Bibliomanische FAB  / [U,V,X,Y,Z]


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Ulitzkaja, Ljudmila: Ein Lesetalent

  Gerade zwanzig Jahre alt, von sieben bis siebenundzwanzig, las Sonetschka fast ununterbrochen. Sie sank in die Lektüre wie in einen Ohnmacht, die mit der letzten Buchseite endete. Sie hatte ein außergewöhnliches Lesetalent, vielleicht sogar eine Art Genialität. Ihre Empfänglichkeit für Gedrucktes ging so weit, daß die erfundenen Gestalten neben lebenden, ihr nahestehenden Menschen existierten. (...) Das Lesen, das zu einer leichten Geistesgestörtheit wurde, begleitete Sonetschka auch im Schlaf: Sogar ihre Träume las sie gewissermaßen. Sie träumte spannende historische Romane; und am Charakter einer Handlung erkannte sie die Schrift des Buches, spürte auf unerfindliche Weise Absätze und Interpunktion. Die innere Verschiebung, die mit ihrer krankhaften Leidenschaft zusammenhing, vertiefte sich im Traum sogar, und sie agierte dort als gleichberechtigte Heldin oder Held und existierte auf der schmalen Grenze zwischen dem spürbaren Willen des Autors, den sie von vornherein kannte, und ihrem eigenen Drang nach Bewegung, Handlung und Taten. (Ljudmila Ulitzkaja: Sonetschka und andere Erzählungen, S. 40f.)


Ulitzkaja, Ljudmila: Ein seltener Glückspilz

  Sie absolvierte die Bibliotheksfachschule, begann im Magazin einer alten Bibliothek zu arbeiten und gehörte zu den seltenen Glückspilzen, die am Ende des Arbeitstages ihren staubigen, stickigen Keller mit leisem Schmerz ob der Unterbrechung eines Vergnügens verlassen, denn sie konnte sich nicht satt sehen an den aufgereihten Katalogkarten und den weißen Bestandszetteln, die von oben aus dem Lesesaal zu ihr herunterkamen, und nicht genug bekommen von der lebendigen Last der Bücher, die sich in ihre dünnen Arme senkten. (Ljudmila Ulitzkaja: Sonetschka und andere Erzählungen, S. 42)


Ulitzkaja, Ljudmila: Literarische Narkose

  Traurig dachte sie über das an allen Ecken und Enden auseinanderkrachende Leben und die plötzlich über sie hereingebrochene Einsamkeit nach; dann legte sie sich im Durchgangszimmer aufs Sofa, zog aus einem Bücherpacken zufällig einen Band Schiller und las bis zum Morgen - wer könnte bei dieser Lektüre einschlafen -, las Wallenstein, lieferte sich freiwillig der literarischen Narkose aus, in der sie ihre Jugend verbracht hatte. (Ljudmila Ulitzkaja: Sonetschka und andere Erzählungen, S. 118)


Updike, John: Bücher, süße Reben

 Bücher, die, schwer wie süße, ungeerntete Reben, darauf warten, gelesen, mit einem plötzlichen Griff heruntergeholt zu werden, dass der Staub der Jahre von ihnen abfällt und endlich ihr Augenblick des Triumphes gekommen ist, da ich sie nehme und mich in sie versenke. Solche Bücher sind das Unterpfand einer unendlichen Zukunft, so wie ihre Brüder, die schon gelesenen, aber größtenteils vergessenen, die unerschöpfliche Quelle für eine potenzielle neue Lektüre, für neue Blickwinkel und Einsichten auf ein Gelände, auf dem wir keine bleibende Spur hinterlassen haben. Bücher stülpen unser Gehirn nach außen und machen aus unseren Wohnungen denkende Wesen.


Updike, John: Nur noch 5 Seiten

  Sie saß, ein Buch lesend, im Lampenschein und blinzelte. Ihre Augen, die bislang auf die helle Buchseite geheftet waren, konnten ihn nicht sehen. "Ich bin wach." "Das bist du nicht. Du läßt dich durchs Leben treiben, als wärst du betäubt. Merkst du nicht, was mit uns passiert?" "Ich merke, daß du dich mit jedem Tag abscheulicher benimmst." Angesengte Motten taumelten gegen den Lampenschirm über ihrer Schulter und blieben dort hängen. "Ich bin außer mir", sagte er. "Weswegen?" "Wegen allem. Wegen diesem verkniffenen, geizigen, halsabschneiderischen Gallagher. Wegen der miesen Ranchhäuser auf dem Indian Hill. Wegen Jazinski: er denkt, ich bin ein Trunkenbold. Wegen der Arbeit bei den Whitmans. Ich gebe mein letztes Hemd für den Kerl, aber von Dank keine Spur." "Ich dachte, du hast Spaß an diesem täglichen Ausflug zu der kleinen Prinzessin." Er lachte dankbar. "Dafür hälst du sie?" "Ich halte sie für jung. Und ich halte sie für arrogant. Aber das gibt sich schon noch, irgendwann wird sie reifer werden. Das Kind wird ihr sicherlich guttun. Ich finde nicht, daß sie deine väterlichen Aufmerksamenkeiten unbedingt nötig hat." "Wieso glaubst du, daß meine Aufmerksamkeiten väterlich sind?" "Wie immer sie sein mögen. Kann ich jetzt mein Buch weiterlesen? Ich finde weder Foxy noch diese Unterhaltung besonders interessant." "Mein Gott, bist du blasiert. Du bist so phantastisch erhaben über alles, daß es zum Himmel stinkt." "Hör zu, ich verspreche dir, daß ich nachher mit dir schlafe, laß mich jetzt bitte nur das Kapitel zu Ende lesen." "Von mir aus lies das ganze Scheißbuch zu Ende. Stopf es in dich 'rein, reg dich nur immer schön literarisch auf." Sie hörte das Bitten in seiner Heftigkeit und versuchte, den Kopf zu heben, aber ihr Blick hing an den Buchstabenhaken fest. Abwesend sagte sie: "Kannst du denn nicht zehn Minuten Ruhe geben? Ich habe nur noch fünf Seiten." (John Updike: Ehepaar, S. 214f.)


