriebenem fast nichts, und wenig von denen, die
schreiben. Einmal, vor Jahren, hat einer unsrer
Regierenden im Fernsehen mit Max Frisch diskutiert.
Ich habe das Gespräch nicht gesehen, aber gewiß
vertrat der Regierende das Konkrete plausibel und
ungebrochen. Max Frisch, von Zweifeln geplagt,
fragend, einer wie der Regierende eigentlich, aber
vom Karren gefallen. (Urs Widmer: Das Verschwinden
der Chinesen im neuen Jahr, S. 140)
(Aber kommt nicht alle Literatur - eine mit einer
eigenen Stimme - von den Rändern her? War nicht in
jenen kurzen Zauberjahren der deutschen Literatur -
vom jungen Goethe bis zum jungen Brentano - alles
Rand? Es wird doch jetzt nicht einer den Finger
hochheben und behaupten, Weimar sei ein Zentrum
gewesen? Ringsum waren Wäldern mit Köhlern.
Hundert Kilometer weiter verstand kein Mensch
Goethen mehr, der schon in Weimar mit seinem
Frankfurter Gebabbel seine liebe Mühe hatte. Schiller!
Kleist! - Jener Wille zur Weltliteratur: die schiere Not,
weil in erreichbarer Nähe keinerlei Welt zu sehen
war.) (Urs Widmer: Das Verschwinden der Chinesen
im neuen Jahr, S. 141)
Zuweilen lese ich in einem alten Buch von mir (wenn
mich ein Anlaß dazu zwingt) und bin dann überrascht,
wie lebendig es mir vorkommt. Ich finde es eigentlich
stets besser als es sich in meiner Erinnerung
darstellt. ich vergesse in der Regel das, was fertig
ist, wohl auch, um mit der Kränkung fertig zu werden,
daß das abgeschlossene Buch nur einen Bruchteil
jener sinnlichen Erregung in sich trägt, mit der ich es
begonnen hatte. (Urs Widmer: Das Verschwinden der
Chinesen im neuen Jahr, S. 180)
In der Literatur spricht ein Einzelner zu einem
Einzelnen. Nicht eine Idee zu einer Allgemeinheit.
Obwohl wir individuellen Stil lange Zeit nahezu
lächerlich fanden, dieses Getue mit schön
geschriebenen Sätzen, ist Stil eben doch das
anrührendste Geheimnis eines Dichters. Jene eigene,
unverwechselbare Art zu sprechen, die nicht nur eine
Tugend, sondern auch eine Not ist und für die auch
der Sprecher selbst keine Erklärung hat. - Heute
leuchtet eine autonome Stimme vielleicht noch heller
als früher, weil uns das "unverwechselbare Ich" aus
tausend Gründen kaum mehr denkbar scheint. Gerade
Ernst Jandl schreibt ja oft wie ein Ich-loser, dem die
Sprache abhanden zu kommen droht; für den
Probleme wie "gut" oder "schlecht" schreiben längst
lächerlich geworden sind. Aber dann ist es eben doch
nur Ernst Jandl, der es so kann. Auch zu Picasso
sagten die Leute einst, so kann auch mein Kind
malen, oder ein Affe. Aber weder Kind noch Affe taten
es dann.- Ein unschuldiges Wort schreiben, zum
ersten Mal! (Urs Widmer: Das Verschwinden der
Chinesen im neuen Jahr, S. 178)
Immer wieder einmal reden wir Dichter vom Geld, und
natürlich stets davon, daß wir keins haben. Denn tun
wir es nicht, tut es überhaupt niemand. Kunst erscheint
nur dem notwendig, der sie macht; denen, die sie morgen
vielleicht sogar genießen, fällt nicht sehr auf, wenn
sie heute ausbleibt. Und schon gar nicht kümmert sie,
wie sie entlöhnt. Aber in uns Schreibern lebt auch die
Erinnerung daran, daß unsre Vorfahren einst die Wörter
der Götter in Menschensprache übersetzten, und daß
Propheten keine Bankkonten haben. Götter sowieso nicht.
"Die Poeten", schrieb Schiller an Goethe, "sollten
immer nur durch Geschenke belohnt, nicht besoldet
werden." Kurz darauf verhungerte er. (Urs Widmer: Auf,
auf, ihr Hirten. Die Kuh haut ab, S. 236)
Schriftsteller, Dichter gar, sind Menschen ohne Macht.
Die Macht des Wortes, von der man zuweilen spricht, ist
eher eine Hoffnung oder ein Trost als etwas Wirkliches.
Wer hat schon gehört, daß das Wort gegen einen
Mächtigen etwas bewirkt hätte? Gut, "im Anfang war das
Wort", damals vielleicht. Aber danach, als nicht mehr
nur das Wort war, sondern auch die Tat und das Geld und
der Mord, da sah es für das Wort schon viel schlechter
aus. Seither haben wir Schreiber jene Partien, die wir
gegen tatsächlich Mächtige zu spielen wagten, fast
immer verloren. (Urs Widmer: Das Geld, die Arbeit, die
Angst, das Glück, S. 74)
Die Literaturwissenschaft hat, seit es sie gibt, vieles
geleistet. Aber was wem warum gefällt, weiß sie nicht.
Gott sei Dank. Ich bin sicher, daß es Bücher gibt, die
niemand zu Ende gelesen hat. Kein Mensch. (So wie es,
herrliche Vorstellung, Fernsehsendungen gibt, die
niemand sieht.) Der Grund ist natürlich, daß diese
langweilig sind. Langweilig, sagenhaft langweilig.