Updike, John: Wie ein Buch

  Mamie fuhr fort: "Ich habe noch mal bei Shirley MacLaine nachgelesen, die Passage, wo sie sagt, daß das Leben wie ein Buch ist und daß man herausfinden muß, bei welchem Kapitel man ist. (John Updike: Die Tränen meines Vaters, S. 54)


Updike, John: Bücher wiederlesen

  Jetzt, da er seine Bostoner Firma verlassen hatte und in den Ruhestand gegangen war, hatte er angefangen, die Klassiker seiner College-Jahre wieder zu lesen - Dickens, Dostoevskij -, und fand seinen grünschnäbeligen Eindruck von damals, daß sie geschwätzig und langweilig seien, überraschend oft bestätigt, nur daß er jetzt nicht unter dem akademischen Zwang stand, ein Buch zu Ende zu lesen. (John Updike: Die Tränen meines Vaters, S. 310)


Valery, Paul: Ein schönes Buch

  Ein schönes Buch ist vor allem ein vollkommenes Lesewerkzeug, das durch die Gesetze der menschlichen Optik bestimmt wird. Es ist aber zugleich ein Kunstwerk, eine Sache persönlichen Charakters. Sie trägt alle Merkmale eines persönlichen Gedankens, der in seiner Freiheut zur Geltung kommt. Und das, obwohl ein typographisches Werk jede Improvisation ausschließt. Des Schriftstellers Geist erkennt sich in dem Spiegel des gedruckten Werkes. Wenn die Schrift gut leserlich ist, der Satz dem Augen wohl tut, dann erlebt der Autor sein Werk auf eine ganz neue Weise. Er fühlt sich geehrt - und vielleicht überschätzt. Denn hervorragend gedruckt zu werden, ist ein ebenso köstliches wie freilich auch beunruhigendes Werturteil. (Paul Valery, 1934)


Valery, Paul: Geistige Wracks

  Ich weiß wahrhaftig nicht, meine Herren, wie eine Seele bei dem bloßen Gedanken an die unendlichen Stapel von Schriftwerken, die sich in der Welt ansammeln, den Mut bewahren kann. Was gibt es für den Geist Schwindelerregenderes, Verwirrenderes, als die golden geharnischten Wände einer Bibliothek zu betrachten; und was ist Niederdrückenderes zu sehen als die Bücherbänke, jene Brüstungen aus Geisteswerken, die auf den Uferstraßen sich bilden; jene Millionen von Bänden und Broschüren, gestrandet an den Ufern der Seine, wie geistige Wracks, ausgesondert vom Zeitenfluß, der sich ihrer entledigt und sich von ihren Gedanken reinigt?"


Vallgren, Carl-Johan: Lektürewirkungen

  Abgesehen von seinem Interesse für die zeitgenössischen Wissenschaften huldigte der Zirkusdirektor einem von den romantischen Dichtern inspirierten Liebeskult. Die Liebe, sagte er oft, sei nicht nur der Sinn des Lebens, sondern habe mit ihren Kräften das Sein so durchsetzt, daß sie die Voraussetzung dafür sei, daß die Sonne aufging, und die Sterne ihre Plätze am Himmelsgewölbe behielten. Und der Beweis dafür, behauptete er, sei den Werken der göttlich erleuchteten Poeten zu entnehmen. Viele Jahre später sollte sich Hercule Barfuss an ihn als einen Retter in der Not erinnern, denn die Medizin war wirklich die richtige; die Gedichtbände, die er sich von Wilson lieh, hatten ihm die Tore zu einer Welt geöffnet, in der sich die Liebe ungetrübt genießen ließ. Er staunte über die Fähigkeit der Dichter, aus dem Granit der Sprache die schönsten Worte zu meißeln, und über ihre Art, den leeren Raum zwischen den Zeilen mit Sinn zu füllen. Er verschlang ihre Gedichte als ganze, ohne an die Verdauung zu denken, saugte ihren Inhalt aus, käute sie fanatisch wieder, verschlang sie erneut und verarbeitete sie in den sieben Mägen seiner Sehnsucht. Er lernte Heine auswendig, ließ sich vom Fieber Byrons und Keats' anstecken und las Romane Jean Pauls mit einem Gefühl, als öffne er einen Spalt weit den Vorhang zum Paradies. Auf Wilsons Rat hin widmete er einen Monat dem freiheitsdurstigen Kleist und erlebte danach eine aufreibende Liebesnacht mit Novalis. Er litt mit Schiller, erschauerte mit Hoffmann und staunte darüber, wie Musset den Schmerz so in Worte faßte, daß er sich in sein Gegenteil verkehrte und jenseits des Verstandes zu genießen war. Die Verse Goethes versetzten ihn in eine Erregung, die sich mit Worten nicht erklären ließ, nur mit dem leeren Raum dazwischen, wo die Liebe, verkleidet in unbedrucktes Papier, im Hinterhalt lag. Er weinte Ströme von Tränen mit Hölderlin, seufzte mit den Brüdern Schlegel und jubelte ekstatisch mit Puschkin. Mit Lamartine schloß er einen Bund fürs Leben, und Leopardi verschaffte ihm ein solches Übermaß an Gefühlen, daß er zwei Wochen mit Migräne zu Bett lag. (Carl-Johan Vallgren: Geschichte einer ungeheuerlichen Liebe, S. 183)