Warum sie trotzdem geschrieben worden sind und, vor
allem, warum sie einen Verleger fanden, ist eines der
Rätsel, das niemand zu lösen weiß. Nicht einmal jene
Verleger. Das Ernste unterhält, und das Unterhaltende
ist ernst. Langweilig ist beides nicht. Nie. Nun
langweilen wir uns allerdings bei Verschiedenem, und
ganz Unterschiedliches unterhält uns. Ich langweile
mich zum Beispiel schnell und oft just bei Büchern, die
ganz explizit der "Unterhaltung" zugeordnet werden. Bei
jenen dicken Klötzern etwas, die oft aus den USA
stammen und Titel in Goldlettern haben. Es ist alles so
voraussehbar, und die Sprache ist so tot. Ja, gerade
bei den Thrillern mag ich nur die Meister. Ambler und
Chandler, etwas verkürzt gesagt. (Urs Widmer: Das Geld,
die Arbeit, die Angst, das Glück, S. 126)
So will ich nur noch sagen, daß jeder Leser, der dies
mit Leidenschaft tut, im Lauf der Jahre drauf kommt,
daß nur wenige Autoren wirklich seine sind. Und er ist
ihr Leser. Und wenn er ehrlich und aufmerksam mit sich
selber ist, bemerkt er auch, daß er da ein seltsames
Gemisch beisammen hat, keineswegs das, was der - wie
auch immer progressive - Kanon uns als das Bedeutende
vorstellt. "Große" stehen da seltsam gleichwertig neben
"Kleinen". So daß wir die Liste unserer wahren
Lieblinge in der Regel schamvoll geheimhalten. (Urs
Widmer: Das Geld, die Arbeit, die Angst, das Glück, S.
153)
Selinde las, um die Langeweile zu verjagen oder sich
mit angenehmen Bildern und Phantasien zu ergetzen;
Klarisse las immer mit Nutzen, denn sie fragte sich
immer selbst: Ist dies auch wahr? Fühlst oder denkst du
wirklich, was der Autor will, daß du denken und fühlen
sollst? Und wo nicht, liegt die Schuld an dir oder an
ihm? Auf diese Weise lernte sie vergleichen,
unterscheiden, überschauen und zusammenfassen,
entdeckte den Maßstab des Wahren und Schönen in sich
selbst und gewöhnte sich an eine richtige Schätzung der
Dinge. (Christoph Martin Wieland: Das Hexameron von
Rosenhain, S. 140)
"Ich sehe mich", sagte sie, als ihre Stunde gekommen
war, ungefähr in ebenderselben Lage wie Herr M. Zwar
muß ich gestehen, daß ich beinahe ebenso belesen in den
Märchen bin wie die schöne Rosalie von Eschenbach, mit
deren Entzauberung uns Fräulein Amande vorgestern so
angenehm unterhielt; aber ich habe ein so wunderliches
Gedächtnis, daß alles, was ich von dieser Art lese oder
höre, in kurzer Zeit wieder rein vergessen ist, so daß
ich von etlichen hundert Märchen, die ich seit meinem
neunten Jahre gelesen haben mag, schwerlich drei
wiedererzählen könnte." (Christoph Martin Wieland: Das
Hexameron von Rosenhain, S. 133)
In der Universitätsbibliothek wanderte er zwischen den Regalen
umher, unter abertausend Büchern, und atmete den modrigen Geruch
von Leder, Leinen und trockenem Papier ein, als wäre es ein
exotisches Parfüm. Manchmal blieb er stehen, zog einen Band aus
dem Regal und hielt ihn einen Augenblick in den großen Händen,
die noch immer kribbelten beim unvertrauten Gefühl von
Buchrücken, Buchdeckel und nachgiebigem Papier. Dann blätterte er
ein wenig, las hier und da einen Abschnitt und schlug die Seiten
mit steifen Fingern so behutsam um, als könnte er sie in seinem
Ungeschick zerreißen und damit vernichten, was sie so beharrlich
zu offenbaren trachteten. (John Williams: Stoner)
Er redete sich ein, er sollte dankbar für die Gelegenheit sein,
endlich nach eigenem Gutdünken lesen zu können, frei von dem
Druck, Seminare vorzubereiten, frei von allen Vorschriften, die
seine Lektüre bestimmten. Er versuchte, ungezielt zu lesen, nach
Lust und Laune, versuchte, sich in Bücher zu vertiefen, die er
sich schon seit Jahren vornehmen wollte, doch ließ sich sein
Verstand nicht dorthin lenken, wohin er ihn führen wollte. Die
Gedanken schweiften von den Buchseiten ab, und immer häufiger
ertappte er sich dabei, wie er dumpf vor sich hin ins Nichts
stierte; es war, als würde sein Kopf nach und nach von allem
Wissen geleert und sein Wille aller Kraft beraubt. Manchmal
fürchtete er, nur noch vor sich hin zu vegetieren, und er sehnte
sich nach etwas, das ihn durchbohrte, sei es auch Schmerz, damit
er sich endlich wieder lebendig fühlte. (John Williams: Stoner)
Nichts gegen Menschen, die Bücher von vorne nach
hinten lesen, immer von links nach rechts und von
oben nach unten, Seite für Seite und Satz für
Satz, aber ich stelle mir solche Menschen gern
händewaschend vor und eselsohrenausbügelnd und es
sich in einer bestimmten Lesestellung gemütlich
zurechtmachend und dann vielleicht auch noch
zeigefingerableckend im Fünfminutentakt, dem
Umblättern wegen. Das sind die Leser, die das Wort
"Buch", oder, schlimmer noch, das Wort "Bücher" so
saftlos aussprechen, als hätten sie gerade den zur
staubtrockenen Waffel gewordenen Leib Christi im
Mund. Im Vergleich zu solchen Menschen lässt mein
Leseverhalten zu wünschen übrig. Ich benehme mich
so, als gehörte die Literatur, die ich lese, mir.
Ich kaufe mit dem Buch den Geist des Buches. Ich
kaufe mir den Schriftsteller und mache ihn mir zu
eigen. Wenn ich ihn lese, gehört er mir, als
stünde er mir zur Verfügung. Ich bestimme, was
gut und was schlecht geschrieben ist. Und ich
befinde ausschließlich jene Sätze für gut, die ich
genau so geschrieben hätte. Habe ich bei einem
gelesenen Satz nicht das zwingende Gefühl: Warum
ist das mir nicht eingefallen? - Das hätte mir
einfallen müssen, genaugenommen! - dann ist der
Satz nicht gut genug, dann ist dem Schriftsteller
der Satz mißlungen, und sofort stelle ich an das
Buch die Frage: Was bildest Du dir eigentlich ein?
Wenn ich mich aber in den Sätzen selbst – wie man
so schön sagt – wiederfinde, dann beschäftigt mich
das Buch. Dann lese ich das Buch nicht aus, dann
lese ich darin herum, immer wieder und überall.
Ich lese das Buch im Zug, bei der Arbeit, am Klo,
in Wartezimmern und Warteschlangen, im Bett, in
der Badewanne, hin und wieder sogar beim Gehen –
bei jeder Gelegenheit. (Reinhard Winkler)
Das schlimmste Lesen aber ist das Vorgelesen-
Bekommen. Literarische Leseveranstaltungen sind
das größte Übel. So eine literarische Lesung ist
die vollkommene Entmündigung des Lesers. Nein.
Solche Veranstaltungen sind nicht vom größten
Übel, sie sind nur einfach lächerlich. Der Gockel
möchte alle Hühner gleichzeitig ficken. Der
Dichter beglückt ein ganzes Leserkollektiv in
einem Aufwaschen: sitzt unten der Lesekörper und
hält still. Oder hält er inne? Egal. Er ist
jedenfalls sprachlos, nach Möglichkeit in sich
gekehrt, praktisch gesehen also unsichtbar. Als
Teil des Publikums sollte man nicht weiter
auffallen. Reizhusten ist strengstens untersagt.
Man stelle sich so einen Lümmel wie mich in einem
Lesesaal vor: Alle Sätze lang Fragelaute ausrufend
("hä?") oder spontane Begeisterungsvokabel
ausstoßend ("super!"), und natürlich ständiges
Bitten um Wiederholung des gerade eben gelesenen
Satzes, sei es, weil ich ihn nicht verstanden habe
oder auch, weil ich ihn einfach noch einmal hören
will. Alle paar Seiten lang würde ich mir eine
Pause erbitten, um ungestört verdauen zu können.
Natürlich weiß ich, dass solche Veranstaltungen
vor allem einmal dem Zweck dienen, Reklame für ein
Buch zu machen, das gekauft werden will. Das macht
mir den Genuß auch nicht leichter, im Gegenteil.
Literarische Leseveranstaltungen sind so ernst zu
nehmen wie Werbespots für ein Produkt: flüchtig,
effektheischend wie ein Blitzlicht und im Gehaben
letztlich nur anbiedernd. Literatur ist ein
Geschäft, nichts weiter. Lesereisen gehören zum
Alltag jedes erfolgreichen Schriftstellers. Der
Verleger zwingt seine Hure auf die Straße, der
Leser freit den Dichter, und das einzige, was an
diesem geschmacklosen Vergleich hinkt, ist der
Umstand, dass bei literarischen Veranstaltungen
die Kundschaft stillhält, während die
Prostituierte einzudringen versucht. (Reinhard
Winkler)
Wenn ich für ein Buch bezahlt habe, kenne ich
keine Lesehemmungen. Dann lese ich im Gefühl, mir
die Anstrengung des Schriftstellers erkauft zu
haben, dann gehört der Text mir, und demzufolge
mache ich mit dem Text, was ich will. Erst einmal
heißt das: ich lese ihn oder ich lese ihn nicht.
Manchmal kaufe ich mir Bücher, nur um sie nicht zu
lesen. Manchmal kaufe ich mir so ein nicht
lesenswertes Buch gerade deshalb, um es in eine
Ecke stellen zu können, wo es dann steht,
ungelesen und eben: für nichts gut. Wenn ich aber
erst einmal ins Lesen gekommen bin und den
Schriftsteller als lesenswert erkenne, dann lese
ich. Allerdings lese ich ohne Lesemanieren.
Manchmal fange ich mit dem letzten Satz auf der
letzten Seite an, und wenn mir der Satz
entgegenkommt, kann es passieren, dass ich
zurückblättere und irgendwo in der Mitte
weiterlese, oft sogar mehrere Seiten am Stück,
wenn auch selten mehr als zehn auf einmal.
Eine Phase bedrückender Unsicherheit überkam ihn
jedesmal, wenn er ein Buch fertiggestellt hatte. Diese
Stimmung war ihm schon vertraut. Er hatte gelesen, daß
seine Zweifel an seinem Beitrag zur Literaturgeschichte
Äste eines blühenden Baumes mit zwei Kronen namens
"Minderwertigkeitsgefühle" und "gestörte Eltern-Kind-
Beziehung" waren. Und der Name des gigantischen Stammes
lautete: "unaufgelöste ödipale Fixierung". Doch der im
kalten Schatten des Baumes sitzende und nach Sonne
lechzende Schriftsteller wagte es nicht, das Beil in
den Stamm zu schlagen. Dieser Baum stellte seine
Daseinsgrundlage dar. Als Schriftsteller war er zu
einem frösteligen Leben im Schatten verdammt. (Leon de
Winter Leo Kaplan, S. 121f.)