Vanderbeke, Birgit: Büchervisite

  Ich warf einen Blick auf den Schreibtisch, auf dem die Post zuoberst lag, und untendrunter lagen auch noch allerhand Papiere, an die ich jetzt nicht denken mochte, weil sie schon bei Tageslicht einfach bloß lästig waren, und ein angelesenes Buch über Ingrid Bergmann, von dem ich mich nicht mehr erinnerte, wie es dahin gekommen war. Wenn ich mich umschaute und die Regale entlangsah, standen und lagen überall Bücher herum, von denen ich mich nicht mehr erinnerte, wie sie dahin gekommen waren. Die meisten waren nicht einmal angelesen wie das über Ingrid Bergmann, das ich dann aber nicht ausgelesen hatte, weil die Frau, die es geschrieben hatte, immer Ingrid statt Ingrid Bergmann sagte, und wo sie sie schon einmal duzte, erklärte sie ihr rückwirkend und postum, was sie alles in ihrem Leben und mit der Karriere falsch gemacht hatte und was sie, die Frau, die das Buch geschrieben hatte, niemals falsch machen würde, weil sie wußte, wie alles ging. Vor allem wußte sie, was seit zwanzig Jahren alle Frauen wissen, daß man sich nämlich als Frau nicht wie eine goldene Kuh dürfe melken lassen und das noch mit Liebe verwechseln. Der Satz mit der Kuh und dem Melkenlassen stand auf der Seite, die aufgeschlagen war, das Wort Kuh hatte ich mit Bleistift dick umkringelt, und dem Bleistiftkringel sah ich an, daß mich bei der Kuh die Wut gepackt und die Leselust endgültig verlassen hatte. Ich räumte das Buch weg und überlegte, was ich mit all den anderen Büchern machen sollte, die hier seit einiger Zeit herumstanden und -lagen und in denen es wahrscheinlich von Kühen und anderen Schweinereien nur so wimmelte. (Birgit Vanderbeke: abgehängt, S. 23f.)


van der Heijden, A.Th.F.: "Sein" Büchlein

  Dr. Böhmer-Boudoir hatte nicht weniger als drei Bücher veröffentlicht. Die beiden ersten, Monographien über Camus beziehungsweise Lacan, waren dem Autor zufolge "vergriffen", was ein Euphemismus ist für 'verramscht'. Das Verramschen, eine Art Einmalaktion, war sogar noch in vollem Gange. Mit dem Buch über Camus verfolgte er seine Studenten bis in die Hörsaalbänke, wo er es für zwei Gulden fünfzig anbot. Einen Vorrat davon hatte er auch im Institut deponiert. Niemand kam ungeschoren davon: Zum Schluß hatten alle Philosophiestudenten das fahlgraue Büchlein (äußerlich und inhaltlich grau) in ihren Apfelsinenkisten stehen. Sein letztes Buch - 'Entwurzelung und Kasteiung. Ein Beitrag zu einer zeitgemäßen Anthropologie' - strotzte nur so vor Namen von Philosophen und philosophischen Strömungen, daß Böhmer-Boudoir selbst, außer natürlich auf dem Umschlag, nirgends mehr zu finden war. Wie so oft sprach er auch jetzt, in der himmlischen Frühlingssonne, wieder über seine "Büchlein". (Das Verkleinerungswort war ein Zugeständnis an seine Bescheidenheit.) (A.F.Th. van der Heijden: Das Gefahrendreieck)


van der Heijden, A.Th.F.: Buch als Sparringspartner

  Warum sollte er sich nicht als jemanden betrachten, der sich in einen entlegenen Winkel der Kultur verirrt hatte, in dem zu viele Bücher ungeordnet herumlagen und einen hoffärtig zum Lesen zwingen wollten? Waren die alten Griechen zwangsläufig weniger "belesen" als die Palinxe, weil es in der hellenistischen Kultur weniger Bücher gegeben hatte als jetzt im neunten Stockwerk des Roeter-Gebäude? Die Lektüre durfte durchaus etwas Willkürliches haben, da in keinem Werk die absolute Wahrheit zu finden war. Lesen diente in erster Linie dazu, den Verstand zu schärfen und zu trainieren, und dabei fungierte das Buch als würdiger oder nicht würdiger Gegner, als Sparringspartner. Nur der überhebliche Bildungsprotz meinte, kein einziges "großes" Werk dürfe ungelesen bleiben. Dünkel des Snobs: mit jedem Buch bedeutender zu werden... Nein, es war besser, in einer zu sehr belebten Metropole wolkenkratzender Bücherschränke umherzuirren. Ein antikes steinernes Stadtzentrum, vollgemeißelt mit Zeichen, und darum herum die Außenbezirke aus Tontafeln, Papyrusrollen... ganze Heerlager aus Pergament... ein Abbruchviertel säuregeschädigten Papiers... Zuviel von allem. Brachliegender Papierbrei. Irrgärten von Oeuvres... Ein archtiketonischer Flickenteppich. Warum sollte man nach der ersten Verblüffung nicht die angemessene Gleichgültigkeit gegenüber so vielen Paperback-Elendsvierteln zeigen? (A.F.Th.van der Heijden: Der Gerichtshof der Barmherzigkeit)


Vargas Llosa, Mario: Verlegerdasein

  Muchnik war ein interessanter Fall. Er war in Argentinien geboren, hatte Naturwissenschafteb studiert und eine akademische Laufbahn als Forscher begonnen, die er plötzlich aufgab, um sich der verlegerischen Arbeit zu widmen, seiner geheimen Leidenschaft. Er war Verleger aus Berufung, er liebte die Bücher und verlegte nur gute Literatur, was ihm, wie er sagte, sämtliche ökonomische Mißerfolge der Welt, aber auch die größten persönlichen Befriedigungen garantiere. (Mario Vargas Llosa: Das böse Mädchen)


Vercors: Oder wer sonst?