"Warum bist du der, der du bist?" "Das weiß doch
jeder Soziologe und Psychologe! Ledige Mutter, drei
Kinder von drei verschiedenen Vätern. An jeder
Straßenecke Drogen und schnell verdientes Geld.
Elliott, mein ältester Bruder, der hat mit zehn seinen
ersten Einbruch begangen, mit zwölf seinen ersten
bewaffneten Raubüberfall. Aber ich gehörte nicht
dorthin. Ich weiß nicht, warum, irgendeine
angeborene Anomalie. Ich las gern. Ich ging in die
Bibliothek und verschlang Henry James, Faulkner,
Poe. Im Radio hörte ich Mozart, Bach, Schubert. Bis
ich fünfzehn war, konnte ich mich aus allem
raushalten. (Leon de Winter: Malibu, S. 384)
Es stimmt ja gar nicht, daß Buchliebhaber glücklich sind,
wenn sie aus einer Flut der Neuerscheinungen frei
auswählen und ihre höchst persönliche Bibliothek
zusammenstellen können. Nein, die meisten Leser - selbst
erfahrene Leser - möchte Bücher empfohlen bekommen.
Sie möchten eine Führer haben, der sie durch den Dschungel
des Gedruckten leitet und mit dem sie sich gemeinsam über
seltene Funde freuen dürfen oder über dessen Hinweise sie
gelegentlich auch einmal enttäuscht sein können - um so ihr
individuelles Urteil weiter zu schärfen.
Wirst dich fragen müssen, was aus uns allen würde, wenn
Wenn ein Verleger einen Autor zum Mittagsmahl einlädt,
geschieht es recht häufig, daß sich in das Tischgespräch eine
eher düstere Note einschleicht. Der Gastgeber seufzt oft und
gern und wählt als Thema seiner Ausführungen die
Schlechtigkeit der Zeiten, die Stagnation des Buchhandels
und die gestiegenen Preise für Druckpapier. Und wenn sein
Gast ihr dann mit der Bemerkung aufzuheitern versucht,
solcherlei Nachteile könnten doch mit einer beherzten
Öffentlichkeitsarbeit wettgemacht werden, seufzt er abermals
auf und behauptet, Lobreden auf das Werk eines Autors, die
man auf Verlagskosten in der Presse veröffentliche, seien nur
von geringen, um nicht zu sagen von gar keinem Nutzen, denn
die einzige Werbung, die wirklich zähle, bestehe - na ja, wie
solle er sich ausdrücken - in dem, was sich wohl am besten als
Mundpropaganda bezeichnen lasse. (P.G. Wodehouse: Onkel
Dynamit, S. 216)
Wirst dich fragen müssen, was aus uns allen würde, wenn
wir den verschlossene Räumen in unseren Gedächtnissen
erlauben würden, sich zu öffnen und ihre Inhalte vor
uns auszuschütten. Doch ist das Abrufen der
Gedächtnisinhalte - die sich übrigens bei verschiedenen
Leuten, die akkurat das gleiche erlebt zu haben
scheinen, bemerkenswert unterscheiden - wohl keine
Sache der Biochemie und scheint uns nicht immer und
überall freizustehen. Wäre das anders, träfe zu, was
manchen behaupten: Daß die Dokumente nicht zu
übertreffen sind und den Erzähler überflüssig machen.
Die Literatur muß möglichst genau die nationalen und
regionalen Probleme formulieren, nicht irgend etwas
verschwommen Internationales, was man nicht kennt und
was es als Realität nicht gibt. Ich kann schreiben
über ein Dorf in Mecklenburg oder über ein Haus in
Berlin oder über die Menschen, die jetzt hin und her
gehen über die Grenze. Wenn das genügend "weit" gesehen
ist, dann könnte das international wirken oder die
Leser auch in solchen Ländern interessieren. Bei Musik
und Malerei ist es sicher anders. Literatur hat mit
Sprache zu tun, und die Sprache ist nun mal an
Nationalitäten und Regionen gebunden. Für die Literatur
gilt bei allem, was sich über die Jahrhunderte
verändert hat, daß ich nur meine Erfahrung formulieren
kann, und meine Erfahrung ist das Leben in ganz
konkreten Umständen, die ich so genau wie nur irgend
möglich aufschreiben muß. (Christa Wolf: Schreiben im
Zeitbezug, Dezember 1989)
Wenn er Förster geworden wäre, sein innigster
Wunsch als Junge. Im Bruchteil einer Sekunde lief ein
anderes Leben vor ihm ab, ein unauffälliges,
zurückgezogenes Leben, das ihm nicht schlecht
gefallen hätte. Ein Leben mit einer anderen Frau,
anderen Kindern, ein Leben um ein anderes Zentrum
wachsend als um das Geheimnis der Dichtung. Die
Natur wäre an die Stelle der Bücher getreten, der
Umgang mit Büchern wäre nicht als Beruf mißbraucht
worden, sie hätten ihren Zauber bewahrt. Dafür wäre
der Wald, als Ort der Berufsausübung, entzaubert
worden. (Christa Wolf: Sommerstück, S. 88)
Aber der Dichter, ruft Merten, ist doch nicht dazu da, seinen
Mitmenschen die Hoffnung zu nehmen. Bei Gott, Herr Merten,
da haben Sie recht. Dem Dichter ist die Verwaltung unsrer
Illusionen unterstellt. (Christa Wolf: Kein Ort. Nirgends, S.