  "Bei den Engländern", fuhr er fort, "da denkt man gleich: Shakespeare. Bei den Italienern: Dante. In Spanien: Cervantes. Und bei uns sofort: Goethe. Dann muß man überlegen. Doch wenn man sagt: Und Frankreich? Wer fällt einem da zuerst ein? Moliere? Racine? Hugo? Voltaire? Rabelais? Oder wer sonst? Sie drängen sich wie eine Menschentraube vor dem Eingang eines Theaters, und man weiß nicht, wen man zuerst einlassen soll." (Vercors: Das Schweigen des Meeres, S. 26)


Verona, Guario da: Lob der Bücher

  Willst du ausgezeichnete Ratgeber, die besten, was Treue, Wohlwollen und Klugheit anbetrifft? So such die Bücher, lies sie, gewöhne dich daran, sie immer bei dir zu tragen, auf dem Land und auf Reisen, wie es andere mit Hunden, Sperbern und Würfeln tun... Die Büchern sind völlig integer, sie können nicht schmeicheln, sind die Eltern der Wahrheit, die treuen Hüter der Zeit, die Lehrer des Lebens, die Führer in der Rede; sie verschaffen uns den Gebrauch, die Erfahrung und das Beispiel aller Dinge. Was kann dir besser als die Kraft und die Macht des geschriebenen Wortes die Unsterblichkeit geben und dich den Jahren der Zeit entreißen? (Guario da Verona; in: Gerd-Klaus Kaltenbrunner [Hrsg.]: Der Mensch und das Buch. Autoren - Leser - Büchermacher, S. 17)


Verfluchung des Bücherdiebes

  Wer Bücher stiehlt oder ausgeliehene Bücher zurückbehält, in dessen Hand soll sich das Buch in eine reissende Schlange verwandeln. Der Schlagfluss soll ihn treffen und all seine Glieder lähmen. Laut schreiend soll er um Gnade winseln, und seine Qualen sollen nicht gelindert werden, bis er in Verwesung übergeht. Bücherwürmer sollen in seinen Eingeweiden nagen wie der Totenwurm, der niemals stirbt. Und wenn er die letzte Strafe antritt, soll ihn das Höllenfeuer verzehren auf immer. (Inschrift in der Bibliothek des Klosters San Pedro in Barcelona)


Verfluchung von Bücherschändern

  Wer diese Tafel bricht oder sie ins Wasser legt
oder auf ihr herumschabt, bis man sie nicht mehr
entziffern kann, den mögen die Götter des Himmels
und der Erde mit einem Fluch strafen, der nicht
mehr getilgt werden kann, schrecklich und
gnadenlos, solange er lebt, und seine Nachkommen
sollen vom Land hinweggefegt, und sein Fleisch
soll den Hunden zum Fraß vorgeworfen werden! [Bibliotheksinschrift, Assur um 1100 v. Chr.]


Vesper, Bernward: Was ist ein Buch?

  Dies ist 1 Titel aus den 37 000 Titeln der Jahrestitelproduktion der Bundesrepublik und Westberlins; auf den Markt geworfen von einem der 2 494 Verlage, in der Hoffnung, mit dieser Ware, die auf den Regalen von 6 920 Buchhandlungen in 888 Orten feilgeboten wird, einen Anteil am 3-Milliarden-Umsatz zu ergattern, einen, wenn’s beliebt, großen Profit. Hier hört die Schöngeisterei auf, hier beginnt das große kapitalistische Catch as catch can aller gegen alle, hier zählt, wie bei Waschmitteln und Heringskonserven, nichts als die Zahl. Jetzt hast du bezahlt, jetzt haben sich die Investitionen bezahlt gemacht, in jeder Kasse klingelt ein Teil deines Gehalts, deines Lohnes, gleichgültig, ob der Gehalt sich lohnt, du hast deine Konsumentenpflicht getan, deinen Beitrag zur Kapitalverwertung, zur Akkumulation, zur Niederringung der Konkurrenz geleistet (der Prozeß der Kapitalkonzentration ist auch hier weit fortgeschritten, zurück bleiben ein paar ideologische Fetzen, die kaum verschleiern, daß die Druckfreiheit einer 60-Millionen- Gesellschaft auf die Freiheit von 276 Unternehmern zusammengeschmolzen ist, die über 75 % aller Titel beherrschen, während sie ihrerseits wieder von den Banken beherrscht werden, daß von den 7 000 Buchhandlungen 6 000 kaum der Rede wert sind, weil 1 000 80 % aller Umsätze an sich gezogen haben, daß aus der stattlichen Zahl von 564 Grossisten nur 17 zählen, der Rest sich in 20 % des Umsatzes der Branche teilt). (Bernward Vesper: Die Reise, 1977)


Vilas-Matas, Enrique: Wegweiser zur Gemütlichkeit

  Während es schon dunkel wurde, lenkte er seine Schritte zu dem nahen Cafe Asha, in dessen Vorraum (...) sich ein hell erleuchteter Verkaufsstand mit einem alten Firmenschild befand, auf dem zu lesen war: Tabak und Zeitungen. Die Kombination rief bei ihm stets ein ungeheures Glücksgefühl hervor, weil Lesen und Rauchen seine Lieblingsbeschäftigungen waren und weil diese Inschrift in der städtischen Wüste einem Wegweiser zur Gemütlichkeit gleichkam, denn sie sagte ihm, daß er nur noch ein paar Schritte von seiner Frau, seiner Pfeife, seinen Büchern und seinem Zuhause entfernt war. (Enrique Vila-Matas: Vorbildliche Selbstmorde, S. 79)


Villegas, Quevedo y: An Seinen Verleger

  Geborgen friedlich hier an ödem Ort,
Von guten wenigen Büchern nur umgeben,
In Zwiesprach mit den Toten still zu leben,
Lausche ich lesend auf erstorbnes Wort.

  Oft unverstanden, liegt doch fort und fort
Das Buch bereit, mir Trost und Rat zu geben,
Mit schweigender Musik mich zu umweben,
Und weist dem Traume hier sein waches Dort.

  Die großen Seelen. die der Tod verbannt
Und die verblaßt sind in der Jahre Dunst,
Erstehn befreit, mein Freund, durch Buchdrucks
Kunst.

  Die Stunden fliehn und eilen unverwandt-
die besten nur, dem Studium zugewandt
Zu unsrer Läutrung, spenden volle Gunst.