101/102)
Kunst - im weiteren Sinn - ist mir in meiner Kindheit und Jugend
nicht begegnet. Obwohl ich den Büchern früh verfallen war,
wußte ich nicht, was Literatur ist oder sein könnte. Daß ich die
ersten bestürzenden Wirkungen von Gedichten unvorbereitet
und unangeleitet erfuhr - vielleicht ist auch dies ein Glücksfall,
von jener Art, die Glücksfälle heute an sich haben. Es war im
Frühjahr 46, es war während einer langen Krankheit, die ich in
einem mecklenburgischen Bauerngarten unter einem
Apfelbaum "auslag", es war ein kleines blau eingebundenes
Buch mit Goethes Gedichten, es war "Wie herrlich leuchtet mir
die Natur". Das Maß war gesetzt, unbewußt, später bewußt,
verlangte ich dann nach dieser Erschütterung. Allmählich, über
Jahre, lernte ich es, auf ihr als auf einem nicht nur
ästhetischen, auch moralischen Zentrum meines Lebens zu
bestehen. (Christa Wolf: Die Dimension des Autors, S. 64)
Leisten wir uns ein Gedankenexperiment.
Eine Kraft, nicht näher zu bezeichnen,
lösche durch Zauberschlag jede Spur aus,
die sich durch Lesen von Prosabüchern
in meinen Kopf eingegraben hat. Was
würde mir fehlen? Die Antwort ist nicht
nur mörderisch; sie ist auch unmöglich.
Wenn einer sie geben könnte, wüßte man
Genaueres über die Wirkungen von Literatur.
(Christa Wolf: Die Dimension des Autors,
S. 473)
Das Buch kam zur rechten Zeit; es traf auf eine noch
unartikulierte Erwartung. Es kam früh genug, daß es
abwehrte. Erst als wir es gelesen hatten, wußten wir, daß wir
es brauchten. Bücher sollen ja Bedürfnisse nicht "befriedigen",
sondern anstacheln. (Christa Wolf: Die Dimension des Autors,
S. 200)
Ich habe manchmal Angst, meine Tochter könnte sich mal vor
mich hinstellen und mir eine Rechnung aufmachen, wie ich sie
auf andere Weise meinen Eltern aufgemacht habe. Und da
kommen mir dann so Berufe wie Bauer oder Förster sinnvoller
vor als das Schreiben, denn was vermag schon Literatur? Mir
scheint, daß gerade die, für die so was geschrieben wird, sich
nicht angesprochen fühlen oder nur Krimis lesen, im Praktikum
haben wir das oft erlebt. (Christa Wolf: Die Dimension des
Autors, S. 130)
Immerhin ist und bleibt die Stellung des literarischen
Einzelnproduzenten in der Gesellschaft der Gegenwart und
Zukunft problematisch: Das Finanzamt nennt ihn
"freischaffend". Die Ware, die er herstellt - "produzierend in
der leichtesten Weise", mit billigen Produktionsmitteln
übrigens: Papier und Schreibmaschine -, nimmt ein Verlag ihm
ab, vertreibt sie und gibt ihm, dem Autor, den geringsten Teil
vom Erlös. Soziologisch fällt die Schicht, der er wohl oder übel
angehört, nicht ins Gewicht. Die Unsicherheit seiner Lage
macht ihn selbst nicht selten unsicher. Schreiben, sagt man
zwar, sei ein Beruf wie jeder andere. Daß man es überhaupt
sagen muß - nie würde man wagen, einen Ingenieur oder
Metalldreher so zu trösten -, beweist, es stimmt nicht. (Christa
Wolf: Die Dimension des Autors, S. 497)
Er hat mich also in das Antiquariat zu Eric Chaim Kline
geschickt, in dem es so dunkel war, wie es in
Antiquariaten sein soll, und in dem alle Wände und noch
ein paar Tische mit Büchern bedeckt waren. Englische,
französische, sogar russische. Schließlich fand ich
hinten links in der Ecke das deutsche Regal und begann,
die Buchreihen abzusuchen. Ich schlug das eine oder
andere Buch auf und las Namen und Jahreszahlen: Hier
war die Hinterlassenschaft deutscher Emigranten
abgeblieben, die in der Fremde gestorben waren oder die
zurückkehren konnten und Gepäck hierlassen mußten, das
sie einst aus Europa mitgebracht hatten. Oder wie sonst
war ein umfangreicher, in rotes, jetzt abgegriffenes
Leinen gebundener Roman von Vicki Baum hierher geraten,
"Liebe und Tod auf Bali", erschienen 1937 im
Emigrationsverlag Querido in Amsterdam. Den Titel hatte
ich nie gehört, aber erst kürzlich war ich an Vicki
Baums riesigem Haus am Amalfi Drive vorbeigefahren. Sie
war, scharfsinnig, den Charakter des Nationalismus
voraussehend, früh aus Deutschland emigriert und eine
der wenigen, die auch in den USA Erfolg hatten und ein
luxuriöses Leben führen konnten. Ich blättere in dem
Buch, da trat ein sehr höflicher junger Schwarzer zu
mir, mit der obligatorischen Frage: Can I help you? Ich
versuchte ihm begreiflich zu machen, was ich suchte.
Wait a moment! sagte er, und wenige Minuten später kam
ein älterer, rüstiger Herr, weißhaarig, eine schwarze
Kippa auf dem Kopf, er mußte der Besitzer sein.
Geduldig hörte er sich mein Anliegen an: Literatur von
deutschen Emigranten, die hier gelebt hatten. Er
verstand. Ich solle morgen nachmittag wiederkommen, er
glaube, er habe etwas für mich. Den Vicki-Baum-Band
ließ ich mir zurücklegen. Der nächste Tag, ein Tag im
Juni, war wieder ungewöhnlich heiß. Der alte Antiquar,
Mr Kline, führte mich eine Holztreppe hoch, zu einem
langgestreckten Speicherraum, direkt unter dem
Dachgebälk, in dem Tausende von Büchern an den Wänden,
auf dem Boden, auf langen Tischen gestapelt waren. Die
Hitze war unerträglich, in einer Sekunde stand ich
unter Schweiß. Es roch nach heißem Papier und nach
heißem Holz. Wenn es hier einmal brennt! dachte ich.
Der Antiquar hatte auf einem der Tische eine Ecke frei
geräumt und dort die Bücher ausgelegt, die er mir
anbieten wollte. Er ließ mich allein. (Christa Wolf:
Stadt der Engel oder The Overcoat of Dr. Freud, S. 342)
Ich hab oft gesagt, daß es über unsere Zeit leider
später mal keine Briefliteratur geben wird, weil kein
Mensch mehr Briefe schreibt, aus mehreren Gründen. Auch
ich nicht, oder nur selten. Mitteilungen, Anfragen,
Proteste - das ja. Aber einen richtigen Brief? Kann man
sich denn auf irgendeinen Briefpartner verlassen?
(Christa Wolf, in: Reimann/Wolf: Sei gegrüßt und lebe.
Eine Freundschaft in Briefen. 1964-1973)
Also zu der Vorstandssitzung geh ich nicht, sp spannend
stell ich mir die neueste Realismus-Forschung auch
wieder nicht vor, neulich sagte so ein "Forscher" zu
uns, man müsse doch mal untersuchen, ob die
Langlebigkeit überhaupt noch ein Kriterium für die
Qualität sozialistischer Literatur sein könne, wo
heute doch das Leben so rasend schnell geht. (Christa
Wolf, in: Reimann/Wolf: Sei gegrüßt und lebe. Eine
Freundschaft in Briefen. 1964-1973)
Gerd ist nach Gotha und Untermaßfeld und Leipzig
unterwegs, um seine Autoren abzuklappern, ich trinke
einen Whisky mit viel Eis, empfehlenswert. Es ist
nämlich Abend, dreiviertel acht, mein Tagwerk liegt
hinter mir in Form einiger mit Stoffassoziationen
vollgekritzelter Seiten, damit helf ich mir jetzt, um
überhaupt was zu machen, da ich nicht weiß, wie ich
dieses Buch erzählen soll. Es heißt übrigens
"Kindheitsmuster", Untertitel: Nachruf auf Lebende.
Aber das bleibt bitte unbedingt unter uns, ich spreche
ungern gerade über dieses ungelegte Buch, ich nähere
mich ihm unter großen inneren hemmnissen, die sich ja
immer äußere erfinden - zum Beispiel diesen ehrlichen
Hinterkopfkantenschlag unseres Kamins neulich, dessen
Folgen vier Tage lang recht spürbar waren und mir beste
Vorwände für Herumlungern und viel Schlafen lieferten -
was ich alles in den letzten Wochen nicht mehr konnte,
weil dieses verdammte Buch mich ernsthaft bis in den
Schlaf hinein belästigte. Es ist ja neben allem anderen
auch eine Art Psychoanalyse, da schwemmt eine Menge mit
guten Grund Verdrängtes wieder hoch, wie verhält man
sich nun dazu, schreibt man es auf, nimmt man es nur
zur Kenntnis, oder verdrängt man es wieder? (Christa
Wolf, in: Reimann/Wolf: Sei gegrüßt und lebe. Eine
Freundschaft in Briefen. 1964-1973)
Mit Herbert Nachbar sprach ich ein Weilchen ernsthaft.
Er ist sehr kran, du weißt es wohl. Wenn es stimmt, daß
er multiple Sklerose hat, dann sind seine Aussichten
gräßlich, eine fortschreitende Lähmung. Er ist sehr
ernst geworden und soll ein gutes Buch geschrieben
haben. Verdammt, daß die guten Bücher immer an Leiden
gebunden sind. (Christa Wolf an Brigitte Reimann, 1972)
"Der Schriftsteller wird die Menschen nach und nach in
tiefere, unbekanntere Schichten der Wirklichkeit
ziehen." Etwas von der Vorstellung eines Tauchers oder
Bergmanns... So sieht ihn die neue Klasse, der daran
gelegen ist, frische, unverfälschte Berichte von der
Wirklichkeit zu bekommen, und die in der Lage ist, sie
zu ertragen, ja, sie in ihrem Kampf zu nutzen. Der
unerschütterliche Grundsatz, daß die "Wirklichkeit
danach verlange, reflektiert zu werden, und die Kunst
danach, zu reflektieren". Der Vernunftoptimismus der
neuen Klasse, nicht eingeengt durch trockene
Vernünftelei und vulgären Materialismus. Ein
Renaissancegefühl. Kein Zweifel am Sinn und an der
Notwendigkeit, die sich erweiternde Welt zu erfassen
mit allen Instrumenten, die die Menschheit bisher
entwickelt hat. Unter ihnen das Instrument der Kunst.
Die Unmöglichkeit für den Künstler, sich dieser Aufgabe
zu entziehen, wenn sie ihm bewußt geworden ist. Das
Risiko des Mißlingens, das zunimmt, je kompromißloser
man vorgeht, je höher man zielt. (Christa Wolf: Glauben
an Irdisches)
Leider muß ich jetzt Annette wecken. Als ich vorsichtig
die Tür zum Kinderzimmer aufmache, stellt sich heraus,
daß beide wach sind, mucksmäuschenstill in ihren Betten
sitzen und lesen. Jedenfalls nennt Tinka die
Beschäftigung mit ihren Bilderbüchern, die sie auf
ihrem Bett aufgehäuft hat, "lesen", worüber Annette
sich mit mir durch einen mitleidig-nachsichtigen Blick
verständigt. Man muß der kleinen Schwester ihre
Defizite ja nicht aufs Butterbrot schmieren. Sie selbst
ist in ein Märchenbuch vertieft. (Christa Wolf: Ein Tag
im Jahr. 1960-2000, S. 26)
Ich steh in der Tür und höre mit, ohne gleich bemerkt
zu werden. Tinka will wissen, warum manche Kinder in
Annettes Klasse immer noch beim Lesen herumstottern,
was sie uns gestern erzählt hat. Denen liege Lesen eben
nicht so, sagt Annett vage. - Füso. Was liegt denen
denn. - Denen liegt Faulsein und Schokolode essen. -
Das liegt mir auch, erklärt Tinka mit Überzeugung.