Vizinczey, Stephen: Für den Autor selbst

  Vermutlich neigte ich aufgrund meiner zehnjährigen Lehrtätigkeit zu der Annahme, ich hätte etwas zu sagen: Welche Erklärung könnte es sonst dafür geben, daß ich in diesen Erinnerungen schwelge mit der Absicht, junge Menschen damit zu erbauen. Trotzdem bin ich froh, daß ich sie geschrieben habe. Dem Leser haben sie vielleicht wenig zu bieten, aber für den Autor hat sich die Mühe gelohnt. Es fällt mir immer schwerer, mich selbst ernst zu nehmen. (Stephen Vizinczey: Wie ich lernte, die Frauen zu lieben)


Vogt, Walter: Übersetzung

  Die Übersetzung hatte mich unerwartete stark hergenommen. Das Wort Jahwes wurde im Berndeutschen sehr ungeschminkt, bedrohlich, brutal. Beinahe sehnte ich mich nach der umschreibenden Betulichkeit hochdeutscher Bibeltexte zurück, wo Unverbindlichkeit sich mit stellenweiser Unverständlichkeit paart. (Walter Vogt: Altern, S. 65)


Vogt, Walter: Übersetzung (2)

  C. hat die erste Fassung seines zweiten Romans beendet. 800 Seiten Typoskript. Nun kann er in den Steinbruch, pickeln. (Walter Vogt: Altern, S. 199)


Vollmann, Rolf: Gerechtfertigte Lektüre

  Übrigens ist es ja auch im Grunde keine ganz umweglose Idee, sich das gute Gewissen einer gerechtfertigten Lektüre immer dadurch zu verschaffen, dass man bei denen, die man liest, ehe man weiterliest, wenigstens einige Symptome jener tiefen Verstörtheit finden zu müssen glaubt, deren Fehlen man seit hundert Jahren für eine Unempfindlichkeit gegen die Leiden hält, von denen wir seither alle befallen sein sollen. Wir sind so Befallene, das ist nicht die Frage; die Frage ist bloss, welches intellektuelle Gewissen von uns deswegen gefordert wird. Und hier sind Autoren wie etwa auch Hamsun oder Grazia Deledda oder etwas später Jean Giono ziemliche Herausforderungen an einen Intellekt, der sich mit der grösseren Vorliebe grossstädtisch definiert.


Vollmann, Rolf: Verfilmungen versus Lesen

  Romane sind aber immer doch noch einmal etwas ganz andres als die Filme nach ihnen, schon, weil sie so wunderbar viel länger sind als jeder Film: und es ist ja immer auch die halbe Ewigkeit des Lesens, die uns so ganz in die Welten bringt, aus denen wir selbst nicht sind. (Rolf Vollmann: Der Roman- Navigator, S. 108)


Vollmann, Rolf: Skepsis angebracht

  Natürlich lügen die Romanschreiber, und zwar alle (Jean Paul brach den Versuch einer Autobiographie ab: er habe zu viele Romane geschrieben, er könne nichts Wahres mehr schreiben. Nabokov meint, selbst dort, wo sie, sozusagen ehe sie mit dem Lügen beginnen, bloß das Rundherum beschreiben, dürfe man ihnen nicht trauen). Schade um alle, die glauben, wenigstens das pure Leben von damals, die Lebensumstände einer vergangenen Zeit, ließen sich, unter dem Lack der lügnerischen Unterhaltung, den Romanen entnehmen. (Rolf Vollmann: Der Roman- Navigator, S. 362)


Vollmann, Rolf: Irgendwann und doch nie

  Jeder Leser hat eine Menge Bücher, die er bestimmt noch lesen wird, sagt er sich, und eines ist immer darunter, das jedesmal, wenn er's in die Hand nimmt, den Fluch mit sich bringt, daß er's nach wenigen Seiten wieder weglegt; er geniert sich, er schämt sich, er sollte dieses Buch lesen, das Buch ist berühmt, anrührende schöne Sätze hat es, das weiß er schon - und doch legt es sich ihm wie ein böser Alp auf die Augen, sobald dieses Buch in sie einfällt, oder sie auf dieses Buch; seufzend legt er's wieder weg, irgendwann einmal wird er es lesen, sagt er sich, aber heimlich weiß er dann irgendwann einmal: er wird es nicht mehr lesen, und sollte es ihn den Himmel kosten. (Rolf Vollmann: Der Roman- Navigator, S. 350)


Vollmann, Rolf: Löcher und Risse

  ["Max Havelaar" von Multatuli] Das ist eines dieser Bücher, die in unserm Kopf alles in Unordnung bringen, was wir uns so zu unsrer Bequemlichkeit zurechtgebaut haben, alles kriegt gewissermaßen Löcher und Risse und wird durchsichtig - ja, für was nun: für die Wahrheit? für eine Schönheit, die beunruhigender ist, als wir dachten? Schwer zu sagen, was Kunst eigentlich tut, was Lesen wirkt. (Rolf Vollmann: Der Roman-Navigator, S. 208)


Vollmann, Rolf: Neue Perspektiven

  "Jedes spezielle Genre (wie über ein Jahrhundert später dann der Kriminalroman) hat, anders als das Hauptgenre (der Roman also) in seiner Unfestgelegtheit, so etwas wie eine fortschreitende Geschichte, da die Leser innerhalb eines relativ engen Rahmens immer wieder etwas Neues brauchen, etwas so noch nicht Dagewesenes (denken Sie an die Fortentwicklung des Detektivs, oder an die damit zusammenhängende Entwicklung des Detektives, oder an die damit zusammenhängende Entwicklung der Erzählerperspektive." (Rolf Vollmann: Der Roman- Navigator) - Ich dachte dabei an "Glennkill" von Leonie Swann oder den Film "Memento", wo solche neuen Perspektiven verblüffend realisiert sind.