Meinst du, daß mir Lesen dann nicht so liegt? - Dir
wird Lesen schon liegen, du kannst ja schon die meisten
Buchstaben. Aber wer weiß, ob dir Rechnen liegt. - Sie
läßt Tinka bestürzt zurück. (Christa Wolf: Ein Tag im
Jahr. 1960-2000, S. 41)
... und sehe mir noch an, wie die Fortsetzung des
Dauerbestsellers "Vom Winde verweht" gemanagt wird. So,
die Dame, die diese Fortsetzung schreiben wird, ist
eine Angestellte der Erbengemeinschaft. Na, viel Glück,
sagte ich, wieder mal getröstet, daß ich nicht später
geboren bin, wenn alle Autoren Angestellte
irgendwelcher Interessengruppen sein werden. (Christa
Wolf: Ein Tag im Jahr. 1960-2000, S. 488)
Der Magister nimmt einen Anlauf, offen zu sein: Was soll es
schaden, Euer Gnaden, wenn unsereins dem schönen Traum
christlicher Brüderlichkeit anhängt? Nichts schadet es, sagte der
Bischof, solange Ihr Eure Träume für Euch behaltet. Alles, wenn
Ihr sie zu Papier bringt und das Volk das Lesen lehrt. (Christa
Wolf: Erzählungen 1960-1980)
Im Heiligtum des Lesens, wie es Proust nannte, können wir
bestimmte Gefühle erst riskieren. Wir können uns in einen
Tyrannen hineinversetzen, in einen Mörder, wir können Anna
Karenina oder Madame Bovary werden. Das Lesen ermöglicht uns
diese Identifikation, und wir entdecken Dinge, die wir nie
erfahren würden. Es ist ein Repertoire der Menschenkenntnis, ein
Königreich der Vorstellungskraft. (Maryanne Wolf)
Lesen. Das Lesen bietet einen unerschöpflichen Quell
von Unterhaltung und Bildung und ist das Mittel, die
Langeweile, die Kalamität der vornehmen Welt, zu
verscheuchen. Für das Familienleben empfiehlt es sich,
abendliche Lesestunden festzusetzen und über das
Gelesene mit Ernst zu diskutieren. Das ist ungemein
anregend, erweitert den geistigen Horizont, erstickt
die Sucht nach dem Wirtshausbesuch und den Hang zu
allerlei Allotria. Freilich kommt es sehr darauf an,
was gelesen wird. - In der Wahl der Lektüre moderner
Schriften sei man sehr vorsichtig. Schriften, die nicht
zu denken geben, halte man fern, wähle solche, die
zugleich das Wissen bereichern, den Charakter läutern
und stählen, den Geschmack veredeln, gesunde
Gesinnungen zum Ausdruck bringen und einflößen. Im Bett
zu lesen ist keine gute Gewohnheit, auf alle Fälle darf
nur eine wirklich gute, in keiner Weise aufregende
Lektüre in Betracht kommen. (Ror Wolf: Raoul
Tranchirers Ratschläge an die Bücherwelt)
... dass dieses Buch nämlich in argloser, lauterer Absicht
geschrieben wurde und es seinem Verfasser in erster Linie darum
ging, den Handlungen und Figuren in seinem Werk Glaubwürdigkeit,
Lebendigkeit und Intensität zu verleihen. Er legt vor der
Veröffentlichung nun Wert auf die Feststellung, dass es sich um ein
fiktives Werk und nicht um das Porträt lebender Personen handelt.
Doch sind wir alle die Summe sämtlicher Augenblicke unseres Lebens –
in ihnen liegt alles, was wir sind: dies können wir weder vermeiden
noch verbergen. Wenn der Autor den Lehm des Lebens genommen hat, um
daraus sein Buch zu formen, hat er damit nur das genommen, was jeder
nehmen muss und niemand beiseitelassen kann. Erfundenes ist keine
Tatsache, aber Erfundenes wählt und durchdringt Tatsachen, ordnet
sie und verleiht ihnen Sinn. Dr. Johnson3 meint, man brauche eine
halbe Bibliothek für ein einziges Buch, und ebenso mag ein Romancier
die Bevölkerung einer halben Stadt brauchen, um daraus eine einzige
Figur in seinem Roman zu schaffen. Dies ist nicht die ganze Kunst,
jedoch, wie der Autor glaubt, ein gutes Bild für die ganze Kunst in
einem Buch, das aus einiger Distanz und ohne Groll oder böse Absicht
geschrieben wurde. (Thomas Wolfe: Schau heimwärts, Engel)
Büchern bin ich zugeschworen,
Bücher bilden meine Welt,
Bin an Bücher ganz verloren,
Bin von Büchern rings umstellt.
Zärter noch als Mädchenwangen
Streichl' ich ein geliebtes Buch,
Atme bebend vor Verlangen
Echten Pergamentgeruch.
Inkunabeln, Erstausgaben,
Sonder-, Luxus, Einzeldruck:
Alles, alles möcht' ich haben
Nicht zum Lesen, bloß zum Guck!
Bücher sprechen ungelesen
Seit ich gut mit Büchern stand
Weiß ich ihr geheimstes Wesen:
Welch ein Band knüpft mancher Band!