Vollmann, Rolf: Schwere Kost

  Manche der damals gelesensten, berühmtesten, einflußreichsten, und objektiv tatsächlich auch großartigsten Romane dieser fernen Zeit machen es einem heute dennoch sehr sehr schwer. Es ist da kaum ein Durchkommen durch sie, und erst nach strapaziösen Ewigkeiten entfalten sie einen Reiz (einen Sog eher), von dem man aber nicht mehr herauskriegt, ob damit nicht der eigne Kopf sich einfach schützt. (Rolf Vollmann: Der Roman- Navigator, S. 406)


Yutang, Lin: An die Hand genommen

  Der Mensch, der des Lesens ungewohnt ist, sieht sich gleichsam räumlich und zeitlich im Augenblick eingekerkert. Sein Leben fällt einer festen Tagesroutine anheim; ihm bleibt nur der Umgang, die Unterhaltung mit wenigen Freunden und Bekannten, und er sieht lediglich, was in seiner nächsten Nachbarschaft vor sich geht. Sowie er dagegen ein Buch nimmt, betritt er eine andere Welt, und wenn es ein gutes Buch ist, sieht er sich gleich in der Gesellschaft eines großartigen Unterhalters. Dieser Unterhalter nimmt ihn bei der Hand, führt ihn in fremde Länder, in vergangene Zeiten, erleichtert ihm manches, was ihm schwer zu tragen schien und er spricht mit ihm über allerhand Auffassungen und Ansichten vom Leben, von denen er bisher nichts gewusst hat. Ein altes Buch bringt ihn in Berührung mit dem Geist von einstmals, und unterm Weiterlesen beginnt seine Phantasie zu schweifen, und er überlegt sich, wie der alte Schriftsteller wohl ausgesehen hat und was er für eine Art Mensch er war. (Lin Yutang: Weisheit des lächelnden Lebens)


Zafon, Carlos Ruiz: Vorlieben

  Der gespreizte, wichtigtuerische Klappentext verkündete, es handle sich um das erste Werk eines blendenden Geistes, eines proteischen, bahnbrechenden Talents, einer Zukunftsverheißung für die europäische Literatur ohnegleichen in der Welt der Lebenden. Doch die folgende Inhaltszusammenfassung ließ durchblicken, daß die Geschichte ziemlich reißerische Elemente enthielt, was in Monsieur Roqueforts Augen immer ein Pluspunkt war, denn am meisten gefielen ihm gleich nach den Klassikern leicht anrüchige Sensationsromane. (Carlos Ruiz Zafon: Der Schatten des Windes, S. 30)


Zafon, Carlos Ruiz: Das erste Buch

  Einmal hörte ich einen Stammkunden in der Buchhandlung meines Vaters sagen, wenige Dinge prägten einen Leser so sehr wie das erste Buch, das sich wirklich einen Weg zu seinem Herzen bahne. Diese ersten Seiten, das Echo dieser Worte, die wir zurückgelassen glauben, begleiten uns ein Leben lang und meißeln in unserer Erinnerung einen Palast, zu dem wir früher oder später zurückkehren werden, egal, wie viele Bücher wir lesen, wie viele Welten wir entdecken, wieviel wir lernen oder vergessen. (Carlos Ruiz Zafon: Der Schatten des Windes, S. 13)


Zafon, Carlos Ruiz: Räume auszukundschaften

  "Noch nie hatte ich mich von einer Geschichte so gefangengenommen, betört und hineingezogen gefühlt wie von der, die dieses Buch erzählte", erklärte Clara. "Bis dahin war Lesen für mich eine Pflicht gewesen, eine Art Buße, die es Lehrern und Erziehern zu bezahlen galt, ohne daß ich genau wußte, warum. Ich kannte die Freude am Lesen nicht, die Freude daran, Räume auszukundschaften, die sich einem in der Seele auftun, sich der Fantasie zu überlassen, der Schönheit und dem Geheimnis von Dichtung und Sprache. All das entstand für mich bei diesem Roman. Hast du schon einmal ein Mädchen geküßt, Daniel?" Ich hatte einen Kloß im Hals, und der Speichel wurde mir zu Sägemehl. "Naja, du bist ja auch noch sehr jung. Aber es ist genau dieses Gefühl, dieser Funke des ersten Mals, den man nicht vergißt. Wir leben in einer Schattenwelt, Daniel, und Magie ist ein rares Gut. Dieser Roman hat mich gelehrt, daß ich durch Lesen mehr und intensiver leben, daß Lesen mir das verlorene Sehen wiedergeben konnte. Allein deshalb hat dieses Buch, das keinem etwas bedeutete, mein Leben verändert." (Carlos Ruiz Zafon: Der Schatten des Windes, S. 34/35)


Zafon, Carlos Ruiz: Traue niemandem!

  Der Buchhändler reichte mir den Band und zwinkerte mir zu. "Schau ihn dir genau an, Spitzbube, ich will nicht, daß du mir nachher kommst und sagst, ich hätte dich übers Ohr gehauen, ja?" "Ich vertraue Ihnen." "Schön dumm. Dem letzten, der mir das sagte (ein Yankee-Tourist, der überzeugt davon war, der Spanische Bürgerkrieg sei ein Western mit Gary Cooper), habe ich ein von Lope de Vega mit Kugelschreiber signiertes Exemplar von 'Fuente Ovejuna' angedreht, stell dir vor - sei also vorsichtig, im Buchmetier darfst du nicht mal dem Inhaltsverzeichnis trauen." (Carlos Ruiz Zafon: Der Schatten des Windes, S. 38)


Zeh, Juli: Eine Form der Selbstverteidigung

  Für Kathrin waren die Abende Zeiten des Glücks. Sie liebte Bücher, besonders Romane, und unter den Romanen vor allem die dicken. In allen Büchern, die Kathrin kannte, war die Welt auf wunderbare Weise in Ordnung. Selbst wenn das Leben der Figuren auf katastrophale Weise schiefging, selbst wenn nach allen Regeln der Kunst gequält und gelitten wurde, so besaßen Qual und Leiden doch immer einen Sinn, und wenn keinen Sinn, dann immerhin Zusammenhang und folglich Bedeutung. Kathrin hatte schon als Kind verstanden, dass allein der Mensch in der Lage ist, Ordnung zu erzeugen, und dass Bedeutung nur innerhalb von Ordnungen entsteht. (...) Kathrins Lesen war eine Form von Selbstverteidigung gegen Sinnlosigkeit und Chaos. (Juli Zeh: Unterleuten)


Zeindler, Peter: In sich stimmig

  "Wenn Sie versuchen wollen, die Realität abzubilden, sind Sie als Autor unglaubwürdig. Ein großer Autor ist kein Buchhalter, Herr Solbach." Jetzt wird er wieder förmlich. "Wenn Sie nicht den Mut zu unkonventionellen Lösungen haben, wenn Sie beim Schreiben von Skrupeln und Schuldgefühlen besetzt sind, hören Sie lieber auf. Der Roman muß als Ganzes in sich stimmig sein. Wie Sie ihn zum Stimmen bringen, ist Ihre Sache. Dazwischen darf ein Autor mogeln, darf er die Realität frisieren, betrügen, seinen Nächsten schamlos ausbeuten, skrupellos und ohne Rücksicht auf Verluste in seiner eigenen Umgebung wildern. Ein Autor steht gewissermaßen immer mit einem Bein im Gefängnis. Im übertragenen Sinn natürlich. Und am Schluß immer das große Sterben seiner Figuren. Das ist das Leben, das Ende des Lebens, das Sie auf ein paar hundert Seiten präsentieren, auf das sich Ihre Leserschaft, auch wenn sie diesen Gedanken verdrängt, einstellen muß, damit es diesen Tod in seiner literarischen Überhöhung anzunehmen bereit ist. Der Tod ist die Krönung eines literarischen Werks." (Peter Zeindler: Der Schreibtisch am Fenster, S.60f.)


Zeindler, Peter: Plünderungen & Raubzüge

  "Es geht doch nur darum, ob die Szene literarisch überzeugt. Wer sagt, daß Römer identisch ist mit Loidl? Und wenn auch? Große Autoren schonen sich selber so wenig wie ihre Umwelt. Wenn Sie nicht wissen, daß Autoren ihre Biographie nur ansatzweise und in Raten in ihre Bücher einbringen und alles andere auf ihren Raubzügen durch fremde Leben plündern und Fragmente aus ihrem Alltag dazukleistern, dann verstehen Sie nichts von Literatur. Der Abwurf läßt ihn sich auf seine literarische Potenz besinnen, deren Versiegen er befürchtet!" (Peter Zeindler: Der Schreibtisch am Fenster, S. 84)


Zeindler, Peter: Schreiben ist Krieg

  "Schreiben ist Krieg. Oder eine Begleiterscheinung von Krieg oder Naturkatastrophen. Alles, was sich anbietet, an dich reißen. Mit dieser Beute weglaufen. Hinsehen, Jakob. Ein Autor ist Voyeur und Exhibitionist zugleich. Er öffnet seinen Mantel, darunter ist er nackt. Und dann schlachtet er die Reaktion seiner Opfer aus. Er schreckt vor nichts zurück. Er ignoriert Familienbande. Alles, was er sieht, baut er in sein Werk ein, verfremdet selbstverständlich, aber ohne Rücksicht auf Verluste. Er macht selbst vor dem Sterben nicht halt. Liebe, Verrat und Tod sind das tägliche Brot der Autoren." (Peter Zeindler: Der Schreibtisch am Fenster, S. 208)


Ziefle, Pia: Buchstaben im Zucker

  So viele meiner Erinnerungen sind mit dir verknüpft und mit deiner Stimme. Du hast mir das Lesen beigebracht, erinnerst du dich? Ich stand vor deinem Bücherregal und wollte wissen, wie sich das anfühlt, wenn man lesen kann. Da hast du ein Buch aus dem Regal genommen, es aufgeschlagen und mir den ersten Satz vorgelesen, und danach hast du mir jeden einzelnen Buchstaben erklärt. Du hast in der Küche Zucker auf einen Teller gekippt und mir gezeigt, wie ich meine Buchstaben hineinzeichnen kann, wir mußten extra zur Großmutter gehen, weil es in unseren Schränken keinen gab. Dieses erste Buch, das war 'Robinson Crusoe', ich habe es aufgesaugt, ich sehe noch heute den Strand und Robinsons Höhle vor mir, und immer, wenn wir eine lang geplante Ferienreise absagen mußten, war ich heimlich froh darüber, weil ich lieber zu Hause bleiben und in meinen Büchern verreisen wollte. (Pia Ziefle: Länger als sonst ist nicht für immer)


Zippert, Hans: Schlafstellungen

  Es sind Hunderte von Schlafstellungen möglich und jeden Abend erhebt sich die Frage: Was liest man dazu? Über welchem Buch möchte man in welcher Stellung einschlafen? Ich habe etwa 50 verschiedene Bücher in zwei Stapeln neben dem Bett gelagert, entscheide mich aber meistens für das oberste. Einmal habe ich versucht, ein Buch zu lesen, das auch wirklich zu Kissen, Decke und Körperposition gepaßt hätte, jedoch relativ weit unten im Stapel lag. Ich war dann schon zu müde, um alles wieder aufzuheben und neu zu stapeln, und am nächsten Morgen stolperte ich über die antiquarische Biografie von Alfred Brehm und riss im Fallen das Bügelbrett um, das eine unschöne Delle im Kleiderschrank hinterließ.