Bücher, Bücher, Bücher, Bücher
Meines Lebens Brot und Wein!
Hüllt einst nicht in Leichetücher
Schlagt mich in van Geldern ein!
Der Dichtertrick, von dem ich denke, dass er der
wichtigste ist, ist: Kürzen, Kürzen, Kürzen. Was ich in
Gedichten gar nicht mag oder was ich denke, was
durchaus auch schlechte Gedichte hervorbringt, ist
Geschwätzigkeit. Wenn man nicht vertraut darauf,
dass Lyrik ein Medium ist, in dem jedes Wort für sich
eine Bedeutung hat und Klang, Bedeutung, Inhalt,
alles Mögliche trägt. Und mehr tragen kann als in der
Prosa, mehr über sich hinausgehen kann. Und wenn
man diesem Wort nicht traut, sondern noch ein
anderes dazu packt oder vielleicht noch ein zweites
dazu - damit man merkt: Jetzt ist es wirklich ganz
deutlich - ist es meistens schon zu viel.
Aber es sollte noch schlimmer kommen. Denn hat die
Krankheit des Lesens das System einmal gepackt,
schwächt sie es so, daß es zur leichten Beute
jener anderen Geißel wird, die im Tintenfaß haust
und im Federkiel schwärt. Der unglückselige Mensch
verfällt aufs Schreiben. Und während dies schon
schlimm genug ist bei einem armen Mann, dessen
einzige Habe ein Stuhl und ein Tisch sind, die
unter einem undichten Dach stehen - denn der hat
am Ende nicht viel zu verlieren -, ist das Elend
eines reichen Mannes, der Häuser und Vieh hat,
Mägde, Esel und Linnen und gleichwohl Bücher
schreibt, über die Maßen beklagenswert. Der
Geschmack an alldem verläßt ihn; er wird von
glühenden Eisen durchbohrt; von Ungeziefer
angenagt. Er würde jeden Penny, den er besitzt,
dafür hergeben (dergestalt ist die Bösartigkeit
des Keims), ein kleines Büchlein zu schreiben und
berühmt zu werden; und doch ist alles Gold von
Peru nicht in der Lage, ihm den Schatz einer
geschliffenen Zeile zu erkaufen. So fällt er
Schwindsucht und Krankheit, anheim, jagt sich eine
Kugel durch den Kopf, dreht das Gesicht zur Wand.
Es ist gleich, in welcher Haltung man ihn findet.
Er hat die Pforten der Todes durchschritten und
die Flammen der Hölle gekannt. (Virginia Woolf:
Orlando)
"Ich möchte einen Roman über das Schweigen
schreiben", sagte er; "die Dinge, die die Menschen
nicht aussprechen. Das ist jedoch ungeheuer
schwierig." Er seufzte. "Das kümmert Sie jedoch
nicht", fuhr er fort. Er blickte sie nahezu streng an.
"Niemanden kümmert das. Einen Roman liest man
ausschließlich, um herauszufinden, was für ein
Mensch der Verfasser ist und, falls man ihn kennt,
welche Freunde er darin vorkommen läßt. Was den
Roman als solchen angeht, die ganze Konzeption, die
ganze Betrachtungsweise, von welcher Einstellung
man geleitet war, in welche Beziehung zu anderen
Dingen man ihn gestellt hat - das kümmert nicht
einmal einen unter eine Million Menschen. Und doch
frage ich mich manchmal, ob es auf der ganzen Welt
noch etwas gibt, das sich so sehr zu tun lohnt. Diese
anderen Menschen", er wies in Richtung Hotel, "die
wollen ständig irgendetwas, das sie nicht haben
können. Im Schreiben, ja selbst noch in dem Versuch
zu schreiben, liegt jedoch eine unglaubliche
Befriedigung. Was Sie gerade eben gesagt haben,
stimmt: Man möchte gar nicht irgendetwas sein, man
möchte es nur sehen dürfen." (Virginia Woolf: Die
Fahrt hinaus, S. 254)
Ihrer Meinung nach hätten Leute mit einer
ausgeprägten Liebhaberei selten Sinn für eine
weitere, obwohl ihr Vater da eine Ausnahme sei. Aber
der sei ja sowieso in jeder Hinsicht eine Ausnahme -
so etwas von einem Gärtner, und er wisse außerdem
alles über Vögel und Blumen, und natürlich beteten
alle alten Frauen im Dorf ihn einfach an, und
gleichzeitig sei ihm ein Buch doch eigentlich das
Allerliebste. Man wisse immer, wo man ihn zu suchen
hatte, wenn er verlangt wurde; er sitze über einem
Buch in seinem Arbeitszimmer. Höchstwahrscheinlich
wäre das dann ein uraltes Buch, irgendein muffiges
altes Ding, das zu lesen einem im Traum nicht
einfallen würde. Sie sage ihm immer wieder, aus ihm
wäre ein erstklassiger alter Bücherwurm geworden,
wenn er nicht eine sechsköpfige Familie hätte
ernähren müssen, und sechs Kinder, setzte sie hinzu
und ihr reizendes Lächeln verriet, daß sie sicher war,
auf allgemeines Verständnis zu stoßen, die ließen
einem nicht die Zeit, zum Bücherwurm zu werden.
(Virginia Woolf: Die Fahrt hinaus, S. 382)
"Das sind Bücher", seufzte Helen und hob einen
Armvoll trister Bände vom Boden hoch zum Regal.
"Griechisch von morgens bis abends. Falls Miss Rachel
jemals heiratet, Chailey, dann beten Sie, daß sie
einen Mann nimmt, der nicht lesen und schreiben
kann." (Virginia Woolf: Die Fahrt hinaus, S. 32)
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