Zschokke, Matthias: In meiner Bibliothek

  In meiner Bibliothek habe ich so ziemlich alles beieinander stehen. Seit Jahrhunderten wächst die Sammlung. Früher hatte meine Familie Angestellte, die das zusammengekaufte Zeuge ordneten. Sicher anständige Sachen dazwischen. Nur, wer will das alles lesen? Wer soll, wer kann das alles lesen? Mir wird schlecht, wenn ich die unendlich vielen Bände sehe. Sie trösten mich nicht, im Gegenteil, sie machen mich mißmutig. Ich betrete die Bibliothek nur noch selten - im Hochsommer manchmal, weil es angenehm kühl ist dort, schattig, still; und ich mag die Luft darin, den Geschmack der Luft. Ein Großonkel las vorzugsweise die alten Griechen und Römer. Wenn ich an Sommernachmittagen gelegentlich dort hineinfliehe, überkommt mich regelmäßig eine Art Brechreiz, ein Schwindelgefühl, Angst. Das löst die Masse der Bücher aus. Und in der Not greife ich dann nach diesen alten Griechen und Römern, an deren Titel und Umschläge ich mich von früher erinnern kann, von denen ich auch immer weiß, wo sie stehen, schöne Ausgaben, und in die schaue ich rein, bis der Schwindel sich legt - und ich darüber einnicke, denn was das steht, ist zum Einschlafen: vertrotteltes, liebes Zeug, so sanft oft, zurückgenommen, unaufdringlich. Ich kann nicht sagen, daß ich die Bücher lese oder gar kenne - es sind da ein paar Seiten, die schlagen sich von selbst auf, und die schaue ich mir jeweils an. Die Stellen sind nicht von mir ausgesucht und aufgebrochen worden, sndern von jenem Großonkel, wie ich annahem - die Bücher klappten schon beim ersten Mal dort auf, und ich bin nie weitergekommen. Von Bienen und Natur ist da die Rede, von ein, vom Wetter, von Liebe, von all dem, was ich nicht kenne. Ganz interessant. Und es kommt mir vor, während ich die Seiten anstarre und döse, als verwandelte sich dabei die Bibliothek, als befände ich mich plötzlich auf einer großen Terrasse über einem Meer im Schatten, als wehte ein leichter Wind von hinten, von hohen Bergen herab, mit würzigen Düften, gesättigt, über mich weg aufs offene Meer hinaus, Freunde tauchen auf, die ich nicht habe, wir trinken zusammen kühlen gelben Wein und schauen vor uns hin, dann und wann erhebt sich einer, tritt vor ans Geländer, schaut eine Weile raus, wendet sich um, kehrt zurück, setzt sich wieder hin. Dann und wann sagt einer etwas Überflüssiges - und mit einem Mal steht die Sonne tiefer, ich schrecke hoch, Zeit ist vergangen, ich verlasse die Bibliothek. (Matthias Zschokke: Der dicke Dichter, S. 13)


Zschokke, Matthias: Durch die anderen

  Ich brauche Bücher mit den Wörtern der anderen; selbst habe ich eine zu dicke Haut, meine Augen sind getrübt; ich verstehe schönste Erlebnisse nur in Büchern, aufgeschrieben von Menschen, die für mich empfinden, schauen, die mir in gläsernen Buchstaben vor Augen führen, was sie sahen und sehen in der Welt, vom Wellenschlag bis zum Nebel, den Sternen, den Spinnweben. (Matthias Zschokke: Der dicke Dichter, S. 66)


Zweig, Stefan: Ein schwacher Leser

  Ich war im allgemeinen ein schwacher Leser, und auf dem wackligen offenen Regal meiner ärarischen Bude standen einzig die sechs oder acht militärischen Bände wie das Dienstreglement und der Armeeschematismus, die für unsereins das Alpha und Omega sind, neben etwa zwei Dutzend Klassikern, die ich, ohne sie je aufzuschlagen, seit der Kadettenschule in jede Garnison mitschleppte - vielleicht nur, um diesen kahlen fremden Zimmern, in denen ich zu hausen genötigt war, einen Schein und Schatten persönlicher Habe zu geben. Dazwischen lagen noch halbaufgeschnitten ein paar schlechtgedruckte, schlechtgeheftete Bücher herum, die mir auf merkwürdige Weise zugekommen waren. Manchmal erschien nämlich in unserem Kaffeehaus ein kleiner buckliger Hausierer mit sonderbar wehmütigen Triefaugen, der auf unwiderstehlich zudringliche Art Briefpapier, Bleistifte und billige Schundbücher anbot, meist solche, für die er sich in kavalleristischen Kreisen den besten Absatz erhoffte: die sogenannte galante Literatur wie Casanovas Liebesabenteuer, das Decamerone, die Memoiren einer Sängerin oder lustige Garnisongeschichten. Aus Mitleid immer wieder aus Mitleid! - und vielleicht auch, um mich seiner melancholischen Zudringlichkeit zu erwaheren, hatte ich ihm nach und nach drei oder vier dieser schmierigen, schlechgedruckten Hefte abgekauft und sie dann lässig in dem Regal herumliegen lassen. (Stefan Zweig: Ungeduld des Herzens, S. 206f.)


Zweig, Stefan: Sammeln

  Sammeln im höheren Sinne als dem eines beliebigen Sportes betrieben, kann durch Phantasie, Leidenschaft und Geschmack zu einem Begriff gesteigert werden, der dem künstlerischen schon sehr nahe kommt. Eine Sammlung ebenso wie ein Kunstwerk will in sich eine geschlossene Abbreviatur des Universums darstellen, und wenn Sammeln mehr bedeutet als Anhäufen und Zusammenraffen, wenn ein höherer Wille in seiner Absicht waltet, so mag es gelingen, hier durch eine geheimnisvolle Architektonik aus totem Stoff ein Lebendiges zu gestalten... Die Sammlung zu einer Welt zu gestalten und doch die wirkliche nicht zu verlieren ist die höchste Aufgabe, und dieses Gleichgewicht unbedingt vonnöten, um das Sammeln über den Dilettantismus hinaus zu erheben und doch andererseits von der Manie fern zu halten in jener lichten und reinen Sphäre, die ich hier versuchte mit dem Edelsten, mit dem Kunstwerk, zu vergleichen. (Stefan Zweig, Deutscher Bibliophilenkalender 1914)


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